Wolfgang Bittner
Hellers allm채hliche Heimkehr Roman
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Wolfgang Bittner
Hellers allmäHlicHe HeimkeHr
Roman
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Verlag André Thiele
© VAT Verlag André iele, 2012 Alle Rechte vorbehalten. Umschlag: gestaltungsmerkmal.de, Dresden Satz: Felix Bartels, Osaka Druck: ANROP Ltd., Jerusalem Erste Auflage, Juni 2012 isbn 978-3-940884-93-0 Printed in Israel.
Es giebt so viele MorgenrĂśthen, die noch nicht geleuchtet haben. Friedrich Nietzsche Motto aus dem Rigveda
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1 In den vergangenen Wochen hatte er seine Wohnung aufgelöst und alles, was er behalten wollte, eingelagert. Beim Einpacken der Bücher war ihm Sartres »Der Existenzialismus ist ein Humanismus« in die Hände gefallen. Er hatte den schmalen Band aufgeschlagen und den vor Jahren unterstrichenen Satz gelesen: »Der Mensch ist das, wozu er sich macht.« Daran musste er denken, während er Schallbrecht zuhörte, der von dem Doppelvergaser seines Alfa Romeo sprach, den ihm die Autowerkstatt seiner »Universitätsprovinzstadt« – so beliebte er sich auszudrücken – nicht ohne lange Wartezeit reparieren konnte: »Stell dir vor, eine Woche Lieferzeit! Ja, wo sind wir denn?« Heller musste sich ein Grinsen verkneifen, als er Schallbrecht genauer betrachtete: Brandroter Schal über dem giftgrünen Sakko, das eine ansehnliche Rundung freigab; sein Gesicht fleischiger als früher, zugleich konturierter, härter. Eine farblich zum Sakko passende Designerbrille, am Revers ein kreuzförmiges Gebilde, eine Art Brosche, aus Gold oder Bronze. War er etwa religiös geworden? Das am Scheitel schon spärliche angegraute Haar trug er halblang, hinten bis auf den Kragen fallend, so dass man ihn für einen eaterintendanten oder Kulturorganisator hätte halten können. Ein Mann, immer noch wie eine Rakete, etwas bullig zwar, aber auf eine weltläufige Art polternd, Aufgeschlossenheit demonstrierend. Merkwürdigerweise fiel ihm plötzlich »Corpus Christi« ein; das hatte auf einer amerikanischen Rakete gestanden, die mit Atomsprengköpfen ausgerüstet werden konnte. Ja, so ähnlich, so bigott. Aber auch kumpelhaft freimütig und manchmal sogar hilfsbereit, jedenfalls zu der Zeit, als er sich noch Nobbi nannte. Warum war er nach dem Tanken nicht einfach wieder eingestiegen und weitergefahren? Warum hatte er sich von Norbert Schallbrecht überreden lassen, mit ihm auf einen Kaffee in die Raststätte zu gehen, nachdem sie sich zufällig begegnet waren? Draußen rasten die Autos vorbei, eines hinter dem anderen in beide Richtungen, eine nie endende Karawane von Vergeblichkeit.
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Er ist ein Schwein, ein karrierebesessener Schwätzer, dachte Heller. Er meinte, eine Spur von Befangenheit in der polterigen, Optimismus ausstrahlenden Fröhlichkeit seines Gegenübers zu bemerken. Schlechtes Gewissen? Schallbrecht hatte wirklich Grund dazu. Die Serviererin brachte zwei Kännchen Kaffee und noch für jeden ein Stück Käsetorte, dazu hatte er sich ebenfalls überreden lassen. Wie es denn mit einem Cognac aussehe. Er winkte ab, und Schallbrecht erkundigte sich, was er beruflich so mache. Heller brauchte einen Moment. Er nahm einen Schluck Kaffee, bevor er antwortete: »Ich bin gerade dabei, in den Norden zu fahren, um eine neue Stelle anzutreten.« Und nach einer Weile fügte er hinzu: »Als Chefredakteur bei einer Zeitung.« Er fühlte sich nicht wohl, ihm war klar, dass er sich den folgenden Fragen, denen er lieber ausgewichen wäre, nicht würde entziehen können, versuchte es mit einer Gegenfrage: »Und du, was treibst du so?« Schallbrecht lachte selbstgefällig und erwiderte, Bescheidenheit vortäuschend, denn er wusste ja, dass Heller wusste, was er machte: »Na ja, immer noch Lehre und Forschung mit allen Problemen, die man heutzutage als Proff so hat.« Er nahm genüsslich einen Bissen Käsetorte und fuhr dann fort: »Du kennst das ja, die Studenten sind auch nicht mehr das, was sie mal waren – ich meine generell, unter gesellschaftspolitischem Aspekt und vom wissenschaftsübergreifenden Niveau her. Es mangelt nicht nur an einer umfassenden Bildung, sondern auch an spielerischer Diligenz und erst recht an kreativer Intellektualität.« So ein Fatzke, dachte Heller. Warum tue ich mir das an? Und den habe ich seinerzeit für eine Professur vorgeschlagen. Er fühlte sich schlecht. Es war ihm wieder vor Augen, wie er sich für Schallbrecht eingesetzt hatte, damals, als er in der Berufungskommission für die Universitätsgründung in O. saß und selber an seiner Universität kurz vor der Berufung stand, die ihm wenige Monate später verweigert wurde. Man hatte ihn in dieses Gremium als Vertreter der Assistentenschaft entsandt, und er hatte Schallbrecht aus alter Verbundenheit protegiert und gegen stärkste Widerstände durchgesetzt. Diligenz, überlegte er, bedeutet das nicht Fleiß oder Sorgfalt?
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»Mensch, Martin!«, hörte er diese affektierte, satte Stimme. »Wenn ich daran denke, was wir alles auf die Beine gestellt und wofür und wogegen wir so demonstriert haben. Es fehlt den jungen Leuten ja gar nicht an Intelligenz; ich möchte wetten, die hat eher noch zugenommen – mag sein, dass auch ein gutes Stück Gerissenheit dabei ist. Aber heute haben wir es mit lauter kleinen Karrieristen und Karrieristinnen zu tun. Manche besitzen sogar schon Aktien oder eine Eigentumswohnung, die ihnen Papa geschenkt hat, und ihr Hauptaugenmerk gilt neben der Karriere ihrem Outfit. Sie sind Weltmeister im Auswendiglernen und stöpseln sich ansonsten die Ohren zu. Dazu kommt noch die Verschulung durch dieses Bachelor-Master-Studium.« Er seufzte. »Die Eltern zahlen die Studiengebühren. Bei denen, die aus anderen Verhältnissen kommen, gehen die Semesterferien fürs Geldverdienen drauf, worüber nicht gesprochen wird. Elite ist wieder in Mode gekommen, fragt sich bloß, was für eine Elite.« Er seufzte nochmal. »Jetzt gibt es die sogenannten Exzellenz-Universitäten – unsere ist natürlich nicht dabei, tiefste Provinz.« Mensch Martin«, er hob theatralisch die Hände, »was ist nur aus unserem Wissenschaftsbetrieb geworden!« »Jedenfalls nicht das, was wir uns mal vorgestellt haben«, entgegnete Heller, nur um etwas zu sagen, hörte kaum noch hin, alles fiel ihm wieder ein. Wie er Schallbrecht ein Jahr danach geschrieben hatte, sozusagen einen Bittbrief, den er sich hatte abringen müssen, und auf den er nie eine Antwort bekam. Sie hatten sich schon während des Studiums kennen gelernt, waren gemeinsam im Studentenausschuss gewesen und nach dem Studium als Doktoranden mit Assistentenstellen an der Universität geblieben. Er war sogar in den Fakultätsrat gewählt worden, wo er sich politisch engagiert hatte. Das war sein Fehler gewesen, damit hatte es angefangen. So ganz sympathisch war ihm die Nähe zu diesem Kollegen, mit dem er nie richtig befreundet war, schon damals nicht gewesen. Schallbrecht hatte geradezu an ihm geklebt, ihn hofiert, zugleich auch benutzt, indem er sowohl seine Examensarbeit als auch seine Doktorarbeit mit ihm durchgegangen war. Insofern hatten sie viel Zeit miteinander verbracht, oft auch außerhalb des Universitätsbetriebs. Dass sich daraus ein Konkurrenzverhältnis ergeben könnte,
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war ihm nicht in den Sinn gekommen; das wurde ihm erst bewusst, als sein Brief, in dem er seine prekäre Situation erklärt hatte, mit Schweigen beantwortet wurde. »Und wie das Gescherr, so der Herr«, riss ihn Schallbrechts Stimme aus seinen Gedanken. »Die meisten der verehrten Proffs sind nicht besser als ihre Schäfchen. Du weißt, das hat Schiller schon in seiner Antrittsrede in Jena gesagt, wo er den gelehrten Kollegen die Leviten gelesen hat: Sie seien zwar emsig und fleißig, trügen aber nur Fakten zusammen, die sie nicht zu einem Ganzen vereinen könnten.« Er amüsierte sich. »Das kommt letzten Endes dabei heraus, wenn jeder schmalspurig auf seine Karriere hinarbeitet. Davor haben wir doch früher schon gewarnt, nicht wahr? Was haben wir gepredigt!« Schiller. Heller erinnerte sich, dass er im Fakultätsrat und in einem Artikel für die Studentenzeitung, der ihm mehr Feinde als Freunde eintrug, aus dieser Jenaer Antrittsrede zitiert hatte: Dass die Brotgelehrten – und damit meinte Schiller seine ProfessorenKollegen – ihr Wissen nur als Mittel zum Zweck benutzten, als eine Möglichkeit, Geld und Ansehen zu erwerben. Sollte Schallbrecht das tatsächlich mehr als zwanzig Jahre lang im Gedächtnis behalten haben? Oder war in diesen mehr als zwanzig Jahren einfach nichts Neues mehr hinzugekommen? Alles noch parat. Goethe hatte seinen Dichter-»Freund« 1789 für eine Professorenstelle mit den Worten vorgeschlagen: »Ein Herr Friedrich Schiller, welcher sich durch eine Geschichte des Abfalls der Niederlande bekannt gemacht hat, soll geneigt sein, sich an der Universität Jena zu habilitieren.« Und der Geheime Rat hatte seiner Empfehlung hinzugefügt: »Die Möglichkeit dieser Akquisition dürfte umso mehr zu beachten sein, als man sie gratis haben könnte.« Obwohl der Dichterfürst wusste, dass Schiller finanzielle Not litt und vielleicht, um den Konkurrenten kaltzustellen, den er in Weimar loswerden wollte. Wie sich die Verhältnisse ähneln und wiederholen. Wo man hinschaut, diese Intrigenspiele. Der Ordinarius, dessen Unmut, ja Hass, er sich seinerzeit im Fakultätsrat zugezogen hatte, hieß Holtermann. Er war Nazi gewesen, in jungen Jahren sogar bei der SS, immerhin im Offiziersrang, und stand völlig unangefochten vor
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seiner Emeritierung. Dieser Holtermann, der sich gern reden hörte, hatte mehrmals von seinen heldenhaften Einsätzen auf dem Balkan gesprochen. Heller war bei solcher Gelegenheit eines Tages der Kragen geplatzt und er hatte Holtermann entgegengehalten: »Wir wissen doch nun schon seit Längerem, dass Sie eine ganze Kompanie auf den Balkan geführt haben und als Einziger zurückgekommen sind. Also verschonen Sie uns bitte in Zukunft mit Ihren Heldensagen.« Das hatte gesessen, ein homerisches Gelächter war die Folge gewesen. Holtermanns Protegé und Nachfolger Haffke hatte kurze Zeit darauf die Berufung mit der Begründung verhindert, Heller sei erstens unkollegial und zweitens ultralinks orientiert. So lief das damals. »Und du«, holte ihn Schallbrechts Stimme wieder in die Gegenwart, »wie geht es dir so? Du sprachst von einer Stelle als Chefredakteur, die du antrittst.« »Ja, in Salfelden, falls du weißt, wo das ist.« Heller musste sich erst wieder sammeln, auf seinen Gegenüber einstellen. »Ich bin dort aufgewachsen und habe nie ganz den Kontakt verloren, kenne mich insofern ein wenig aus.« »Ach, in Salfelden.« Schallbrecht zog die Stirn in Falten. »Das ist ja nicht weit von mir entfernt. Ich glaube, ich bin einmal auf dem Weg zur Küste da durchgefahren. Muss ganz nett und idyllisch sein, vor allem etwas ruhiger als in der Großstadt.« »Sie haben eine Lokalzeitung und ich denke, dass ich dort einigermaßen selbständig arbeiten kann. Jedenfalls scheint sich der Eigentümer, der zugleich Herausgeber ist, nicht weiter um sein Blatt zu kümmern. Sie wollten mich haben, und der Vertrag, der mir angeboten wurde, ist nicht schlecht. Was will man mehr?« »Ich vermutete dich immer noch im Rheinland«, fasste Schallbrecht nach und traf damit den neuralgischen Punkt, den Heller lieber umgangen hätte. »Warst du nicht als Chefredakteur bei dieser großen Tageszeitung, wie heißt sie denn gleich?« »Schnee von gestern«, schnitt ihm Heller das Wort ab. »Ich habe mich anders orientiert, wollte gern in einen ländlichen Bereich, es ein bisschen ruhiger angehen.« »Und die Familie zieht mit?«
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»Bin seit einigen Jahren geschieden, habe in letzter Zeit gemerkt, dass der Beruf nicht alles ist und dass ich am Leben vorbeigehe, wenn ich so weitermache, wie bisher.« »Kann ich gut nachvollziehen.« Schallbrecht nickte ihm verständnisvoll zu. »Dieser permanente Stress! Wer weiß, wie viele Jahre uns noch zugebilligt werden. Ich habe mir da einen kleinen Ausgleich geschaffen, sozusagen mein Refugium: Ein Rustico in der Toskana, mitten in einem Weinberg. Paradiesisch, kann ich dir sagen, und es war gar nicht teuer für unsere Verhältnisse. Von dort komme ich gerade.« Er geriet ins Schwärmen und berichtete von Rotweinabenden mit Freunden und von kulinarischen Genüssen besonderer Art. Da gebe es eine Partnerschaft mit der Universität in Florenz, tolle Leute, von denen er den Tipp mit dem Weingut hatte. Auch er sei inzwischen geschieden, die Kinder schon erwachsen. »Eigentlich fühle ich mich sauwohl«, beendete er seinen Ausflug in die Privatsphäre. »Meine Exfrau ist Anwältin, wieder verheiratet und stellt keine Unterhaltsansprüche. Nach der Scheidung habe ich ein ganz neues Leben angefangen.« Er stieß ein Lachen aus, das Heller unangenehm berührte, und setzte hinzu: »An Frischfleisch fehlt es ja nicht, das läuft einem an der Uni geradezu nach.« Er schwieg eine Weile und sie sahen zum Panoramafenster hinaus auf die nicht endende Blechlawine. »Ich meine, ich wäre ja auch liebend gern nach Harvard oder Princeton gegangen«, stieß Schallbrecht plötzlich hervor. »Stattdessen sitze ich in so einem Kaff und unterrichte die Möchtegernelite.« Er atmete tief durch und setzte mit den Worten »na ja, man muss das Beste draus machen« wieder seine optimistische Heiterkeitsmiene auf. Heller rief die Serviererin und bat um die Rechnung, doch Schallbrecht ließ es sich nicht nehmen zu bezahlen. »Du bist selbstverständlich eingeladen, alter Freund!«, trompetete er und überreichte ihm noch seine Visitenkarte: »Dr. phil. Norbert Schallbrecht, Universitätsprofessor«, auf Bütten. »Damit du meine Adresse hast. Wenn du mal vorbeikommst, ruf mich an. Du bist jederzeit gern gesehen, soweit ich im Lande bin.« Daraus wird wohl nichts werden, dachte Heller, als er Norbert Schallbrecht, bis zu seiner Einstellung in O. Nobbi genannt, auf
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dem Parkplatz hinterher blickte. Alfa Romeo mit Doppelvergaser, Rustico in der Toskana, Rotweinabende, kulinarische Genüsse besonderer Art, spielerische Diligenz … Einer von diesen geschickten Hochstaplern, die in jede Talkshow passten und mehr und mehr das gesellschaftliche und politische Leben beherrschten, auf eine dramatisierte Art trivial und von durchtriebener Einfalt. Die Berufung war also verhindert worden und anschließend kam dann die Entlassung, er hatte ja lediglich einen Zeitvertrag gehabt. Zur selben Zeit war eine Stelle in O. frei geworden und er hatte Schallbrecht geschrieben, ihn dringend gebeten, er möge seine Bewerbung unterstützen. Nichts, nicht einmal ein Anruf, lediglich die Absage der Universität O. nach einigen Monaten, als er schon arbeitslos war. So war das gewesen.
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2 Keine Staus, die Aprilsonne durchbrach hin und wieder die Wolken und an den Bäumen zu beiden Seiten der Autobahn zeigte sich erstes Grün. Ein wenig freute er sich inzwischen doch auf seine neue Stelle und auf Salfelden. Zuerst war es nur eine Notlösung gewesen, vielleicht für zwei oder drei Jahre, so hatte er sich gesagt, bis sich etwas Besseres finden würde. Aber als er vor einem Monat zum Vorstellungsgespräch dort gewesen war und dann zwei Wochen später noch einmal zur Unterzeichnung des Vertrages und zu einer Verlagsbesichtigung, hatte er sich mit der Stadt ausgesöhnt. Zum Teil lag das an dem Abstand, den er gewonnen hatte, zum Teil an der Herzlichkeit der alten Freunde und Bekannten, die er getroffen oder aufgesucht hatte. René zum Beispiel, ein Jugendfreund, mit dem er zur Schule gegangen war. Er besaß einen Getreide- und Saatgutgroßhandel, der offenbar einiges abwarf. So hatte er sich einen alten Gutshof zu einem regelrechten Schloss umbauen lassen, züchtete nebenbei Trakehner und war nicht nur Mitglied des Stadtrates, sondern auch Präsident des Regionalverbandes der Lions. Außerdem war er mit dem Besitzer des Salfeldener Tagblatts, dem alten Worps befreundet. Das hatte im Übrigen den Ausschlag für die Besetzung der vakanten Chefredakteursstelle gegeben; René hatte bei Worps ein gutes Wort eingelegt und sie miteinander bekannt gemacht. Und Karsten Ahrens, der ihn mit offenen Armen empfangen hatte, Lehrer am Gymnasium und noch lieber Jäger. Bei ihm und seiner Frau Lilli hatte er das letzte Mal gewohnt. Es gab gespickten Rehrücken mit Pfifferlingen und Klößen. Lilli kochte vorzüglich und hatte ihn in den drei Tagen richtig verwöhnt. Karsten war ebenfalls ein Jugendfreund, mit dem er zwanzig Jahre lang lediglich sporadischen Telefonkontakt unterhalten hatte. Sein Vater war Landwirt gewesen, von ihm hatte Karsten seine Jagdleidenschaft geerbt. Der Bauernhof lag am Rande des Salfeldener Forsts, einem größeren zusammenhängenden Wald-, Moor- und Heidegebiet, in dem sie zusammen mit Karstens jüngerem Bruder Patrick oft
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herumgestreift waren, wenn sie nicht in der Landwirtschaft hatten helfen müssen. Der Bauernhof war nach dem Tod des bereits verwitweten Vaters verkauft worden, und die beiden Brüder hatten sich den nicht unbeträchtlichen Erlös geteilt. Karsten hatte in einem Dorf in der Nähe ein Haus gebaut, Patrick die frühere Gaststätte »Zur Mühle« gekauft, die jetzt »Irish Pub« hieß und die er seit einigen Jahren zusammen mit seiner Frau Susanne bewirtschaftete. Eigentlich, so dachte Heller, war das damals auf dem Bauernhof und im Wald eine schöne Zeit gewesen. Manchmal waren noch Björn, der Sohn des Försters, und Paul, dessen Mutter die Apotheke in Salfelden gehörte, hinzugekommen. Sie hatten sich – von kleineren Reibereien abgesehen – gut verstanden. Patrick, Björn und Paul hatte er seit Jahren nicht mehr gesehen, nicht einmal mit ihnen telefoniert. Warum, war ihm nicht ganz klar. Von Zeit zu Zeit hatte er seine Eltern besucht, aber er hatte nicht das Bedürfnis verspürt, alte Freundschaften und Bekanntschaften aufzufrischen. Salfelden hatte hinter ihm gelegen. Vorbei ist vorbei, so hatte er gedacht und gefühlt. Eine gewisse Rolle musste wohl gespielt haben, dass er als Sohn von Eltern, die nichts waren und nichts hatten, lieber Abstand von Menschen hielt, die ihn von früher kannten. Sein Vater war Kraftfahrer in einer Heizöl- und Düngemittelhandlung gewesen, Sohn von Heimatvertriebenen, die nach dem Krieg nichts galten. Er war immer etwas mürrisch und unzufrieden, den Kindern gegenüber autoritär. Die Mutter hatte als Putzhilfe im Haushalt eines Rechtsanwalts zum Familieneinkommen beigetragen, noch als sie schon in den Fünfzigern war. Seine Schwester war als Reiseleiterin der kleinstädtischen Enge entflohen und in Österreich verheiratet. Minderwertigkeitsgefühle hatte er als Jugendlicher eigentlich nicht gehabt. Er war sich seiner Position bewusst gewesen, hatte sich danach gerichtet. Auch in der Schule. Nicht auffallen, bedeutete das, immer etwas besser sein als der Durchschnitt, Probleme vermeiden, ansonsten seiner Wege gehen. Wenn er auf dem Bauernhof oder in der Försterei war, hatte er sich hilfsbereit gezeigt; im Garten, bei der Ernte oder im Stall geholfen. Hin und wieder gab es dafür ein Abendessen. Die Gleichaltrigen hatten ihn akzep-
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tiert, zumal er ein guter Sportler war. Für die Erwachsenen zählten andere Kriterien. Karstens und Patricks Eltern waren reiche Bauern gewesen, für die Arbeiterkinder nicht zählten, was sie zwar nicht herauskehrten, atmosphärisch jedoch spürbar gewesen war. Ebenso verhielt es sich bei Björn in der Försterei. Und Pauls Mutter, die geschieden war, hatte eine Art zu sprechen, dass es einem fror. Heller musste sich eingestehen, dass sein Verhältnis zu diesen Freunden nie völlig unbefangen, nie von Herzen arglos gewesen war. Auch das hatte dazu geführt, dass er eigentlich immer ein Einzelgänger geblieben war. Der Einzige, mit dem er darüber sprechen konnte und der ihn verstanden hatte, war René gewesen, mit dem er im Gymnasium während der letzte Schuljahre die Bank geteilt hatte. Dessen Großeltern waren ebenfalls als Heimatvertriebene nach Salfelden gekommen. Aber der Großvater hatte sich rasch von seinen traumatischen Kriegserlebnissen erholt und nach 194 bis zur Währungsreform 1948 einen schwunghaften Schwarzhandel betrieben. René hatte ihm das mal im Vertrauen erzählt. Der alte alheim, der fließend Englisch sprach, war bei der kanadischen Besatzungsmacht beschäftigt gewesen, wo man ihn für die Versorgung der Garnison mit Lebensmitteln eingesetzt hatte. So genoss er in einer Zeit, als alles rationiert war und viele Menschen hungerten, sehr viele Privilegien, die er auch zu seinem Vorteil zu nutzen wusste. Und eines Tages hatte er noch mehr Glück. Die Kanadier tranken gern schwarzen Tee, und sie unterstanden den Engländern, die sie arrogant fanden und nicht ausstehen konnten. Als sie dann 194 abrückten und Great Britain die Garnison übernahm, hinterließen sie zentnerweise Tee, der verbrannt werden sollte, damit ihn die Engländer nicht bekamen. Diese Aufgabe – ein Geheimauftrag – wurde Renés Großvater übertragen, der den Tee jedoch nicht verbrannte, sondern nach und nach verkaufte. Nun muss man wissen, dass in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Norddeutschland ein paar Säcke Tee so viel wert waren wie ein ganzer Bauernhof. Das war der Grundstein für das alheimsche Vermögen, das Renés Vater noch zu vermehren wusste und das René geerbt hatte.
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Die Landschaft veränderte sich. Nachdem er die letzten Ausläufer des Mittelgebirges hinter sich gelassen hatte, öffnete sich das von Waldinseln unterbrochene flache Land hin zur Küste; in der Ferne häuften sich weiße Wolkenberge. Nach etwa einer Stunde sah er die Kirchtürme von O. und fuhr auf der Autobahn vorbei, wobei er wieder an Schallbrecht denken musste. Eine halbe Stunde darauf nahm er die Landstraße, die nach Salfelden führte. Die Begegnung an der Raststätte mit seinem ehemaligen Kommilitonen und Kollegen hatte ihn emotional doch mehr aufgewühlt, als er sich eingestehen mochte. Er versuchte an etwas anderes, Erfreulicheres zu denken, aber die belastenden Gedanken ließen ihn nicht los. Sein Engagement war ihm nie von Vorteil gewesen, hatte ihn auch jetzt wieder ins Abseits gebracht und ihn seine Stelle gekostet, die er sich mühsam über Jahre hinweg erarbeitet hatte. Ein Gendefekt, dachte er, eine Art Gerechtigkeitswahn, womöglich eine psychische Störung. Er war noch nie dagegen angekommen. Diesmal hatte er sich für einen seiner Redakteure beim Herausgeber eingesetzt, Meinungsfreiheit eingefordert, sich sogar angelegt – und den Kürzeren gezogen, na klar. Hätte er von vornherein nüchtern, vernünftig darüber nachgedacht, hätte er sich das Ergebnis seiner »Renitenz«, die zu einem »gestörten Vertrauensverhältnis« geführt hatte – so der Herausgeber –, ausrechnen können. Aber, eben dieses Aber. Die Kollegen hatten ihn bedauert und waren zur Tagesordnung übergegangen, emsig, umtriebig wie immer. Jeder ist sich selbst der Nächste und sie predigen Wasser und saufen Wein. Er merkte, dass er in Gefahr war, wieder in die depressive Stimmung abzurutschen, aus der er erst vor wenigen Wochen herausgekommen war, nach dem Anruf von René. Er hatte ihn fast schon vergessen gehabt. Als er dann nach der Kündigung Bewerbungen schrieb, war ihm der frühere Freund wieder eingefallen und er hatte auch ihm geschrieben, einen langen Bericht, fast schon eine Lebensbeichte. Sie hatten sich sofort wieder verstanden, als seien kaum ein paar Tage vergangen. Bei René alheim hatte er das erste Mal gewohnt, als er zum Vorstellungsgespräch kam. Es fand im Kaminzimmer des al-
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heimschen Gutshofes statt und neben Worps und dem Hausherrn war noch dessen Frau Valerie dabei gewesen. Der Verleger hatte ihn zunächst ziemlich kühl unter die Lupe genommen, sich nochmals Lebenslauf und die einzelnen beruflichen Stationen referieren lassen, danach war er allmählich aufgetaut. Beeindruckt war er wohl vor allem von Hellers mehrjähriger leitender Tätigkeit beim Rheinländischen Anzeiger, wobei der Kündigungsgrund für ihn keine Rolle zu spielen schien, zumal das Zeugnis einwandfrei war. Jedenfalls stellte er keine weiteren Fragen, nachdem Heller von »Spannungen im Kollegenkreis« und dem »Wunsch nach Veränderung« gesprochen hatte. Die Fluktuation in diesem Gewerbe war ohnehin recht groß. Natürlich hatte Heller kein Wort darüber verloren, dass er an der Universität Mitglied einer linken Organisation gewesen war, die er zudem im Allgemeinen Studentenausschuss und im Fakultätsrat vertreten hatte. Zwar hatte ihn Valerie alheim, die das ebenso wie ihr Mann wusste, mehrmals ironisch lächelnd angeschaut, als er von seinem Engagement in der Studentenzeitung berichtete, die er liberal nannte – ein legitimer Etikettenschwindel, wie er fand –; doch er hatte sich nicht irritieren lassen, und René war ihm hin und wieder mit verbindlichen Kommentaren zur Seite gesprungen. Heribert Worps, dieser hagere Mann in den Sechzigern mit dem kantigen Bauernschädel und den beweglichen, kühlgrauen Augen, war erzkonservativ. Das hatte sich schon in diesem ersten Gespräch mehr als deutlich herausgestellt. Nun ja. Jede Gesellschaft braucht neben Fortschritt und Innovation auch eine gewisse Beständigkeit, neben antizipatorischen Kräften auch die Rückbesinnung. Das war inzwischen Hellers feste Überzeugung, und das hatte er Worps gesagt, worauf der ihm wohlwollend zugenickt und die vor sich liegende Akte mit den Worten geschlossen hatte: »Ich glaube, wir werden gut miteinander zurechtkommen, und Sie können davon ausgehen, dass ich mich grundsätzlich nicht in die redaktionelle Arbeit einmische.« Nun ja. Der Zusatz »grundsätzlich« bedeutete im juristischen Sprachgebrauch, der Heller nicht unbekannt war: Es gibt auch Ausnahmen. Ihm war klar, dass er mit diesem sich jetzt so leutselig
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gebenden Zeitungsbesitzer vorsichtig umgehen musste. Dennoch unterschrieb er zwei Wochen später den Vertrag. Was blieb ihm anderes übrig? Hunderte, wenn nicht Tausende von Journalisten lagen auf der Straße, eine Universitätskarriere kam schon lange nicht mehr in Frage und Avantgardismus war nicht sein Amt als Zeitungsmacher, ebenso wenig wie parteipolitische oder ideologische Agitation. Seine Hauptaufgabe würde, wie schon bisher, die Organisation und Koordinierung der Redaktionsarbeit sowie die Festlegung der publizistischen Leitlinie im Sinne des Verlegers sein, dessen politische Einstellung er ja nun kannte. Außerdem würde er die Leitung eines Ressorts übernehmen, sich ansonsten auf einen gelegentlichen Kommentar oder eine Reportage zu beschränken haben. Mehrere Seiten des Salfeldener Tagblatts wurden ohnehin fertig aus O. zugeliefert. Es würde sich schon alles einspielen, schließlich hatte er Erfahrung damit.
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Korruption, Filz, Rechtsradikalismus – das gibt es nur woanders? Wolfgang Bittner beschreibt in diesem mitreißend erzählten Roman ohne falsches Pathos und gekünsteltes Heldentum eine Gesellschaft, die unsere Wirklichkeit ist, und was der Einzelne tun kann um in ihr zu bestehen.
19.90 EUR [D] ISBN 978-3-940884-93-0
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