Léo Bardon
Annie, weißßt du noch ...
erinnerungen
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Verlag André thiele
in Zusammenarbeit mit ßophie Blandinières. Aus dem Französischen von ßabine carolin Richter. © für die originalausgabe: Michel Lafon Publishing, Annie te souviens-tu …, 2009 © für die deutsche Ausgabe: VAt Verlag André iele, 2012 Alle Rechte am deutschen text vorbehalten. ßatz: Felix Bartels, osaka umschlaggestaltung: gestaltungsmerkmal.de, dresden umschlag unter Verwendung eines Bildes von Pascalito / ßygma / cordis druck: winterwork, Borsdorf erste Auflage, Februar 2012 www.vat-mainz.de ißBn
978-3-940884-77-0
PRoLog ßie fehlt mir. warum sie mir fehlt, möchte ich ihnen erzählen. um gegen die ßtille anzukämpfen, die eingezogen ist. um nichts zu vergessen, vor allem nicht, wie viel Mut sie hatte und wie groß ihr herz war. um zu sagen, wie sehr ich sie liebe und wie unverzeihlich der Zynismus dieser Krankheit ist, deren namen auszusprechen mir noch immer schwerfällt. ein name, den ich gerne vergessen würde. A l z h e i m e r . ein verfluchter name, ein hässlicher name. Als ich dieses Buch schrieb, war sie noch von dieser welt. und doch nicht mehr. ßie war noch am Leben. Annie lebte, war aber auch schon ein bisschen gestorben, in Vergessenheit geraten. Vor einem Jahr ist sie gestorben. dieses Buch ist auch ein nachruf. ich fühle mich jetzt allein, doch mir bleibt, was sie verloren hat, die erinnerung. ich erinnere mich an die Zeit, als das schreckliche weiß noch nicht da war und an das danach. Als alles anfängt, sich zu verschlechtern, als alles beginnt, sich aufzulösen. An die Zeit, als sich das ende schon abzeichnet, die Leere. normalerweise geht man von einer leeren ßeite hin zu einer beschriebenen. Aber Alzheimer hat es sich 5
zur Aufgabe gemacht, das ins gegenteil zu verkehren. Man geht von einer vollen zu einer leeren ßeite, bis hin zur vollständigen Leere. Von ßchwarz zu weiß. Von Farbe ins dunkle. das kann nur Alzheimer. ich will ihnen davon erzählen und dann werde ich verstummen. wie Annie verstummte. Paris, dezember 2011
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»ßie dA, weR ßind ßie?«
Annie und Léo sitzen im wohnzimmer bei Annie. ßie sitzen da schon eine weile und schauen fern. Annie: »guten Abend, geht es ihnen gut?« Léo: »Aber Annie, ich bin es doch! ich bin es, Léo!« Annie: »Ah, ßie kennen Léo? wissen ßie, Léo, das ist mein Freund, und er ist wirklich großartig.« Léo: »…« Am liebsten hätte ich keine ohren, am liebsten wäre ich taub. Für gewöhnlich bin ich Léo, die Quasselstrippe, der Zuhörer. Aber in diesem Augenblick fühle ich nichts mehr. weder meine ohren noch meine ßtimme. Alles in mir ist erstarrt. Man kennt mich als Léo, den Lebenslustigen, den witzigen, nun sitze ich hier in diesem kleinen ßessel, traurig und stumm. Annie kennt mich so gut, und trotzdem erkennt sie mich nicht. Für sie bin ich irgendein Besucher, irgendein typ, dem sie erzählt, wie viel ihr dieser Léo bedeutet. ßie hat mir einmal, zu einer Zeit, als sie mich noch nicht für einen Fremden hielt, gesagt: »ohne euch«, und damit meinte sie mich und Valéra, »wäre ich längst tot.« ich bin mir bewusst, dass man an einsamkeit zerbrechen kann. Annie, Léo, Léo, Annie. eine alte, sehr müde geschichte. Längst erloschen für alle anderen, nur nicht für mich. All die Bilder, die wie ein Film in meinem müden gehirn ablaufen und die sich un9
entwegt wiederholen, habe ich vollständig bewahrt. ich erinnere mich an alles. ich erinnere mich für zwei. nachdem Annie ins Pflegeheim gebracht werden musste, konnte ich mir, gleich einem trauma, einem schwarzen Loch, merkwürdiger weise nichts mehr ins gedächtnis rufen. doch dann, über eine Art umweg, begann ich die Vergangenheit zu sehen und zu hören. Annie, Léo, Léo, Annie. Annie, Léo, die Krankheit. Annie, Léo, Valéra, Anne, die Krankheit. Annie. die Krankheit. »ßie da, wer sind ßie?« »Mein name ist Alzheimer. Man braucht nicht nach mir zu rufen, ich bin einfach da. und ich warne ßie, ich bin boshaft. ich komme mit der Absicht, alles zu zerstören, bis es keine erinnerung mehr gibt: keine Annie, kein Lachen, keinen Léo, keine worte. Bis es nicht einmal mehr genug ßchweigen gibt.« das Problem ist Annies Berühmtheit, und sie ist sogar sehr berühmt. noch vor Annie ist sie die girardot, die große französische ßchauspielerin mit fünfzig Jahren Karriere und mehr als einhundertfünfzig Filmen. es ist diese zierliche ßilhouette, dieses offene gesicht, diese ßtimme und das besondere Lachen, das den Franzosen so vertraut ist. ßie ist nahezu jedem bekannt und ist für viele die beliebteste ßchauspielerin. wo auch immer ich mit ihr erscheine, sie wird stets von allen erkannt. nun 10
ja, von fast allen. der herr jedenfalls, der neben ihr im Zug nach Paris sitzt, scheint sich vollkommen sicher zu sein: »oh, guten tag, Madame! ich kenne ßie. ßie sind wirklich eine großartige ßchauspielerin. ich bin sehr froh, ihnen zu begegnen, Madame Moreau!« ich beobachte Annie, ihre Reaktion hinter ihrer großen ßonnenbrille. ich weiß genau, dass sie etwas antworten wird. ßie hat immer eine gute entgegnung parat. niemals bissig, stets humorvoll. Manchmal ein bisschen derb. im Audiardschen ßlang sozusagen, einer Mischung aus Pariser original und ßtraßenjargon. ßie dankt dem herrn höflich und sagt: »oh, ßie sind sehr freundlich, Monsieur. und ja, ich stimme ihnen zu, Madame Moreau ist auch großartig, aber ich, Monsieur, ich bin die girardot!« Fakt ist, dass es sie nicht im geringsten kümmert, wenn man sie nicht erkennt. das wichtigste für sie ist geliebt zu werden. ßie fragt mich andauernd: »Mein Léo, liebst du mich noch?« Als ob sie sich der Antwort niemals sicher wäre oder diese nur für einen bestimmten Zeitraum gültig sein könnte. Madame girardot ist ein ßtar. ich bewundere sie. Ja, ich kann sagen, ich verehre sie für all das großartige, das sie im Kino und auf der Bühne getan hat. Aber das, was mich mit ihr wirklich verbindet, ist sie selbst. ich habe immer geglaubt, sie wäre eine zu starke Frau, um sich lieben zu lassen. doch letztendlich war sie es, die es peu à peu verstand, 11
mich nah an sich zu binden und mich bei ihr zu halten. Als was? das ist die Frage, und sie ist nicht einfach zu beantworten. Meine Position lässt sich schwer definieren. Auf jeden Fall passe ich in keine ßchublade. Als es mit Annie begann, existierte ich offiziell nicht. es gab demzufolge in den ersten Jahren nicht selten Fragen zu der dauerhaften Präsenz des jungen typen an Annies ßeite. ist das etwa ihr Liebhaber? der Verdacht, dass ich mit ihr schlafe, ist lächerlich. ich bin schwul. und ich werde nicht einfach für die girardot das ufer wechseln. »Vielleicht ist er ihr dealer?« Man hatte mir diese Frage nie direkt gestellt, bis mich eines nachts bei einem Fest ein typ fragte, ob ich nicht Koks oder ecstasy zu verkaufen hätte. ich dachte bis dato nicht, dass ich den Anschein erweckte, ein dealer zu sein. Über dieses Ansinnen war ich verblüfft und entgegnete empört: »ßagen ßie, für wen halten ßie mich denn?« er fuhr mich schroff an: »ich hielt dich für den dealer der girardot!« ich war komplett sprachlos. Bin ich ein ßchmarotzer? das wäre wohl das ßchlimmste. Aber nein, ich habe kein entgelt erhalten. Annie entlohnte mich für meine Arbeit als »persönlichen Assistenten«, indem sie mir eine kleine wohnung bereitstellte. wäre ich ein Parasit, es wäre leicht gewesen, mich an Annie zu bereichern, und ich hätte ausgesorgt. Aber das gegenteil ist der Fall. ich habe alles verloren. 12
obwohl mich Annie sehr schnell überall als ihren Vertrauten vorstellte, als Léo, der sich um sie kümmert und der ihre geschäfte führt, haben die Leute Zeit gebraucht, um mich offiziell anzuerkennen. das bin ich gewöhnt. ich bin ein niemand, einer unter vielen. Léo Bardon. dieser name sagt keinem etwas, und das ist nicht gerade lustig, weil ich eigentlich ßchauspieler bin. gut, man hat mich bisher nur in kleinen Kinorollen sehen können. nicht groß genug also, um dem Publikum im gedächtnis zu bleiben. es ist somit nichts Befremdliches, wenn sich jemand nach meinem namen erkundigt und fragt, was ich mit Annie zu schaffen habe. ich nehme ihm das nicht übel. Mich verletzt das nur wenig. Viel unangenehmer ist es, sich wie ein eindringling zu fühlen. ßo wie bei Patrick ßébastien. das war noch ganz am Anfang im Jahre 1999, während der dreharbeiten zu dem Film T’aime. es war nicht zwingend nötig, dass ich anwesend war. Aber Framboise, eine befreundete ßängerin der gruppe La Bande à Basile, über die die Begegnung mit ßébastien entstanden ist, bat mich mit stoischer Beharrlichkeit, unbedingt zu kommen. ßie rief mich jeden tag an, und immer beklagte sie sich über Annie. ßie sagte mir, dass sie abscheulich wäre und ihr charakter nicht zu ertragen sei. um diese Klagen zu beenden, fügte ich mich schließlich, und weil vor ort kein hotel mehr über freie Zimmer verfügte, sagte Annie ohne zu zögern: »er schläft bei mir.« um von den Leuten, die mich anfangs noch nicht kennen, akzeptiert zu werden, komme ich stets be13
laden mit geschenken an. Zu jener Zeit besitze ich unmengen an ßpielzeug der Marke Action Man, weil ich kurz zuvor auf einer werbetour gewesen bin. trotz der vielen geschenke fühle ich mich nicht wohl. ich verbringe meine erste nacht im haus von Patrick ßébastien und schlafe sehr schlecht. Früh am Morgen trinkt der Meister im Freien seinen Kaffee. ßeine Jungs sind auch da und amüsieren sich mit den ßpielsachen. während er ihnen zuschaut, sagt er so laut, dass ich es gut vernehmen kann: »wer also ist der große Prinz, der so viele geschenke mitbringt?« ich werde immer kleiner in meinem ßtuhl. ein paar Monate später sieht mich Patrick ßébastien beim Abendessen zur Vorpremiere seines Films T’aime mit kalten, verächtlichen Augen an, als ich gerade versuche, abzutauchen und fragt: »ßie da, wer sind ßie eigentlich?« ich bin nicht in der Lage, zu antworten, obwohl doch die Antwort so einfach ist. Annie war ja nicht die erste, die auf die unterstützung eines Privatsekretärs vertraute. die wahrheit ist, dass ich nicht antworten kann, weil ich selbst nicht genau weiß, wer ich bin. im Laufe der Monate habe ich mich in meiner Rolle verloren. Mein ganzes ßein hat sich in der neuen Funktion aufgelöst. nach und nach war ich nichts anderes mehr, als der Léo, der sich mit Annie beschäftigt. wenn man einmal gelernt hat, den Mund zu halten, ist es später schwierig zu sprechen. Als mir also ßébastien an diesem Abend diese tödliche Frage stellte, vermochte ich nicht einmal zu 14
stottern. die Antwort ist eigentlich eine Frage, die ich mir selbst stellen muss: Âťwer bin ich eigentlich?ÂŤ
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»weR Bin ich?«
Früher war ich ein kleiner ßtar. das sagten jedenfalls die erwachsenen über mich. die ßorte kleiner Jungen, die man beachtet, weil sie viel gestikulieren und dummheiten machen. ich war einer von den teenagern, die auf die nerven gehen oder begeistern, je nach ßituation. hauptsache, es passierte etwas. ich war schon immer anders. ßo habe ich mich selbst eher als den duracell-hasen aus der werbung gesehen, der einfach weiter winkt, auch wenn die werbung schon vorbei ist. ich war neugierig und ziemlich verrückt und habe schon immer das Komische dem ernsten vorgezogen. es sei denn, mir blieb keine Möglichkeit mehr, mich über alles und jeden lustig zu machen. Vor allem über mich selbst. ßo, wie es auch Annie mit vielen dingen und mit sich selbst machte. ßogar über ihre Krankheit haben wir anfangs gelacht. ich glaube, dass schon sehr früh mein talent zum ßchauspiel deutlich wurde. Allerdings am falschen ort, in der ßchule. genau da, wo man es nicht versteht, Klassenclowns zu fördern, sondern wo sie abgelehnt werden. doch das habe ich zu spät begriffen, nämlich erst, als sie mich in eine »Klasse für auffällige Kinder« gesteckt hatten. die idee war, mich aus dem allgemeinen unterricht herauszunehmen, um mir eine Ausbildung als Fliesenleger anzubieten. diese idee empfand ich jedoch als komplett lebensfremd. das war alles andere als einleuchtend. ßie lobten meine Qualitäten im Französischen, aber schlugen mir zeitgleich vor, den Beruf des Fliesenlegers zu erlernen. ich bekam weder den Bericht über mich zu sehen, noch fragte 19
mich irgendjemand wirklich nach meiner Meinung. in null Komma nichts fand ich mich geistesabwesend mit einem hammer auf Fliesen klopfend wieder. Man kann wahrlich nicht behaupten, dass mich das aufblühen ließ. glücklicherweise war das nicht von langer dauer. Meine eltern akzeptierten, dass ich mich an der Pariser ßchauspielschule anmeldete und am cours ßimon teilnahm. dort war ich endlich unter gleichgesinnten in meinem element. wenn ich nicht gerade als Possenreißer auf der Bühne des cours ßimons agierte, dann hockte ich mich unter den großen tisch im wohnzimmer, um alle ßchwarz-weiß Filme anzuschauen, die im Fernsehen liefen. Filme anschauen und ßchlafen, das waren die einzigen Aktivitäten, die ich lautlos praktizierte. der Flimmerkasten faszinierte mich, ich war hingerissen. Bei meinen eltern in Levallois oder bei meiner geliebten großmutter, die ein großer Fernsehfan war, verbrachte ich ßtunden damit, laufende Bilder aufzusaugen. dabei verschlang ich unter anderem auch den Film Dr. Françoise Gailland, dargestellt von Annie girardot. ßie spielte darin eine moderne, kämpferische Frau. ich bewunderte diese tV-heldin, weil sie mich mit ihrem Altruismus und ihrer Rebellion gegen ungerechtigkeit berührte. und sie erinnerte mich an meine Mutter, eine beherzte gastwirtin, sowie an meine großmutter, eine emanzipierte grande dame, die im Arbeitsministerium ihren dienst tat. Meine kleine, liebe großmutter. 20
durch sie weiß ich, was Freiheit und Lebensfreude bedeuten. Für den theoretischen unterricht gehe ich in den cours ßimon. wieder einmal gelte ich als Faxenmacher und das seit meinem ersten Vorsprechen. ich trage der direktorin von Apollinaire das berühmte gedicht Sous le pont Mirabeau vor. die klopft auf einen Metallaschenbecher, um ordnung in die Klasse zu bekommen. ich habe gerade begonnen, da geht meine darbietung schon schief. die unerfahrenheit spielt mir einen ßtreich, es folgt ein Blackout. ich bin absolut nicht mehr in der Lage, mich an das wichtigste zu erinnern, nämlich daran, was unter der Brücke Mirabeau fließt. Also sage ich, dass es mir entfallen ist, und besitze gleichzeitig die dreistigkeit, mein amüsiertes Publikum zu befragen: »nun sagt schon, was fließt unter der Brücke Mirabeau? gute Frage! Könnt ihr mir nicht helfen? ich habe leider absolut keine Ahnung mehr!« die Klasse ist vergnügt und die direktorin regt sich an ihrem Aschenbecher ab. ich jedoch bin begeistert, ich liebe solchen Quatsch. darüber hinaus werde ich gerade als König der clowns gefeiert. etwas weniger erheitert bin ich dann, als die direktorin mich von der Bühne scheucht und mir den ßpitznamen »de Funès numero 2« gibt. ich bin sehr strebsam zu jener Zeit und jung. ich habe also absolut nicht vor, die nummer 2 von irgendjemandem zu sein, auch nicht von de Funès, selbst wenn ich ihn unendlich bewundere. ich besitze noch den ßtolz eines Anfängers 21
und bin überzeugt, dass der tag kommen wird, an dem man mein talent als ßchauspieler erkennen und feiern wird. dieser tag kam jedoch nicht, weil der Film nicht so verlaufen ist, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. oder besser gesagt, es wurde ein ganz anderer Film. der Film von Annies Leben. es ist ihr eigener Film, in dem ich eine denkwürdige Rolle spiele. Aber einige Jahre gehen ins Land, bevor man das allgemein erkennt. Bis auf wenige ßituationen war das nicht weiter tragisch. denn ich wusste ja, dass ich der Prinzipal war. ich kannte meinen nutzen, die Bedeutung meiner Anwesenheit an Annies ßeite. Am ende ausgelaugt und abgehetzt, überkamen mich doch Zweifel, das gestehe ich. die erschöpfung gab mir flüsternd den gnadenstoß: »hey, don Quichotte, du kannst nichts mehr ausrichten. du kämpfst gegen windmühlen. Kannst du denn nicht erkennen, dass du verlierst? Man kann nichts mehr für sie tun. es ist vollkommen nutzlos, was du da machst!« Abgesehen von Annie selbst erhielt ich erst viel später Anerkennung von anderen, als nicolas Baulieus tV-dokumentation Annie Girardot – ainsi va la vie, im Jahre 2008 ausgestrahlt wurde. erst an diesem tag habe ich endlich gefühlt, dass ich mich nie mehr rechtfertigen muss. der Film zeigt all das, was wir mit Annie erlebt haben. er erklärt das, was ich Patrick ßébastien einige Zeit vorher nicht antworten konnte: Annies Liebe, ihre Zu22
neigung, unsere Zärtlichkeit, meine Aufmerksamkeiten, ihre wunden, meine Liebesbezeugungen. wir haben uns immer verstanden, auch dann, wenn es mal ziemlich stürmisch zuging. Annie hatte ihre gründe, mich gern zu haben. ßie verabscheute ßtillstand, hatte unmengen Liebe zu geben – und ich ebenso. Alle beide besitzen wir ein Übermaß an Zärtlichkeit. Bei der wahl ihrer Rollen hatte Annie girardot ein Prinzip: ßie lehnte es ab, bösartige Rollen zu spielen. die hätten ihr ßchmerzen bereitet. deswegen weigerte sie sich beharrlich, derartige Angebote anzunehmen. es war also völlig sinnlos, sie zu bitten, im Film jemanden umzubringen. Auch für Rollen mit Betrügern stand Annie nicht zur Verfügung. wenn ich ihr das ende eines drehbuchs vorlas, in dem vorgesehen war, sie zu einer Mörderin zu machen, rebellierte sie konsequent. »oh nein, niemals! ich bringe niemanden um. ich habe in keinem einzigen Film jemals jemandem etwas zuleide getan, und ich werde heute ganz bestimmt nicht damit anfangen! entweder sie ändern das ende oder ich mache es nicht. Punkt.« ßo wurde eine Kugel zu einem herzinfarkt oder zu einem Autounfall. ich lächelte schon im Vorfeld, weil ich ihre Reaktion bereits auswendig kannte. oft sah ich, wie sie sich vor dem Fernseher aufregte, wenn in den nachrichten wieder gewaltszenen zu sehen waren. Annie war gegen Krieg und jegliche Form von Leid. das geballte Böse machte sie unendlich wütend, sie verstand das nicht. ßie wünschte niemandem den tod, nicht einmal dem miesesten ty23
pen. das ßchlimmste, was sie sagen konnte, war: »den sollte man wegsperren.« ßie selbst ist es auch, die sich stets zu helfen weiß, wenn es darum geht, sich an die guten dinge zu erinnern. und zwar ausschließlich an die guten. Freude zu bereiten, glück zu verschenken, Annie tat es unentwegt. Am Anfang unserer Freundschaft versuchte sie oft, mich zum Lachen zu bringen. ßo wusste sie beispielsweise von meiner Bewunderung für Muriel Robin. Also organisierte sie heimlich eine Begegnung. ßie bat mich ganz nebenbei, zum café Banana zu kommen, wo eine kleine Überraschung auf mich warten würde. nichtsahnend blieb ich also, gekleidet wie ich war, völlig zerknittert und verschwitzt. Aber wie hätte ich auch vorhersehen sollen, dass ich gleich meinem idol begegnen würde. Als ich dort ankomme, entdecke ich Muriel Robin sofort. ßie ist mit Annie auf der tanzfläche, und die damen amüsieren sich. ich nähere mich den beiden, aber die Komikerin hält mich für einen ßtörenfried und stellt sich schützend vor den ßtar. ich bleibe angewurzelt stehen wie ein idiot und verhasple mich in einem Anfall von ßchüchternheit. dabei fühle ich mich sehr ungeschickt, und dieses gefühl löst sich auch nicht wieder auf. der ganze Abend ist schrecklich. Auf dem Rückweg werfe ich Annie vor, mich nicht gewarnt zu haben. ich werfe ihr an den Kopf, dass ich ihr doch ein geschenk mitgebracht hätte, wenn ich es gewusst 24
hätte. Annie nimmt mir meine Kommentare ziemlich übel. ßie wird wütend: Annie: »Aha, du bist also der Meinung, dass ich Mist gebaut habe. habe ich das jetzt richtig verstanden?« Léo: »nein, das wollte ich nicht sagen. ich freue mich natürlich sehr über deine Überraschung, aber du hättest mir doch wenigstens sagen können, dass es gut wäre, wenn ich mich umziehen würde.« Annie: »Ach, ich habe es satt. Jedes Mal, wenn ich dir eine Freude machen will, geht es schief!« Léo: »das ist nicht der Punkt, Annie. wenn du es mir nur ein bisschen angedeutet hättest, hätte ich mich auch gefreut.« in ihrem Zorn beschimpft Annie alles, was sich auf dem tisch befindet. wütend schmeißt sie ßkripte, Bücher, Akten und anderes umher. ein tornado tobt. Mit einem Male fliegt der ganze Kram über meinen Kopf. ich bin fassungslos und unterbreche kurz ihren wutausbruch: »okay, dann haue ich jetzt ab, und ich habe keine Ahnung, wer das alles wieder aufheben wird.« ich halte wort und verschwinde kurzerhand. Vor dem haus, als ich gerade mein Moped besteigen will, klingelt das handy. es ist Annie. »hallo, mein Lieber, hast du mich noch gern?« ich sage, dass ich sie natürlich noch gern habe und sie sich jetzt beruhigen und schlafen gehen soll. Aber zu dieser Zeit muss wohl schon diese kleine zwanghafte ßeite von ihr Besitz 25
ergriffen haben. ßie ruft mich noch einmal und noch einmal an, um mir immer dieselbe Frage zu stellen. die Frage, die sie ängstigt und die ihr keine Ruhe lässt. Annie will absolut sicher sein, dass ich ihr nicht böse bin, damit sie ruhig schlafen kann. ßie lacht und wirft ihren Kopf zurück. ihr grüner ßchal flattert im wind. Annie ruft: »ich liebe das Leben, ich liebe das Kino!« ich beginne zu träumen. in meinem traum habe ich sie entführt. Mit neuen Kleidern bin ich zu ihr ins Pflegeheim gegangen. wir lachten beide, als ich den Raum betrat. Rasch habe ich ihr geholfen, sich umzuziehen, und dann haben wir uns heimlich davongemacht. wir waren überglücklich und nahmen uns vor, all das zu tun, was wir als Kinder schon immer tun wollten; wie zwei Verrückte, die entkommen sind. wir würden essen, lachen, geschichten erzählen, spazieren gehen und streiten. wir würden alles tun, so wie früher. weil mir das so wichtig ist, würden wir zum Meer fahren, denn ich bin noch immer Bretone. und wir würden auch den himmel bestaunen, der für Annie so wichtig ist, den sie anschaut, wann immer es geht. im Auto, im Flugzeug … überall. Annie würde nie und nimmer ins heim zurückkehren wollen, das ist mir klar. Außerdem würde ich sie niemals zurückbringen können, das brächte ich nie übers herz. Annie: »ßag mir, Léo …« Léo: »Ja, Annie?« Annie: »du lässt mich nie im ßtich, nicht wahr?« 26
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unßeRe Begegnung
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18.90 EUR [D] ISBN 978-3-940884-77-0
9$7