Wolfgang Bittner Schattenriss

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© VAT Verlag André Thiele, Mainz am Rhein 2011 1., vollständig überarbeitete Taschenbuchausgabe Lektorat: Klaus Knobloch, Heidelberg Umschlag: Malika Wichtendahl, gestaltungsmerkmal.de Satz: Heerde Grafik Druck und Bindung: Winterworks, Borsdorf Alle Rechte vorbehalten. www.vat-mainz.de ISBN 978-3-940884-66-4


Wolfgang Bittner

SCHATTENRISS oder Die Kur in Bad Schönenborn

Verlag André Thiele


Was habe ich zu vers채umen? Ist nicht die ganze Ewigkeit mein? Gotthold Ephraim Lessing



1 »Sie müssen in die Klinik«, eröffnete ihm sein Hausarzt. »Die Sonographie hat ergeben, dass im Gallengang ein Steinchen stecken geblieben ist, das operativ entfernt werden muss.« Mahler schluckte erst einmal. »Eine Operation?«, erkundigte er sich erschrocken. »Wie ist das zu verstehen?« »Sonst bekommen Sie zu den Koliken eine Hepatitis«, sagte sein Arzt. »Ich meine den operativen Eingriff ...«, setzte Mahler nochmals an. »Ihre Gallenblase ist zwar vor einigen Jahren bereits entfernt worden«, fuhr der Arzt seines Vertrauens fort, »aber die Leber produziert natürlich nach wie vor Gallenflüssigkeit, die durch den Gallenweg in den Dünndarm abfließt und unter anderem der Fettverdauung dient.« »Und was ist nun mit der Operation?«, wollte er endlich wissen. »Eine Kleinigkeit, nicht viel mehr als eine Magenspiegelung«, beruhigte ihn sein Arzt. »Das kennen Sie ja schon. Nur, dass der Schlauch ein wenig weiter in den Zwölffingerdarm geschoben und die Papille eingeschnitten wird, damit der Stein entfernt werden und die Gallenflüssigkeit in Zukunft besser abfließen kann.« »Papille?« »Das ist der Schließmuskel vom Gallenweg in den Darm. Der Stein muss raus, sonst werden Sie gelb.« »Lässt sich das nicht auch ohne dieses scheußliche Schlauchschlucken machen?«, fragte Mahler. »Da soll es doch neue 7


Methoden geben.« Kürzlich hatte er in der Zeitschrift der Krankenkasse gelesen, man könne solche Steine inzwischen mit Ultraschall oder mit Laserstrahlen zertrümmern, ohne die Haut zu ritzen – oder so ähnlich. Sein Arzt schüttelte den Kopf. »Dadurch würden die Ursachen Ihrer Beschwerden nicht beseitigt. Man macht es endoskopisch, in komplizierten Fällen auch minimalinvasiv.« »In komplizierten Fällen?«, hakte er nach. »Bei Ihnen ist es ein völlig harmloser Routineeingriff«, beruhigte ihn der Arzt. »In zwei, drei Tagen ist die Angelegenheit erledigt.« »Und wann, empfehlen Sie mir, soll ich in die Klinik gehen?«, fragte er, um die »Angelegenheit« zu konkretisieren. Wenn schon, denn schon, sagte er sich. »Am besten sofort«, erhielt er zur Antwort. Nun gut, es fand sich offenbar keine Alternative. Er stimmte daher der Einweisung zu und wurde unverzüglich telefonisch angemeldet. Brigitte, die er gleich aus der Arztpraxis anrief, fiel aus allen Wolken, das merkte er. Sie gab sich jedoch gefasst. »Du hast schon recht«, meinte sie, nachdem er ihr alles erklärt hatte. »Dann hast du es hinter dir. Sonst bekommst du womöglich noch eine Gelbsucht, das wäre viel gefährlicher.« »Die Koliken waren schon scheußlich genug«, erwiderte er. »Ja«, seufzte sie, »ich mag gar nicht daran denken. Aber jetzt wissen wir ja, woran es lag und wie Abhilfe geschaffen werden kann.« Sie ging zu den praktischen Dingen über: »Komm rasch nach Hause, ich packe ein paar Sachen für dich zusammen und fahre dich in die Klinik.« Wenn es drauf ankam, konnte sie recht patent sein. 8


Die Arztpraxis lag in dem Viertel, in dem sie wohnten, sodass er wenig später zu Hause war. Ein Produktionstermin beim Rundfunk musste noch abgesagt, die Lesung in einer Schule verschoben werden. Dann machten sie sich auf den Weg. Es war halb zwölf. Gegen zwei Uhr waren die Aufnahmeformalitäten erledigt, er erhielt ein Bett zugewiesen und sollte auf das Gespräch mit dem Chefarzt warten. Brigitte wollte solange noch bei ihm bleiben, und sie besprachen, was in den nächsten Tagen zu regeln war. »Vielleicht dauert es etwas länger«, meinte er. »Man kann nie wissen ...« »Denk doch nicht so etwas«, entgegnete sie. »Dein Arzt hat von zwei bis drei Tagen gesprochen und dabei soll es bleiben.« »Es ist ja nur ein verhältnismäßig kleiner Eingriff«, sagte er. »Insofern brauchst du Stefan und Vera gar nicht erst zu informieren und meine Schwester und deine Mutter auch nicht.« Brigitte nickte. »Sonst machen sie sich womöglich unnötig Sorgen.« Sie sprachen über die Kinder, die lange nicht mehr angerufen hatten – ein gutes Zeichen, fanden sie. Stefan studierte Jura in Göttingen, Vera Psychologie in Bonn. Beide hatten feste Bindungen und gingen ihrer eigenen Wege. Von Zeit zu Zeit kamen sie zu Besuch, zu festlichen Anlässen wie Geburtstagen oder zu Weihnachten. Sie mussten noch finanziell unterstützt werden, und ein nicht geringer Teil des Einkommens ging an sie; fast alles, was Brigitte mit Klavierstunden und Bilderbuchgeschichten verdiente, die sie hin und wieder veröffentlichte. Aber ihre Kinder waren niemals – wie in manchen Ehen – zum Hauptthema und zum Mittelpunkt ihres Lebens geworden, darauf hatten sie geachtet. Als sie sich für Nachwuchs entschieden, hatten sie das vereinbart, sehr 9


naiv natürlich. Mahler erinnerte sich noch daran, dass er damals ziemlich einfältig gesagt hatte: »Wo zwei satt werden, da werden auch drei oder vier satt.« Es war dann doch etwas anders gewesen, zu Anfang ein richtiges Wunder und rückblickend doch recht schön, trotz aller Sorgen, die es immer mal gab. Aber schließlich lebte jeder sein eigenes Leben. Der Chefarzt ließ auf sich warten und sie unterhielten sich über ihre für den nächsten Monat geplante Reise nach Chalkidike, wo sie schon dreimal waren, immer im September, wenn es in Griechenland nicht mehr so heiß war. Mehr durch Zufall hatten sie das idyllische Fischerdorf entdeckt und sich für mehrere Wochen, bis der Herbstwind aufkam, in einer kleinen Pension eingemietet. Sie hatten gebadet, am Strand gelegen, Wanderungen durch die Oliven- und Pinienhaine unternommen und waren einmal sogar mit einem Fischkutter mitgefahren. Es gab delikat zubereiteten Fisch, vom Baum gepflückte Orangen, frische Feigen. An manchen Tagen hatten sie nur von Brot, Tomaten und Schafskäse gelebt. Und sie waren sich sehr nah gewesen. Es ist verblüffend, dachte er, aber wir haben uns immer etwas zu sagen. Er betrachtete sie unauffällig und fand sie nach wie vor schön, ihre hellen grünblauen Augen, das leicht gelockte dunkelblonde Haar, das sie offen bis auf die Schultern trug, mit den kleinen Löckchen an der Schläfe. Wir lieben uns, dachte er, nicht einfach so aus Gewohnheit, sondern sehr, von Herzen. Und wir kommen gut miteinander aus. Jetzt waren sie schon recht lange verheiratet, und soweit er sich erinnern konnte, hatten sie nie ernsthafte Probleme miteinander gehabt, die zu einer Trennung hätten führen können. Manchmal hatte es zwar der Kinder wegen leichte Spannungen gegeben, und es war natürlich eine Umstellung gewesen, als 10


die Kinder plötzlich aus dem Haus gingen. Aber Brigitte hatte sich nie zu einem dieser Muttertiere entwickelt wie manche Frauen in ihrem Bekanntenkreis. Auch sie hatte, ebenso wie er, ihr eigenes Leben. Er empfand es immer wieder als ein großes Glück, ja fast als eine Gnade, dass sie sich gefunden hatten und so gut zusammenpassten. Obwohl sie gänzlich verschiedene Menschen waren. Das zeigte sich schon im Tagesablauf: Brigitte war eine Lerche, er eine Eule. Das bedeutete, dass er spät, manchmal sehr spät zu Bett ging und meist länger schlief, seine Frau dagegen spätestens um sechs Uhr morgens auf den Beinen war, dafür aber schon um zehn oder noch früher schlafen ging. Sie hatten auch unterschiedliche Interessen. Zum Beispiel aß sie überwiegend vegetarisch, während er Fleisch mochte. Er fuhr gern in den kanadischen Norden, sie nach Griechenland. Sie liebte klassische Musik, er Jazz. Er ritt gern, sie hatte Angst vor Pferden. Und so weiter. Das ging ihm durch den Kopf, derweil Brigitte von ihrer Freundin Carmen berichtete, die gerade eine Gebärmutteroperation hinter sich hatte und unter den Folgen litt. »Ein bisschen früh mit achtundvierzig«, meinte sie. »Aber irgendwie erwischt es uns alle.« Als er sein Gesicht verzog, nahm sie schnell seine Hand und setzte hinzu: »Entschuldige, Ludwig, das war nicht besonders einfühlsam.« Er küsste sie auf die Wange, dann auf den Mund und sie lachten sich zu.

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2 Als er aus der Narkose erwachte, bemerkte er über sich das Weiß einer Kassettendecke mit vielen tausend kleinen Löchern. Allmählich wurde ihm bewusst, dass er sich im Aufwachraum befand. Er war etwas schläfrig, fühlte aber keine Schmerzen. Eine Schwester beugte sich über ihn und sagte lächelnd: »Alles in Ordnung, der Eingriff verlief völlig unproblematisch.« Sie schob ihn auf den Gang hinaus und brachte ihn vier Stockwerke höher ins Krankenzimmer, wo er sofort wieder einschlief. Gegen zwölf Uhr wurde er dadurch geweckt, dass eine Schwester das Mittagessen brachte. »Sie können ruhig schon aufstehen«, meinte sie und stellte die Tabletts für ihn und einen Mitpatienten auf den Tisch. Dann gab sie ihm zwei Tabletten und einen Becher mit irgendeiner Flüssigkeit. Was das sei? Schmerzmittel, antworte sie, vom Arzt verordnet. Beim Aufstehen wurde ihm schwindlig. Er fühlte sich etwas benommen und blieb noch einen Moment auf der Bettkante sitzen, bevor er sich endgültig, ein wenig schwankend, erhob. Erst jetzt fiel ihm auf, dass jemand im Nebenbett lag, ein dunkelhaariger, nicht mehr ganz junger Mann mediterranen Aussehens. Sie stellten sich vor, und Mahler erfuhr, dass der andere Grieche war, aber schon lange in Deutschland lebte, mit einer Deutschen verheiratet. Sie setzten sich an den Tisch und unterhielten sich, das heißt, der andere erzählte, wie er nach Deutschland gekommen war, und Mahler hörte zu. Ein schweres Leben, das da vor ihm ausgebreitet wurde: Verfolgung während der griechischen Militärdiktatur, Flucht und Neuanfang als Arbeiter in 12


einer Röhrenfabrik in Norddeutschland. »Der Stundenlohn lag damals bei drei Mark brutto«, sagte der Grieche und schüttelte den Kopf. »Wenn ich mir das heute überlege ... Und das Zimmer, das wir zu sechst bewohnten, kostete für jeden zweihundert Mark. Gearbeitet wurde zehn Stunden am Tag, einschließlich Samstag.« »Anstrengende Arbeit?«, fragte Mahler, nur um etwas zu sagen. »Das nicht, aber immer im Akkord und zwischendurch nur eine halbe Stunde Pause. Nach einigen Wochen kam ich mir vor wie ein Esel.« Er lachte, beschrieb mit der Gabel in der Luft einen Kreis und setzte hinzu: »Sie wissen doch, diese Esel, die früher bei uns das Korn mahlen mussten.« Er wurde wieder ernst. »Außerdem«, fuhr er fort, »wurden giftige Gase freigesetzt, aber wir hatten keine Schutzmasken. Stellen Sie sich vor, wir bekamen jeden Tag von der Fabrik zwei Liter Milch, die sollten wir trinken. Half aber nichts. Ein paar Jahre später hatte ich Probleme mit der Lunge und Magengeschwüre.« Mahler stocherte auf seinem Teller herum. Ihm fehlte der Appetit, und bei der Erwähnung der Magengeschwüre spürte er ein Drücken und Ziehen im Bauch. Er legte sich wieder ins Bett, hörte noch eine Weile dem Griechen zu, der vom Peloponnes stammte, und erzählte seinerseits, dass er mit seiner Frau demnächst zum wiederholten Mal Urlaub an der Küste von Chalkidike machen wolle. »Nicht so einen typischen Touristenurlaub«, sagte er. »Wir fliegen nach Thessaloniki, nehmen uns einen Mietwagen und fahren in ein kleines Dorf am Meer; wir kennen dort eine Pension mit netten Wirtsleuten. Man kann wunderbar schwimmen und kleine Wanderungen durch die Oliven- und Pinienhaine 13


unternehmen. Vielleicht machen wir diesmal auch einen schon lange geplanten Ausflug zum Berg Athos. Eine hübsche Gegend, noch nicht so überlaufen.« Der Grieche nickte. »Dieser Massentourismus ist eine Plage. Ich verstehe ja, dass die Leute Urlaub im Süden machen wollen, aber die großen Reiseunternehmen zerstören die überkommene Infrastruktur der gesamten Küstenregionen. Manche Dörfer, die früher vom Fischfang oder von der Landwirtschaft gelebt haben, bestehen heute nur noch aus Hotels, Pensionen und Restaurants. Ich kenne Ortschaften, in denen sich ein riesiges Hotel an das andere reiht, Berghänge, die nur noch aus Hotelanlagen bestehen. Ein Dilemma, vor allem für die Menschen, die dort nicht vom Tourismus leben. Sie müssen sich dem anpassen oder fortziehen. Und wenn der Touristenstrom einmal aufhören sollte, wäre das eine Katastrophe für diese Gebiete.« »Sie haben recht«, sagte Mahler. »Ich stelle mir solche Ortschaften, durch die wir ja auch gekommen sind, manchmal in hundert Jahren als Ruinenstädte vor, und dann schüttelt es mich.« Er nahm die Tageszeitung, die mit auf dem Tablett gelegen hatte, und versuchte den Leitartikel zu lesen, in dem es um ein Erdbeben im Iran ging. »Die Katastrophe kam über Nacht« war der Artikel überschrieben. Doch das Drücken im Bauch hatte zugenommen und er vermochte sich nicht zu konzentrieren. Zum Glück kam Brigitte herein wie ein frischer Frühlingshauch. Sie küsste ihn und legte die Post, Zeitschriften und ein Buch auf den Nachttisch. »Hab draußen schon mit der Schwester gesprochen«, sagte sie fröhlich. »Es ist also alles in Ordnung.« Sie presste die Hand aufs Herz und gestand ihm, dass sie sich große Sorgen gemacht habe. 14


»Ich weiß nicht«, erwiderte er. »Vorhin ging es mir noch ganz gut, aber jetzt fühle ich mich furchtbar elend und habe Schmerzen im Oberbauch, die nach dem Essen zugenommen haben.« »Dann sollten wir besser den Arzt rufen«, meinte Brigitte besorgt. Sie klingelte nach der Schwester und bat darum, den Arzt zu informieren. Sie unterhielten sich über das Erdbeben im Iran, das zahlreiche Menschenleben gefordert hatte und sie beide nachdenklich stimmte. »Leben auf dünner Scholle«, sagte Mahler. »Wir vergessen allzu leicht, dass es ein paar hundert Meter unter unseren Füßen glüht und brodelt und dass die Erde ein Organismus ist. Vielleicht wehrt sie sich gegen die ständigen Vergewaltigungen.« Brigitte berichtete von einer spannenden Radiosendung über die Traumpfade der Aborigines und dass sie mittags noch in der Sonne auf der Terrasse gesessen hatte. »Gut, dass wir das Haus seinerzeit gekauft haben«, meinte Mahler. »In ein paar Jahren ist es abbezahlt, und wir haben weniger investiert, als uns über die Jahre eine Mietwohnung gekostet hätte.« »Ja, ich fühle mich sehr wohl in unserem Haus«, stimmte sie ihm zu. »Bald sitzen wir wieder gemeinsam auf der Terrasse, darauf freue ich mich schon.« »Spätestens im nächsten Frühjahr«, sagte er und rang sich ein Lächeln ab. Als der Grieche Besuch bekam und die Schwester Bescheid sagte, dass der Arzt noch anderweitig beschäftigt sei, verabschiedete sich Brigitte. Die Schwester nahm Mahler Blut ab und brachte anschließend schon das Abendessen, das er jedoch nicht anrührte. Er fühlte sich schlecht, die Schmerzen 15


im Bauch waren trotz der eingenommenen Medikamente heftiger geworden, jetzt kolikartig und kaum noch auszuhalten. Der Stationsarzt, der wenig später kam, gab ihm eine Spritze und ordnete Infusionen an. Doch die Schmerzen hielten an. Erst nachdem er noch zwei Tabletten eingenommen hatte, ließen die Koliken etwas nach. In der Nacht bekam Mahler hohes Fieber und er konnte vor Schmerzen, die erneut zugenommen hatten, nicht schlafen. Aufzustehen vermochte er auch nicht, zumal er am Tropf hing. Er quälte sich entsetzlich, versuchte immer wieder sich zu entspannen und klingelte mehrmals nach der Schwester, die den Tropf wechselte und weitere Schmerztabletten brachte, die jedoch nicht halfen. So verbrachte er eine furchtbare Nacht. Am Morgen kam der Chefarzt, untersuchte ihn und sprach von einer Entzündung der Bauchspeicheldrüse. Er gab der Schwester einige Anweisungen; auf Mahlers besorgte und verstört hervorgestoßene Fragen ließ er sich nicht weiter ein. »Das kann schon mal vorkommen«, meinte er und ging wieder. Ein Oberarzt, der ihn kurz darauf nochmals untersuchte, bestätigte die Diagnose: Pankreatitis, hervorgerufen durch ein Kontrastmittel, das während der Operation in den Gallenweg eingebracht worden war, in den auch der Ausgang der Bauchspeicheldrüse mündet. »So etwas kann sehr schmerzhaft sein«, sagte er. »Die Bauchspeicheldrüse ist ein empfindliches Organ. Aber machen Sie sich mal keine Sorgen, das kriegen wir schon wieder hin.« Nach der Einnahme weiterer Tabletten und Flüssigkeiten begann sich Mahlers Zustand im Laufe des Vormittags ein wenig zu bessern. Jetzt fühlte er sich nur noch sterbenskrank. Essen bekam er nicht, er hatte auch keinen Appetit. Als 16


Brigitte anrief, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen, konnte er nur stammeln, dass es ihm schlecht gehe und die Ärzte von einer Entzündung der Bauchspeicheldrüse, einer sogenannten Pankreatitis, gesprochen hätten. Mehr wisse er nicht. Er dämmerte vor sich hin, bis die kolikartigen Schmerzen allmählich abebbten. Gegen Mittag schlief er endlich ein, nahm im Unterbewusstsein wahr, dass Brigitte an seinem Bett saß. In der zweiten Nacht nach der Operation wachte er schweißgebadet auf, er schreckte regelrecht hoch, bedroht von einer schwarzen Gestalt, die sich über ihn gebeugt und ihm ins Gesicht gesehen hatte. Ein Albtraum. Er blickte sich im Zimmer um, in das der Mond hereinschien. Niemand war zu sehen, das Nachbarbett war leer. Offenbar hatte man den Griechen tags zuvor entlassen. Mahler hatte nicht die Kraft, seinen nassen Schlafanzug zu wechseln; er mochte auch nicht nach der Schwester klingeln. So lag er da, von den Medikamenten halb betäubt, keines klaren Gedankens fähig. In seinem Kopf herrschte Verwirrung, ein Durcheinander von unbestimmten, zumeist belastenden oder gar peinigenden Empfindungen und Eindrücken. So erinnerte er sich an einen Strand in der Karibik, und in der Abenddämmerung kamen unzählige hochbeinige Krebse vom Wasser her auf ihn zugelaufen, um ihn bis auf die Knochen abzunagen. Ein anderes Bild, das ihn quälte, war eine Lokomotive, die er auf sich zukommen sah und vor der er sich hinwarf, um den Zug über sich hinwegrasen zu lassen. Dann verlor sich die Dunkelheit im Raum, er bemerkte einen rötlichen, heller werdenden Schein vor dem Fenster, die Sonne ging auf. Draußen begann ein Spätsommertag und Mahler wusste, dass er bald genesen würde. 17


Zwei, drei Stunden später wurde sein Bett gemacht und kurz darauf kam der Chefarzt mit seinem Gefolge herein, das aus einem Oberarzt, dem Stationsarzt, zwei Assistenzärzten, zwei Schwestern und einer Praktikantin bestand. Während ihn der Chefarzt kurz untersuchte, fragte ihn Mahler, wie lange er noch in der Klinik bleiben müsse. »Das kann ich Ihnen nicht sagen«, war die Antwort. Wer es ihm denn sagen könne, wollte Mahler wissen. »Nun warten Sie es doch ab!«, fuhr ihn der Chefarzt an. »Ich werde es Ihnen noch früh genug mitteilen.« Da merkte Mahler, wie es in ihm zu brodeln anfing. Eigentlich ein gutes Gefühl, dachte er flüchtig, war jedoch zu schwach für eine Auseinandersetzung. »Zuerst war von zwei bis drei Tagen die Rede«, rief er matt. Da hatte der strenge Meister mit seinem Hofstaat bereits das Zimmer verlassen. Mahler fühlte sich völlig aus der Bahn geworfen, kraftlos und müde. An den folgenden Tagen schlief er viel, freute sich über die Besuche seiner Frau und unterhielt sich hin und wieder mit einem neuen Patienten im Nachbarbett. Es war ein Anlageberater, der wegen eines Herzinfarkts mehrere Tage auf der Intensivstation gewesen war und schon wieder Tipps für Geldanlagen parat hatte. »Mischen Sie Immobilien, Aktien und festverzinsliche Papiere«, empfahl er. »Neben einer Lebensversicherung natürlich, die mit fünfundsechzig fällig wird. Damit sparen Sie Steuern. Als Schriftsteller sind Sie doch freier Unternehmer und insofern darauf angewiesen, sich selber eine Altersversorgung zu schaffen.« Er seufzte und fügte hinzu: »Steuern sparen, das ist es. Sie plündern uns ohnehin schon genug aus.« Mahler hörte sich die Vorschläge an, nickte dazu und dachte, dass »sie« immer an sein Geld – falls er etwas übrig 18


hätte – herankommen und ihn ausplündern würden, einerlei wo und wie er es anlegte. Wer »sie« waren, vermochte er sich nicht mit Bestimmtheit zu beantworten, vielleicht das Finanzamt, die Regierung, die Mineralölkonzerne, die Spekulanten und Abstauber, die Daytrader, die für Kriege verantwortlichen Politiker, die Globalisierer, der Staat, die Banken ... Einige Tage später träumte er, zusammen mit Brigitte ein Haus zu besichtigen, das sie kaufen wollten. Der Architekt selber zeigte es ihnen. Es sagte ihnen vom Zuschnitt der Zimmer her zu, war schön geräumig, hatte aber merkwürdigerweise ein Flachdach mit einem Türmchen, in dem sich unter einer Winde ein brunnenartiger Schacht befand. Einer Laune folgend, schlug er vor, sich abseilen zu lassen. Obwohl Brigitte protestierte, band er sich das Seil um die Hüfte und der Architekt drehte scherzend an einer Kurbel, um Mahler in den Schacht hinunter zu lassen. Langsam ging es immer tiefer, bis oben nur noch ein heller Fleck erkennbar war. Doch plötzlich riss das Seil oder die Winde war außer Kontrolle geraten, und er stürzte ab. Fast gelähmt vor Schreck, hörte er Brigitte schreien. Ein heller durchdringender Schrei. Aber er fiel nur wenig hinunter, sodass ihm nichts passierte. Im selben Moment, als er unten auf die Füße kam, wachte er auf und merkte, dass er es war, der geschrien hatte. Am nächsten Morgen gab der Chefarzt Mahler – hoheitsvoll wie immer – bekannt, dass er in wenigen Tagen entlassen werden könne, dass die Operation erfolgreich verlaufen, das Blutbild wieder halbwegs normal sei und er nicht mit Folgeschäden zu rechnen habe. Allerdings solle er sich noch einige Zeit schonen. Wie lange? Na, ein paar Wochen, ein bis zwei Monate. Mahler merkte, wie eine Anspannung, die er vorher gar nicht wahrgenommen hatte, von ihm wich. 19


Er fühlte sich gleich viel wohler, fast schon gesund. Nachmittags legte ihm Brigitte eine Mappe mit Formularen auf den Nachttisch. »Dein Hausarzt lässt dich schön grüßen«, sagte sie. »Er hat angeregt, eine Kur zu beantragen. Ich habe den Antrag gleich mitgebracht und auch schon ausgefüllt. Du brauchst nur noch zu unterschreiben.«

3 Bad Schönenborn, wohin Mahler zum Auskurieren seiner Pankreatitis geschickt wurde, lag im deutschen Mittelgebirge, ein Regenloch, wie ihm schien. Er war schon zweimal auf Lesereisen dort gewesen, und jedes Mal hatte es geregnet. So war es auch diesmal bei seiner Ankunft auf dem Bahnhof: Es regnete in Strömen. Doch tags darauf lagen die bewaldeten Hänge der Umgebung in schönster spätherbstlicher Sonne und hätten ihn sicherlich zu einem längeren Spaziergang verführt, wäre er nicht bereits in die Pflichten der »Anwendungen« genommen worden. Der Arzt, Doktor Canisius, ein älterer, durchaus kompetent wirkender Internist, mit dem er schon am ersten Tag ein Gespräch hatte, war freundlich und aufmerksam. Mahler erfuhr erst später, dass es der Chefarzt und Direktor der Klinik war. Doktor Canisius verordnete medizinische Bäder, Moorpackungen für den Rücken, Interferenzstrom fürs Knie, Wirbelsäulengymnastik und Bewegungsbäder. Hinzu kamen Entspannungstherapie, ein Gespräch mit der Psychologin Frau 20


Steffens sowie Vorträge über Ernährung, Verdauung und Stressverarbeitung. So hatte Mahler zu tun, und zwar von morgens bis abends, wenn er alles mitmachen wollte, was ihm allerdings freigestellt war. Eigentlich – so sagte er sich – gehörte er nicht in so eine Rehabilitationsklinik, eigentlich war er schon lange wieder kerngesund. Bis auf ein paar Wehwehchen natürlich, die fast jeden plagen, der die fünfzig überschritten hat: Ziehen im Knie, die Bandscheiben pieken, manchmal drückt der Magen. Schaute er sich die anderen Kurgäste an, seine Mitpatienten, ging es ihm – das musste er zu seiner Schande gestehen – besonders gut. Jemandem hatten sie den Magen entfernt, einer jungen Frau einen Teil des Darms, wieder ein anderer fuhr im Rollstuhl. Wenn er dagegen elastischen Schritts dem Speisesaal zueilte (nur ein klein wenig humpelnd), fühlte er sich hervorragend und diesen Invaliden, denen er ständig begegnete, haushoch überlegen. Ja, er schämte sich dessen nicht einmal, es tat ihm überaus wohl, sich der Gebrechlichkeit der anderen zu versichern – wenngleich ihm der ursprünglich geplante Badeurlaub in Griechenland oder ein Besuch bei seinen Freunden in Kanada erheblich lieber gewesen wäre. Ein wenig fühlte er sich wie in der Emigration, fremd unter Fremden. Doch es war angenehm, aus der Tretmühle der täglichen Verpflichtungen, in die auch ein noch so freier Schriftsteller mit den Jahren immer mehr eingespannt ist, für mehrere Wochen herauszukommen. Das nach Südosten gelegene Zimmer gefiel ihm, der weite Blick aus dem Panoramafenster über Vorstadthäuser und einen Teil des Kurparks auf die Berge. Alles, was er benötigte, war vorhanden: ein bequemes Bett, Tisch und zwei Stühle, Kleiderschrank, Bad und 21


»Ein genauer Beobachter. Wolfgang Bittner nutzt einen unaufgeregten, nüchternen Stil.« Göttinger Tagblatt

Er erhielt mehrere Preise und Auszeichnungen, ist Mitglied im PEN und hat mehr als 60 Bücher für Erwachsene, Jugendliche und Kinder veröffentlicht, darunter die Romane »Der Aufsteiger oder Ein Versuch zu leben«, »Niemandsland«, »Marmelsteins Verwandlung«, und »Narrengold«, der Erzählband »Das andere Leben« sowie das Sachbuch »Beruf: Schriftsteller«.

Fotoquelle: © Elenathewise, © PeJo - Fotolia.com

Wolfgang Bittner

Nach Ärztepfusch knapp dem Tod entronnen, begibt sich der Schriftsteller Ludwig Mahler in eine Kurklinik. Er genießt den Aufenthalt, gerät aber zunehmend in eine Lebenskrise. Die leidenschaftliche Beziehung zu einer attraktiven Frau bringt für ihn die Wende. Sie bringt ihn aber auch in Konflikt mit der Liebe zu seiner Frau. Wieder zu Hause, setzt er die Affäre, die zu einer Obsession wird, fort. Sein bester Freund scheint seine Ehe endgültig in Gefahr zu bringen. Gelassen und souverän reflektiert Wolfgang Bittner in diesem Roman ein für unsere Zeit typisches Familienschicksal. Der Roman entwickelt eine geradlinige, kluge, wahrhaftige Geschichte. Das Buch stellt eine zentrale Frage: Wie wichtig ist über das Subjektive hinaus das gemeinsame Welt- und Politikverständnis für zwei Menschen und ihre Liebe?

Wolfgang Bittner

Wolfgang Bittner, geboren 1941 in Gleiwitz, lebt als freier Schriftsteller in Göttingen. Er studierte Jura, Philosophie und Soziologie und wurde 1972 zum Dr. jur. promoviert. Bis 1974 ging er verschiedenen Tätigkeiten nach, u.a. als Fürsorgeangestellter, Verwaltungsbeamter und Rechtsanwalt. Ausgedehnte Reisen führten ihn nach Vorderasien, Mexiko, Kanada und Neuseeland, Gastprofessuren 2004 und 2006 nach Polen.

»Ein spannender Beziehungsroman über Menschen in einer Lebenskrise und vor einer entscheidenden Wende.« Norddeutscher Rundfunk

Schattenriss

»Eine wahrhaftige Geschichte.« Kölnische Rundschau

14.90 EUR [D] ISBN 978-3-940884-66-4

VAT

VAT

Schattenriss oder

Die Kur in Bad Schönenborn VAT


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