Dewald-Koch Am falschen Ort

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Die Tage verlieren ihre Bedeutung, Zeit und Ablauf betreffend. Einzig der Augenblick ist es, der für Arno zählt. Der Augenblick mit Senta. So ist es sein ganzes Leben gewesen. Das Behalten und Vergessen von Worten und Dingen ist für ihn bedeutungslos, gemessen an der Tatsache, dass sie einander nahe sein können. So lange, bis er loslassen muss. Er hat Angst vor diesem Tag, an dem er sie endgültig gehen lassen muss, und doch hat er ihn genau vor Augen, an jedem neuen Tag.

Brigitta Dewald-Koch

Brigitta Dewald-Koch, 1951 in der Nähe von Trier geboren, studierte Pädagogik, Psychologie, Soziologie und Philosophie. Sie leitete lange Jahre eine Ehe- und Familienberatungsstelle, war Vorsitzende des Landesfrauenbeirates bei der Landesregierung Rheinland-Pfalz, ist Mitglied in europäischen Gremien und seit 1994 Referatsleiterin im rheinland-pfälzischen Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Familie und Frauen. 2003 veröffentlichte sie erfolgreich ihren Roman »Nur einen Sommer lang«. 2008 erhielt sie den Literaturpreis der Stadt Oppenheim.

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16.90 EUR [D] ISBN 978-3-940884-63-3

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Was geschieht, wenn aus dem bisher gut funktionierenden »System Familie« ein zentraler Baustein herausbricht und alle so tun, als ob sich nichts verändert hat? Können die Beteiligten die Lücke schließen - auch wenn sie zunehmend die Vergangenheit betrifft?

Am falschen Ort

Wenn sie nicht gerade barfuß läuft, bevorzugt Senta derbe Schuhe. In denen tänzelt sie wie eine Ballerina. Das bringt Arno gelegentlich zum Lachen. Er weiß aber, dass Senta dann schrecklich böse werden und er sich anschließend für den Rest des Tages bei ihr entschuldigen kann.

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Eine Mutter verlässt ihre Familie und wird eine erfolgreiche Theaterschauspielerin. Ihre Tochter Paula, das jüngste Kind, verfolgt ihren Weg aus der Ferne. Obwohl alle um sie herum sie vor den Veränderungen, die die Mutter provoziert, schützen wollen, wird rasch deutlich, wie schlecht das gelingt. Paula schert schließlich auch aus dem Gefüge aus. Sie folgt ihrer Mutter und stößt auf deren Geheimnis. Der Roman beginnt beinahe so, wie er endet: Am Anfang liest die Mutter der Tochter vor, zum Schluss die Tochter ihrer wiedergefundenen, nun dementen Mutter. - Immer ist einer der Familie »am falschen Ort«.

Roman

Am falschen Ort Brigitta Dewald-Koch

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Brigitta Dewald-Koch erzählt in diesem Buch vom komplizierten Verhältnis von Müttern und ihren Töchtern, von der Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung, von der gefährlichen Rolle der Illusionen in Familien und von Männern, die im richtigen Augenblick schweigen können.

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Brigitta Dewald-Koch

AM FALSCHEN ORT

Roman

Verlag AndrĂŠ Thiele


© VAT Verlag André iele, Mainz am Rhein 2011 Umschlag: Malika Wichtendahl, gestaltungsraum.de Lektorat: Petra Seitzmayer, Mainz Satz: Felix Bartels, Berlin Druck: Winterworks, Borsdorf Alle Rechte vorbehalten. www.vat-mainz.de isbn 978-3-940884-63-3


Prolog Heute Abend wird sie sich entscheiden müssen. Es fiele ihr leichter, zu einem Entschluss zu kommen, wäre da nicht die Angst, etwas Falsches zu tun. Sie sieht sich nach einer Beschäftigung um, nach irgendetwas, das ihr einen Halt gibt. Beim Bücken nach einer Socke ihres Kindes wird ihr ein wenig schwindlig. Sie schiebt eine Hand zur Hüfte hin. Dabei atmet sie tief ein- und danach wieder aus. Den Blick hat sie fest auf Paula gerichtet, die am Boden sitzt und den kindlichen Tag mit ihrer Spielente nochmal aufleben lässt. So will sie das Zubettgehen so lange wie möglich hinauszögern. ›Einen festen Punkt fixieren ...‹, denkt sie. ›Du musst dir einen Ankerpunkt suchen.‹ Vor kurzem sprach eine Gruppe im »Carpe Diem« über das Glück und dessen »Kraftquellen«. Um Ankerpunkte ging es, Selbstvertrauen und Dankbarkeit. Das Wort Ankerpunkt hatte ihr gefallen, und sie hatte sich sofort etwas darunter vorstellen können. Aber das Wort Dankbarkeit verabscheute sie zutiefst ... »Ich muss dir was ganz Wichtiges sagen«, hört sie Paula sagen. Nein, nicht sie ist gemeint, wie sie zunächst glaubte. Diesem hässlichen gelben Ding gilt Paulas ganze Aufmerksamkeit. Diesem vom vielen Herumtragen und vom vielen Hochwerfen und stürmischen Liebkosungen schwer gezeichneten Plüschtier wispert Paula etwas ins Ohr. Woran hat sie eben gedacht? Ach ja, an den Ankerpunkt ... Sie muss ihr inneres Gleichgewicht wiederfinden. Paula legt den Kopf schräg. Drei, vier Sekunden verharrt sie still in dieser Position, schaut ihrer Mutter dabei zu, wie diese Ordnung im Zimmer schafft. »Ist was, Mama? Bist du krank?« »Was los ist, willst du wissen? Zu Bett gehen sollst du, und dass schon seit einiger Zeit. Ja, es macht mich allmählich krank, dass du die Dinge, die für ein Kind selbstverständlich sein sollten, nicht tust.« »Gleich, Mama. Ehrlich.« 


»Immer heißt es bei dir gleich. Brave Kinder folgen ihrer Mutter aufs Wort.« Als habe die Mutter nicht sie, sondern ein anderes Kind mit ihren Vorhaltungen gemeint, wendet sich Paula wieder ihrer Stoffente zu. Die Mutter seufzt. Sie hebt die Kleidung ihres Kindes vom Boden auf und sortiert sie nach schmutziger Wäsche. Paula wirft ihr Stofftier in die Luft, fängt es mit einem Jauchzer wieder auf, drückt es an sich, fragt: »Kannst du mir mal verraten, warum Jakob schon in die Schule gehen darf und ich noch nicht? Wir sind doch fast gleich groß.« »Wer ist Jakob?« »Mein allerbester Freund. Nach den Sommerferien geht er in die Schule, und ohne ihn macht es mir im Kindergarten überhaupt keinen Spaß mehr.« »Dann triffst du ihn eben nach der Schule.« »Aber Mama ...« »Schluss jetzt! Es ist genug geredet.« Paula sieht im Gesicht der Mutter so viel Ernst und setzt ein leuchtend klares Kinderlächeln entgegen. »Mama«, bettelt sie. »Ich muss Lulu nur noch eine wichtige Sache erzählen, ganz, ganz, ehrlich.« Am liebsten würde die Mutter sagen: »Mach, was du willst.« Aber sie sagt: »Zwei Minuten noch, danach bist du ein folgsames Kind« – und wendet sich den am Boden liegenden Stiften und Bausteinen zu. Diese räumt sie, ebenso wie einen Teller, auf dem ein bräunlicher Apfelrest abgelegt ist, sorgfältig zur Seite. Die zwei Minuten sind längst vorbei. Die Mutter geht aus dem Zimmer. »Mama«, ruft Paula ihr hinterher. »Ich wollte ...« Die Mutter stöhnt leise auf, als wollte sie auf diese Weise ihrem Kind signalisieren, dass sie keine Kraft mehr hat. Aber kurz darauf kommt sie in Paulas Zimmer zurück, sieht das Kind zerknirscht am Boden sitzen. In der Hand hält sie ein schmales Buch. »Liest du mir jetzt eine Geschichte vor, liebe Mama?« »Das könnte dir so passen.« »Aber Lulu würde sehr gerne eine Gute-Nacht-Geschichte von dir hören.« 6


»Dann sag Lulu, vielleicht lese ich ihr etwas vor, wenn sie schlafen geht. Nicht eher.« In Windeseile springt Paula vom Boden auf und läuft die Spielente fest an sich gepresst zum Bett. Sie stürzt sich in die Decken, zieht sie sich bis ans Kinn. »Lulu schläft schon fast. Jetzt kannst du lesen, Mama.« Die Mutter setzt sich zu Paula ans Bett. »Du hast es drauf, einen um den Finger zu wickeln«, sagt sie, streicht ihrem Kind sanft übers widerspenstige dunkle Haar. Seit sie sich aus dem Restaurantbetrieb zurückgezogen hat, liest die Mutter ihren beiden Mädchen Geschichten vor. Anfangs dachte sie, es könnte ihr gefallen, nur noch mit den Kindern spazieren zu gehen und ihnen Geschichten vorzulesen. Doch allzu schnell musste sie erkennen, ihre Anwesenheit verwirrte eher, als dass sie den Kindern eine Freude war. »Warum hilfst du Papa nicht mehr im Lokal?«, hat Lilly, die Ältere, sie erst kürzlich gefragt. Der Mutter kam es vor, als spreche Lilly nur das aus, was die Großmutter der beiden Mädchen insgeheim dachte. »Du hast noch gar nicht gelesen, Mama«, bringt sich Paula in Erinnerung. »Was? Ach so ... Ja.« Paulas dunkle Wimpern flattern wie junge, gerade ihrem Nest entschlüpfte, Vögel. Vom erwartungsvollen Blick ihrer Tochter seltsam berührt flüstert die Mutter: »Bist du denn noch gar nicht müde?« Paula schüttelt energisch ihren Kopf und rückt näher an die Mutter heran. Zum ersten Mal an diesem Abend überlegt sich diese, ihre Pläne könnten nicht der eigenen Unsicherheit wegen ins Leere gehen, sondern an der Hartnäckigkeit ihrer jüngsten Tochter scheitern. Nun, dann musste das Schicksal entscheiden. Ein Gedanke, der der Mutter gefällt. Sie hört das Summen der winzigen Mücken, die um das gelbe Deckenlicht tanzen. Je länger sie diesem Summen lauscht und winzige Schwingungen in Moll auf ihrer Haut spürt, umso verbundener fühlt sie sich diesen schwerelosen, grünlich schimmernden Wesen. Ein ausgefülltes Leben an einem einzigen Tag. 7


Ein warmer Wind trägt Düfte von Rosen, Akazien, Forsythien durchs offene Fenster herein. Das theatralische Gezeter einer Amsel und die schüchterne Melodie eines Vogels, den sie nicht kennt. Wie vieles andere auch nicht. Sie spürt das feine Pulsen von Paulas Hand auf ihrer Hand. Wie von weit her erreicht sie die Frage: »Mama, was ist mit dir?« »Ich glaube fast, ich habe ein bisschen geträumt.« »Wovon?« »Von der Geschichte, die ich dir jetzt vorlese.« »Wirklich?« »Wirklich.« Dann liest sie. Aber es fällt ihr schwer, sich auf den Text, den sie auf ihren Knien hält, zu konzentrieren. Sie reiht Worte an Worte, ohne Begeisterung. Eine aufmerksame Zuhörerin hat sie trotzdem: »Es war einmal ein Apfelbaumblatt, das träumte wie schön es sein müsste, die Sterne zu besuchen. Bei den Sternen, meinte es, ging es ziemlich lustig zu. Jeden Abend tanzten und funkelten sie am Himmel und am Morgen räkelten sie sich schläfrig unter den warmen Strahlen der Sonne. Bestimmt ist es bei den Sternen nie langweilig, dachte das kleine Apfelbaumblatt traurig, während ihm sein eigenes Leben recht nutzlos vorkam. Eines Tages nahm es allen Mut zusammen und fragte den dicken Ast, der ganz in seiner Nähe wuchs und dem es zutraute viel zu wissen, wie weit es bis zu den Sternen sei ...« »Warum ist das kleine Blatt traurig, Mama?« »Du hast es doch gehört. Es fühlt sich nutzlos.« »Warum?« »Warum, warum ... Es ist nur ein Blatt. Eines von vielen. Was zählt das schon.« Paula saugt nachdenklich an ihrem Daumen. »Kann ich weiter lesen?« Paula nickt. »Der alte knorrige Baumstamm hörte, was das kleine Blatt fragte, und brummte: ›Du kleines dummes Ding, nichts als unnütze Gedanken im Sinn ...‹ »Mama, zeig mal, wie es aussieht, das traurige Blatt.« »Man kann einem Apfelbaumblatt seine Trauer nicht ansehen.« 8


»Doch, doch, das kann man.« »So ein Unsinn!« »Jetzt redest du wie Lilly.« Die Mutter schiebt Paula das Buch herüber. »Hier! Was siehst du?«, fragt sie. Paula betrachtet ausgiebig die aufgeschlagene Seite. Dann sagt sie entschieden: »Das gelbe da ist das traurige Blatt.« »Das gelbe also.« »Ja, genau.« »Und warum?« »Es ist gelb, nicht grün wie die anderen.« »Kluges Kind.« ›Es ist gelb, nicht grün wie die anderen‹, denkt sie. Mit einem Mal weiß sie auch, es ist ihr unmöglich, sich dem einmal gefassten Entschluss zu entziehen. »Du liest schon wieder nicht.« »Lesen wir also, wie das kleine Blatt von seiner Familie Abschied nimmt.« »Es kommt doch wieder zurück, oder?« »Wenn ich dir jetzt schon das Ende verrate, macht das Zuhören doch keinen Spaß mehr.« »Es kommt zurück, Mama. Ich weiß es. Weil doch alle seine Freunde auf der Erde sind und warten.« »Mal sehen, ob du Recht behältst.« »Wenn ich groß bin, will ich auch zu den Sternen fliegen, mit dir Mama.« »Warten wir erst einmal ab, bist du groß bist. Dann sehen wir weiter.« Die Mutter fährt mit dem Lesen fort, flüssiger, weicher, jetzt. »Auch dem Wind kam zu Ohren, was sich das kleine Blatt wünschte. ›Ich kann dir deinen Wunsch erfüllen‹, sagte er und blies kräftig seine Backen auf. ›Hoppla, mir wird ja ganz schwindlig‹, rief das kleine Apfelbaumblatt übermütig. Im nächsten Augenblick tanzte es schon in der Luft. Ein letztes Mal hörte es den alten Baum ächzen, dann wurde der Garten kleiner und kleiner, winzig und winziger. Der Wind trieb das kleine Blatt vor sich her, nannte jedes Tal, jeden Berg, jeden See, über 9


den sie hinweg flogen, beim Namen, als seien sie seine besten Freunde. Das kleine Blatt kam aus dem Staunen nicht heraus, den Garten hatte es schon fast vergessen. Der Wind trieb das kleine Blatt vor sich her, ohne es auch nur ein einziges Mal ausruhen zu lassen, aber das machte ihm nichts aus. Schon bald würde es mit den Sternen spielen ...« An Paulas Atmen merkt die Mutter, dass das Kind eingeschlafen ist. Längst ist auch das Summen der Mücken verstummt und eine Stille war ins Zimmer getreten. Tief und weich wie Watte. Diese Stille, diese Insel der Geborgenheit, will die Mutter ein letztes Mal tief in sich aufnehmen und dann leise aus dem Zimmer gehen.

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1. Kapitel Es wollte Lilly nicht gelingen, Paula davon zu überzeugen, dass Apfelbaumblätter kaum weiter als zehn Meter durch die Luft fliegen konnten. »Für mehr als im Staub oder Dreck zu enden sind Apfelbaumblätter nicht geschaffen«, sagte Lilly. »Allenfalls als Kompost.« Sie bemühte ihr Lexikonwissen, ihre sehr guten Schulkenntnisse in Naturkunde, Biologie und Physik, allein es half alles nichts. Paula beharrte darauf, dass Apfelbaumblätter zu den Sternen fliegen konnten. Die Mama hatte das erzählt. »Mutter hat uns viel erzählt«, bemerkte Lilly verächtlich, worauf Paula es vorzog, ihren Daumen in den Mund zu schieben und zu schweigen. »Glaubst du wirklich, unsere Mutter ist in einer Kur?«, hatte Lilly vor ein paar Tagen gefragt und dabei gegrinst. Sie hatte gesagt: »Ich weiß, wo sie ist und auch warum. Soll ich es dir verraten?« Aber dann war sie doch nicht damit herausgerückt, was sie wusste; hatte nur den Tipp gegeben, Augen und Ohren weit aufzusperren, wenn die Großmutter und der Vater miteinander redeten. Paula hatte zugehört, ganz genau. Klüger geworden war sie dabei nicht, eher verwirrter. »Weißt du eigentlich, wie weit es bis zu den Sternen ist? Eine Raumfähre braucht ...« Paula drehte sich zur Wand. Sie verbarg ihr Gesicht in Lulus weichem Gefieder. An nichts anderes wollte sie denken, nur daran, wie weich und gemütlich sich Lulus Körper anfühlte. Fast so weich wie ihr Daumen. »Hey Paula ...« Für einen Augenblick überlegte Paula, sich die Ohren zuzuhalten. Aber sie wusste, dann würde Lilly lauter reden. Wenn auch das nichts half, würde sie zu ihr, Paula, ins Bett kriechen und ihr vielleicht sagen, was sie alles wusste. ›Auch kluge Leute können sich mal irren‹, dachte Paula. »Eine Raumfähre ist doch bestimmt viel schwerer als ein Blatt von einem Apfelbaum.« 11


Paula wusste nicht, wie eine Raumfähre aussah und was sie zu leisten vermochte. Aber sie hoffte, ihre Schwester müsste ihr zumindest in diesem Punkt Recht geben. »Du denkst wie ein Baby, und du redest wie ein Baby. Aber wenn du weiter dumm bleiben willst, bitte, von mir aus.« Lilly lachte gehässig und ihr Bett knarrte grimmig, ehe sie an Paulas Bett vorbeistolzierte und dabei zischte: »Wie kann man nur dermaßen stur sein.« »Auch kluge Leute können sich mal irren, Lilly.« »Gut möglich, dass sich jemand irrt. Ich weiß auch schon wer, aber ich bin das bestimmt nicht.« Wie eine Königin schritt Lilly aus der Tür. Ein kühler und nach Regen riechender Luftzug fiel durch das Fenster, streifte Paulas Gesicht. Sie reckte ihre Nase. Wie eine Katze, die sich orientieren will, schnupperte sie an dem erdigen Geruch, der die Brise begleitete. Plötzlich musste sie an die beiden Häuser denken, die sie und Jakob am Abend zuvor mit bunter Kreide auf das warme Straßenpflaster gemalt hatten. »In was für einem Haus willste später mal wohnen?«, hatte Jakob von der Spitze des Klettergerüsts nach unten gerufen, wo Paula sich anschickte, ebenfalls nach oben zu klettern. »Weiß ich noch nicht«, hatte sie geantwortet. Worauf Jakob meinte, er wisse ganz genau, wie und wo er wohnen wollte, auch mit wem. Mit der Geschmeidigkeit eines Panthers war er vom Klettergerüst gesprungen. Er hatte ins Gras gegriffen und mit einem Mal bunte Kreidestücke in der Hand gehalten. »Komm mit, ich zeige es dir.« Jakob war in den Grüneburgweg gelaufen, und Paula war ihm gefolgt. Auf der Straße hatte er mit ein paar Strichen ein Haus gemalt, eins mit großen runden Fenstern und einem Garten, der wie ein See aussah. Um das Haus zog Jakob eine Mauer mit Gucklöchern. Dann malte er noch einen Hund, der den Eingang bewachen sollte. In so einem Haus wolle er mit ihr leben, sagte Jakob. Den ganzen Tag wollte er Gitarre spielen. »Ist doch gut, oder?«, sagte er, warf die Kreide zu Boden und wischte sich die Hände an der Hosennaht ab. 12


Paula konnte sich nur schwer vorstellen, wie das sein würde, wenn sie und Jakob erwachsen wären, zusammen in einem Haus lebten und er den lieben langen Tag nur Gitarre spielte. Irgendwie stellte sie sich das ein bisschen langweilig vor. Auf gar keinen Fall gefiel es ihr, in einem Haus zu leben, um das eine dicke Mauer ging, und von einem Hund bewacht zu werden. Paula stand da, schaute abwechselnd auf das Haus, auf Jakob, der neben ihr nervös herumzappelte. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. »Warum sagst du denn nichts?« »Wer von uns beiden geht mit dem Hund spazieren?« »Du. Ist doch klar.« »Wieso ich? Du willst doch einen Hund.« »Okay, ab und zu kann ich ja auch mal mit ihm Gassi gehen, wenn du nicht gut drauf bist oder so ...« »Ich bin aber meistens gut gelaunt ... Es ist nur ..., ich weiß nicht, ob ich einen Hund mag.« »Bist du denn nicht traurig, weil du doch jetzt keine Mutter mehr hast?« »Deswegen will ich noch lange keinen Hund. Und meine Mama ist nur in der Kur. Wir telefonieren jeden Abend ganz lange miteinander.« »Ehrlich?« Jakob machte ungläubige, große Augen. Paula nickte, aber sie wollte Jakob nicht dabei ansehen. »Eigentlich hast du es richtig gut. Jetzt, wo du keine Mutter mehr hast, die andauernd hinter dir her ist.« Blitzartig griff Paula nach der Kreide, die Jakob auf der Straße abgelegt hatte. Auch sie malte jetzt ein Haus. Jakob sah ihr dabei zu, gab seine Kommentare ab. »Sieht aus wie eine in einen Sturm geratene Hütte«, sagte er. Einen rechteckigen Garten wollte Jakob auch nicht, auch keinen Baum, wie Paula ihn ans Haus gemalt hatte. Der mache alles dunkel, da könne er keine Noten mehr lesen. Die Mauer fehle, außerdem der Hund. »Ich brauche keine Mauer.« »Wenn ein Haus eine Mauer hat, weiß man wenigstens, wem es gehört.« 13


»Aber ich weiß doch, dass es mir gehört.« »Ja, du, aber sonst weiß es doch niemand.« Eine Weile zankten sie miteinander. Darüber ging ihnen die Lust am gemeinsamen Spielen verloren. Jakob sagte, er habe noch etwas anderes zu tun und trollte sich von dannen. Er ging zu dem Haus Nummer 14 des Grüneburgweges und Paula zu dem Haus Nummer 18. Jakob streckte noch einmal kurz seinen Kopf aus dem Torbogen heraus und winkte Paula zu, bevor er im Eingang seines Hauses verschwand. Sie winkte zurück. Es war beinahe wie jeden Abend, wenn sie sich trennen mussten, um zu ihren Familien zurückzugehen. Sie winkten und verabredeten sich für den nächsten Tag. 2 Aus der Küche kamen verhaltene Geräusche. Paula wusste, das war ihre Großmutter. Jeden Morgen bereitete sie für alle das Frühstück, als sie noch da war, auch für ihre Mutter. Großmutter Eliza ließ es sich nicht nehmen, morgens als Erste in der Küche zu stehen, wie zum Ausgehen zurechtgemacht. Ein Hauch Lavendelduft umgab sie. Paula nannte ihn den Paula AlteLeute-Duft. Zu keinem Zeitpunkt wäre Eliza in den Sinn gekommen, sich im Bademantel an den Frühstückstisch zu setzen. Keiner in der Familie tat das, außer ihrer Tochter Senta als sie noch da war. Eliza kochte in der Küche schwarzen, starken Kaffee für sich und ihren Schwiegersohn, Kakao für die beiden Mädchen. Anschließend deckte sie den Tisch. Sie tat all die Dinge, die sie schon immer getan hatte. Als sie selbst noch verheiratet gewesen und Senta ein Kind war, kochte sie schwarzen, starken Kaffee für ihren Mann. Selbst dann, wenn er nichts davon hatte, weil er nachts nicht nach Hause gekommen war und seinen Kaffee woanders trank. Die Gewohnheit ist ein starkes Seil, das einen sicher über jeden Abgrund führt, war Eliza überzeugt. Deshalb kochte sie noch immer schwarzen, starken Kaffee. Jetzt tat sie es für den Mann ihrer Tochter. Er mochte ihren Kaffee und trank ihn regelmäßig. Aber das, fand Eliza, war auch das einzig Gute an ihm. 14


Paula überlegte, ob sie aufstehen und mit ihrer Großmutter sprechen sollte. Lilly machte das manchmal. Dann hörte man die beiden miteinander flüstern oder murmeln. Jedes Mal fühlte sich Paula, als sei sie von etwas Wichtigem ausgeschlossen. So sehr Paula ihre Großmutter auch liebte, es gab ein paar Dinge, die mochte sie an ihr nicht besonders. Zum Beispiel, wenn ihre Großmutter flunkerte. Ihre Mama müsse sich ausruhen, an einem ruhigen Ort, so ein Restaurantbetrieb sei halt auf die Dauer zu anstrengend für eine zarte Frau, hatte ihre Großmutter gesagt. Ihre Mutter und zart? Groß und stark war sie. »Ist denn meine Mama krank?«, hatte Paula gefragt. »Man könnte es so ausdrücken, ja.« »Aber ich habe gar nicht gemerkt, dass sie krank ist.« Das stimmte zwar nicht ganz, denn Paula erinnerte sich sehr gut an den Abend, als sie das Zubettgehen hinausgezögert hatte. Immer, wenn Paula daran dachte, spürte sie, wie sie Bauchweh bekam. »Na ja, richtig krank ist sie nicht. Es ist ihr halt alles ein bisschen über den Kopf gewachsen, da wird ihr die Kur gut tun.« »Bist du auch schon in einer Kur gewesen?« »Um Himmelswillen! Aber ich führe ja auch kein Lokal. Ich bin für euch zuständig.« Paula gefiel nicht, wie ihre Großmutter diesen Satz Ich führe ja auch kein Lokal gesagt hatte, noch dazu, weil es ein Restaurant, das ihrer Mutter und ihrem Vater gehörte. »Besuchen wir Mama in der Kur?« Bei dieser Frage war Eliza ihrer Enkelin sanft übers Haar gefahren. »Frag deinen Vater. Er muss das entscheiden«, sagte sie. Paula erzählte ihrer Großmutter nicht, dass sie längst mit ihrem Vater gesprochen hatte, auch nicht, was sie von Lilly wusste. Die Mama werde wahrscheinlich für eine längere Zeit woanders leben, hatte der Vater erklärt und dabei traurig ausgesehen. »Warum?« »Nicht auf jedes Warum gibt es eine eindeutige Antwort, Paula.« »Warum?« »Weil auch Erwachsene nicht alles wissen.« »Lilly sagt, sie weiß alles.« 1


»Ich weiß, dass sie so denkt.« »Sah die Mama deswegen immer ein bisschen traurig aus«, ›und ungeduldig‹, dachte Paula, »weil sie wusste, dass sie eine Weile von uns fort musste?« »Ja, auch deswegen.« »Aber wir können sie doch besuchen.« »Vorerst nicht, denke ich.« »Weil es zu weit weg ist, wo sie jetzt ist?« »Nein, nicht deswegen. Sie möchte eine Weile alleine sein, das ist der Grund.« Schuldbewusst hatte Paula den Kopf gesenkt. »Es wird alles wieder gut, ich verspreche es dir«, hatte ihr Vater gesagt. Man müsse nur ein wenig Geduld haben. Aber wie lange? Diese Frage beschäftigte Paula, bis sie sich eines Abends Lilly anvertraute, obwohl die bereits das Licht gelöscht hatte. Sie wollte am anderen Tag eine gute Schularbeit schreiben und deswegen früh schlafen. »Unser Vater hat selbst keine Ahnung, wie es mit unserer Mutter weitergeht«, sagte Lilly. »Sie ist nämlich in einer ganz speziellen Kur. Und jetzt lass mich schlafen.« 3 Oder war ihre Mama in der Kur, weil sie und Großmutter sich öfter gezankt hatten? Wegen allem möglichen Zeugs hatten sie gezankt. Großmutter Eliza mochte nicht die Musik, die Mama mochte. Auch nicht, wenn die Mama in einer Sache anderer Meinung war. Nicht eine einzige Fluse konnte über den Fußboden spazieren, sofort kam der Staubsauger. Die Mama hatte das aufgeregt. Sie lebten doch nicht in einem Krankenhaus, hatte sie gesagt, und vom Fußboden essen wolle auch niemand. Bei jedem Streit war erst die Großmutter, dann die Mama beleidigt. Meistens endete alles damit, dass die Mama heulend in ihr Schlafzimmer rannte, die Tür mit einem lauten Knall hinter sich in Schloss warf und, als wäre es damit noch nicht genug, den Schlüssel umdrehte, dass es nur so knirschte. Wenn Paula an die Schlafzimmertür geklopft und gefragt hatte: »Geht es dir wieder gut, Mama?«, war von drinnen kein einziges 16


Wort gekommen. Ging die Tür endlich wieder auf, hatte die Mama für nichts und niemanden einen Blick gehabt. Stattdessen rannte sie aus dem Haus, als konnte sie gar nicht schnell und weit genug fortkommen. Und jetzt war sie fort. »Meine Senta ist ein bisschen überempfindlich«, hatte die Großmutter gesagt. »Die beruhigt sich schon wieder. Du darfst das alles nicht zu ernst nehmen.« Aber wenn die Mama weinte, nahm Paula das ernst. In der Nacht jedoch, wenn sie hörte, wie gut sich ihre Mama und ihrer Papa verstanden, dann war es, als sei eine Fee gekommen, die sie von all dem Schrecklichen erlöste, das sie den ganzen Tag mit sich herumgeschleppt hatte, und endlich konnte sie ruhig schlafen. Einmal, da hatte Paula ihrer Großmutter vorgeschlagen, sich ab und zu mal vom Ordnung machen auszuruhen. Ein bisschen Durcheinander konnte doch wirklich richtig gemütlich aussehen, aber die Großmutter hatte nur traurig geseufzt: »Glaub mir, Kind, dann würden deine Mutter und ich uns nicht weniger streiten. Es gibt da ein grundlegendes ... Missverständnis zwischen uns.« War es wegen dieses Missverständnisses soweit gekommen, dass ihre Mutter eine Kur brauchte? Doch vielleicht war sie der Grund, nur wollte ihr das keiner sagen. 4 Ein gelber Sonnenstrahl fiel steil wie ein Zacken durchs Fenster. Er bahnte sich einen Sonnenweg durchs Zimmer der Mädchen. Lillys Bett stand links des Weges, Paulas hingegen auf der rechten Seite. Silbrig glänzende Staubkörnchen tanzten übermütig über diese Sonnenstraße. Leicht wie Luftballone stiegen sie auf, drehten Pirouetten, standen für den Hauch einer Sekunde wie unschlüssig in der Luft, sanken dem Boden entgegen. Aber kurz bevor sie ihn berührten, schwebten sie, wie von Zauberhand geführt, wieder nach oben. Das brachte Paula schnell auf andere Gedanken. 17


»Ja, sie tun mir auch weh.« »Leider haben wir hier im Zimmer kein Wasser. Willst du es nicht wenigstens versuchen ... ich meine, ein paar Schritte? Es macht wirklich richtig Spaß.« So kam es, dass Eliza dank Paulas Überredungskünste schon am nächsten Tag wieder einigermaßen fest auf ihren Beinen stand. Sorgfältig gekleidet und wohl frisiert empfing sie lächelnd sieben verdutzt dreinschauende ältere Damen, die mit Blumen, Kuchen und mehreren Büchern aufmarschiert waren, um eine Kranke zu unterhalten. Es war immer noch Winter. In der Nacht war es klirrend kalt, und tagsüber strich zuweilen ein rauer Ostwind durch die Straßen, rüttelte an Fenstern und Türen, als begehre er Einlass. An manchen Tagen zeigte sich aber auch gegen Mittag die Sonne. Dann konnte man in den geschützten Ecken die ersten Boten des Frühlings sehen. 23 Senta kam. Drei Anläufe reichten nicht, ehe es ihr endlich gelang, die Klingel der Familie Hagen im Grüneburgweg Nummer achtzehn zu drücken. Als ob jemand nachhelfen wollte, packte sie ein scharfer Windstoß, drückte sie an die Eingangstür des Hauses, so dass sie auf die Klingel kam. »Wer ist da bitte?«, fragte eine kindliche Stimme durch die Sprechanlange. Senta musste schlucken, ehe sie antwortete: »Ich.« Ohne ein weiteres Wort sprang die Haustür mit einem kurzen Summen auf. Senta trat in den hellen Hausflur, stieg in den dritten Stock. Noch einmal ging sie in Gedanken durch, welches ihre ersten Worte sein sollten. Die Tür stand einen Spalt offen, doch war niemand zu sehen. Auf der obersten Treppenstufe blieb Senta abwartend stehen. Sie hatte alles vergessen, was sie sagen wollte, in dem Augenblick als Paula in der Tür erschien. Barfuß, ihre Stoffente eng an sich gedrückt, kam dann das ganze Kind zum Vorschein. »Hallo Paula.« 72


Mit vor Staunen geweiteten Augen trat Paula einen Schritt weiter aus der Tür. »Hallo«, kam es wie ein Echo zurück. »Willst du deiner Mama kein Küsschen geben?« Paula schüttelte verneinend den Kopf, sie machte einen Schritt rückwärts in die Wohnung zurück. Senta ging in die Hocke, streifte sich den Handschuh von der rechten Hand. »Was meinst du, ist deine Hand auch so warm wie meine?«, fragte sie sanft. Mit zusammengekniffenen Lippen ließ Paula ihre üppigen Lokken tanzen. Senta kam es vor, als machte sich das widerspenstige Haar über sie lustig. Ihre Hände vergrub Paula hinter ihrem Rücken. »Du hast doch nicht etwa Angst vor mir?« »Warum denn?« sagte Paula, »wo du doch meine Mama bist.« »Komm, lass dich drücken. Ich habe dich schrecklich vermisst.« »Das glaube ich dir nicht.« »Wieso nicht? Es ist wahr.« Paula schwieg jetzt. Sie ging noch einen weiteren Schritt rückwärts. Einen Augenblick lang betrachtete Senta schweigend das Kind vor sich. Dann erhob sie sich und schloss Paula in ihre Arme. »Meine Kleine«, flüsterte sie. »Du hast mir wirklich sehr gefehlt.« »Du riechst komisch. Du siehst komisch aus, und du sprichst auch komisch.« Senta lachte leichthin. »Ja, du hast eine komische Mutter.« »Warum?« »In München ist es schon fast Frühling. Aber hier, in Frankfurt, da tut er sich wohl noch ein bisschen schwer. Ich rieche vermutlich nach Kälte und Nässe, wohl auch ein bisschen nach Zug. Aber wieso rede ich komisch?« »Es ist so«, sagte Paula entschieden. »Nun, wenn du es sagst, wird es so sein«, lenkte Senta ein. Vermutlich meinte das Kind ihre durch Sprachübungen veränderte Modulation. Oder lag es an der langen Zeit, in der sie nicht miteinander gesprochen hatten? Senta fühlte sich miserabel. Sie fasste Paula bei der Hand, sagte: »Bei euch duftet es richtig gemütlich. Wer ist denn noch da außer dir?« 73


»Die Oma und Lilly.« »Paula, mit wem redest du da?«, kam es im nächsten Moment aus der Wohnung. »Psst«, machte Senta. Sie legte sich den Zeigefinger über den Mund. »Ich will sie überraschen.« Die Beine wurden ihr schwer. Ihr Herz begann fürchterlich zu rasen. 24 Lilly schaute wie hypnotisiert, ärgerte sich aber sofort, als ihr das klar wurde. Lieber wäre es ihr gewesen, ihre Mutter hätte nicht diese todschicken Sachen angehabt. Bestimmt hatte die das extra gemacht, um zu zeigen, dass sie auch ohne ihre Familie gut leben konnte. War sie deswegen gekommen? Demonstrativ richtete Lilly ihren Blick auf einen winzigen Schmutzfleck im Teppichboden vor ihren Füßen. »Hallo«, sagte Senta. »Wo kommst du denn her?«, fragte Eliza mit genau der vorwurfsvollen Stimme, die Senta schon immer an ihrer Mutter verabscheute. Dabei hätte Eliza viel lieber die anderen, die liebevollen Worte ausgesprochen, die ihr auch auf der Zunge lagen. Nur lagen die vorwurfsvollen weiter vorn. Diese Stimme. Hervorragend geeignet, alte Wunden aufzureißen. Dachten beide. Auf dem Schoß lag das Buch, aus dem sie ihren Enkelinnen vorgelesen hatte, bevor es an der Tür klingelte. Eliza saß steif auf der Couch. Sie betrachtete ihre vornehm gekleidete Tochter, der man die Schauspielerin ansah, vor allem im Gesicht. Das verschloss sich, noch ehe es sich richtig geöffnet hatte. Auch Eliza roch das Fremde, das Senta verbreitete. Spürte, wie es sie wütend machte. Aber die Vernunft sagte ihr, sie musste sich vor den Kindern zusammenreißen. Es durfte zu keinem Streit kommen. An den Tränen, die ihr in die Augen schossen, merkte Eliza, wie sehr es sie innerlich bewegte, Senta vor sich stehen zu sehen. Es trennte sie so viel. Rasch blinzelte sie ein paar Mal. 74


Senta lächelte: »Vom Himmel bin ich nicht gefallen. Ich bin mit dem Zug gekommen und dann habe ich, wie es sich gehört, die Öffentlichen genommen.« Eliza entging der ironische Tonfall nicht. »Wie man sehen kann, geht es dir nicht schlecht«, sagte sie in demselben Tonfall, wissend, wenn es so weiterginge, gäbe es doch noch Streit. »Ich habe keinen Grund zu klagen.« »Nein?« »Ich bin nicht gekommen, um mit dir zu streiten. Ich wollte euch sehen, mit euch über alles reden ...« Senta stockte. Auf ihrer Fahrt nach Frankfurt hatte sie sich alle möglichen Szenarien vorgestellt, selbst die schlimmsten, um vorbereitet zu sein. Aber jetzt merkte sie, es bestand ein riesiger Unterschied zwischen dem, was die Vorstellung hergab, und dem, was die Wirklichkeit bereit zu halten vermochte. Sie fragte sich, wie lange sie es wohl aushalten würde, freundlich zu bleiben, nicht in Tränen auszubrechen oder laut zu werden. Vorerst zog sie es vor, den unglücklichen Dialog mit ihrer Mutter zu beenden, indem sie etwas anderes tat als zu reden. Sie stellte ihre Reisetasche auf dem Tisch ab. Dann entledigte sie sich ihres sandfarbenen Kaschmir-Mantels, den sie achtlos über einen in der Nähe stehenden Sessel warf, von wo aus er zu Boden rutschte. Schließlich richtete sie unter sechs kritischen Augenpaaren ihr kunstvoll hochgestecktes Haar, an dem der Frankfurter Wind ein paar Strähnen gelockert hatte. »Ihr freut euch wohl nicht besonders, mich zu sehen.« »Hält sich in Grenzen«, bemerkte Lilly, die neben ihrer Großmutter saß. »Spricht man so mit seiner Mutter!«, ermahnte Eliza augenblicklich ihre Enkelin. »Habe ich euch etwa keine guten Manieren beigebracht?« »Ich spreche mit dieser Frau wie ich das will. Meint wohl, nur weil sie plötzlich hier aufkreuzt und totschicke Sachen trägt, fällt ihr jeder um den Hals?« »Nein, aber etwas Freundlichkeit wäre schön«, bemerkte Senta leise. 7


»Sind das Geschenke?« Paula, die sich bereits in die Reisetasche ihrer Mutter vertieft hatte, hielt eines der Geschenkpäckchen in der Hand, drehte und wendete es. »Ja, das sind ein paar Dinge, die ich für euch in München gekauft habe.« »Und das hier? Ist das für mich?« »Nein, für Lilly.« »Ich lasse mich nicht bestechen.« »Das hatte ich auch nicht vor.« »Ich kann es ja für dich aufmachen, wenn du willst«, bot Paula an. »Von mir aus. Du kannst auch behalten, was drinnen ist.« »Nein«, entschied Senta. »Was du nicht selbst auspackst, Lilly, fliegt in den Müll.« »Von mir aus, gern.« »Du bist jetzt bitte so nett und packst augenblicklich das Geschenk deiner Mutter aus«, befahl Eliza Lilly in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. Energisch schob sie ihre Enkelin von der Couch. Lilly wurde rot im Gesicht. Widerwillig kam sie der Aufforderung ihrer Großmutter nach. Sie ging aber provozierend langsam auf ihre Mutter zu, nahm mit spitzen Fingern die ihr zugedachten Päckchen entgegen, ließ sie fallen. Eines hob sie auf, öffnete es umständlich langsam, ihr Gesicht zeigte keinerlei Regung. Alle sahen ihr beim Auspacken zu. Keiner sagte ein Wort. Sobald Lilly das mit grünen und blauen Pailletten und Perlen bestickte T-Shirt in ihren Händen hielt, entfuhr ihr ein enthusiastisches »Wahnsinn!« Senta und ihre Mutter Eliza lieferten sich ein kurzes, stummes Streitgespräch mit blitzenden Blicken. Aber Paula und Lilly sahen es nicht. Beide hatten nur Augen für das hübsche Geschenk. Paula, die das zweite Päckchen aufgehoben hatte, hielt es Ihrer Schwester hin. »Was da wohl drin ist?«, sagte Paula aufgeregt. Lilly vergaß ihre abwehrende Haltung. Sie lächelte glücklich. Im Nu war auch das zweite Päckchen geöffnet. Zum Vorschein kam ein weißer Jeansrock 76


mit aufgesetzten Taschen und ebenfalls mit grünen und blauen Pailletten und Perlen bestickt. »So etwas hat hier keiner. Da werden sie morgen in der Schule aber Augen machen.« »Vielleicht probierst du erst einmal, ob dir die Sachen passen.« »Die passen, garantiert!« Während Lilly bereits in den Rock schlüpfte, fragte sich Senta, wie lange ihr wohl die Gunst ihrer ältesten Tochter gehörte. Paulas Päckchen war klein, doch das störte sie nicht. Entschlossen bohrte sie ihren Zeigefinger in den Plastikbeutel, bis der nachgab und ein kleines Loch entstand. Aus dem zupfte sie einen roten Luftballon heraus und versuchte diesen aufzublasen. Allerdings erfolglos, entwich doch die Luft schneller als sie in den Ballon hinein kam. »Lass mich dir helfen.« Senta blies, dass wieder Farbe in ihre Wangen kam. Der Luftballon war schnell prall gefüllt. Senta verschloss ihn mit einem sicheren Knoten, gab ihn an Paula weiter. »Ich dachte mir, du magst am liebsten Luftballons.« »Da hast du richtig gedacht.« Paula warf den Luftballon in die Luft, fing ihn wieder auf, tanzte ein bisschen mit ihm herum. Dann sagte sie: »Ich will noch drei. Einen blauen, einen grünen und einen gelben.« Zur Bestätigung des Wunsches hielt sie drei Finger in die Höhe. »Einer reicht erst einmal«, hielt Senta dagegen. »So viel Luft habe ich auch wieder nicht.« ›Da steht sie also vor mir, die Schauspielerin‹, dachte Eliza. Ihr wurde kalt. Senta entnahm derweil ihrer Tasche das letzte Päckchen, um es Eliza zu geben. »Ich habe auch etwas für dich«, sagte sie. Eliza nahm ihr Päckchen entgegen, entfernte behutsam Banderole und Papier, als sei beides ebenso kostbar wie der Inhalt. Ihr Gesicht wurde weich, als sie ein Porträt Sentas in den Händen hielt. »Was für ein schönes Foto«, sagte sie. »Ja, findest du? Fällt dir etwas auf?« Eliza nickte. Sie sah ihre Tochter bittend an. Die sagte leise: »Keine Sorge. Ich bin nicht hergekommen, um einen Aufstand zu machen.« 77


Eliza fühlte sich beschämt. Sie betrachtete das Foto und wieder schossen ihr die Tränen in die Augen. Wie gerne hätte sie jetzt Senta umarmt. Konzentriert, ernst, die Augen auf jemanden gerichtet, der nicht zu sehen war – der Fotograf vielleicht oder dieser Regisseur –, den Mund wie zu einem schwachen Protest geöffnet. Zu gerne hätte Eliza gewusst, was ihre Tochter im Augenblick der Aufnahme gesagt hatte und zu wem. »Sieht aus, als wärst du glücklich in München ... ich meine, glücklicher als hier bei uns ... zu Hause.« »Bin ich denn hier zu Hause?« Eliza konnte nicht anders, sie wich dem unglücklichen Blick ihrer Tochter aus. »Niemand kann dir das sagen, außer du dir selbst«, murmelte sie. 2 Senta ließ sich von ihren Kindern durch die Wohnung führen, wollte sie doch sehen, was sich in ihrer Abwesenheit verändert hatte. Doch wohin sie auch schaute, jeder Raum vermittelte ihr den Eindruck, als sei darin die Zeit stehen geblieben. Das berührte sie seltsam. Lilly, die ihre Mutter argwöhnisch beobachtete, fragte: »Scheint bei uns nicht so interessant zu sein wie in München.« »Wie meinst du das?« »Wie du dich hier umsiehst, das sagt doch alles.« »Ich dachte ... ihr würdet etwas verändern, irgendetwas ...« »Warum sollten wir etwas verändern?« »Weil ihr größer werdet, andere Ideen entwickelt. Jede von euch beiden ein eigenes Zimmer haben möchte, deshalb vielleicht.« »Wir wollen aber nichts verändern. Uns gefällt es so, wie es ist.« »Na dann ...« Aber Senta spürte, sie wollte etwas verändern. Irgendetwas. Sie stellte sich mitten in das Zimmer der Mädchen, sah sich gründlich um. Plötzlich kam ihr eine Idee. »Ich werde eurem Vater vorschlagen, dass er das Elternschlafzimmer mit eurem Zimmer tauscht. Dann habt ihr mehr Platz.« 78


Die Mädchen sahen einander schweigend an. Senta, gepackt von der Idee, etwas zu verändern, nahm sich vor, mit Arno darüber zu sprechen. Es gab Entscheidungen, die hatten allein die Eltern zu treffen, nicht die Kinder. Mit Arno war es allemal einfacher. Nun ging sie leicht zu Lillys Schreibtisch, beugte sich über eines der aufgeschlagenen Schulhefte. Es gehörte Lilly. Sie würde mit ihrer Ältesten über ihre guten Leistungen sprechen, dachte Senta. »Was nehmt ihr gerade in Deutsch durch, Lilly?«, fragte sie. Lilly knabberte trotzig an ihrer Unterlippe. Sie war bereit, für den Rest des Tages zu schweigen und sich von keinem Ablenkungsmanöver der Welt für dumm verkaufen zu lassen. »Hast du es gesehen, da sind lauter Einsen drin«, antwortete Paula stattdessen. »Ja, habe ich. Die Heftführung ist auch tadellos.« Mit einem Satz war Lilly zur Stelle. Sie riss ihrer Mutter das Heft aus der Hand und ließ es in der Schultasche verschwinden. »Ich will nicht, dass du in meinen Sachen schnüffelst«, sagte sie. »Mein liebes Kind, ich interessiere mich für deine Arbeiten, ich schnüffle nicht.« »Du hast dich noch nie für das interessiert, was ich tue.« »Das ist einer von den vielen Irrtümern, die sich leider in deinem Kopf festgesetzt haben«, seufzte Senta. »Ich bin deine Freundin, Lilly, nicht deine Feindin.« »Eine feine Freundin bist du! Haust einfach ab. Kümmerst dich einen Dreck darum, wie es uns geht. Plötzlich fällt es dir ein, wieder herzukommen, und dann willst du, dass alle nett zu dir sind. Aber so einfach ist das nicht. Bestechungsgeschenke, die helfen da auch nicht. Ich jedenfalls brauche das Zeugs nicht.« Lilly atmete schwer, sie kämpfte mit den Tränen. Genau das schien sie nur noch zorniger zu machen. Als sie sich abwandte, um aus dem Zimmer zu gehen, bat ihre Mutter: »Nein, bitte geh nicht. Lass uns miteinander reden, wie es zwei vernünftige Menschen tun würden.« »Worüber denn? Dass du Papa und uns betrogen hast? Wieso bist du überhaupt hier? Diese Sehnsuchtsnummer nehme ich dir nicht ab. Hat dein neuer Freund dich etwa vor die Tür gesetzt? 79


Klar, jetzt weißt du nicht, wo du hinsollst, und da fallen wir dir wieder ein.« Senta war kreidebleich geworden. Sie erkannte, dass es nicht richtig gewesen war, ohne Vorankündigung herzukommen. Aber was noch schlimmer war, sie erkannte sich selbst in Lilly. Mit einem Mal fühlte sich Senta unendlich müde. Sie trat ans Fenster und sah in einen frühen Abend hinaus. Bleischwer hing er über den Häusern und an ihren Gliedern. Was sie auch anfasste, nichts lief gut. Sie dachte an Sabine, nach Hanna die zweite Freundin, die sie im Leben gefunden hatte. Doch während Hanna mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand und es aussah, als käme sie ganz gut ohne Mann – und auch ohne Freundin – durchs Leben, definierte sich Sabine ausschließlich nur über den Mann, der ihr genommen worden war. Sabine träumte davon, was sie gemeinsam mit ihm noch alles hatte tun wollen. Dabei lief sie aber Gefahr zu vergessen, dass es da ein Kind gab, das dringend der Aufmunterung bedurfte. Diese Rolle war ihr zugefallen, dachte Senta, und sie war tausendfach dafür belohnt worden. Endlich wurde sie gebraucht, wirklich gebraucht. Durch sie hatte Sabine in das wirkliche Leben zurück und ein Kind sein Lachen wiedergefunden. Aber irgendjemanden im geheimnisvollen Himmel da oben musste das erzürnt haben. Weil er ihr nichts Gutes gönnte? Weil er Sabine nichts Gutes gönnte? Senta seufzte. In jedem Fall war es ein Glück, Sabine und ihren Jungen kennen gelernt zu haben, auch wenn jetzt ... Wieder entfuhr Sentas Brust ein tiefer Seufzer. Nein, sie wollte nicht an das Allerschlimmste denken, von dem Sabine gesprochen hatte. Senta wollte daran glauben, dass das Schicksal einer so sanften Frau wie Sabine gegenüber gnädig war. Doch wenn nicht, was dann? Diesmal war sich Senta sicher, sie war es, über der kein guter Stern stand und das strahlte offenbar auf jeden aus, mit dem sie es zu tun bekam, außer auf Hanno Krusinski. Ein Gedanke fiel ihr ein, der ihr vor langer Zeit schon einmal eine Hilfe gewesen war. Sie musste sich einen Ankerpunkt suchen, an etwas denken, dass geeignet war, ihr die Sicherheit zurückzugeben, die ihr in den letzten Stunden abhanden gekommen war. 80


Sofort fiel ihr Arno ein, der jetzt in seinem Lokal hinter dem Tresen stand, darauf wartend, dass sie endlich kam. Sie sah sein Lächeln, die Ruhe, die sein Gesicht ausstrahlte. Spürte seine Hände und deren Absicht, sie zu beruhigen. Aber würden sie Kraft genug haben, die Angst von ihr zu nehmen? Senta dachte an den schrecklichen Abend in Florenz mit Hanno Krusinski, als sie sich wieder einmal fürchterlich gestritten hatten. Sie stritten über alles und jedes, vor allem aber über ihre unterschiedliche Einschätzung der Fähigkeiten einer gewissen Senta Hagen. Nur wenn sie mit Hanno stritt, spürte sie jedes Mal eine große Kraft in sich und keine Angst. »Komm nach Hause«, hatte Arno gesagt. Wie schön das geklungen hatte. Komm nach Hause. Das Blöde war nur, sie wusste nicht mehr, wo sie hingehörte. Schon gar nicht, wo ihr Zuhause war. Im Augenblick würde ihr schon etwas Ruhe reichen. Sie wollte schlafen, schlafen, schlafen. »Sieht gar nicht gemütlich aus, da draußen. Aber du bist ja hier, wo es warm ist.« Paula schob ihre rechte Hand in die ihrer Mutter. »Deine Hand ist wunderbar warm.« »Papa hat eine Neue. Glaubst du, der hat die ganze Zeit auf dich gewartet? Niemand hier hat auf dich gewartet«, kam es von der Tür. Senta fuhr herum: »Es steht dir nicht zu, in dieser Weise mit mir zu reden. Einmal abgesehen davon, dass es lauter dummes Zeug ist.« »Frag ihn doch selbst.« »Ach, Lilly. Wie kann ich dich nur überzeugen, dass ich nicht so schlecht bin, wie du das von mir denkst? Ich liebe dich, das musst du mir glauben.« »Du lügst. Du liebst nur dich und diesen Kerl. Aber ich liebe dich auch nicht, ich hasse dich.« »Wie du habe ich auch einmal gedacht«, sagte Senta traurig, aber Lilly hörte es schon nicht mehr. Sie war längst aus dem Zimmer gegangen. Senta hörte wie die Wohnungstür ins Schloss fiel und dachte: ›Arme Lilly, wir sind uns so ähnlich.‹ 81


»Wollen wir noch ein paar Luftballone aufblasen?« fragte Paula. »Ja«, entgegnete Senta matt. »Ich glaube, das ist das Vernünftigste, was wir jetzt noch tun können.« 26 Als die Kinder und Eliza schliefen, schlich sich Senta aus dem Schlafzimmer, wohin sie sich verkrochen hatte, nachdem ihr die Kraft ausgegangen war, sich noch länger sinnlos zu erklären. Im Schlafzimmer hatte sie mit Arno telefoniert. Ich bin da, wie du das wollest, aber es ist alles gründlich schief gelaufen, hatte sie gesagt. Er hatte ihr angeboten, sofort nach Hause zu kommen, alles wieder zu richten, aber sie hatte seine Hilfe nicht gewollt. Sie wollte alleine sein, wollte schlafen. In ihren Reisekleidern hatte sie sich aufs Bett fallen lassen und auf den Schlaf als verständnisvolleren Gesellen gehofft. Sie hatte die feinen Haarrisse an der Decke gezählt, kam durcheinander, zählte noch einmal, verhedderte sich wieder und konnte sich endlich über etwas aufregen. Vielleicht lag es an ihrem gemeinsamen Zimmer, dem Kopfkissen, das nach ihm duftete. Senta wünschte sich so sehr, Arno läge neben ihr, dass sie seine sanften Berührungen auf ihrer Haut spürte. Sie war bereit, daran zu glauben, ihm könnte es tatsächlich gelingen, ihrem Leben wieder einen festen Boden zu geben. Sie hatte sich an die Nächte erinnert, an denen sie und Arno nach Hause gekommen waren. Lange nachdem der letzte Gast das Carpe Diem verlassen, sie das Lokal gelüftet, geschlossen und den Heimweg durch die klare Nacht angetreten hatten. Der Spaziergang durch die Nacht, der Espresso zu Hause, die Dinge, über die sie miteinander redeten. Sie redete, er hörte meistens zu. Seine Zärtlichkeit, wenn er ihr andeuten wollte, wie sehr er sich nach ihrem Körper sehnte, und die Geborgenheit, die von ihm ausging. Trotzdem war sie gegangen. Senta hatte den Stimmen in der Wohnung gelauscht, bis es still wurde, erst da hatte sie weinen können. Sie hatte geweint, bis sie das Gefühl hatte, vollkommen leer zu sein. Plötzlich hatte sie die Stille im Haus bemerkt. 82


Senta richtete ihre Haare, erneuerte ihren Lippenstift. Im Flur hob sie vorsichtig ihren Mantel vom Haken und legte ihn sich um. Anschließend nahm sie ihre Schuhe zur Hand und zog sie erst vor der Wohnung über. Sie schlich sich davon wie ein Flüchtling. »Lebe jetzt, nicht irgendwann«, hatte Hanno zu ihr gesagt. Für ihn zählte, was er in ihr sah, nicht das, war sie in sich sah. Er hielt ihre Zerrissenheit für eine Fundgrube künstlerischer Möglichkeiten. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte er mindestens so stur sein wie sie selbst. Als sie auf die Straße trat, erschreckte sie ein eisiger Frankfurter Nachtwind. In einigen Fenstern brannte noch Licht. Sie fragte sich, ob es hinter diesen Fenstern, vom Schein eines warmen Lichts übertüncht, Menschen gab, die dachten und fühlten wie sie. Ein betrunkener Mann rempelte sie an, nahm das aber kaum wahr im Zwiegespräch mit sich selbst. In Fragen wie Antworten sinnlos. Senta lief, als ginge es um ihr Leben. Sobald sie das Leuchtschild erblickte, auf dem schwungvoll einladend Carpe Diem zu lesen stand, klopfte ihr das Herz vor Freude, aber auch vor Kummer. Sie dachte, vielleicht ist das hier mein nach Hause kommen. Auf den Tischen, Senta sah das mit einem Blick, standen neue Speisekarten. Senta nahm eine zur Hand und überflog sie. Freddy hatte sich durchgesetzt. Seit langem schon wollte er die Küche internationaler ausrichten, aber sie, Senta, hatte immer auf einer regionalen Küche bestanden. Von Hanna erfuhr Senta, dass die Gäste Freddys Angebot sehr gut annahmen. Wenngleich auch nicht jeder auf Anhieb wusste, was sich hinter einer Soupe au Pistou, Brochettes d’ Agneau de Pre’- Salé, Beuf Bourguignon oder einer Tapenade von grünen Oliven und Mandeln verbarg. Mitunter kamen beim Aussprechen der Gerichte die lustigsten Abwandlungen zustande. Veränderungen an der falschen Stelle, dachte Senta. Aber sie hatte wohl nicht das Recht dazu, in dieser Weise zu denken. Einer der Stammgäste meinte Arno darauf aufmerksam machen zu müssen, dass Senta gekommen war. Arnos Blick, als er zu ihr herübersah, war der Blick eines Kindes, dessen größter Wunsch 83


gerade in Erfüllung ging. Er lächelte, nickte ihr kurz zu, und die Wärme in seinen Augen verwirrte sie so sehr, dass sie für einen Augenblick ins Stolpern geriet. Was keiner bemerkt hatte, nicht einmal sie, er hatte den ganzen Abend die Tür nicht aus den Augen gelassen. Seit Arno sie aus den Augenwinkeln heraus hereinkommen sah, spielten seine Nerven verrückt. Zu Stromkabel, die seinen Körper in einem schmerzhaften Spannungszustand hielten, waren sie geworden. Aber da er nicht wollte, dass sie seinen inneren Zustand bemerkte, zapfte er Bier, erfüllte alle Bestellungen, beschränkte sich vorerst darauf, zu lächeln. Ihre Augen begegneten sich nur kurz. Es reichte, um das nervöse Flackern in den ihren zu bemerken, die Gereiztheit in ihren Bewegungen, das schroffe Zurückstellen der Speisekarte, das knappe Gespräch mit Hanna. Er ahnte, worüber sie redeten. ›Es liegt an mir, die Dinge wieder zu richten‹, dachte er. Er spürte eine Verantwortung, die ihn fast erdrückte. Der schmale Grat, den zu gehen sie ihm zugestand, war kaum gangbar. Trotzdem lächelte er, als er auf sie zuging. Er nahm sie in den Arm. Während er ihr Zittern spürte, sagte er: »Wir schaffen das.« »Ja«, sagt sie, Nun lächelte auch sie. »Wie ist es mit den Kindern gelaufen?« »Es war okay.« »Und deine Mutter. Habt ihr miteinander sprechen können?« »Erwarte nicht alles an einem einzigen Tag.« 27 Paula träumte von Stimmen, wurde wach, und hörte Stimmen. Die ihrer Eltern. Bislang hatte Paula sie nur freundlich miteinander reden oder lachen gehört, jetzt aber waren sie laut. Ihre Mama war laut. Verwirrt rieb sich Paula den Schlaf aus den Augen. Ihr fiel ein, ihre Mutter könnte dem Vater den Zimmertausch vorgeschlagen, ihm aber diese Idee nicht besonders gut gefallen haben. ›Irgendwie ist hier alles Murks‹, dachte Paula. Sie schlüpfte aus ihrem Bett, huschte hinüber zu Lilly und flüsterte: »Bist du auch wach?« 84


»Wie soll einer bei dem Krach schlafen können.« »Meinst du Mama hat Papa erzählt, dass wir unsere Zimmer tauschen sollen, und das hat ihm nicht gefallen?« »Sie sucht einen Grund, um wieder abhauen zu können, das ist es. Er hat es endlich auch gemerkt.« »Du meinst, die Mama will wieder fort? Sie ist aber doch noch gar nicht richtig angekommen.« »Das wollte sie bestimmt auch gar nicht.« Paula trippelte ein wenig auf der Stelle. »Ich möchte aber, dass sie bleibt«, murmelte sie. Lilly seufzte. »Es zählt nicht, was du willst«, sagte sie. »Es zählt allein, was sie will.« »Woher willst du das so genau wissen?« Lilly schwang sich aus ihrem Bett, nahm Paula bei der Hand. »Komm mit«, sagte sie. »Überzeuge dich selbst.« »Wo gehen wir hin, Lilly?« »Zu ihrem Schlafzimmer.« »Sollen wir nicht lieber hierbleiben?« »Wenn du nicht mitkommen willst, dann gehe ich eben alleine.« Lilly hatte Paulas Hand losgelassen und war gleich darauf im dunklen Flur verschwunden. Paula schlich mit klopfendem Herzen hinterher. Früher hatte ihre Mutter nachts ein sanftes, grünes Licht im Flur brennen lassen. Damit sich keines ihrer Kinder fürchtete. Aber dann hatte die Großmutter erklärt, das Nachtlicht störe ihren Schlaf und den Lichtstecker entfernt. Jetzt hockte am Ende des Flurs auf der Fensterbank nur ein schwacher Streifen Mondlicht. Ein kleiner Geist, der ins Dunkel starrte. Paula flüsterte: »Lilly, wo bist du, ich kann dich nicht sehen?« »Psst«, zischelte Lilly. Sobald sie Paula neben sich spürte, murmelte sie: »Ich kann sie sehen. Sie sind beide noch angezogen.« Lilly drückte ihr Gesicht noch näher ans Schlüsselloch. »Was machen sie denn?« »Unsere Mutter sitzt auf dem Bett und spielt mit ihren Zehen.« »Und Papa?« 8


»Der steht an der Wand.« Im nächsten Augenblick fuhr Lilly zusammen. Sie trat von ihrem Beobachtungsposten zurück und machte sich klein. »Was ist passiert?« »Unsere Mutter ist vom Bett gesprungen. Bestimmt hat sie uns gehört. Zu dumm. Warum musst du auch immer so laut sein.« Sich bei den Händen haltend wichen beide Kinder in ihr Zimmer zurück. »Jetzt wissen wir aber gar nichts«, flüsterte Paula. Doch Lilly meinte, sie wisse genug. »Ich weiß aber nichts«, sagte Paula leise. »Denk an das, was ich dir eben gesagt habe, dann weißt du auch genug.« »Nein, weiß ich nicht. Darf ich wenigstens heute Nacht in deinem Bett schlafen, Lilly?« »Nur, wenn du dich nicht so breit machst.« »Mach ich bestimmt nicht. Fest versprochen.« In dieser Nacht und in vielen weiteren, die folgten, schliefen die Mädchen eng umschlungen in Lillys Bett. Manchmal hörte Paula, dass Lilly kaum hörbar weinte. 28 »Ich suche Gesellschaft fürs Frühstück«, sagte Senta, als sie am Morgen zu den Mädchen ins Zimmer kam. Lilly öffnete kurz ihre vom Schlaf verklebten Augen und fragte: »Über was willst du denn reden?« »Über gestern, heute Nacht, meine Pläne, ach, einfach alles ...« »Ich frühstücke morgens nicht mehr.« »Wie willst du klug und stark werden, wenn du morgens nichts isst?« »Ich bin schon klug, stark brauche ich nicht zu sein. Das ist was für Dumme.« »In erster Linie, meine Liebe, bist du hochnäsig oder trotzig, vermutlich beides zusammen. Was ist mit dir Paula? Bist du auch nicht hungrig?« »Doch, sogar sehr. Mein Bauch hat eben schon geknurrt.« 86


Senta musste lachen. »Dann komm mit«, sagte sie, wartete aber nicht, sondern ging gleich aus dem Zimmer. »Verräterin«, zischte Lilly unter ihrer Decke hervor. Paula, die sich gewünscht hatte, dass ihre Mama sich ans Bett setzen und fragen würde, ob sie und Lilly gut geschlafen haben, war enttäuscht. Sie hatte gedacht, die Mama würde ein bisschen erzählen, von den Dingen, die außer ihr niemand sah. Einmal hatte sie einen Pinguin gesehen. Jedenfalls hatte sie das behauptet. Sie hatte am Fenster gestanden und ein wenig vor sich hin gesummt. Plötzlich hatte sie gesagt, auf der Straße spaziere ein Pinguin. Bestimmt wolle er den Palmengarten besuchen. Paula hatte nicht glauben können, dass in Frankfurt Pinguine auf der Straße spazieren gingen, schon der vielen Autos wegen. »Die brauchen es ganz kalt«, hatte sie gesagt, »viel kälter als es bei uns ist.« Aber ihre Mama hatte ihn doch gesehen. »Was für ein Prachtstück! Stolziert durch die Sonne, dass seine Krone nur so funkelt«, sagte sie. »Jetzt schwindelst du aber wirklich, Mama. Da ist kein bisschen Sonne.« »Jetzt guckt er mich auch noch an. Richtige Knopfaugen hat er. Sind sie jetzt tiefdunkelblau oder eher schwarz? Wenn ich das doch erkennen könnte.« Paula war aus dem Bett gesprungen und zu ihrer Mama gerannt, aber so angestrengt sie auch schaute, einen Pinguin sah sie nicht. Sie sah nur die Straße mit ihren großen, alten Bäumen, ein paar Autos, die da parkten, mehr nicht. Ihre Mama lächelte. »Wenn du schneller gewesen wärst, hättest du ihn gesehen«, sagte sie. Auch jetzt war Paula unsicher, so unsicher wie damals. Paula drückte Lulu fest an ihre Brust. Sie würde es auf einen Streit mit Lilly ankommen lassen müssen. Die Mama war im Augenblick wichtiger. 29 In der Küche roch es nach frischer Milch, nach Toast und nach Kaffee. Ihre Mama stand an der Spüle, wischte den Milchtopf aus, summte dabei ein Lied vor sich hin, das nicht gerade lustig klang. 87


Fünfter Teil 1 Sentas zweites Leben, das der eaterschauspielerin, endete am 9. November 2004. Sie verschwand wieder. In ein Leben, das sie von allen, die sie bisher gelebt hatte, am wenigsten würde beeinflussen können. Wegen einer antizyklonal geprägten Südwestlage, die weite Teile Ostmitteleuropas dominierte, war es in diesen Tagen beinahe spätsommerlich warm. Die Straßencafés waren gut besucht. Ängstliche Gäste saßen in eine Wolldecke gewickelt. Die meisten aber gaben sich, als sei der Sommer noch einmal für ein paar Tage zurückgekommen. Eine wohlwollende Stimmung lag über der Stadt, auch am 9. November. An diesem Tag bearbeitete Paula bis zum frühen Nachmittag diverse Beiträge fürs Feuilleton. Darunter Artikel über den 32. Soziologentag, der sich mit der Zukunft der kritischen Öffentlichkeit und der Illusion der Willensfreiheit befasste, über eine Verlegertagung zur Entwicklung der Buchbranche im Bereich des E-Books und über die Warnung zweier riller-Autoren über von ihnen entdeckte Gehirnmanipulationen. Senta war an diesem Tag spät aufgestanden. In der Nacht hatte sie – wie so oft in den letzten Tagen – eine Unruhe umgetrieben und erst gegen Morgen vor Erschöpfung in einen traumlosen Schlaf sinken lassen. Gegen 11 Uhr ließ sie sich von einem Taxi ins eater bringen. Dort wartete Krusinski bereits. Beide lieferten sich ein kurzes Wortgefecht bezüglich ihres neuerlichen Hangs zur Unpünktlichkeit. Senta fühlte sich ihm an diesem Morgen nicht gewachsen und lenkte ein. Krusinski schlug daraufhin vor, mit den Proben für die Aufführung der Hedda Gabler am Abend zu beginnen. Senta verhedderte sich in ihrem Text, vergaß ihn dreimal und schob das auf ihre schlechte Nacht. Krusinski bot ihr an, die Zweitbesetzung 260


auftreten zu lassen, was Senta ziemlich erzürnte. Sie argwöhnte, er habe schon lange vor, sie durch eine andere zu ersetzen. Wieder kam es zu einem Streit, diesmal lenkte Krusinski ein. Die Proben gingen weiter. Gegen drei Uhr aß Paula eine Kleinigkeit in einem Bistro vis â vis dem Haus der Kunst in der Prinzregentenstraße. Während sie auf ihr Essen wartete, schrieb sie ein paar Zeilen an Jakob. Seit seinem Brief hatte sie nichts von ihm gehört. Sein Festnetz gehörte neuerdings Lilly, sein Handy war abgeschaltet. Paula wusste, dass er auch sein Appartement samt Mobiliar an Lilly abgetreten hatte. Er logierte vorübergehend bei Kumpels und beabsichtigte, nach seinem Examen für eine Weile ins Ausland zu gehen. Es stimmte Paula traurig, zum ersten Mal von Jakobs Leben und Plänen ausgeschlossen zu sein. Ein wenig fühlte sie sich schuldig an diesem Zustand. Meinst du, wir können Freunde bleiben? hatte Jakob geschrieben und Paula schrieb ihm jetzt: Es wäre in jedem Fall schön, wenn wir Freunde blieben. Sie schrieb, sie habe viel über Eric Clapton gelernt. Aber vermutlich zu wenig, um das für seine Musik zu empfinden, was er für diese empfinde. Sie werde ihn schrecklich vermissen, wenn er von Frankfurt fortginge, denn die Stadt und er sei für sie eins. Sie wünschte ihm Glück und Erfolg bei allen seinen musikalischen Unternehmungen. Dass für ihn das eintreffen möge, was er für sich erwartete. Sie fragte ihn, ob sie sich noch sähen, bevor er abreiste. Dabei wusste sie, dass ein Abschiedsbesuch niemals in München stattfinden würde. Sie sagte ihm, vielleicht brauchten sie beide Zeit, um das Gute und Glückliche, das sie verbinde, zu bewahren und jenes, das sie gegenwärtig trennte, in keinem zerstörerischen Licht zu sehen. Von Lilly schrieb sie nichts. Paula faltete den Brief sorgfältig und steckte ihn dann in einen Umschlag, auf den sie Jakobs Name und persönlich schrieb. Sie adressierte den Brief an seine Eltern, weil sie nicht wollte, dass Lilly die Zeilen überbringt. Sie und Lilly, die Klärung zwischen ihnen musste ein paar Tage warten. ›Nicht alles auf einmal‹, sagte sich Paula. Senta hielt um diese Zeit einen Mittagsschlaf. Sie hatte sich geweigert, etwas zu essen, sie hatte sich geweigert, mit Krusinski 261


einen Spaziergang zu machen. Sie sei müde und müsse ruhen, hatte sie ihm erklärt. Sie ruhte, er ging spazieren. Danach probten sie noch ein, zwei Szenen, die Krusinski vorgab. Später ging er noch einmal ein paar zentrale Szenen mit dem übrigen Personal der Handlung durch. An einer Stelle improvisierte Senta. Krusinski rollte die Augen. Kurz vor fünf betrat Paula das Haus der Kunst, um sich die Pressemitteilung und ein paar Fakten zur Eröffnung einer Fotoausstellung abzuholen. Die Eröffnungsreden begannen gegen halb sechs Uhr. Anschließend gab es eine Führung durch die Ausstellung. Die Künstlerin, eine Französin, sprach erstaunlich gut deutsch und gab eindrucksvolle kurze Sätze von sich. Bildersätze sozusagen. Eine Zeit lang hatte die gelernte Fotografin als Zimmermädchen in Hotels unterschiedlicher Preiskategorien gearbeitet und die Zimmer der Hotelgäste fotografiert. Jedes Zimmer zeigte den Charakter seines Bewohners beziehungsweise seiner Bewohnerin auf eindrucksvolle Weise. Man sah Spuren leidenschaftlicher Aufenthalte, vollkommen unbenutzt wirkende Räume, obwohl dort ein Ehepaar eine Woche lang gewohnt hatte oder verwüstete Zimmer, wie nach einem handfesten Streit. Man konnte die Arroganz und Überheblichkeit mancher Gäste in beklemmender Weise nachvollziehen. Bei einem der Fotos steckte das Trinkgeld in einem Klecks Zahnpasta, bei einem anderen war es zwischen Toilettendeckel und schmutzigem Toilettensitz eingeklemmt. Lippenstifte lagen am Boden und Visitenkarten steckten in Spiegeln. Nicht zu Ende gebrachte Briefe und Geschäftsschreiben, in einem Fall samt Füller, waren nach der Abreise des Gastes oder der Gäste zurückgeblieben. Auf dem einen oder anderen Foto sah Paula sich mit eigenen Nachlässigkeiten konfrontiert, was sie unangenehm berührte. Der Eröffnung folgte ein Sektempfang, den Paula nutzte, um mit der Künstlerin und verschiedenen Besuchern ins Gespräch zu kommen. Sie wollte den offiziellen Angaben eine persönliche Note hinzufügen. Ihren Bericht wollte Paula in Ruhe in Milenas Wohnung schreiben. »Die meisten Beziehungen scheitern am großen Schweigen«, hatte die Fotografin zu ihr gesagt. Über diesen Satz, der auch das Motto der Ausstellung beinhaltete, dachte Paula während der Fahrt 262


zu ihrer Wohnung nach. Die Künstlerin wollte mit ihren Bildern erreichen, dass Menschen miteinander ins Gespräch kamen. »Mit welchem Ziel?«, hatte Paula gefragt. Die Fotografin hatte geantwortet: »Stellen Sie mir ihre Frage noch einmal, wenn die Ausstellungreihe, die für mehrere Länder konzipiert ist, zu Ende geht.« Sie gab Paula ihre Karte. Paula dachte auch über die Umwege nach, die man vielleicht gehen musste, um miteinander ins Gespräch zu kommen oder zu bleiben. Sie dachte an ihre Familie, in der Sprachlosigkeit immer schon eine große Rolle spielte. Dann dachte sie an Jakob, der eine Mauer des Schweigens um sich herum aufgebaut hatte, obwohl er in seinem Brief von Freundschaft gesprochen hatte. Implizierte Freundschaft aber nicht auch miteinander reden? Sie würde versuchen, das Schweigen zu durchbrechen. Fürs Erste bei Jakob, danach bei ihrer Familie. Paula wählte Jakobs Nummer, erreichte ihn aber nicht. Danach meldete sie sich bei seinen Eltern, plauderte ein paar Sätze lang mit ihnen, kam aber, da Jakobs Eltern meist wenig Zeit hatten, schnell zu ihrem eigentlichen Anliegen. Nein, Jakob sei nicht bei ihnen. Schon länger hätten sie nichts von ihm gehört. Sie bedauerten diese Entfremdung, hofften aber, er werde daran reifen. Soweit sie wüssten, habe sich seine Handynummer nicht geändert. Jakobs Eltern wussten nicht einmal, ob ihr Sohn sein Examen bereits abgeschlossen hatte oder nicht. Man verabschiedete sich freundlich voneinander. Paula versprach, sobald sie wieder in Frankfurt wäre, vorbei zu schauen. Danach rief sie Lilly an. Es war das erste Mal, dass sie miteinander sprachen, seit Paulas letztem Besuch in Frankfurt. Lilly erinnerte Paula an Jakobs Prüfungen. Er hatte die meisten von ihnen bereits mit Erfolg abgeschlossen. Paula war unangenehm berührt, weil Lilly viel, sie selbst jedoch nur wenig von Jakobs aktuellem Leben wusste. Sie fragte sich, wie es nach all der gemeinsamen Zeit dazu hatte kommen können. Einzig, weil sie nach München gegangen war? Lilly wusste auch, dass Jakob eine neue Handynummer hatte. Sie gab diese sogar bereitwillig an Paula weiter. »Bist du mir sehr böse?«, fragte Lilly zum Schluss zaghaft. 263


»Nein«, antwortete Paula. »Ich bin nur unendlich traurig.« Krusinski bat Senta eindringlich, ihre Rolle der Zweitbesetzung zu überlassen. Wieder lehnte Senta ab. Als er weiter insistierte, warf sie ihn aus ihrer Garderobe. Er ging, weil er einsah, dass ein weiterer Streit ihn auch nicht weiterbringen würde. Senta würde es höchstens noch mehr aus der Bahn werfen. Aber er war unruhig und hoffte auf Sentas Professionalität. Nach diesem Abend würde er ernsthaft mit ihr über ihre weitere Karriere reden müssen. Etwa zu der gleichen Zeit erreichte Paula Jakob unter seiner neuen Handynummer. »Lilly hat mir deine Nummer gegeben.« Jakob wirkte nicht gerade begeistert. »Ich wollte in Ruhe über vieles nachdenken«, sagte er. »Uns beide betreffend.« »Das auch.« »Lilly sagt, du steckst mitten in deinen Prüfungen, und dass es ganz gut für dich läuft.« »Ich bin froh, wenn alles vorbei ist. eorie ist nichts für mich.« »Ich drücke dir die Daumen. Und noch etwas. Rede mit deinen Eltern. Bitte.« Jakob schwieg. »Eigentlich habe ich anrufen wollen, um dir zu sagen, dass ich deinen Brief bekommen und gelesen habe.« »Ich dachte schon, er sei in der Redaktion verloren gegangen, oder jemand hätte ihn dir unterschlagen.« Paula spürte, das war nicht die Wahrheit. Eher hatte er Angst vor ihrer Reaktion auf den Brief, wollte das aber wohl nicht zugeben. »Er war nicht leicht zu lesen, bei der Sauklaue.« Jakob lachte weich. »Mir war der Inhalt wichtiger als die Schrift. Hast du alles lesen können?« »Ja. Ich habe dir heute Mittag auch einen Brief geschrieben.« »Und was steht drin?« »Ich habe auf deine Frage mit ja geantwortet.« »Meine Frage? Welche Frage?« »Ob wir Freunde bleiben.« »Ach die. Prima.« 264


›Jetzt nur kein Streit‹, dachte Paula. Sie holte tief Luft und sagte: »Ich habe heute eine Ausstellung besucht. Die Künstlerin, eine Fotografin, hat gesagt, die meisten Beziehungen würden am Schweigen scheitern. Das ist mir ziemlich nahe gegangen.« »Warum?« »Weil ich Angst habe, dass es auch zwischen uns zu einem großen Schweigen kommen könnte.« »Ich kenne mich nur mit Musik richtig gut aus, Paula. Du weißt das.« Paula schwieg. Sie dachte an den Jungen, der ihr einmal gesagt hatte, er werde sie und kein anderes Mädchen heiraten. Der sie dann auf den Mund geküsst hatte, wild und besitzergreifend auf von der Kälte steife Lippen. Später, zu Hause, hatte sie auf ihrer Unterlippe einen kleinen blutigen Riss entdeckt und war sehr stolz darauf. »Ja«, sagte sie. »Ich weiß das.« Ein kurzes unangenehmes Schweigen stellte sich zwischen ihnen ein. »Was willst du tun, wenn du dein Examen hast?«, stellte Paula den Gesprächsfaden wieder her. »London oder Pacific Palisades?« »Ich weiß es noch nicht genau. Sieht aber so aus, als könnte ich ein Stipendium für die USA kriegen. Die CD, die ich mit den Jungs in Hamburg aufgenommen habe; kann man übrigens demnächst überall kaufen. Für eine Demoversion davon bekomme ich vielleicht das Stipendium.« »Das ist ja super. Die CD, wie heißt sie, und ab wann kann ich sie mir kaufen?« »Bist du jetzt völlig durchgeknallt.« »Habe ich etwas Falsches gesagt?« »Du und meine Musik kaufen. Das wäre ja noch schöner«, sagte er aufgebracht. Leiser, ruhiger, fügte er hinzu: »Die CD ist dir gewidmet.« Paula schniefte. »Jakob?«, fragte sie. »Warum die neue Nummer?« »Gerade du solltest dir das denken können«, antwortete er. Nein, Paula verstand nicht, was er meinte. Erst als sie ihre Notizen bearbeitete und die schmale Französin vor sich sah, verstand sie. Am Schweigen würden die meisten Beziehungen scheitern, aber 26


um das zu merken, müsse es erst einmal ganz still um einen herum werden, damit man das destruktive Schweigen erkenne. Zu diesem Zeitpunkt saß Senta in ihrer Garderobe und fühlte sich zum ersten Mal an diesem Tag leicht. Sie würde die Bühne betreten und ins Publikum schauen, wie sie schon unzählige Male die Bühne betreten und ins Publikum geschaut hatte. Ihr Publikum. Dieser Gedanke, das Bild, das sie dabei sah, gaben ihr die Sicherheit zurück, die ihr in der Nacht und durch Hannos Gezeter abhandengekommen war. Mit Paula hatte es angefangen, dieses Gefühl, als zöge sich das Leben langsam von ihr zurück. Das Publikum, ermahnte Senta sich. Sie musste an ihr Publikum denken. In ihrem ganzen Leben war niemand ihr gegenüber aufrichtiger gewesen als ihr Publikum. Abgesehen von dem Mann, der sie liebte, von dem sie aber nicht einmal wusste, ob sie ihn liebte. Wenn sie an den Bühnenrand trat, konnte sie in ersten Reihen schemenhaft einzelne Personen erkennen. Etwa so, wie ein Kurzsichtiger ohne Brille sieht. Die Ruhe und das Wohlwollen des Publikums gaben ihr die notwendige Sicherheit. Selbst einzelne Zwischenrufe von Leuten, die ihr Böses wollten, änderten daran nichts. Das Publikum liebte sie und sie liebte das Publikum. Hanno verstand etwas von Inszenierungen, aber vom Publikum verstand er nicht viel. Wie sonst konnte er auf die Idee kommen, diesem treuen Publikum eine Zweitbesetzung zuzumuten. Sie war ihrem Publikum etwas schuldig, niemandem sonst. Dass sie heute bei den Proben ein paar Mal hatte improvisieren müssen, was bedeutete das schon? Das Publikum brachte ein paar Improvisationen nicht aus der Ruhe, vorausgesetzt sie waren gut. Senta spürte eine beklemmende Müdigkeit, dahinter lauerte die Angst. Senta wusste, das Leben zog sich langsam von ihr zurück. Nur warum es das tat, das wusste sie nicht. Auch nicht, was dann käme und wann. Aber sie wusste, es hatte keinen Zweck, sich zu wehren. Kein Weglaufen mehr, kein Suchen. Am Ende holte einen immer das Alte ein. Da war nichts zu machen. Gegen halb elf Uhr klingelte es an Paulas Wohnungstür. 266


Sie hatte ihren Bericht längst abgeschlossen und per Mail an die Redaktion geschickt. Sie hatte eine Kleinigkeit gegessen, das benutzte Geschirr gespült, ordentlich weggeräumt, eine Musik angedreht und sich ein Glas Rotwein eingeschenkt. Sie wollte entspannen und sich einen ruhigen Abend gönnen. Sie las einen Bericht über den Autor Stieg Larsson, der inmitten einer hoffnungsvollen Schaffensperiode in Stockholm gestorben war, als es an ihrer Tür klingelte. »Senta und Hanno sind verschwunden«, sagte Mike aufgeregt, sobald Paula die Wohnungstür öffnete. »Oh?«, sagte Paula. Sie sah ihren ruhigen Abend schwinden. Sie bat Mike herein. Er komme geradewegs aus dem eater, sagte er. Dort habe man ihm erzählt, schon bei den Proben sei Senta komisch gewesen und sie und Hanno hätten sich andauernd gestritten. Hanno habe vorgeschlagen, die Zweitbesetzung auftreten zu lassen. Senta habe sich aber wie immer gegen ihn durchgesetzt. Gegen Ende des letzten Akts, kurz bevor Hedda Gabler sagt Damit ihr es wisst, gleich werde ich ganz still sein, habe Senta ihren Blick gehoben, ins Publikum geschaut und gelächelt. Sie habe gesagt, sie verspüre keinerlei Lust mehr, sich der Unterhaltung anderer wegen zu erschießen. Eine lächerliche Handlung sei das. Sie wolle endlich mal ein schönes Ende. Warum man nicht zur Abwechslung zusammen etwas singe. Sie sei an den Bühnenrand getreten und habe die Pistole in den Orchestergraben fallen lassen. Im Saal war Stille, und dann habe sie die Bühne verlassen. Krusinski habe die Situation zu retten versucht. Er habe von einem Experiment gesprochen, dessen Absicht darin liege, die Rezipienten einer Aufführung zu Beteiligten werden zu lassen. Dies sei neues, zeitgemäßes und lebendiges eater. Er habe Joseph Beuys mit den Worten zitiert, das eater sei eine Skulptur, die ihre Schönheit einzig durch das erlange, was sie darzustellen vermag. Und das hieße, nicht Kopien eines Originals anzufertigen sondern das Original selbst weiterzuentwickeln. »War es denn kein Experiment?« »Natürlich nicht.« »Bist du dir sicher?« 267


»Paula«, sagte Mike ungeduldig. »Sie sind beide wie vom Erdboden verschwunden. Morgen früh wird man sich in den Zeitungen über die beiden lustig machen.« »Du weißt aber doch bestimmt, wo sie sind«, sagte Paula. 2 Gleich hinter Tutzing gab es eine kleine Pension. In den Sommermonaten war sie gut besucht. Die Gäste saßen auf der großzügigen Terrasse, die zu der Pension gehörte, und schauten auf den See, der nur etwa fünfzig Schritte entfernt lag. Der Starnberger See. Segelboote glitten wie Silberpfeile unter der Sonne hindurch über das Wasser und Touristenlinien legten an. Täglich kamen Leute, die sich an der goldenen Reling winkend und fotografierend drängten, ehe sie auf die Terrasse der Pension stürmten, um den besten Platz und eine freie Sicht auf den See zu bekommen. Deswegen gerieten sie gelegentlich sogar in Streit miteinander. Wenn sie wieder gingen, vergaßen sie auch schon mal, ihren Verzehr zu bezahlen. An Sonnentagen war der See eine Fundgrube für Träume jedweder Art. Anfang November aber, wenn ein nassgrauer Nebel über dem See aufzog, wurde es still an diesem Ort. Dann schlossen die Besitzer der Pension Fenster und Türen, die den Sommer und frühen Herbst über weit offen gestanden hatten. Sie hängten ein großes Schild an die Eingangstür, auf dem, weithin sichtbar, geschlossen zu lesen stand und das Datum, an dem der Bann der Stille ums Haus wieder aufgehoben wurde. Dann nahmen sie ihre Koffer vom Dachboden und fuhren zum Eisangeln in die Heimat des Besitzers nach Norwegen. Als junger Student war er nach München gekommen, um Kunstgeschichte zu studieren. Er hatte Hanno Krusinski kennen gelernt und durch ihn die kleine Pension. Damals hatte er sich in die Tochter des Hauses verliebt, ein schmuckes Mädel in einem aufregenden Dirndl und einem sanften Lachen. Wie sich später herausstellen sollte, war das Mädchen außerordentlich geschäftstüchtig. Man heiratete und wollte Kunst und Gastronomie erfolgversprechend zusammenbringen. Bald stellten sie aber fest, dass die Gastronomie besser lief als die Kunst und sie arrangierten sich entsprechend. 268


Ein mit den Besitzern befreundetes Ehepaar aus München schaute in den Wintermonaten nach dem Haus. Es hieß, das Paar liebte die Ruhe eines stillen Sees, vor allem im Winter. Hin und wieder ging ein Spaziergänger oder eine Spaziergängerin am Haus vorbei und verschwand gleich darauf wieder hinter meterhohen Tannen, alten Buchen und Birken. Wenn dann auf der Terrasse ein Pärchen saß, eingehüllt in dicke Wintermäntel und Wolldecken, das Gesicht hinter der riesigen Sonnenbrille verborgen, grüßte man knapp und ohne besonderes Interesse aneinander. Knapp zwei Stunden nach Krusinskis Experiment-Erklärungen im eater fuhr ein Auto auf den leeren Parkplatz neben der Pension. Die Beleuchtung des Wagens war schwach. Zwei Personen, in der Dunkelheit nur schemenhaft erkennbar, stiegen aus und verschwanden in der Pension. 3 Mike war verunsichert. Er hatte geglaubt zu wissen, wo Senta und Hanno zu finden seien. Aber nun, nachdem er mehr als eine Stunde lang Nummern in sein Handy tippte, die alle zu nichts führten, fing er langsam an, zu verzweifeln. Was hatten sie wieder einmal vor? Hannos Handys waren abgeschaltet. Nicht einmal die MailBox meldete sich. Das Festnetztelefon klingelte zwar, aber es hob niemand ab. Senta besaß ebenfalls ein Handy. Eines, das ihr Hanno aufgedrängt hatte. Demzufolge benutzte sie es kaum. Sie hasste eine ständige Erreichbarkeit. Das hieß, sie wusste vermutlich nicht einmal, wo sich ihr Handy gerade befand. Mike entschloss sich, Ellen anzurufen. Er befürchtete auch, sie könnte von Journalisten überrumpelt werden. Aber zu seinem Erstaunen wusste sie längst, was im eater vorgefallen war. Sie sagte, sie habe Besuch und überhaupt keine Zeit für Hannos neuerliche Eskapaden. Er müsse selbst fertig werden mit den Dingen, die er anrichte, und Senta auch. Alt genug seien sie ja alle beide. »Jetzt ist das dünne Eis eingebrochen, auf dem sie die ganze Zeit gelaufen sind«, sagte Mike betrübt, als er Paula das Gespräch wiedergab. 269


Wenn sie nicht gerade barfuĂ&#x; läuft, bevorzugt Senta derbe Schuhe. In denen tänzelt sie wie eine Ballerina. Das bringt Arno gelegentlich zum Lachen. Er weiĂ&#x; aber, dass Senta dann schrecklich bĂśse werden und er sich anschlieĂ&#x;end fĂźr den Rest des Tages bei ihr entschuldigen kann. Die Tage verlieren ihre Bedeutung, Zeit und Ablauf betreffend. Einzig der Augenblick ist es, der fĂźr Arno zählt. Der Augenblick mit Senta. So ist es sein ganzes Leben gewesen. Das Behalten und Vergessen von Worten und Dingen ist fĂźr ihn bedeutungslos, gemessen an der Tatsache, dass sie einander nahe sein kĂśnnen. So lange, bis er loslassen muss. Er hat Angst vor diesem Tag, an dem er sie endgĂźltig gehen lassen muss, und doch hat er ihn genau vor Augen, an jedem neuen Tag.

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