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»Jawohl, ich verabscheue diese gewaltigen, diese gräßlichen Kochbücher von 500 oder 5000 Seiten, mit Tausenden oder Millionen Rezepten, in denen man herumtappt und sein Latein verliert und aufgibt. Die große Sünde beim Kochen sind die Zügellosigkeit, die Empfindsamkeit, die Blüten (Stilblüten, versteht sich). Kochen ist Proportion, Anthroporhythmie, der Goldene Schnitt, der Parthenon ... Joseph Delteil (1894–1978) war einer der erfolgreichsten französischen Schriftsteller, der »Liebling von Paris«, als er sich 1931 in die Provinz zurückzog.
Was mich betrifft, so kannte ich während meiner ganzen Kindheit in meinem Dorf Pieusse nur drei Gerichte: Suppe, Frikassee und Braten. Drei, mehr nicht.«
Dort praktizierte er die Kunst des »vivere parto«, des Lebens vom Wenigen. Direkt nach dem Krieg begann er eine zweite erfolgreiche Karriere als Schriftsteller.
Joseph Delteil Die paläolithische Küche
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Joseph Delteil Die paläolithische Küche
Der 1963 geschriebene Essay »Die paläolithische Küche« ist eine Anweisung zur radikalen Beschränkung auf das dem Kochen wesentliche, auf die Substanz. Ein Manifest des »terroir«-Gedankens, lange bevor der Begriff in Mode war: scharf, heftig, klar und angriffslustig. Der modernen Kochweise der Promidinners und Kochshows hält Delteil sein Konzept einer »cuisine brute« entgegen.
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Essen & Denken
Die Edition Essen & Denken bietet außergewöhnliche Texte zur Theorie und Geschichte der Kochkunst.
ISBN 978-3-940884-29-9 16.90 EUR [D]
www.vat-mainz.de
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Joseph Delteil DIE PALÄOLITHISCHE KÜCHE
Joseph Delteil
DIE PALÄOLITHISCHE KÜCHE
Verlag André Thiele
EDITION ESSEN & DENKEN, Nr. 1
© LES ÉDITIONS DE PARIS, Paris 2007 © für die deutsche Ausgabe: VAT Verlag André Thiele, Mainz 2011 Übersetzung: André Thiele Gestaltung, Umschlag und Satz: Heerde Grafik Zeichnung; I. R. Heerde Druck und Bindung: ANROP Ltd., Jerusalem Alle Rechte vorbehalten. Printed in Israel. www.vat-mainz.de ISBN 978-3-940884-29-9
Joseph Delteil (1894–1978)
Die paläolithische Küche ist die natürliche Küche, die, die durch reinen Instinkt von Anfang an in Erscheinung trat, schlichter Appetit zwischen Mensch und Welt. Die Natur der Dinge. Ich für meinen Teil habe mich ganz bewußt daran gemacht, ein natürliches Leben zu führen, ein Leben, wie es die ersten Menschen, ja sogar die Hominiden lebten (sagen wir vor 100.000 Jahren). So weit wie möglich, und bei Strafe des nahen Todes. Im Geiste, wenn nicht buchstäblich. Insbesondere auf dem Gebiet der Ernährung. In den Giebel meines Landhauses habe ich die heilige Formel des Konfuzius gemeißelt:
VOM WENIGEN LEBEN. Die moderne Zivilisation, das ist der Feind. Das ist das Zeitalter der Karikatur, der Triumph des Künstlichen. Ein Versuch, den Menschen aus Fleisch und Blut durch den Roboter-Menschen zu ersetzen. Alles ist gepanscht, verschmutzt, gefälscht, alle Natur denaturiert. Seht diese Metallandschaften, die Atmosphäre der korrupten Städte (Lungen von der Farbe des Louvre), die Lüfte und ihre Vögel verpestet von Insektiziden, die von nuklearen Abfällen bis auf den Grund des Ozeans vergifteten Fische, der Hebel krebserregender Stoffe überall, die umwerfende Geschwindigkeit, das höllische Getöse, die große Verwirrung der Nerven, der Herzen, der Seelen, in Ketten legen, in Ketten sag’ ich Euch ... 7
So ist das industrielle Leben, das atomare Leben. Das große Verbrechen des modernen Menschen! Jawohl, dies hier ist nichts als ein Schrei: Feueralarm! Ein Wahnsinniger! Haltet den Mörder! Was die Ernährung betrifft ... Das Brot, das richtige Brot ist tot. Ihr wißt, wie man das tapfere Korn entkeimt, entnervt und verdummt (übrig bleibt nur die Stärke, gewiß für die Wäscherinnen aus Portugal). Wie man alle Dinge versnobt mit Brom, Magnesiumkarbonaten, Ammoniumpersulfaten usw. Ihr verzehrt mit Formaldehyd konservierte Milch, mit Kupfersulfat grüngefärbten Spinat, Schinken mit Borax, fuchsingefärbten Wein usw. usw. Das ist Chemiespeisung. Sie nennen das den Fortschritt. Aber angesichts des Nilpferdes in seinem schlammigen Flußbett, der Eidechse in der Sonne und des Menschen in der Tiefe seines Bergwerks, wo ist der Fortschritt? Es geht darum, Paroli zu bieten, Land zurückzugewinnen, wieder Wilde zu werden, an Sinnen und Geist jungfräulich wie am ersten Morgen ... Ursprünglich sind die Tiere und die Pflanzen seines Lebensraumes die natürliche Kost des Menschen, das Mammut, der Kaviar, die Auster, die Trüffel, die Insekten, die Früchte ... All das spontan, der Gunst der Stunde folgend. Der erste Hase war ein vom Waldbrand 8
erfaßter Hase. Der Apfel Evas war eine Frucht, ganz einfach. Der berühmte »rouget aux olives noirs« entsprang so wie wir ihn kennen dem Schaum des Meeres, Venus gleich. Die Speise ist nur das Atmen des Magens, eine Funktion, ein Spiel. Der Mensch ißt wie der Löwe, die Libelle, die Venusfliegenfalle oder das H2O. Beim Geschmack sind die unschuldigsten Verbindungen, die schlichtesten Ehen die vollkommensten. Einen Fisch zu fangen war in diesen einfältigen Zeiten ebenso wichtig wie Liebe zu machen, und in der Sonne zu poofen war ebenso köstlich wie Baudelaire zu lesen. Zwischen der Natur und der Natur des Menschen gibt es einen erlesenen Stoffwechsel, eine völlige Wesensverwandlung durch Wellenlänge, Stimmung, Osmose, Zuneigung, Widerhall. Darum hat die Nahrung eine zweifache Funktion, sie antwortet dem Traum unserer Seele ebenso wie dem Verlangen unserer Eingeweide. Sie nährt, doch auf geheimnisvolle Weise heilt sie auch. Hier nimmt die Beute den Namen Opfer an, und das Opfer rettet die Menschheit. »Nehmt und eßt; das ist mein Leib«. Dies Buch ist bestimmt kein Kochbuch wie die anderen. Erwartet keine phantastischen Rezepte, keine Entdeckungen für Galaabende. Es ist nur ein Abriß über natürliche Ernährung, die »cuisine brute«, so wie es die »art brut« gibt. 9
Die paläolithische Küche ist die Küche Gottes. Ich habe bloß hier und da eine wesentliche winzige Einzelheit, einen erstaunlichen Kniff, ein uraltes Geheimnis vor dem Vergessen bewahren wollen. Das, was ich den Goldenen Punkt nenne. Es wäre schrecklich, Euch beispielsweise in dem Rezept für Paella deren gesamten Aufbau darzulegen, Euch mit dem ganzen Krempel sitzen zu lassen; ich halte nur diese Kleinigkeit fest: das Holz vom Orangenbaum. Bei Erbsen geht es darum, sie vor Sonnenaufgang zu ernten, beim Kohl ist es das Gußeisen, usw. Es werden hier folglich nur vierzehn Rezepte stehen, gerade genug für eine Woche, aber alle Wochen der Welt ähneln einander, und so ist dies das Brevier für Euer ganzes Leben. Es ist immer noch viel, oder zu viel, und ich wette, daß sich Abraham kürzer faßte als ich mich ... Jawohl, ich verabscheue diese gewaltigen, diese gräßlichen Kochbücher von 500 oder 5000 Seiten, mit Tausenden oder Millionen Rezepten, in denen man herumtappt und sein Latein verliert und aufgibt. Die große Sünde beim Kochen sind die Zügellosigkeit, die Empfindsamkeit, die Blüten (Stilblüten, versteht sich). Kochen ist Proportion, Anthroporythmie, der Goldene Schnitt, der Parthenon ... 10
Was mich betrifft, so kannte ich während meiner ganzen Kindheit in meinem Dorf Pieusse nur drei Gerichte: Suppe, Frikassee und Braten. Drei, mehr nicht. Es lebe also das Einzelgericht! Übrigens, falls Ihr aus Unachtsamkeit oder absichtlich einen Verstoß gegen die Regeln begeht oder einen Seitensprung in Richtung Phantasie macht, schade, gewiß, oder um so besser; ahmt niemals den großen Vatel bis zum Schwerte nach, höchstens bis zum Witz. Das Kochen bringt die Seele in Stimmung. Wenn ich mich zuweilen angesichts der Suppe oder der Schnecken auf dem Rost zu lyrischer Sprache hinreißen lasse, zu einer gewissen Beredsamkeit, der ich nicht immer ebensogut den Hals umdrehe wie der Gans, so ist dies reine allegria, Freude des Herzens und des Geistes, bel canto. Dem Stil wie dem Vogel wie der Nahrung ziemt ein Körnchen Salz auf dem Schwanz. Wie soll man vom Kochen sprechen ohne einen Stil lodernden Feuers, den Stil des Wolfes, der Rotkäppchen beschwatzt, den Stil des Saftes um den 21. März herum. Und die Mundart! Ich spreche oft mundartlich oder Mundart, weil sie den Ursprüngen am nächsten ist, am reichsten an Sperma, am heiligsten.
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Und hier nun der Rat Gottes: Ich wähle mein Brot unter Hunderten aus, meilenweit entfernt, und ich keltere meinen Wein selbst, mit meinen eigenen Füßen. Auf zur Quelle, auf zur Quelle! Laß Dein Rind aus der Vorzeit kommen, Deine Gänse vom Himmel, schlachte Dir Dein Schwein, das ist das Fundament! Das Gemüse aus Deinem Garten, die Schalenfrüchte (ich schockiere zuweilen genüßlich meine Freunde, indem ich den Pfirsich vom Baume abesse, wie ein Bär). Mit meiner Ziege und zwei Hühnern, voilà, die Heilige Dreifaltigkeit!
AMEN!
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BREVIER
MONTAG Mittagessen
DIE SUPPE
Abendessen
TOMATEN NACH LUCIES ART
MONTAG Mittagessen
DIE SUPPE Die Suppe, wie man sagt: der Hase, von der es nur eine gibt auf der Welt. Das ist der Oberbegriff – übrigens werden hier kaum mehr als Oberbegriffe und schlichte Einzelheiten stehen. Eine einzige in drei Gestalten: im Frühling SaubohnenSuppe1; im Sommer Suppe mit »baraquets« (grünen Bohnen); im Winter Kohlsuppe2. Daran ist nichts eintönig! Zwischen der ersten Dicken Bohne des 1. Mai, beispielsweise, und der Puffbohne in der frivolen Hülse und mit schwarzem Band, welch eine Stufenleiter des Geschmacks!
1) Die Saubohnen wurden im Département Aube, wie geschrieben steht, vor Sonnenaufgang gepflückt (manche fügen hinzu: auf den Knien, da die Saubohne etwas Heiliges an sich hat, etwas Einweihendes, um nicht zu sagen Geschlechtliches; mit diesem zärtlichen Spitznamen bedenken die Jungen meines Dorfes ihr jugendliches Glied: die Saubohne). 2) Es gibt nur einen Kohl: den Wirsing (der winterlichen Frost durchgestanden hat). Das übrige den Kühen!
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PRINZIP DER SUPPE Bringe das Wasser in einem Topf von rotem Ton zum Kochen, dem »toupin 3«. Sobald das Wasser kocht, die Hälfte davon abschöpfen und das Grundgemüse damit überbrühen, bevor es in den Topf kommt. Etwa eine halbe Stunde über dem Feuer kochen lassen.4 Füge je nach Jahreszeit und proportional (im ganzen niemals mehr als zehn Prozent) Kartoffeln, Möhren, weiße Rüben, Lauch, Sellerie, usw. hinzu. Eine weitere halbe Stunde kochen lassen. Und das ist die Stunde des »confit 5«: den »toupin« neben das Feuer ziehen und eine schöne Schnepfe hinzufügen. Salzen. Eine weitere halbe Stunde, und es bleibt nichts mehr zu tun, als die Suppe in die Suppenschüssel zu gießen, auf altbackenes Brot. Darauf achten, daß das Wasser niemals aufhört zu kochen, über dem Feuer sprudelnd und ganz
3) Die edlen Stoffe sind Ton und Kupfer. Verschmäht Aluminium und andere Blechwaren! Und kein Emaille, das verbleit. Die beste Töpferware für die Küche ist das grobkörnige, fast poröse Tongeschirr; seht nur die Scherbe, die man an den urgeschichtlichen Fundstätten aufliest. Und Ton von besonderer Art: das »cassoulet«, das Ragout mit weißen Bohnen, mag nur den aus Issel, Innereien nur den aus Laroquebrou. Laßt uns nebenbei und aus reinem Vergnügen festhalten, daß der »Heilige Gral« von der »vase de grès«, der Vase von Steingut herrührt, die mundartlich »grasal« heißt. 18
schwach neben dem Feuer. Die Suppe beinhaltet drei Gänge: das eingebrockte Brot, das Gemüse und das Fleisch. Es gibt gute Gründe …
CONFIT Schneiden Sie Ihr Tier in Stücke. In einen Kessel von rotem Kupfer ein Glas Wasser geben, dann die ConfitStücke. Bei mittlerer Hitze, und häufig mit dem Holzstab umrühren. Wenn das Fleisch sich um einen guten Zentimeter zusammengezogen hat (nach ungefähr anderthalb Stunden), ist es fertig. Auf die Platte stellen (nicht auf den kalten Stein) und in Töpfe (zu diesem Zweck Steinguttöpfe) füllen. Nach und nach salzen und gut schichten. Mit feinem Fett bedecken. Im Topf kriegt jede Schnepfe ihr Fett ab.
4) Manche wechseln nach dem ersten Aufkochen das Wasser: das ist natürlich Ketzerei. 5) Mundartlich: »ço qué cal«, eine Formel, deren Sinn, ja sogar deren Wörtlichkeit unübersetzbar ist; buchstäblich: das, was sein muß, aber das meint seit ewigen Zeiten, seit der Erschaffung, die Natur der Dinge; es muß Wolken am Himmel geben, Blumen im Frühling und das Confit in der Suppe. Achtung: die Dicke Bohne liebt das Schwein, die Brechbohne die Ente, der Kohl den »saïd« – und alle lieben die Gans. »Meine Gans tut ihr bestes«, sagte Jacques Cœur. Pauke deine Zoologie! 19
LEHRBEISPIEL SUPPE Kohlsuppe mit all ihren typischen, anmaßenden Einzelheiten: 1. Der Kessel ist aus Gußeisen, Kohl liebt Gußeisen; und die Liebe ...; 2. mit Henkeln, weil man ihn über das Feuer hängen muß; niemals auf den Dreifuß, noch an den Rand des Herdes; 3. und ziemlich beleibt, der Kohl hat es in seinem Topf gerne bequem, die Arme frei ... »Luft, Luft!«, wie Goethe rief; 4. folglich ein Kesselhaken mit Einkerbungen im Kamin; 5. Würze: der »saïd« (sogar ranziger), welcher, wie Du weißt, das gerollte und am Balken geräucherte Nierenfett vom Schwein ist; 6. im Trab, aber nicht im Galopp garen; in zwei Stunden ist alles fertig; 7. am Ende soll ganz wenig Brühe übrigbleiben; 8. und nun, wenn Du einen empfindlichen Magen hast, hat Deine Liebste die Scherbe eines Tellers in den Kessel gelegt, das nimmt den scharfen Geschmack; 9. vergiß nicht die »roussole«: das ist eine Art primitiver Füllung, in der Pfanne ernstlich angebräunt, die man freitags mangels Schweinefleisch der Kohlsuppe zubilligt. 20
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Was mich betrifft, so kannte ich während meiner ganzen Kindheit in meinem Dorf Pieusse nur drei Gerichte: Suppe, Frikassee und Braten. Drei, mehr nicht.«
Dort praktizierte er die Kunst des »vivere parto«, des Lebens vom Wenigen. Direkt nach dem Krieg begann er eine zweite erfolgreiche Karriere als Schriftsteller.
Joseph Delteil Die paläolithische Küche
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Der 1963 geschriebene Essay »Die paläolithische Küche« ist eine Anweisung zur radikalen Beschränkung auf das dem Kochen wesentliche, auf die Substanz. Ein Manifest des »terroir«-Gedankens, lange bevor der Begriff in Mode war: scharf, heftig, klar und angriffslustig. Der modernen Kochweise der Promidinners und Kochshows hält Delteil sein Konzept einer »cuisine brute« entgegen.
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ISBN 978-3-940884-29-9 16.90 EUR [D]
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