VAT 2011 LAusz Nasri Flachdach

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Yassin Nasri

ICH WILL KEIN

FLACHDACH SEIN

Roman

9$7



Yassin Nasri

Ich wIll keIN Flachdach seIN

Roman

Verlag andré iele


© VaT Verlag andré iele, Mainz am Rhein 2011 Umschlag: Malika wichtendahl, gestaltungsraum.de lektorat: Petra seitzmayer, Mainz satz und Gestaltung: Felix Bartels, Berlin druck: winterworks, Borsdorf alle Rechte vorbehalten. www.vat-mainz.de IsBN

978-3-940884-64-0


F端r meine Mutter



Vorwort 16. 04. 1998 Ich sitze mal wieder im Flugzeug. es ist kein Flug in den Urlaub oder nach hause, auf dessen Rückflug die koffer dann voll gefüllt mit leckereien sind. eine fünfköpfige Familie könnte sich davon ein halbes Jahr ernähren. diesmal fliege ich mit einer Maschine, die mich endgültig aus deutschland fortbringen wird. Meine Vorliebe für dramatische Inszenierungen bewog mich, das abflugdatum exakt auf den Tag meiner einreise vor elf Jahren zu legen. Mit dem schreiben dieses Buchs habe ich heute begonnen. dabei muss ich mich auf ereignisse konzentrieren, die viele Jahre zurückliegen. das macht mich müde, und mein stift droht mir aus den Fingern zu gleiten. Ich will nicht einschlafen. Noch nie bin ich in einem Flugzeug eingeschlafen, da ich immer angst habe, speisen, Getränke oder leckereien zu verpassen. aber diesmal ist es anders. diesmal kann ich die schleichende Müdigkeit nicht stoppen, und so passiert es. der stift fällt mir aus den Fingern. Im halbwachzustand vermischen sich meine Bild- und erinnerungswelten. auch im Traum sitze ich wieder im Flugzeug. es ist mein erster Flug nach deutschland. eine Reise ins Ungewisse beginnt.

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außerhalb der Norm Frühjahr 1997 liebe Mama, nun habe ich es endlich geschafft. letzte woche habe ich meine diplomarbeit abgegeben. Bis wir die ergebnisse erfahren, wird es zwar noch einige wochen dauern, aber du brauchst dir diesbezüglich keine sorgen zu machen. Man muss sich schon richtig dumm anstellen, um bei der Prüfung durchzufallen, und das habe ich mit sicherheit nicht getan. das deutsche studiensystem setzt vielmehr auf die Belohnung guter leistungen als auf die Bestrafung schlechter leistungen. daher ist das reine Bestehen kein Ziel für mich. das Ziel ist vielmehr, eine gute Note zu bekommen, und darauf habe ich auch berechtigte hoffnung. Zufrieden bin ich nicht nur mit meiner diplomarbeit, sondern auch generell mit der Bilanz meines zehnjährigen aufenthalts in deutschland. während dieser Zeit habe ich die eigenheiten dieses landes schätzen und lieben gelernt. Von den »Marotten« der deutschen habe ich dir Vieles erzählt und kann es weiterhin. so ist es mit der Pünktlichkeit und der einhaltung von Terminen. während in damaskus die Menschen zwei Tage im Voraus vereinbarte Termine häufig vergessen, schaffen es die deutschen, sich einen vor Monaten vereinbarten Termin in erinnerung zu halten. Noch interessanter ist es aber, dass eine ganze Nation es schafft, um Punkt 12:30 Uhr mittags hunger zu bekommen. wer sich um diese Zeit an einem werktag in einem stadtzentrum aufhält, kann amüsante szenen beobachten: hunderte von Menschen verlassen auf die sekunde genau die Bürohäuser der stadt, um in einem der stadtrestaurants zu

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speisen. In solchen Restaurants und kneipen kann man noch etwas feststellen. dort zahlen die Menschen fast immer getrennt. ein armer kellner braucht daher ewig, um bei einer Zehnmanntruppe zu kassieren. es hat sowieso den anschein, dass dem ema »Trennung« in der deutschen Gesellschaft eine große Bedeutung beigemessen wird. Neben der sprachlichen Trennung von Verben und der Trennung beim Bezahlen werden in einer festen Partnerschaft die Güter getrennt und im haus der Müll. In der zuletzt genannten disziplin kannte ich zuerst nur die Trennung von Glas, altpapier und Restmüll. Mittlerweile trennen die deutschen auch Plastik und Bio-Müll. sie bringen abgelaufene Medikamente in die apotheke zurück und alte Batterien in die supermärkte. das ganze alte Zeug wird recycelt, und das Recycling hat sich mittlerweile zu einem wichtigen wirtschaftszweig entwickelt. ein ebenfalls wichtiger wirtschaftszweig ist das Versicherungswesen. Fast jeder deutsche verfügt zusätzlich zu Pflichtversicherungen (arbeitslosenversicherung, kFZ-haftpflichtversicherung und krankenversicherung) über mindestens zwei weitere Versicherungspolicen (private haftpflichtversicherung und Berufsunfähigkeitsversicherung). dazu gibt es auf dem deutschen Markt eine große Palette von weiteren Versicherungsprodukten, wie lebens-, Unfall- und sogar Rechtschutzversicherung. die zuletzt genannte Versicherung macht sinn, da die deutschen ein streitfreudiges Volk sind. die Beschwerdelust hat positiv gesehen mit ihrer Geradlinigkeit oder negativ gesehen mit deren Pingeligkeit zu tun. Jede abweichung von der Norm oder von dem eigenen Verständnis und der eigenen logik kann zu einer Rechtsbeschwerde führen. das Rechtssystem begünstigt dieses Verhalten, bei dem das kleinste und scheinbar schwächste Glied der Republik eine faire Gewinnchance gegen einen mächtigen konzern oder gegen den staat hat, vorausgesetzt die klage ist berechtigt. Vor zwei Jahren wehrte sich ein Bürger

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vor dem Bundesverfassungsgericht gegen ein landesgesetz. das schrieb für das Bundesland vor, dass in jedem klassenzimmer der Volksschulen ein kreuz anzubringen ist. der klagende herr fühlte sich in seiner Glaubensfreiheit eingeschränkt. das Gericht sah es genauso und gab ihm Recht. Meine liebe zu deutschland liegt genau in dem Rang, den das Individuum hier genießt, begründet. Trotzdem denke ich neuerdings immer öfter darüber nach, deutschland wieder zu verlassen. die Normtreue der deutschen kann auch ein zentrales Problem sein. schließlich weiche ich als ausländer per se vom Normverständnis der meisten deutschen ab. diesen Gedanken weise ich aber im augenblick so weit wie möglich von mir. Ich will zunächst den abschluss des studiums genießen, nach den anstrengungen der letzten Jahre habe ich das verdient. Ich liebe dich

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das gelobte land sommer 1997 – 16. 04. 1998 Im Frühjahr 1997 erlangte ich den langersehnten studienabschluss für architektur mit einer guten Note. dieser abschluss erlaubte mir, mich diplom-Ingenieur zu nennen und den Beruf des architekten auszuüben. Zudem war der Titel an einer der besten deutschen Universitäten, an denen man architektur studieren kann, erworben worden. Zwar schaffte ich das diplom erst nach acht Jahren, aber das entsprach dem damaligen durchschnitt. außerdem verbrachte ich in dieser Zeit mindestens zwei Jahre hinter dem steuer eines Taxis, am Vw-Fließband oder auf Baustellen. der abschluss war hart erarbeitet. Im späten Frühjahr 1997 war ich also stolz auf das erreichte. Ich befand mich gewissermaßen in dauernder Partylaune, den ganzen sommer lang. diese stimmung konnte aber nicht verhindern, dass ich mir sorgen um meine Zukunft machte, insbesondere als ausländischer absolvent. Meine positive stimmung wandelte sich langsam in eine endzeitstimmung. somit saugte ich in diesem heißen sommer alles in mich hinein, was deutschland kulturell und vergnügungstechnisch zu bieten hatte. Ich ging sowohl ins kino und ins eater als auch zu lesungen sowie in kunstausstellungen. daneben genoss ich mein liebesleben. Ich verbrachte meinen Urlaub innerhalb deutschlands. Mein weg führte mich ins allgäu und auf die Insel Rügen. Ich besuchte Freunde von München bis kiel und von köln bis dresden. die restlichen sommertage verbrachte ich in Bars, Biergärten und an den Ufern von Baggerseen. Ich aß verstärkt Roggenbrot und sauerkraut. dazu trank ich Mineralwasser mit kohlensäure und zu

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abendlichen stunden hefeweizen oder gutes Pilsener. Ich kam mir vor wie ein unheilbar kranker, dessen Tage gezählt sind und der vor dem sterben so viele erlebnisse wie möglich mitnehmen möchte. soviel wie möglich wollte ich deutschland einatmen, es mir einprägen und auf meiner möglichen weiterreise mitnehmen. Mit freundlicher Unterstützung eines Tiefs über deutschland, das den seltsamen Namen sibylle trug, verwandelte sich mein aktionismus zum ende des sommers in eine depression. Ich saß tagelang allein in meinem Zimmer und machte nichts, außer Tee zu trinken und mir dabei Gedanken über meine Zukunft zu machen. dabei ließ ich täglich mein leben Revue passieren. Mir wurde klar, dass ich aus deutschland weg musste. darüber war ich traurig, vor allem wegen der damit verbundenen Trennung von den sachen und Menschen, die ich liebte. aber meine seelische Zerrissenheit wurde in diesem land nicht geheilt. Trotzdem hatte ich mehr sorgen, in das land zurückzukehren, das mir schon von Geburt an als heimat aufgezwungen worden war, mit dem ich mich aber längst nicht mehr identifizierte. In der mehrwöchigen Meditation erkannte ich, dass heimat eine nicht entsorgbare last ist, wie dieselgeruch, der lebenslang an seinem Behälter haftet, ganz egal, wie gründlich man ihn reinigt. diese erkenntnis befreite mich von der Illusion, meine alte heimat einfach, schmerzlos und ohne Nebenwirkungen austauschen zu können. egal, wo und wann, ich werde meine altlast nie los und werde für immer und dauerhaft nach diesel riechen und schmecken. das werde ich nicht ändern können. Um letzte Gewissheit zu erlangen, beschloss ich, die welt zu bereisen. die Feststellung, dass sich meine internationalen erfahrungen fast ausschließlich auf deutschland bezogen, bestärkte mich in meiner welterkundungsabsicht. schließlich könnte es möglich sein, dass ich falsch liege und es irgendwo ein land gibt, welches sich als neue heimat für

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mich eignet und mir das verlorene GefĂźhl der heimatliebe wiedergibt. In diesem sinne begann ich, einen Nomadenzug durch die welt vorzubereiten. die Reise war schnell geplant. anfang april veranstalte ich eine groĂ&#x;e abschiedsparty. elf Jahre nach meiner einreise verlieĂ&#x; ich deutschland und begab mich auf die suche nach dem gelobten land.

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die Integrationspille 16. 04. 1998 Lieber Ausländer, für Deine Zeit in Deutschland lautet meine Empfehlung: Die Integrationspille mit allen ihren Nebenwirkungen schlucken. Am heutigen Tag verlasse ich nach elf Jahren Deutschland. Zum Abschluss meines Aufenthalts in diesem wunderbaren Land schreibe ich Dir diesen Brief. Mit diesem Brief möchte ich Dir einige wichtige Tipps zum ema Integration mit auf den Weg geben. Du bist in der Lage, diesen Aufsatz zum ema Integration zu lesen und zu verstehen. Das lässt mich vermuten, dass Du seit einigen Jahren in Deutschland lebst. Wahrscheinlich vergeht kein einziger Tag in Deinem Leben, ohne dass irgendein Bundes- oder Landespolitiker, kleiner oder großer, Herr oder herrenähnliche Dame, aus dem rechten oder linken Lager, Dich im Fernsehen, im Rundfunk, in einer Zeitung oder in einer Zeitschrift energisch dazu auffordert, Dich endlich zu integrieren. Möglicherweise leidest Du schon an einem Integrationsverfolgungswahn – jeder große Blonde auf der Straße kommt Dir wie ein Integrationsagent vor, der hinter Dir her ist. Es würde mich auch nicht wundern, wenn Du selbst nachts in Deinem Schlaf Integrationsalbträume bekommst. Diese Träume haben sich in den letzten Jahren bei den ausländischen Mitbürgern stark verbreitet. Häufig sind sie mit Symptomen wie Schweißausbrüchen und Erstickungsgefühlen verbunden. Eine typische Szene in einem solchem Albtraum ist das Warten auf die Gerichtsentscheidung. Die Staatsanwaltschaft hat gegen Dich ein Verfahren wegen mangelhafter Integration eingeleitet. Der Gerichtssaal hat die Größe und die Proportionen einer Bahnhofshalle, aber die Stimmung wie in einer Kathedrale.

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Auch die Bänke sind ähnlich wie in einer Kirche aufgereiht. Du sitzt in der dritten Reihe und wartest. In dem kalten Gerichtssaal herrscht totale Stille, denn außer Dir ist dort niemand. Trotzdem fühlst Du Dich nicht allein. Millionen von Zuschauern sitzen vor ihrem Fernseher und beobachten die Liveübertragung der Verhandlung. Die Menschen sind nicht da, aber Du spürst die Wärme ihres Atems in Deinem Nacken. Der Richter kann jede Sekunde reinkommen, um die lang erwartete Entscheidung in diesem Musterprozess zu verkünden. Hinter Dir geht langsam eine Tür auf. Du siehst sie nicht, aber aufgrund der Geräusche muss es eine große und schwere Holztür sein. Du hörst Schritte, die langsam auf Dich zukommen. Sie lassen aber nicht erkennen, ob sie von dem Richter oder von einem mutigen Zuschauer stammen, der sich von seinem Wohnzimmerversteck befreite, um Dir in die Augen zu schauen. Aber der Zuschauer interessiert Dich nicht. Du willst den Richter sehen und endlich sein Urteil hören. Die Schritte klingen in diesem Raum sehr hart. Du bekommst das Gefühl, dass Nägel in Deinen Kopf gehämmert werden. Erschrocken wachst Du an dieser Stelle auf. Du stellst fest, dass Du jedes Mal an der gleichen Stelle aufwachst. Das Ende des Traums kennst Du nicht. Das ist aber wichtig, denn sonst wird dieser immer wiederkommen und doch stets an derselben Stelle unterbrochen werden. Du musst bereit sein, mit dem Urteil zu leben. Egal, wie es lautet, die Hauptsache ist, dieser Albtraum verschwindet endgültig aus Deinem Leben. Aber leider muss ich Dich enttäuschen. Du wirst nie das Ende des Traums sehen. Du wirst ihn immer wieder durchleben und er wird an derselben Stelle unterbrochen. Deine Erlösung wird auch nie die Integration sein. Es sei denn, die biologische, soziale und linguistische Verschmelzung wäre technisch machbar, und Du würdest sie haben wollen. Die einzige Lösung, diesen Traum für immer loszuwerden, ist, Deutschland zu verlassen und dahin zu gehen, wo Du zur natürlichen Mehrheit gehörst.

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Diese Lösung willst Du wahrscheinlich nicht, weil Du dann in Deinem Heimatland als Versager abgestempelt wirst. Jeder dort wird Deine Rückkehr als Niederlage für Dich bewerten. »Er hat es nicht geschafft«, werden viele sagen. Andere werden sagen: »Idiot, wie kannst du aus dem Paradies freiwillig aussteigen?« Natürlich wird Dir niemand glauben, dass weder Deutschland noch Europa etwas mit dem Paradies zu tun hat. Keiner wird Dir glauben, dass es in Deutschland schwer ist, einen Job zu finden, das Leben zu meistern oder das Wetter auszuhalten. Die herrschende Meinung wird Deine Entscheidung für dumm halten und glauben, dass Du nicht zufriedenzustellen bist. Fazit für Dich: Rückkehr ist keine Option. In diesem Fall bleibt doch nur die Integration. Wie schon gesagt, die Integration wird Dich nicht von Deinem Albtraum befreien. Sie wird aber den Verlauf des Traums sanfter gestalten. Wenn Du Dich angemessen integrierst, wirst Du im Traum nicht zu stark schwitzen und nicht zu stark frieren. Vor allem werden die Schritte wie sanftes Klopfen wirken, nicht wie ein Hämmern. Also, mein lieber Ausländer, lass uns gemeinsam einen Integrationsplan für Dich entwickeln. Zunächst müssen wir herausfinden, was man von Dir erwartet. In Fernsehinterviews reduzieren Politiker ihre Integrationsforderungen fast immer auf die Sprache. »Wir erwarten von unseren ausländischen Mitbürgern, dass sie Deutsch lernen.« Aber glaube mir, mein lieber Ausländer, sie lügen. Sie lügen, weil sie zu feige sind, mehr als deutsche Sprachkenntnisse zu fordern. In einem Land, wo die Planung eines Flachdachhauses in einem von Giebeldächern dominierten Ort zum Aufstand der Bevölkerung führen kann, kann man erahnen, was diese Bevölkerung und deren politische Vertretung von Dir erwarten. Du bist und bleibst in ihren Augen das Flachdachhaus, trotz der Harmoniebestrebungen mit den benachbarten Giebeldachhäusern. Die Politiker und alle hinter ihnen stehenden gesellschaftlichen Gruppierungen erwarten von Dir das Ablegen all dessen, was Deine Identität ausmacht. Nur

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Deine Küche kannst Du behalten, aber bitte nicht zu exotisch und nicht zu scharf. Und bloß keine Geruchsbelästigung! Jetzt haben wir den Wunsch der anderen skizziert. Es stellt sich die Frage nach dem, was Du erfüllen kannst. Neben der Sprache ist der Alkohol eine wesentliche Voraussetzung für die Integration. Natürlich wird das Trinken von Alkohol kein Politiker von Dir fordern. Kannst Du Dir ein Abendessen mit deutschen Freunden oder eine Party bei Deinem deutschen Nachbarn ohne Alkohol vorstellen? Willst Du etwa den ganzen Abend in der Ecke stehen und an Deinem Glas mit Orangensaft nippen? Wer lädt Dich dann noch zu einer Party ein? Wenn Du diese Grundvoraussetzung nicht erfüllen kannst, kann ich Dir sagen, dass Du in Deinem Albtraum verrecken wirst. Für Dich gibt es keinen Ausweg. Als Mann hast Du es einfacher. Für Dich, liebe Ausländerin, gibt es einen weiteren Wunsch – Du musst Dein Kopftuch ablegen, falls Du eines trägst. Egal, wie gut Du die deutsche Sprache beherrscht und im öffentlichen Leben zurechtkommst, und egal, wie erfolgreich Du beruflich bist, Deine deutschen Mitbürger würden sich schwerlich mit diesem Stück Stoff auf Deinem Kopf abfinden. Fast alle Deutschen glauben zu wissen, dass Dein Schleier ein Symbol der Unterdrückung sei. Kaum ein Deutscher kann sich vorstellen, dass Du Dein Kopftuch freiwillig trägst, ob aus religiöser Überzeugung oder mit eher kulturellem Bezug. Für Dich, liebe Ausländerin, gilt das Gleiche. Wenn Du auf Dein Kopftuch bestehst, dann geh zurück in Deinen kalten Gerichtssaal und warte. Ich weiß, was Dir durch den Kopf geht, lieber Ausländer, und ich stimme mit Dir überein – die Deutschen machen Dir die Integration nicht leicht. Eben deswegen habe ich ja gesagt, den Albtraum wirst Du nie los. Die Umwandlung des Hämmerns in ein Klopfen muss Dein Ziel sein. Für das Erreichen dieses Ziels haben wir den Grundstein gelegt – Schleier runter, Bier trinken und Prost!

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Aber Du fragst nach den nächsten Schritten. An dieser Stelle müssen wir differenzieren. Die nächsten Integrationsschritte hängen von Deiner Zielgruppe unter den Deutschen ab. Du brauchst eine Bierdose und ein paar Flachmänner, wenn Du Dich für die Gruppe, die Bier trinkend an jedem Kiosk oder in jeder Bahnhofshalle steht, entscheidest. Du musst nicht mal Deutsch können. Es reicht, wenn Du alle paar Minuten »furzt« oder »rülpst«. Wenn Du außerdem »Eeeh, tschuldigung« sagst, wirkst Du schon halbwegs kultiviert. Die Integrationsbedingungen auf Baustellen, am Fließband oder in einer Werkstatt sind wesentlich schwieriger. Du musst zwar kein Bier trinken, aber die Fußballergebnisse der ersten und zweiten Fußballbundesliga und der Regionalligen Nord und Süd der letzten 30 Jahre auswendig lernen. Dazu musst Du in der Frühstückpause die Bildzeitung lesen und eine kalte Frikadelle mit Brötchen essen. Den Senf aus den Tütchen nicht vergessen! »Muss die Frikadelle aus Schweinefleisch sein?« Zu Deiner Beruhigung kann ich sagen: »Nein, muss sie nicht.« Obwohl die genannte Gruppe keine anderen Fleischsorten kennt, ist das Essen von Schweinefleisch keine Integrationsvoraussetzung. Mittlerweile halten viele Deutsche Schweinefleisch für ungesund und finden es nicht besonders appetitlich. Viele »feine« Deutsche haben für sich Lammfleisch entdeckt. Das kommt Dir, lieber Ausländer, natürlich entgegen, und Du erkennst, dass für die Deutschen Integration keine Einbahnstraße ist! Die »Flachmännerhelden« und die »Frikadellenfresser« bilden nur einen Teil innerhalb der Gesellschaft. Eine relativ kleine, aber sehr präsente Gruppe ist die »Antispießergruppe«. Diese ist eine Vereinigung aus vielen kleineren Gruppen: Rocker, HardRocker, Antifas, Antiglobalisierungsfreunde, Autonome und viele dergleichen. Die Mitglieder sind sich in ihrer Haltung einig, aber sie unterscheiden sich in der Stufe ihrer Radikalität. Alle

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haben mit unterschiedlicher Intensität etwas gegen den Staat, die Polizei, die Anzugträger, die Popmusikhörer, die Einfamilienhäuser, die Cocktailtrinker, die Neuwagen inklusive deren Fahrer. Sie sind gegen den Staat, aber über konkrete politische emen sprechen sie selten. Sie reden ausschließlich über Musik und über den dicken Schädel nach der letzten Party. Jeder von ihnen behauptet, tolerant zu sein. Wenn Du aber auf einer ihrer Partys mit Anzug und Krawatte auftauchst, dann ist die Toleranz gefährdet. Die meisten von ihnen sind für Ausländer, aber kaum jemand hat einen ausländischen Freund. Du erkennst sie an der dunklen, schmuddeligen Kleidung, oft in Leder. Fast jeder raucht, natürlich auch selbstgedrehte Zigaretten. Dort, wo Du von Graffitis an den Wänden irritiert wirst und dabei unbeabsichtigt in den Hundekot trittst, bist Du im Herzen ihres Viertels. Damit sie Dir zuhören, brauchst Du ein bestimmtes Vokabular (»Alter«, »cool«, »Mucke«). Um ihren Respekt zu erlangen, musst Du mit ihrer »coolen Mucke« vertraut sein, angefangen mit Jimi Hendrix, die Ufo und die Haut, Metallica und Rammstein. Zusätzlich solltest Du Dich mit Musikanlagen und guten Bier- und Haschischsorten auskennen und Zigaretten mit geschlossenen Augen drehen können. Da es eine »Antispießergruppe« gibt, muss es natürlich auch eine »Spießergruppe« geben. Der Begriff »Spießer« lässt sich allerdings nicht genau definieren. Darunter versteht man Yuppies, Anzug- und Krawattenträger und alle anderen, die ihren beruflichen Erfolg oder ihren Reichtum offen zeigen. Zu den »Yuppies« kann ich leider wenig sagen, da ich mit meiner eigenen Integration nicht ganz so weit gehen wollte. Allerdings erzählte mir eine Freundin, die mit einigen von ihnen auch sexuell verkehrte, das Tragen von Boxershorts aus Seide und das Champagnertrinken aus dem Bauchnabel einer Frau seien für diese Männer der Höhepunkt erotischer Verführungskunst. Andere Menschen verstehen unter »Spießer« die Altbackenen, die Schützenkönig-Scheiben über die Eingangstüre ihrer Einfamilienhäuser hängen oder Gartenzwerge aufstellen.

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Bei dieser Gruppe brauchst Du, mein lieber Ausländer, keine Integrationsversuche zu unternehmen. Egal, was Du veranstaltest, Du würdest an den kleinen Feinheiten des Alltagslebens scheitern. Deine Nachbarn sind stets wachsam und würden früher oder später bei Dir Fehler entdecken. Dazu gehört, dass Du Dein Auto an einem Tag nicht gewaschen hast, dass Deine Frau die Wäsche sonntags im Garten aufgehängt hat oder Dein Kind über den Zaun eines Nachbarn geklettert ist. Das reicht aus, um alle Deine Integrationsbemühungen nichtig werden zu lassen. Aber, mein lieber Ausländer, ich gehe davon aus, dass weder Gartenzwerge noch Bauchnabel-Schlürfen von Champagner oder sogar Ayran im Mittelpunkt Deiner Integrationsbemühungen stehen. Ganz zu schweigen von den anderen Gruppenmerkmalen. Ich gehe davon aus, dass Du Dich ganz normal integrieren, zu den ganz normalen Menschen gehören und ganz normale Freunde haben möchtest. Dein Wunsch, Dich in den »normalen Teil« der Gesellschaft zu integrieren, ist alles andere als einfach. Dies liegt daran, dass es dafür keine Schablone gibt. Ein normaler Mensch kann House, Pop- oder Jazzmusik mögen. Er kann auf Loriot, Harald Schmidt oder sogar auf Stefan Raab stehen. Dieser Mensch ist vielfältig und kann seinen Charakter, seine Vorlieben und Hobbys im Laufe seiner Entwicklung ändern. Deswegen sind gewisse Maßnahmen notwendig. Zunächst fange ich mit den Äußerlichkeiten an. Deine Heimatkleidung aus dem Bazar eines albanischen Dorfes oder aus einem schicken Laden in Teheran musst Du loswerden. Deine neue Kleidung darfst Du niemals bei Woolworth oder C&A kaufen. Gern kannst Du Dein neues Outfit bei New Yorker oder H&M besorgen. Bezüglich der Qualität musst Du aber ein Auge zudrücken (Du kannst Dich später qualitativ steigern). Das Gleiche gilt für Winterpullover. Am besten Du trägst wenigstens im Winter nur braun und schwarz. Dann bist Du

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immer auf der sicheren Seite. Diese Farben passen schließlich zum Wetter. Dein Schnurrbart sowie der Seitenscheitel müssen heute noch weg. Ich empfehle sogar das Unterbrechen des Lesens dieser Notizen, um sofort zum nächsten Friseur zu gehen. Jetzt bist Du vom Friseur zurückgekommen und liest den nächsten Integrationstipp. Falls Du Student bist, dann lautet der: Gib Dein Elfquadratmeterzimmer in dem Studentenwohnheim rasch auf und zieh in eine deutsche WG. Auch wenn in Deinem Studentenwohnheim viele Deutsche wohnen, sind sie nicht weniger integrationsbedürftig als Du. Versuche, bei der WG wählerisch zu sein. Nimm nicht gleich das Durchgangszimmer ohne Fenster und lande nicht bei einer Ökotruppe. Deine Kochzaubereien kannst Du Deinen Mitbewohnern schon vorführen, ohne dass sich tagtäglich eine Sippe von Landsleuten in der engen WG-Küche einfindet. Aber aufgepasst mit den Gerüchen. Und nicht zu scharf! Als Nächstes möchte ich die Sprache erwähnen. Es reicht nicht, Deutsch technisch adäquat zu beherrschen. Du musst die deutsche Seele verinnerlichen. Häufig neigst Du dazu, Deine Gedanken aus dem Arabischen, Persischen oder Türkischen ins Deutsche zu übersetzen. Das wirkt sich insbesondere auf die Witze, Sprichwörter und Metaphern aus, da sie in jeder Sprache einen anderen Aufbau und eine andere Struktur haben. Für das Übersetzen vom Deutschen in Deine Sprache gelten die gleichen Maßstäbe. Stell Dir die wörtliche Übersetzung folgender Sprüche vor: »Er hat nicht alle Tassen im Schrank« und »Er bringt mich auf die Palme« oder »Weiß der Geier«. Um Deine Sprachkenntnisse zu verbessern und mit Inhalten zu füllen, musst Du Dich mit der Gesellschaft und ihren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Belangen und Sorgen befassen. Am Anfang reicht das Lesen kleiner Nachrichten aus der Bildzeitung aus. Aber Deine Interessen dürfen nicht bei Kindesentführungsgeschichten und Promiaffären stehenbleiben. Als Steigerung solltest Du die Tageszeitung Deiner Stadt lesen.

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Nachdem Du Einiges über Klaus Wowereit, Rot-Weiß-Essen und über Bürgerinitiativen erfahren hast, solltest Du in die Liga der komplexen Artikelgestaltung der analytischen Wochenzeitungen und Zeitschriften einsteigen. Als Erstes kannst Du den »Stern« und danach den »Spiegel« probieren. Anschließend solltest Du »Die Zeit« ins Visier nehmen. An dem Tag, an dem Du eine komplette »Zeit«-Ausgabe mit Leidenschaft gelesen hast, hast Du Dir den deutschen Integrationspreis redlich verdient. Um Deine kulturelle Integration abzurunden, solltest Du Dich ein bisschen mit Weinsorten auskennen, Dir einmal die Woche einen Kinofilm anschauen, bevorzugt einen, den sonst kaum einer kennt, und einmal im Monat ins eater oder in die Oper gehen. Ich weiß, dass Dir gerade der letzte Punkt schwer fällt. Und damit sind wir bei unserem nächsten Integrationsthema gelandet: Die optimale Integration in einer Gesellschaft würde die gleichmäßige Verteilung der Ausländer in beruflicher, geografischer und freizeitbezogener Hinsicht bedeuten. Der berufliche Verteilungsprozess ist nicht mehr aufzuhalten, nachdem Ausländer Jahrzehnte nur hinter Gemüsetheken, an Fließbändern oder in der Bergbaugrube verbracht haben. Bezüglich der geografischen Verteilung verstehe ich Deine Einwände. Wer will in Celle neben einem Schützenkönig wohnen oder auf eine Gaststätte mit dem kreativen Namen »Zur Post« oder »Zur Eiche« blicken? Aber was ich nicht verstehen kann, ist, dass Du ungern ins eater gehst. Stattdessen gehst Du häufig in die Disco, lässt Dich von irgendwelchen Türstehern oder Mädchen abweisen. Warum tust Du Dir das an, anstatt einen eaterbesuch zu genießen? Es sind die Frauen, nicht wahr? Du denkst, dass Du in einer Disco Frauen kennenlernen kannst, aber nicht im eater. Scheinbar ist das eater kein Ort dafür. Aber lass Dir gesagt

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sein: Mit den eaterbesuchen schaffst Du die beste Grundlage für ein kultiviertes »Anbaggern«. Damit ist natürlich nicht gemeint, dass Du Vorträge über Brecht und Schiller halten musst. Allein Dein fremdes Aussehen und ein fundiertes Wissen über Kultur heben Dich positiv ab. Bei Dir, liebe Ausländerin, ist es viel einfacher. Du brauchst weder in die Disco noch ins eater zu gehen. Um einen deutschen Mann zu bekommen, musst Du nicht einmal zwei Sätze in deutscher Sprache verfassen können. Trotzdem werden deutsche Männer bei Dir Schlange stehen. Der Grund ist, dass Du einen doppelten Exotenbonus besitzt: Ausländer und weiblich zugleich. In Deutschland bilden Frauen unter den Ausländern eine Minderheit, und die meisten von ihnen haben »Aufpasser«. Wehe, ein fremder Mann macht sich an Dich heran, dann kriegt er es mit Luigi, Hussein oder gleich mit Deiner ganzen Sippe zu tun. Deine Unerreichbarkeit macht Dich begehrenswert. Dazu kommt, dass einige deutsche Männer sich nach einem Frauenbild sehnen, von dem sie hoffen, es in Dir zu finden. Sie vermuten, bei Dir die unbeholfene, auf den Mann angewiesene und ihm dienende Frau zu finden. Ob Du tatsächlich ein solches Frauenbild erfüllst, ist zu bezweifeln. Möglicherweise wirkst Du nach außen so, aber dahinter steckt eine starke und selbstbewusste Persönlichkeit: eine südländische, orientalische Form von Emanzipation. Es kann also sein, dass manche orientalische Frau die Rolle der fürsorglichen und untergebenen Frau ausübt. Allerdings hat ihr die orientalische Evolution über die Jahrtausende eine besondere Fähigkeit geschenkt: Dem Mann den Vortritt zu lassen, um gleichzeitig die Beziehung aus der zweiten Reihe zu führen und zu kontrollieren.

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Eine Südländerin hat bei einem Abendessen, zu dem ich mehrere Gäste eingeladen hatte, laut von ihrem Mann, seiner starken Persönlichkeit und seinem Entscheidungswillen geschwärmt. Da ich das Paar gut kenne, musste ich schmunzeln, denn ich weiß etwas über ihn. So gut wie jede einzelne von ihm getroffene Entscheidung trägt die Handschrift seiner Frau. Was Dich angeht, mein lieber Ausländer, kommen bezüglich Integration und Deiner Lebensgestaltung viele Entscheidungen auf Dich zu. Solltest Du Dich dabei auch für eine »Leila« entscheiden, wird das wahrscheinlich Deine letzte freie Entscheidung sein.

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der Flughafen 1998 – 2007 Insgesamt war ich neun Jahre unterwegs. diese Jahre verliefen wie in einem kinofilm, in dem ich hauptdarsteller und Zuschauer zugleich war. da ratterten Bilder von europäischen, amerikanischen und asiatischen Metropolen vor meinen augen. In diesen städten besuchte ich Freunde, arbeitete und lernte leute kennen. Jede stadt hatte ein wahrzeichen. die eine hohe dichte von kathedralen, Opera und Museen, die andere extrem viele wolkenkratzer und eine weitere endlose strände und ewigen sonnenschein. auch gesellschaftlich und kulturell hatten diese städte ihre Besonderheiten. In der einen war der Reichtum an kultur überwältigend, und in der anderen wirkten besonders die Menschen interessant und freundlich. In einer weiteren stadt beeindruckte mich vor allem die bunte Mischung ihrer einwohner. Trotz der positiven wirkung, die manche städte hinterließen, fühlte ich mich nach diesen neun Jahren weiterhin nicht in der lage, mich für eine stadt zu entscheiden. es schien mir, dass der simple austausch der kulissen mein wahres Identitätsproblem nicht würde lösen können. Ob ich in einer stadt mit vielen kathedralen oder wolkenkratzern lebe oder ob ich von deutscher, amerikanischer oder asiatischer Bevölkerung umgeben bin, nichts davon vermag das Gefühl der heimatlosigkeit bei mir zu beseitigen. diese enttäuschende erkenntnis machte mich unglücklich, und ich fing an, oft an meine Mutter zu denken. sofort liefen vor meinen augen Bilder von damaskus und meiner Mutter ab. Ich schaute sie an und umarmte sie fest. dabei sog ich ganz tief die luft ein. Ich wollte sie nicht nur anfassen, sondern auch inhalieren. Meine Mutter fühlte sich wie

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ein zarter und warmer Pudding an und roch nach der Olivenseife, die sie immer benutzte. ein Teil ihres Geruchs änderte sich jeden Tag, je nachdem, was sie in der küche zauberte. als ich sie umarmte, glaubte ich, einen hauch kardamon wahrzunehmen. dieser Geruch erinnerte mich an meine kindheit, was mich zum weinen brachte. Bevor ich meine augen trocknen konnte, war meine Mutter plötzlich weg. Vor meinem geistigen auge flimmerten nur Bilder von anderen städten. Ich unterbrach den scheinbar endlosen Film, verließ meine Gedankenwelt und spazierte auf deutschen straßen. deutschland, so schien es mir, hatte sich stark verändert. die Telefonzellen, die früher jede straßenecke markierten, waren weg. Meine studienstadt Braunschweig hatte mittlerweile ihr verlorenes schloss zurückbekommen, ihre Fußballmannschaft aber spielte wie eh und je in der Regionalliga. die dresdner bekamen ihre langersehnte Frauenkirche zurück, aber stritten sich leidenschaftlich um die waldschlösschen-Brücke. Berlin ist eine faszinierende Metropole geworden, der lediglich ein vernünftiger Flughafen fehlt. auch politisch und gesellschaftlich hat sich einiges geändert. so verschwand in meiner abwesenheit Vera am Mittag und die deutsche Mark. dafür wurden aber der euro und hartz IV eingeführt und die ehe unter homosexuellen erlaubt. Unabhängig davon nutzte ich diesen aufenthalt, um mich zu entspannen, durch die wälder zu spazieren und über meinen neunjährigen Irrweg auf der suche nach heimatersatz nachzudenken. Mein eindruck war, dass meine suche sinnlos war. Ich habe mich in tollen und schönen städten und ländern aufgehalten, aber ich habe mich dort nicht zuhause fühlen können. das Gefühl, fremd zu sein, hat mich überall begleitet. Ich kam zu der erkenntnis, dass ein Gefühl für heimat nur dort möglich ist, wo man zu der natürlichen Mehrheit gehört. das ist einmal dort, wo man geboren ist, aber auch dort, wo das Fremdsein die Regel ist.

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Unter diesem aspekt konnte ich mir anfang 2007 eher vorstellen, in einem Flughafen zu leben als in einer stadt. Mit dieser erkenntnis, in der Fremde das Zuhause zu sehen, ist aus dem Fremdsein heimat geworden. Zuhause angekommen bin ich dadurch nicht. Noch nicht.

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Also, mein lieber Ausländer, lass uns gemeinsam einen Integrationsplan fßr Dich entwickeln. Zunächst mßssen wir herausfinden, was man von Dir erwartet. In Fernsehinterviews reduzieren Politiker ihre Integrationsforderungen fast immer auf die Sprache. Wir erwarten von unseren ausländischen Mitbßrgern, dass sie Deutsch lernen. Aber glaube mir, mein lieber Ausländer, sie lßgen. Sie lßgen, weil sie zu feige sind, mehr als deutsche Sprachkenntnisse zu fordern. In einem Land, wo die Planung eines Flachdachhauses in einem von Giebeldächern dominierten Ort zum Aufstand der BevÜlkerung fßhren kann, kann man erahnen, was diese BevÜlkerung und deren politische Vertretung von Dir erwarten. Du bist und bleibst in ihren Augen das Flachdachhaus, trotz der Harmoniebestrebungen mit den benachbarten Giebeldachhäusern. Die Politiker und alle hinter ihnen stehenden gesellschaftlichen Gruppierungen erwarten von Dir das Ablegen all dessen, was Deine Identität ausmacht. Nur die Fähigkeit zu Kochen kannst du behalten, aber bitte nicht zu exotisch und nicht zu scharf.

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