Michael C. Blumenthal
WEiNsTOCk uNTER dEN sTERBENdEN
Roman
nz ai ug M .de sz lag nz au er ai se T V t-m Le VA .va © ww w Aus dem Amerikanischen von Christine Maier-Rezić
Verlag André iele
vorbemerkung Angesichts des Trends, Figuren in fiktionalen Texten mit real existierenden Menschen gleichzusetzen – und angesichts der Tatsache, dass Teile dieses Romans an real existierenden Orten spielen, unter anderem an einer wirklichen universität, wo der Autor einige Jahre verbracht hat –, scheint es angebracht, sehr eindringlich darauf hinzuweisen, dass dies ein fiktionales Werk ist. keine der Figuren, Weinstock eingeschlossen, und keine Ereignisse in diesem Roman sind real. Wie jeder künstler musste der Autor für sein Werk zwei dinge vereinen: die Gefühle, die er aus seiner Lebenserfahrung ableiten konnte, mit der Faktenlage, die seine Vorstellungskraft ihm lieferte. Jedoch sind alle Figuren, Namen und Erlebnisse erfunden, und jede Ähnlichkeit mit realen Ereignissen oder Personen, ob lebend oder tot, ist rein zufällig.
© Michael C. Blumenthal 1993, 2013 für die deutschsprachige Ausgabe: © VAT Verlag André iele 2013 Lektorat: Michael Adrian & sabine krieger-Mattila, königswinter umschlag: inka Heerde satz: Felix Bartels, Osaka druck und Bindung: Anrop Ltd., Jerusalem Alle Rechte vorbehalten. Printed in israel. isbn 978-3-940884-83-1 www.vat-mainz.de
iNHALT prolog
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buch i. die untiefen Kapitel 1. Abstrakte Geister Kapitel 2. Hüllen
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buch ii. Kapitel Kapitel Kapitel Kapitel
Anfänge 3. Geburten 4. Väter 5. Die acht Tage 6. Musen
9 103 129 139
buch iii. Kapitel Kapitel Kapitel
Fegefeuer 7. Gnadenlose Liebe 8. Die Toten und die Alten 9. Worte
169 183 217
buch iv. Kapitel Kapitel Kapitel Kapitel
die Toten mehr als die sterbenden 10. Vergreifen 11. Eier 12. Malheurs 13. Abnorme Trauer
233 249 29 267
buch v. schatten Kapitel 14. Grabesmusik Kapitel 15. Männer, die weinen und kämpfen Kapitel 16. Im Herzen Kapitel 17. Eine Jacht auf der Suche nach Gott
281 29 317 347
buch vi. Rückkehr Kapitel 18. Abermals durch neue Augen Kapitel 19. Aus Papier und aus Fleisch und Blut
371 38
Kapitel 20. Kafkas Vater Kapitel 21. Endungen
393 409
epilog
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Danksagung Literatur
42ď™ˆ 427
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in erinnerung an die toten Betty Blumenthal 1907–199 Berthold Gern 190–1993
beide letztlich blutsverwandt
Wir sterben mit den sterbenden: sieh, sie scheiden und wir gehen mit ihnen. Wir werden mit den Toten geboren: sieh, sie kehren wieder und bringen uns mit. t. s. eliot, »Little Gidding«
Willst du ganz werden, lass zu, dass du geteilt bist. Willst du gerade werden, lass zu, dass du schief bist. Willst du voll werden, lass zu, dass du leer bist. Willst du wiedergeboren werden, lass zu, dass du stirbst. lao-tse, Tao Te King
Aber was sollte ein gutherziger Junge tun, der noch nicht gelernt hat, sich gegen all seine Mütter und Väter zu verteidigen? george konrad, Der Stadtgründer
prolog irgendwo auf halber strecke seines Lebensweges verirrte sich Martin Weinstock und fand sich als Burke-HowlandLektor für Lyrik an der Harvard university wieder. Er wusste nicht recht, wie es ihn dorthin verschlagen hatte, war er doch in einer deutschsprachigen Flüchtlingsfamilie aufgewachsen, deren wenige silben gesprochener englischer sprache so gestelzt und unbeholfen wirkten wie kennedys berühmter Ausspruch »ich bin ein Berliner« von 1963. doch dort befand er sich jetzt, umgeben von den, wie sie angepriesen wurden, »klügsten köpfen« seines geschätzten Landes – den green berets des amerikanischen intellekts. und in dieser Zitadelle der intelligenz und brahmanischen Zucht fühlte er sich unwiderruflich fehl am Platz. Bevor er im sommer 1983, unmittelbar nach seiner dreijährigen Arbeit als kameramann für den westdeutschen Fernsehsender ddT (eine Abkürzung, die ihm nicht gänzlich zufällig erschien) nach Harvard kam, hatte Weinstock sein Bestes gegeben, um sich auf diesen plötzlichen – und, wie ihm schien, völlig unverdienten – Eintritt in die Welt der hochgeistigen sphären vorzubereiten. Während er darauf wartete, dass seine unterschiedlichen »echt deutschen« kollegen die erforderliche »Atmo« schufen, in die sie dann ihre ZoomObjektive und Mini-Nagras richten wollten, lenkte er in so pittoresken amerikanischen städten wie duluth, Ames, Gary, Cleveland, Milwaukee und Amarillo seinen ziemlich unqualifizierten Blick auf Bände von Chaucer, Milton, shakespeare und Pope. Er versuchte sogar, Goethe und Rilke im deutschen Original zu lesen. »Wie soll ich meine seele halten«, fragte er einen der kameramänner während eines drehs in Bismark, North dakota, »dass sie nicht an deine rührt?«
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Auf der verzweifelten suche nach etwas, was er für eine größere intelligenz als seine eigene hielt, wagte er sich gar auf das Terrain der, wie ihm versichert worden war, »in«Texte einer unternehmung namens Critical eory (LitCrit wie die Eingeweihten es nannten) vor – Autoren mit europäischen Namen wie Barthes und derrida, Blanchot und de Man (wobei er nicht umhinkonnte, sich Letzteren als eine hippe Version des ehemaligen Baseballschlagmanns der st. Louis Cardinals, stan Musial, vorzustellen). doch deren prosaähnliche Versuche ödeten ihn so sehr an, dass er bald regressiv auf seine pubertären Zeitvertreibe, exzessive Masturbation und wahllose sexuelle Begierde, zurückgriff. kaum war das Wort »derrida« aus jemandes Mund, musste er sich schleunigst setzen, um die furchtbare Offenbarung seines lose verknüpften unterbewusstseins zu verbergen, die früher einmal unter dem entsetzlichen Namen »ständer« geläufig war. Als er in jenem sommer in Cambridge ankam, hatte Weinstock all die natürlichen Grundvoraussetzungen des akademischen Lebens beisammen – eine bröckelnde Ehe, Anflüge von intellektuellen Angstzuständen, eine unerbittliche, zur Präejakulation führende Begierde nach seinen wunderschönen, hochbegabten, talentierten studentinnen (er stellte sich das Gehirn von Virginia Woolf, den körper von sonia Braga, die Lüsternheit von Georges simenon vor) und den Beginn dieser absterbenden Lebensfreude, für die es schon Grund zum Jubeln ist, wenn jemand eine Phrase wie »die ikonizität der Mimesis« von sich gibt. Es würde jedoch, da war er sich sicher, auch Entschädigungen geben. seiner dichtung – so lange in die lustvoll gestohlenen stunden und Zwischenräume seines Lebens verbannt – könnte jetzt offen gehuldigt werden, sie könnte ohne den künstlichen Zierrat der Geheimnistuerei und sündhaftigkeit im Mittelpunkt stehen. Es würde, das wurde ihm klar, keine geheimen Rendezvous am Fluss mehr geben,
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keine gestohlenen küsse mehr entlang der Eisenbahnbrücken, keine sich hinziehenden Nachmittage mehr unter den Magnolien und dem Fächerahorn, bei denen Petting das Äußerste war, zu dem es kommen durfte. Als Weinstock an jenem verschwommenen Julinachmittag erstmals das Gebäude mit der weißen schindelfassade am Burdick Place 24 betrat und die Worte martin weinstock, burke-howland-lektor für englisch an der Tür zum Zimmer 26 angebracht sah, fühlte er die Freude darüber, endlich am Höhepunkt des intellektuellen Lebens angekommen zu sein, und über den Beginn einer großartigen karriere. diese Freude war jedoch vermischt mit einer Vorahnung, diesem Gefühl des Erfolgs, der mit einer gewissen schuld behaftet war, diesen nämlich betrügerisch errungen zu haben. und als er – der sohn ungebildeter deutsch-jüdischer Flüchtlinge, der sich plötzlich als dozent an der besten universität der Welt wiederfand – die Tür zu seinem Büro in Harvard zum ersten Mal öffnete, fühlte Martin Weinstock außerdem eine tiefe, unausweichliche Traurigkeit, so als ob er gerade in ein schwarzes Loch gefallen wäre, von wo aus es sehr, sehr lange dauerte, bis er wieder imstande sein würde, der Gnade von Luft und Licht teilhaftig zu werden.
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buch i die untiefen
Was bedeutet es, Schmerz zu empfinden? Nicht mehr, als dass Regen Regen und Flut Flut ist. Tief sind wir, und tief müssen wir absinken. Wie der same tief absinkt. Wie Regen tief absinkt, um die Blume hervorzubringen. Wie der Wurm tief absinken muss, uns staubwärts zu tragen. martin weinstock, »Bahnen«
kapitel 1 Abstrakte Geister Leute, die nicht wissen, was sie sagen, Lächeln, nicken, wenden ihr Gesicht sich wundernd: Wie konnte ich den Weg einschlagen? Wo inhalt schweigt und Form nur spricht. Eiswürfel schwimmen in der Bowle, Verzierte Plätzchen warten hinterm schinken, kollegen rufen: »dir zum Wohle!« umarmen sich, als wär’ das schiff am sinken. Ängstlich, zitternd, Ellbogen bei der Frau Tragen Männer teure schuh’ zur schau, sich wundernd – Wohin ist unser Lebenstraum? und wünschten, eine Jüng’re wär’ im Raum. Wohlmeinend wie Piraten kreisen wir Heilig redend wie die Weihnachtsengel Übers Fest, vertuschen unsere Mängel Fürchtend, dass das Echte sich verliert. Jetzt sind die kerzen aus, das Glas geleert. die Heiterkeit hat uns ins Gegenteil verkehrt: Voll waren wir gekommen und sahen, wie wir schwanden, Als wir uns schlängelnd in das Jahr einfanden. martin weinstock, »Weihnachtsfeier«
Weinstock wurde schon immer von dem intensiven Gefühl beherrscht, dass in irgendetwas zu tief einzudringen vage mit dem Tod zu tun hatte. selbst als student zog es ihn in
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den Anfängerkurs einer jeden disziplin, als ob in ein ema tiefer einzutauchen der Garant dafür sei, dass sich Langeweile und Gleichgültigkeit einstellten. Woher genau diese idee kam, wusste er nicht, aber wann immer etwas drohte, das genauerer kenntnis ähnelte – wann immer er sich zum Beispiel einer Frau oder einem Beruf zu stark näherte –, überkam ihn ein fast schon todesnahes Zittern, eine Art schwäche in den knien, eine kurzatmigkeit, die den Beginn längerer Perioden von schlaflosigkeit und Angstzuständen signalisierte. Weinstock kannte den ursprung für dieses Gefühl nicht, doch er wusste, dass er sich plötzlich von einer »Berufung« gepackt sah – Ergebnis mehrerer Jahre Beschäftigung, die er als eine Art kultivierter spielerei in den Mußestunden eines ansonsten voll ausgefüllten Tages betrachtete. Er war, stellte er erstaunt fest (als Teil einer anfänglich als kurz eingeschätzten Flucht vor dem »wirklichen« Leben), auf dem sprungbrett für eine große karriere angekommen: Er war dabei, einer der »ernst zu nehmenden« lebenden dichter Amerikas zu werden. doch da gab es etwas, das Weinstock praktisch seit dem ersten Moment seiner Ankunft in Harvard in völlige Verwirrung stürzte. da er während seiner berufungsmäßig verlorenen Jahre als kameramann, Journalist und Rechtsanwalt so lange außerhalb der »Akademie« (welch fürchterlicher, militärisch klingender Begriff) gelebt hatte, war er bei seinen ersten, zögerlichen Wagnissen in der Welt der »Literatur« davon ermutigt worden, dass sein Werk die normalen, intelligenten Leute, die er als seine Freunde ansah, zu berühren schien. »Martin«, vertraute ihm nicht nur gelegentlich ein Washingtoner Rechtsanwalt oder Bürokrat an, »was ich so an deinem Werk bewundere, ist, dass ich wirklich verstehe, um was es geht.« und Weinstock fühlte sich irgendwie verpflichtet, die sache, die denen Freude bereitete, die er mochte, weiterzubetreiben.
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Jetzt, in den prächtig ausgestatteten und für immer geheiligten Hallen von Harvard, da er am vermeintlichen Höhepunkt dessen angekommen war, was er in aller unschuld begonnen hatte, um sich von der Last seines eigenen Lebens zu befreien, stellte Weinstock fest, dass die Einfachheit und direktheit, die er so mühselig kultiviert hatte, ihm wenig mehr als Geringschätzung einbrachte. in der Tat schien es ihm so, als sei er nun völlig bar jeder Freundschaft und nur von diesen neutralen, leidenschaftslosen Bekanntschaften umgeben, die man »kollegen« nennt. da war etwas am Wort »kollege«, das eine Genehmigung beinhaltete, andere zu verleumden, zu beleidigen, zu beschimpfen und (nur knapp an einem tatsächlichen Mord vorbeischrammend) auf eine Art zunichte zu machen, wie es in einer »Freundschaft« niemals tolerierbar wäre. Während seines ersten Jahres in Cambridge, als Weinstocks zweiter schmaler Band Die Möglichkeiten der menschlichen Existenz herauskam, sorgte die Reaktion dafür, dass er sich wie ein Tier fühlte, das mithilfe eines köstlich duftenden köders auf eine wunderschöne Wiese gelockt wird, nur um dann, sobald es diese betritt, im kugelhagel von schrotflinten und Gewehren zu landen. »intellektuell banal«, donnerte einer der kollegen, die ihn in den seiten des Harvard Crimson aufs Herzlichste willkommen geheißen hatten. »Von geschmackloser Erotik«, tat ein erfolgloser konkurrent um seine stelle beim Boston Phoenix kund. »Ein gut gemeinter Fehlschlag«, tönte ein dozent für Textproduktion, der nach fünfzehn Jahren als uninspirierter und unpublizierter schriftsteller in Fairbanks, Alaska, als vielversprechender junger Literaturkritiker in Harvard wieder aufgetaucht war. »das rhythmische Äquivalent zu den Bergen in Holland«, schrieb Harold Blumberg, Charles-Emery-Eagan-Gastprofessor für dekonstruktivistischen kontratextualismus, in Harvards Literaturzeitschrift Veritas.
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Weinstock war durch die negative Rezeption, die sein Werk bei der intelligenzija Harvards erhielt, weniger verletzt als verwirrt. Vor allen dingen konnte er nicht verstehen, warum zur gleichen Zeit sein Briefkasten am Burdick Place überquoll von Briefen, geschrieben von intelligenten Heiden wie der jungen Volkskundlerin aus santa Fe, von der er folgende Epistel erhielt: Lieber Martin Weinstock, ich bin selbst eine ehemalige Harvard-studentin (ich wechselte ans Reed College nach einem Nervenzusammenbruch am Ende meines zweiten studienjahres), und ich schreibe ihnen, um sie darin zu bestärken, sich nicht von denen kaputtmachen zu lassen, auch wenn die ihr Äußerstes versuchen werden. ihr Werk ist unglaublich berührend und wunderschön, und ich weiß, dass die ihr Bestes geben werden, damit sie sich dumm und betrügerisch und zu dank verpflichtet und unerwünscht vorkommen. die werden dafür sorgen, dass sie, wenn sie seit ihrem sechzehnten Lebensjahr nicht zweimal pro Jahr Beowulf gelesen haben und nicht mindestens die ersten 200 Zeilen von Das wüste Land auswendig hersagen können, sich fühlen werden, als hätten sie kein Anrecht darauf zu leben. die werden versuchen, sie davon zu überzeugen, dass ein lebender schriftsteller, der nicht selbst in der vierten Generation ein Harvard-Absolvent oder direkter Nachkomme Heinrichs des Vierten (oder mit einem verheiratet) ist, ungefähr so viel wert ist wie ein Heftpflaster auf der Fuge einer Raumfähre. die werden versuchen, sie in ein weiteres stück wandelndes totes Fleisch umzuformen, geradeso, wie sie selbst es sind. Aber, lieber Martin Weinstock, lassen sie das nicht zu! ihr Werk ist großartig und wichtig und voller seele
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und ein kraftquell für diejenigen von uns, die – wie es im Buch Hiob heißt (wenn sie mir bitte verzeihen, dass ich wie ein Harvard-Absolvent klinge) – »allein entronnen sind, um es dir anzusagen.« Also – bitte, bitte, Martin Weinstock – halten sie durch. und wenn es hart auf hart kommt – was ich nicht umhin kann anzunehmen, solange sie darauf beharren, das vielschichtige und lebensbejahende Wesen ihrer seele aufrechtzuerhalten –, könnten sie es mit dem probieren, was ich während meiner zwei abgrundtief schlimmen, lebensbedrohlichen Jahre am Englischen seminar in Harvard getan habe: Rufen sie sich in Erinnerung, dass es nicht die lebenden Respektspersonen sind, unter denen sie weilen, sondern die rachsüchtigen Toten, die unter dem deckmantel der Mächtigen zur Erde zurückgekehrt sind, um sich an denen zu rächen, die immer noch darauf beharren, dass die Welt ein Ort der Freude und der Hoffnung und des Lebensmuts und der Liebe ist. Eine begeisterte Bewunderin, Jennifer Cerny diese unvereinbarkeit – zwischen seiner Rezeption seitens derer, die er als seine mitmenschlichen Brüder im Geiste betrachtete, und der Feindseligkeit derer, mit denen er sich plötzlich in etwas eingeschlossen sah, was immer mehr wie ein Oxymoron schien: im akademischen Leben – überzeugte Weinstock davon, dass er sich jetzt janusartig an der schwelle zwischen Leben und Tod befand, zwischen den leidenschaftlichen, rotwangigen Beziehungen seines Vor-Harvard-Lebens und der zunehmenden Verlorenheit seiner jetzigen situation. Er fühlte sich, auf eine Art, die Jennifer Cernys Brief zu bestätigen schien, als ob er plötzlich in ein staubiges Archivalien-Grab hinabgestiegen wäre, in dem die gesammelten Briefe,
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dokumente, Manuskripte und Nöte der Toten bei Weitem bedeutsamer waren als die realen, leidenschaftlichen, lebensspendenden Triumphe und kümmernisse der Lebenden. sein gesamtes Leben in Cambridge schien in der Tat durch den Aufdruck zusammengefasst, den er bei seinem allerersten Einzug in den Harvard square auf einem T-shirt gesehen hatte. »live forever:«, stand da, »die young.« an die lehrkräfte sowie die mitarbeiterinnen und mitarbeiter der universität in tiefer Trauer informiere ich sie über das Ableben des ARCHiBALd H. MuRRAY
Professor für die Literatur der Renaissance, Emeritus, der am siebenundzwanzigsten des letzten Monats im Alter von siebenundachtzig Jahren aus dem Leben schied. die siebenunddreißig Jahre seines Lebens, die er in den dienst dieser Gemeinschaft und des akademischen und intellektuellen Lebens allgemein gestellt hat, werden dafür sorge tragen, dass sein Andenken für immer in die Mauern dieser institution sowie in die Herzen und seelen all derer eingraviert sein wird, die in das Vergnügen seines aktiven Verstandes und generösen Geistes kamen. das datum für einen Gedenkgottesdienst wird zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben. in gehorsamer Pflichterfüllung, donald w. atterton
2 »Eine der bemerkenswerteren Redundanzen dieser institution«, kommentierte Weinstocks für die Romanliteratur zu-
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ständiger kollege Geoffrey Armitage, der zwei Jahre vor ihm nach Harvard gekommen war, trocken, als er beobachtete, wie Weinstock die schwarz umrandete Anzeige der universitätspost aufriss. »Was ist das?«, fragte Weinstock. »Eine Todesanzeige für ein Mitglied der universitären Gemeinschaft. Tja, wenn man siebenunddreißig Jahre lang an diesem Ort war, ist der Tod bloß noch eine Formalität.« Anzeigen wie diese, ihre schwarz umrandete kartonage leicht auszumachen durch die durchscheinend weißen umschläge und die vertrauten Adressaufkleber, tauchten täglich in Weinstocks Briefkasten auf, zusammen mit Memoranden des Geschäftsführers des Englischen seminars, Lawrence Gentry, mit Überschriften wie anschriften von witwen der emeritierten professoren. Weinstock hatte den Verdacht, dass mit den sich lichtenden Reihen der Lebenden er und seine jüngeren kollegen bald mit ihrer mürrischen sekretärin Priscilla Brimmer allein am Burdick Place zurückbleiben würden. Priscilla, eine fünfundvierzigjährige Berkeley-Absolventin, lebte mit ihrem älteren Bruder in duxbury, seit ihr Mann sie 1967 wegen der dreiundzwanzigjährigen Frau des Geschäftsführers der sanskrit-Abteilung verlassen hatte. dünn wie eine Bohnenstange und unangebracht elegant für ihre täglichen Runden zwischen kopiermaschine und Telefon belegte sie seit nunmehr rund fünfzehn Jahren kurse für entomologisches Zeichnen am Weiterbildungsinstitut der Harvard university und hatte die Hoffnung, irgendwann bei wissenschaftlichen Lehrbuchverlagen als käfer-illustratorin anzukommen. Bisher jedoch war sie nur darin erfolgreich, den jüngeren dozenten des Englischen seminars den Preis für ihre eintönige und ungeliebte Existenz abzuverlangen, und dies auf so verworrenen und sublim ersonnenen Wegen, dass es einen Experten für die intimen Vorgänge einer neurotischen Persönlichkeit bräuchte, um sie zu entschlüsseln.
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An so manchem donnerstag oder Freitag, wenn er weder unterricht zu erteilen noch sprechstunde hatte, starrte Weinstock in einem von Priscillas postmodernen Ohrringen das spiegelbild des entgegenkommenden Verkehrs an und kutschierte sie zu Psychiaterterminen in städte mit Namen wie Revere, Billerica, dedham (das er wie Dead Ham aussprach) und Woburn (das von den Einheimischen Wuuuubörn ausgesprochen wurde). »ich glaube nicht, dass ich mich heute noch einmal der Menschheit stellen kann«, wiederholte sie ständig, wobei sie die Clips ihrer Ohrringe nervös auf- und wieder zuschnappen ließ. doch nicht allein die Tatsache, von Toten, sterbenden und solchen, die diese Zustände anstrebten, umgeben zu sein, begann Weinstock bei seiner Ankunft in Harvard zu deprimieren und zu verwirren. Hinzu kam, dass sie größtenteils so schwer von den wächsernen, ausdruckslosen Gesichtern der Lebenden zu unterscheiden waren. diese Erkenntnis wurde immer dann besonders anschaulich, wenn er einen kollegen zum Mittagessen im Faculty Club traf, der bei den meisten jüngeren universitätsdozenten und nichtakademischen Mitarbeitern unter der Bezeichnung »Club des Todes« lief. im Zentrum des Hauptspeisesaals stand unter den Porträts diverser verblichener Harvard-Präsidenten aus dem achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert eine lange Tafel, um die sich viele der am wenigsten sittsamen, aber am höchsten ausgezeichneten Lehrstuhlinhaber oft in Gesellschaft von Präsident Atterton zum Mittagessen versammelten. Es war fast egal, wohin man im speisesaal gelangen wollte, man musste vorbei an diesem Bataillon der wächsernen Gesichter in blauen und grauen Anzügen, von denen viele das Harvard-Wappen auf ihren dunkelroten krawatten trugen. im Vorbeigehen überkam Weinstock eine Empfindung, die, obwohl das Gegenteil von erotisch, ihn vage an Berichte darüber erinnerte, wie schöne Frauen sich fühlen, wenn sie im spießrutenlauf Bauarbeiter passieren. Alle Blicke, das spürte
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er, waren auf ihn gerichtet. doch das waren eher die Blicke von Aasgeiern auf der suche nach überfahrenen Tieren als diejenigen lüsterner junger Männer, die nach einem anonymen stück Fleisch Ausschau hielten, um ihr Glied hineinzustecken. und Mitglieder hatte Harvard mit sicherheit im Überfluss. Clubs und Verbände, Zentren und institute, Zeitschriften und komitees vermehrten sich so schnell wie krill in den Gewässern der nördlichen Walfanggebiete. »ich feiere mich selbst und singe mich selbst«, intonierte Harvard unaufhörlich mit Walt Whitman. Wenn er sich in seiner täglichen universitätspost zwischen den Todesanzeigen und Bekanntmachungen der krankenversicherungsleistungen einen Weg bahnte, war sich Weinstock sicher, mindestens auf eine Einladung zu einem Empfang, einer Eröffnung, einem Mittagessen, einer Cocktailparty, einer Lesung oder einer Veröffentlichungsparty zu stoßen, die an ihn adressiert war oder an Melvin Wennstock, den dekan für Australienstudien, und falsch eingeworfen worden war. da er nicht der Typ für solche gesellschaftlichen Anlässe war, war dieser chaotische kreislauf der selbstbeweihräucherung und Geselligkeit mit seinen endlosen Planungsanforderungen, Antwortgesuchen und Absagen mehr, als er ertragen konnte. Als er eines Abends irrtümlicherweise an einem Empfang zu Ehren des neuen Buches von Christopher Crabbe, dem W.-s.-Frazier-Professor für Australienstudien, mit dem Titel Heiliger Kessel. Familiärer Zusammenhalt und Transgression in der Kultur der Aborigines teilnahm, blieb ihm kaum etwas anderes übrig, als stammelnd eine endlose Reihe von Trinksprüchen und Wodka Tonics zu absolvieren, während ihn eine Brigade Ehegattinnen von universitätsdozenten und Lehrstuhlinhabern mit australischem Akzent mit konversationsfetzen wie: »Finden sie nicht, dass Hopgoods eorie der sozialen untermauerung von gruppeninzestuösen dreiecksverhältnissen ganz schrecklich kontrovers ist?« bombardierten.
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Eines Abends jedoch fand sich Weinstock bei einem gesellschaftlichen Anlass ein, zu dem er eingeladen worden war – ein Empfang (der zufälligerweise mit T. s. Eliots fünfundneunzigstem Geburtstag zusammenfiel) für neue dozenten der Literaturfakultät, der in den Räumlichkeiten eines der prestigeträchtigsten und traditionsbewusstesten Privatclubs von Harvard, der Pink Rose, stattfand. die meisten großen Figuren der Amerikanischen Literatur waren Mitglieder der Rose gewesen, wobei eine ihrer unüberschaubaren Gepflogenheiten es vorsah, jedes Mitglied dazu zu verpflichten, eine pinke Rose einzuschicken, die bei der Veröffentlichung seines ersten Buches eingerahmt und über eine persönliche Widmung des Autors gestellt wurde. (Es gab, wie Weinstock nicht umhinkam festzustellen, offensichtlich keine weiblichen Ehemaligen der Pink Rose.) dieser Brauch kreierte ein wahres Museum an koryphäen wie T. s. Eliot höchstselbst, John Masefield, somerset Maugham und, ja, selbst dem grässlichen, alten Robert Frost, wobei ihre eingerahmten und entwurzelten Blütenblätter auf die verblassenden blauen Lobreden ihrer kollektiven dankbarkeit herabzuregnen drohten. Weinstock war zu diesem Empfang von einem ganz besonders fahlgesichtigen studentischen dichter eingeladen worden, der sich am Telefon als »Anderson Whitfield iii, sekretär der Pink Rose« vorstellte. da er die kunst der verbindlichen Ausrede noch nicht beherrschte, fiel Weinstock nichts Besseres ein, als ein rasches, wenig überschwängliches »Tja … sicher, ich komme gern« zu murmeln, und so kam es, dass er an dem Abend des Empfangs sowohl hinsichtlich seiner Garderobe als auch seines psychischen Zustandes unvorbereitet auf diese elitäre Gesellschaft, in die er auf wundersame Weise Eingang gefunden hatte, traf. Auch hatte er bisher die unter den universitätsdozenten von Harvard übliche sitte, privat wie Akademiker behandelt und bezahlt zu werden, sich jedoch in der Öffentlichkeit
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wie Aristokraten aufzuführen, noch nicht verinnerlicht. der mit seiner üblichen braunen Cordjacke, ausgewaschenen Jeans und weinroten Cowboystiefeln bekleidete Weinstock stellte fest, dass sprichwörtlich alle Blicke auf ihn gerichtet waren, als er das mit Ornamenten verzierte und mit Antiquitäten überladene Wohnzimmer betrat. »Gentlemen«, verkündete der junge Anderson Whitfield iii der um einen kamin versammelten Gruppe großer, schwabbeliger Männer mit Zigarren, »ich möchte ihnen Professor Martin Weinstock vorstellen. dr. Weinstock –« »Mr.«, korrigierte ihn Weinstock. »Entschuldigen sie.« Auf Whitfields Gesicht machte sich eine gewisse irritation breit. »Mr. Weinstock ist unser neuer Burke-Howland-Professor für Lyrik.« »Lektor«, korrigierte er Whitfield erneut. »Ah, ja, Lektor … Bitte entschuldigen sie.« Hunderte Pupillen wanderten plötzlich unisono von Weinstocks Zehen hinauf zu seiner körpermitte, was wie der direkte physische Ausdruck eines kollektiven Wunsches wirkte, einen Anzug und eine krawatte aus bloßer Luft zu formen, als sich ganz außen ein kleiner kreis von Männern langsam erhob, um den usurpator ihrer eleganten kleidungssymmetrie zu begrüßen. Es entstand ein schier endloses schweigen, in dem jeder darauf zu warten schien, dass sich das ersehnte Gewand materialisierte. schließlich brach der Letzte, der sich von seinem sitz erhob, ein schwerfälliger Herr mit schütter werdendem Haar, der sich schlicht als »Barton Haxton, Bank of Boston« vorstellte, dieses schweigen. »Ein dichter«, dröhnte er in das verrauchte Wohnzimmer. »so, so.« davon überzeugt, dass seine gastgeberischen Pflichten damit erfolgreich erledigt seien, nahm er erneut seinen Platz auf dem dick gepolsterten Lederstuhl vor dem kamin ein. »Ahhhh«, donnerte er und blies dabei eine lange Flottille Pfeifenrauch mitten in ihren kleinen Zirkel, »dichter …
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Wussten sie, Gentlemen, dass ich in eben diesen Räumlichkeiten anno 1928 John Masefield lesen hörte?« die unentrinnbare Empfindung, dass seine Peristaltik sich umgekehrt hatte, durchfuhr Weinstocks körper. Er war sich noch nie so bewusst gewesen, die falschen schuhe zu tragen. das Abendessen wurde serviert – Lammkarree, filigrane grüne Bohnen, Châteauneuf-du-Pape 1981, Mousse au Chocolat. Nur dorothy, die blasse studentin zu Weinstocks Rechten, unternahm ein paar zögerliche Versuche, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen. »War ihr Vater Clubmitglied?«, fragte sie, als die versammelten Honoratioren der Pink Rose zu Ehren von T. s. Eliots fünfundneunzigstem Geburtstag ihre Gläser erhoben. 3 3. Juli ‘84 Pine Hill, New York Lieber sohn Martin! Wir kamen hier um 9:00 p.m. am dienstag den 28sten Juni an; wir verließen N.Y. um :00, also 4 stunden. Wir haben hier cold, cold Wetter. darum habe ich eine Cold. Gerade kommen wir vom doktor sonntag 3.7. Er sagte, es ist Bronchitis (akute) blood pressure 140/80 ist gut – Er gab mir right away ein Rezept mit, aber die drugstores sind zu – sonntag. ich denk, in paar Tagen ists rum. Wann kommst du wieder ruff? unsere Telefonnummer ist 1-24-4937. ilse Metzger hat schlime Nachrichten. sie wollte am 13/7 für ein paar Wochen in die schweiz und nach deutschland reisen – jetzt ein paar schlime Nachrichten, sie ist tief gebrochen MALiGNEs kOLOREkTALEs kARZiNOM auch Teil auf dem PANkREAs sehr sehr traurig wir waren außer uns – so hat jeder
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das was er kriegt – was man hat das hat man – Verstehst du lieber Martin was das heißt? Was immer du kriegst im Alter, es ist kein Vorteil!! unser Nachbar Jack Greenberg liegt im sterben … das Goldene Zeitalter!! – dem HERRN sei dank – sind wir wohlauf … trotz der plötzlichen Cold und dem AiR CONdiTiONiNG Luftzug – BiTTE GiB AuCH du AuF diCH ACHT – Vorsicht ist immer besser als Nachsicht – dienstag den ten Juli gedenken wir des 82sten Geburtstags unserer guten Betzele. Möge ihre gute seele in scholem ruhen und der gute HERR ihre guten Taten in der anderen WELT belohnen. Heute /7.84 LiEBER sOHN. Bitte entschuldige, daß ich dir wegen meiner Erkrankung verspätet schreibe. Mir geht es wieder ein bißje beßer. Heute ist Mama seligs 82ster Geburtstag. so muß der Brief lieber sohn fort – die Box wird bald gelehrt. ALLEs LiEBE, dAdY
Weinstock hatte die Briefe seines Vaters seinen Freunden und Geliebten immer gerne vorgelesen. das Vorlesen befreite ihn von der Eintönigkeit der sich wiederholenden Ereignisse, die darin beschrieben wurden, und andere schienen sie weitaus unterhaltsamer zu finden als er selbst. »Also, hier ist Ausgabe 236 der Morbiditäts- und Mortalitätsmitteilungen«, sagte er und trug die unvermeidliche Liste von Todesfällen, krankheiten und diagnosen vor, die im von Rechtschreibfehlern wimmelnden, skurrilen »denglisch« seines Vaters beschrieben waren. Weinstock war es immer schon so vorgekommen, als ob ein Psychoanalytiker
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mit einem tiefergehenden interesse an solchen dingen allein schon auf Grundlage des schriftbilds seines Vaters eine interessante diagnose hätte stellen können. Er für seinen Teil hatte jedoch das interesse daran verloren. diagnosen hatten lange aufgehört, eine Rolle zu spielen. diese letzte Epistel seines Vaters jedoch, die direkt nach einer zweistündigen Lehrkörperversammlung mit Morton Gamson, dem direktor für kreatives schreiben, eintraf, deprimierte Weinstock irgendwie noch mehr als sonst. und jetzt – unterwegs zum Mittagessen mit siegfried Marikovski, samuel-W-Worthy-Professor für Amerikanische Literatur und sein einziger richtiger Freund am Englischen seminar – beschloss Weinstock, sich noch mehr zu bemühen, sein unbehagen zu ergründen. »ich weiß nicht recht, was das zu bedeuten hat, siggy«, sagte er über einen Eis-Cappuccino und ein Himbeer-Croissant hinweg, »aber seit ich hierhergekommen bin, seh ich ziemlich schwarz … und trotzdem will mir jeder x-Beliebige einreden, wie froh ich doch sein sollte.« »Na ja, was glaubst du, woran das liegt?« Trotz seines hohen Ranges und seiner internationalen Reputation als oreau- und Henry-James-Experte hatte Marikovski immer ein aufrichtiges interesse an Weinstocks Wohlergehen gehabt. »Glaubst du, es liegt an der unsicherheit, was deine Zukunft hier anbelangt?« »schon, ja.« Weinstock ließ den Holzrührer in seinem Cappuccino kreisen, während er über die Frage nachdachte. »Zumindest zum Teil. Aber ich glaube, da steckt noch mehr dahinter … ich kann nicht aufhören, an den Tod zu denken. Es ist fast so, als gäbe es etwas an diesem Ort, was mich zu sehr an mein Zuhause erinnert – zu sehr an meinen Vater.« »deinen Vater?« Marikovski schien die Verbindung nicht zu begreifen. »ich dachte, er sei ein ungebildeter Mann, der nicht mal Englisch spricht.«
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»das ist er auch. Aber er ist gedanklich so verdammt mit dem Tod und den Toten beschäftigt – und er selbst will einfach nicht sterben.« »Was ist daran so schlimm? du scheinst doch sehr an ihm zu hängen.« »Na, das tue ich auch, irgendwie. Also, als ich klein war und meine Mutter starb und ich ihn wirklich brauchte, hatte er ständig einen Herzinfarkt und dergleichen, und ich war mir sicher, dass er jeden Augenblick tot umfallen würde. Jeden Morgen nach dem Aufwachen rannte ich als Erstes in sein schlafzimmer, nur um sicherzugehen, dass er noch lebte.« Marikovski schien berührt, wenn auch verwirrt. »Ja«, murmelte er, als ob er laut zu sich selbst spräche, »ich kann mir schon vorstellen, wie dich das mitgenommen haben muss … Aber warum hast du ein Problem damit, dass er heute lebt?« »Na, weißt du, früher – als ich mir so sehr wünschte, dass er lebt – war er ständig am sterben. und jetzt – wo ich wirklich irgendwie bereit bin, ihn mitsamt seinem ganzen verdammten kranksein und sterben aus meinem Leben zu haben – weigert er sich schlichtweg zu gehen. das bringt mich irgendwie dazu, mich wie der arme Watson zu fühlen, der die ganze Zeit darauf wartet, dass Wellberry endlich abtritt.« (Marc Watson, seit sieben Jahren der Nachfolge-Mediävist am Englischen seminar, hatte berechtigte Hoffnung, nach dem Tod des an einem Lungenemphysem erkrankten Atherton-Professors für die Literatur des Mittelalters, simon Wellberry, eine Festanstellung zu bekommen. »Ja« – Marikovski sprach, als ob er auch direkte Erfahrungen damit gemacht hätte – »sie sterben nie, wenn man bereit dafür ist, dass sie es tun, nicht wahr?« »ich möchte es mal so sagen«, stimmte Weinstock zu, »ich habe die schnauze voll davon, mein Leben zu führen,
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als sei es ein fragiler, kleiner kokon, der an einem Faden direkt vor meiner Nase baumelt, während ich kurz davor bin, zu niesen.« »das ist aber nicht die richtige Art, damit umzugehen.« Marikovskis Tonfall wechselte zu wohlmeinender strenge. »davon abgesehen möchte jeder sohn früher oder später seinen Vater töten … du hast Ödipus doch gelesen. das Beste, was man machen kann, ist, genau das zu tun, was man will – das bringt ihn schneller um als irgendwas sonst.« »Wahrscheinlich hast du recht. Was ich aber die meiste Zeit über machen möchte, ist schauen, dass ich so schnell wie möglich meinen Arsch aus diesem lebensverneinenden Ort rette.« »Menschen wie du und ich«, Marikovski lächelte wissend, »können diesen Ort nicht einfach verlassen.« »Oh? und warum nicht?« Weinstocks Tonfall verriet eine spur von Furcht. »Weil es unsere einzige Chance im Leben ist, das zu werden, was jeder Jude tief im innersten seines Herzens am allermeisten sein will.« »und was soll das sein?« »der Große Goldberg.« »der Große Goldberg?« Weinstock konnte sich das Lachen nicht verkneifen, als er die Worte aussprach. »Was zum Teufel ist das?« »das bist du und das bin ich«, antwortete Marikovski mit größter Ernsthaftigkeit. »Eben hier. Eben jetzt. Wir sind der Große Goldberg – bloß weil wir Juden und hier an diesem Ort sind.« »Ach ja? und was bin ich dann, bitte, wenn ich hier rausfliege? der ›Ehemalige Große Goldberg‹?« Marikovski hielt einen Moment inne, so als ob er ernsthaft über die Frage nachdächte. »du bist dann –«, er atmete tief ein, »obwohl ich nicht glaube, dass es wahrscheinlich ist,
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dass das passiert – genau wie jeder andere, der von hier rausfliegt.« »und das wäre?« Weinstock rückte mit seinem stuhl ein stück näher, plötzlich ganz Ohr vor Neugier. »Ein gewöhnlicher sterblicher, nur ein weiteres Gesicht unter den Lebenden. Aber warum vergisst du für einen Augenblick nicht das Weggehen und deinen Vater und kommst heute Nachmittag mit zu der konferenz am Zentrum für Literaturwissenschaft. ich glaube, die ist ganz nach deinem Geschmack.« »Ach ja? … Worum geht’s denn?« »der Titel lautet ›Repräsentanzen des Todes. Eine interdisziplinäre konferenz‹. ich bin einer der Veranstalter.« Weinstock musste leicht errötet sein, denn Marikovski wiederholte bloß noch die Einladung. »Wenn du Lust hast, bist du herzlich dazu eingeladen, nach dem Mittagessen mit mir hinüberzugehen. Vielleicht findest du es sogar inspirierend.« Weinstock hatte vorgehabt, nach Crane Beach zu fahren, denn es sah so aus, als sei das der letzte warme Nachmittag des indian summers. doch aus irgendeinem Grund fühlte er sich veranlasst, Marikovski zur konferenz zu begleiten, und nach dem Essen machten sie sich auf den Weg über den innenhof zum Zentrum für Literaturwissenschaft, wo das Treffen, geleitet von der Constantine-Cavafy-Professorin für Moderne Gräzistik, stella Zaradapoulous, gerade dabei war, Gestalt anzunehmen. Weinstock setzte sich weit hinten auf einen stuhl, während Marikovski durch die dicht gedrängte Versammlung nach vorne schlurfte, wo Professorin Margot Lightfood und andere Mitveranstalter bereits Platz genommen hatten. »ich möchte sie alle zu dieser ersten jährlichen konferenz zu den ›Repräsentanzen des Todes‹ begrüßen«, begann Zaradapoulous, wobei sie regelmäßig an einer Zigarette zog, »ein ema, an dem wir alle, leider, ein gemeinsames inter-
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esse haben.« Zwei stühle weiter links von Weinstock schlief ein kind von nicht mehr als zwei Monaten, das selbst irgendwie tot aussah, in den Armen seiner Mutter. »Wir haben ein volles, aber uns hoffentlich nicht erschlagendes Programm vor uns«, fuhr Zaradapoulous fort, »um das zu diskutieren, was als ›die eine sichere sache im Leben‹ beschrieben wurde – das ema, von dem Philip Larkin sagte: ›die meisten dinge passieren wohl nie: dies wird passieren.‹ Vor allem hege ich die Hoffnung, dass uns zum Ende des Tages Erfolg in der edelsten aller unternehmungen beschieden sein wird – die eloquenten Toten vollauf beschäftigt zu wissen. da ich genug Zeit für ausführliche diskussionen und Fragen nach jedem Vortrag lassen will, möchte ich ihnen gerne ohne weiteren Aufschub Frau Professor Loring Rogonnet von der university of Bridgeport vorstellen, deren ema der ›Aderlass auf dem Papier: der Tod des dichters als literarisches Bestreben‹ sein wird. An Frau Professor Rogonnets Vortrag wird sich unmittelbar der von Professor david donnelly vom Bates College anschließen, der über ›Totes Fleisch oder der Geruch der Literatur‹ sprechen wird, worauf eine Frage- und Antwortrunde folgen wird. Frau Professor Rogonnet …« Loring Rogonnet, eine statuenhafte Frau mit gelblicher Gesichtsfarbe und eingefallenen Wangen, die ein dunkelgrünes kleid unter einem perlenbestickten schwarzen sweater trug, stand auf und nahm vorne Platz. Während sie sich eine Zigarette anzündete, richtete sie einen durchdringenden Blick ins Publikum, wobei sie kurz innehielt, als ihre Augen auf die Weinstocks trafen. »›die Aussicht auf den Tod‹«, begann sie, »›konzentriert‹, wie samuel Johnson schrieb, ›den Geist auf wundersame Weise.‹ dies spiegelt in verschiedener Hinsicht die Gefühle Giacomettis wider, der – als er beim Überqueren der Place
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d’ltalie von einem Auto erfasst wurde – seine erste Empfindung, in einem Zustand klarsichtiger Ohnmacht, mit ›Endlich ist mir mal etwas passiert in meinem Leben!‹ beschrieb. das Ziel meiner heutigen kurzen Ausführungen hier ist es, ihnen die ese darzulegen, dass wir den dichter – diese letzten Endes kindliche Figur –, damit er bei seiner Arbeit sein oder ihr Bestes geben kann, ständig daran erinnern müssen, was Jean-Paul sartre so genau wusste …« Rogonnet schien nun die junge Mutter und das kind in Weinstocks Reihe unumwunden anzustarren. »Wir müssen ihn daran erinnern«, fuhr sie beinahe schreiend fort, »um es mit sartre zu sagen, dass ›alle kinder spiegel des Todes sind‹.« das kind, vielleicht intuitiv aufgeschreckt durch die Erwähnung seiner vermeintlichen Nähe zum Ende des Lebens, bewegte sich leicht auf dem schoß der Mutter und stieß einen kurzen, kaum vernehmbaren schrei aus. Weinstock schaute zu Marikovski hoch, der sich eine Zigarette anzündete. »Wir müssen ihn daran erinnern«, fuhr Rogonnet fort, »dass – um Emily dickinson wiederzugeben – ›sterben ist’s, was er tut, doch er hat keine Angst, es zu erkennen.‹ Wir müssen ihn daran erinnern – wie es die ungarn im wahrsten sinn des Wortes durch die umbettung des Leichnams von Béla Bartók bezeugt haben –, dass es die Aufgabe des dichters ist, immer wieder aufs Neue zu sterben, um so der Welt seiner Leser Leben zu spenden. Wir müssen ihn daran erinnern, dass er so schreiben soll, um die südafrikanische Romanschriftstellerin Nadine Gordimer zu zitieren, ›als ob er schon tot wäre‹.« Ein Gefühl des Ennui überkam Weinstock, während Rogonnet sprach. Er fühlte ein plötzliches Verlangen nach Licht und Luft und musste aus diesem vollbesetzten Raum der Zigaretten und des sterbens fliehen. Er warf Marikovski einen halb entschuldigenden, halb verärgerten Blick zu und
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erhob sich in dem Versuch, sich unauffällig einen Weg zur Tür des seminarraums zu bahnen. seine Bewegung weckte jedoch das kind, das zu heulen anfing, als Weinstock auf den Gang schlüpfte. Rogonnet hielt inne, während sich alle Blicke auf Weinstocks vorzeitigen Aufbruch richteten. Vor Verlegenheit ganz rot geworden wandte Weinstock den Blick von der kleinen schar seiner Zuschauer ab und stürzte hastig die Treppe hinunter. Binnen sekunden war er zur Tür hinaus und rannte zu seinem Auto am Burdick Place 24. Eine warme, fast sommerliche Brise wirbelte das volle spektrum an Blättern im Herbstwind umher. Weinstock öffnete geschwind die seitenfenster und ließ den Motor an. Er wollte, so schnell er konnte, zum Meer fahren, Luft und Licht entgegen, einem Ort entgegen, wo der Tod, von dem sie tuschelten, ihn nicht betraf. 4 schon bevor er nach Harvard gekommen war, hatte er das Wort »ernsthaft« nicht besonders gemocht. Es war sogar so, dass er große Anstrengungen unternommen hatte, um Ernsthaftigkeit aus seinem Leben zu verbannen. Wie auch bei Trüffeln oder teurem französischen Wein fand er, dass sie eine weit überbewertete Erfahrung darstellte. Was »kunst« anging, stimmte er dem Maler Ad Reinhardt zu: sie war eine zu ernste Angelegenheit, um ernst genommen zu werden. doch hier in Harvard nahm zu seinem kindlichen Erstaunen das Wort »ernsthaft« eine neue und beinahe religiöse dimension an. das höchste kompliment, das man jemandem machen konnte, war, seinen Namen mit diesem ominösen Attribut zu versehen. »dr. Havisham«, sagte der Geschäftsführer des instituts, Lawrence Gentry, als er den Getlin-Lektor für Geisteswissenschaften vorstellte, »ist einer der ernsthaftesten Chaucerianer unseres Landes.« Weinstock hatte nicht viel von Chaucer gelesen, aber das wenige, was
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er gelesen hatte, war ihm immer wie der absolute Brüller vorgekommen. Er fand es deshalb besonders befremdend, dass Ernsthaftigkeit im umgang mit diesen dingen auf einmal als erstrebenswert gelten sollte. in puncto Ernsthaftigkeit zog Weinstock die Einstellung des früheren Assistenzprofessors sidney darn vor, der Harvard wegen eines Jobs an einem staatlichen College in New Jersey verlassen hatte: »Wir müssen das düstere aus dem Ernsthaften herausnehmen«, schrieb darn in einem Aufsatz, den viele direkt dafür verantwortlich machten, dass ihm die Festanstellung verweigert worden war. in Cambridge jedoch waren das düstere und das Ernsthafte wie siamesische Zwillinge, die am Hodensack verwachsen waren: Niemand war daran interessiert, auch nur den Versuch zu unternehmen, sie zu trennen. »dr. Wicklow«, sagte ein kollege, als er sich bei einem der Mittagessen für universitätsdozenten Weinstock zuwandte, »ist der ernsthafteste kandidat, den wir für unsere freie Renaissance-stelle haben.« Weinstocks Antwort – »es scheint mir, wir täten besser daran, zu versuchen jemanden einzustellen, der Humor hat« – vermochte nicht, das wohlwollende Echo zu erzeugen, auf das er gehofft hatte, und er stellte kurz darauf fest, dass er von der monatlichen Mittagessensliste gestrichen worden war. der Ernsthafteste unter all denen, die die düsteren, elfenbeingetäfelten Hallen bevölkerten, war jedoch Morton Gamson, der stellvertretende direktor für kreatives schreiben, ein untersetzter, melancholischer Pirandello-Jünger und Möchtegern-Romancier, der von Armitage »wie sechs depressive Gestalten auf der suche nach einem Lächeln« beschrieben wurde, ein Typ Mann, dessen Verehrung des düsteren nur von der Hartnäckigkeit seiner Vergötterung der Anhänger der düsternis übertroffen wurde. Nicht ohne einen gewissen Anflug von Traurigkeit musste Weinstock der von Armitage vorgenommenen Einschätzung beipflichten. Gamson, dessen zutiefst melancholisches Aus-
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sehen manchmal nur zu genau Weinstocks eigene Melancholie zu spiegeln schien, die er gern geleugnet hätte, verkörperte das Gefühl der »vie manquée«, das im instituts vorherrschte. kurz vor seinem Ruhestand nach fünfunddreißig Jahren als außerordentlicher Professor ohne Festanstellung war er nach dem Ausscheiden von Weinstocks früherem Chef, einem freundlichen, zurückhaltenden, geringfügig talentierten Romanschriftsteller namens donald Radbush, zum geschäftsführenden direktor ernannt worden. im vergangenen Jahr wurde Gamsons erster Roman veröffentlicht – ein gewaltiges achthundertseitiges Opus mit dem Titel Die verlorenen Jahre des Marvis O’Callahan, an dem er seit dem Graduiertenkolleg gearbeitet hatte – und erfuhr eine solche allgemeine Ablehnung von kritikern wie schriftstellern, dass es jedem außer Gamson selbst klar war, dass ihm die stelle für kreatives schreiben als Trostpflaster überlassen worden war, um über die zerstörten Hoffnungen seiner letzten Jahre, der Roman werde seine unerfüllten Erwartungen als Wissenschaftler rechtfertigen, hinwegzukommen. Gamsons Frau Penelope, eine kinderpsychologin und keramikerin von einiger Reputation, machte die Angelegenheit noch schlimmer, als sie kürzlich ihre unglaublich erfolgreichen Memoiren mit dem Titel Dorthin und Zurück, worin sie von ihrer vermeintlichen Entführung durch Außerirdische während eines sabbatjahres in san Miguel de Allende berichtete, veröffentlichte. Gamson hatte damals eine ernsthafte depression durchzustehen, woran zu einem nicht nur geringen Teil die harsche kritik an seinem Roman schuld war. Nun, da Penelope wie ein starlet von Talkshow zu Talkshow tingelte, während ihr Buch schamlos die Auslagen fast jedes Buchladens in Cambridge zierte, traten Mortons lange Jahre des Versagens und der Langeweile durch den scheinbar mühelosen Erfolg seiner Frau nur umso deutlicher zutage.
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Gamson war in den 1940er Jahren ein Harvard-student gewesen und hatte, Berichten zufolge, in jenen ungestümen, rauen Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg beachtliche Erwartungen als Wissenschaftler geweckt. doch aus Gründen, die nur Psychoanalytikern und anderen Erforschern des menschlichen Geistes bekannt sind, war es ihm nicht möglich, sich von der tiefen Melancholie zu befreien, die ihn jetzt gänzlich zu umgeben schien. 191 war sein erstes Buch erschienen, Verwüstungen der Dunkelheit. Der dunkle Schleier des europäischen eaters, das nur dürftiges Lob erhalten hatte, gefolgt von weiteren, sich in ihrer Erfolglosigkeit zuverlässig steigernden Werken. der Autor drehte nun seine Runden in den Hallen des Burdick Place und saugte dabei alle Leichtigkeit auf, wohin auch immer er ging, während die anderen schriftsteller, darunter Weinstock, in einer Art Panik davor lebten, bei Gamsons montagmorgendlicher Befragung, »e Quiz« genannt, zum inhalt der Zeitschriften e New York Review of Books und e New York Times Book Review durchzurasseln. Hin und wieder sah Weinstock, wie Gamson mitten am Nachmittag den Harvard square überquerte, wobei er aussah wie ein desorientierter Patient, der aus einer psychiatrischen Abteilung ausgebüxt war. »immer wenn ich ihn sehe«, sagte dann Armitage, »höre ich im Hintergrund Peggy Lee ›is at All ere is?‹ singen.« Das, so musste Weinstock zugeben, war so ziemlich die Musik, die er zu hören begann, als er im wackeligen Boot des Englischen seminars von Harvard die sich rasch schließenden Pforten der Lebensmitte betrachtete. Gamson verkörperte außerdem die seltsame Zwangslage des selbststilisierten »Rebellen« in Harvard – »diktion von Camus, Lebensstil von donald Trump«, formulierte Weinstocks Freundin Claudia, dozentin für Lateinamerikastudien an der Brandeis university. Obwohl er lautstark seine Verbundenheit mit den jungen, »kreativen« dozenten der Ab-
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teilung gegen die alte Garde, die ihn weder als Wissenschaftler noch als Romancier ernst nahm, kundtat, handelte Gamson – wann immer einer der schriftsteller eine kleinere Änderung an der Art und Weise, wie etwas getan werden sollte, vorschlug –, als ob man im Begriff sei, einen heiligen Ritus zu verletzen. »ich glaube nicht, dass das eine gute idee ist«, war seine Reaktion auf jeden dieser Vorschläge. Wenn jemand fragte, »Warum nicht?«, war die Antwort immer: »Weil es noch nie gemacht wurde.« »kratz mal richtig an einem von diesen Jungs«, wisperte Weinstock nach einem solchen Moment zu Armitage und ihrem sachbuchkollegen John Corliss, »und es wird ganz sicher einer von der alten Garde zum Vorschein kommen.« »Ja«, konterte Armitage, »und kratz an einem von den Alten, und du wirst mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit auf eine Leiche stoßen.« »Pure Pornographie«, war Gamsons Beschreibung eines jeden Buches, das Weinstock je geliebt hatte, bis schließlich – in einer Geste, deren ironie ihm scheinbar völlig entging – Weinstock, Corliss und Armitage ihrem Chef zu dessen fünfundsechzigstem Geburtstag das, was sie heimlich das »anatos-Quartett« nannten, schenkten – HardcoverAusgaben des Tibetischen Todesbuchs, der Schriftrollen vom Toten Meer, von omas Manns Tod in Venedig und eines Buches mit Holocaust-dichtung mit dem Titel Todesmazurka, schwarz eingewickelt und mit der Widmung versehen: »Für Mort, der so viel Leben in unsere schriftstellerrunde bringt.« Es lag natürlich nicht daran, dass Gamson engherzig gewesen wäre oder unmotiviert. Aber fast vierzig Jahre lang jüngeren Wissenschaftlern und schriftstellern dabei zuzusehen, wie sie in einem Maße Erfolg hatten, an das er nicht mal mehr im Traum dachte, hatte selbst seine soldatische Widerstandsfähigkeit, die ödipale Niederlage wegzustecken, ausgehöhlt. Zusammen mit der schleichenden Er-
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kenntnis, dass er für ein kreatives Leben vollkommen ungeeignet war, zerfraß das langsam und unerbittlich seine Fähigkeit zu Humor und selbstironie. die Wahrheit war, dass Weinstock Gamson mochte und ihn bemitleidete. Aber er tat sich – als seine vermeintlich kurz währende Anstellung in Harvard den Anschein einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe anzunehmen begann – auch selber leid. Er hatte schließlich noch nie an einem Ort wie Cambridge gelebt, »dem einzigen Ort in Amerika«, so erzählte er seinem alten Freund Trevor, »wo man studieren muss, um Abendessen gehen zu können.« und es gab Zeiten, in denen Weinstock sich wie ein durchgeknallter, psychopathischer Geysir fühlte und einfach in Gamsons Büro, den Harvard Yard hoch und runter und in den Faculty Club stürmen wollte, um mitten hinein in die geisterhaften Gesichter in blauen Anzügen am stammtisch zu springen und – mit seiner lautesten und am wenigsten ernsthaften stimme – »Möse, schwanz, After, Milchreis, Fellatio« zu rufen, einfach wegen des Vergnügens, diese frühen ikonen seiner triebhaften unterwelt noch einmal frei heraus zu äußern. »Wann glaubst du, hat Gamson es Penelope das letzte Mal so richtig besorgt?«, fragte Armitage eines Nachmittags drüben im Burdick Place. »Vielleicht zur dreihundertjahrfeier für John donne?« »Nö«, sagte Corliss. »ich glaube, das muss so ziemlich genau zur Landung in der Normandie gewesen sein. Aber sieh es mal von der seite – alles hätte so viel besser für Mort sein können, wenn er nur nicht so klein gewesen wäre.« Armitage schaute hoch. »klein? – Was zum Teufel hat das damit zu tun?« »Na ja« – Corliss lächelte – »überleg dir nur mal, wie sie ihn während seines stipendienjahres in Paris genannt haben müssen.« »und das wäre?« Armitage schien perplex über diese unlogische Wendung in ihrem Gespräch.
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»sie müssen ihn« – Corliss gluckste und schloss die Tür hinter sich, während er sprach – »le petit Mort genannt haben.« Eines Morgens im Frühling gegen Ende des semesters hörte Weinstock ein klopfen an seiner Bürotür. Eine seiner Lieblingsstudentinnen, eine dunkelhaarige, sephardisch aussehende studentin im zweiten Jahr aus saddle River (»Nixon Country«, wie sie es nannte) namens Alexis Baruch, stand da und lächelte ihn aus ihrem lose sitzenden T-shirt an, das die Aufschrift trug »Eine Frau ohne Mann ist wie ein Fisch ohne Fahrrad«. in ihrer rechten Hand war eine Ausgabe der Ausgewählten Gedichte von Adrienne Rich, in ihrer Linken eine Ausgabe von Reine Lust von Mary daly. »Hi.« sie stand in der Tür und ihr Lächeln ließ Weinstock wünschen, Fische hätten einen größeren Bedarf an Fahrrädern. »Wie geht es ihnen?« »Oh … äh, also.« Er zögerte, da er die Antwort nicht genau wusste. »und ihnen?« Obwohl sein direkter Vorgänger an die kansas state ins Exil gehen musste, nachdem ihm von fünfzehn studentinnen Vergehen vorgeworfen worden waren, die von »anzüglichem Anlehnen« bis zu »zweideutigen Äußerungen beim Mittagessen« reichten, hatten selbst die äußersten Anstrengungen seines ziemlich preußischen Über-ichs nicht ausgereicht, ihn davon abzuhalten, in seinem ersten Jahr in Harvard gelegentlich, wie er es nannte, »mal eben in den Archiven zu kramen«. Was seine sexuellen streifzüge weiter anspornte, war seine rasch bröckelnde Ehe mit deirdre MacAllister; er jedenfalls neigte dazu, das zu glauben. doch es gab Grenzen. das hatte Weinstock schnell festgestellt, Grenzen der prä- und postkoitalen stimulation, die ein sechsunddreißigjähriger Mann von einer Zwanzigjähri-
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gen erwarten konnte, selbst von einer, die ihre kleinen Ferien zwischen den semestern in Florenz und die großen semesterferien im sommer in der dordogne verbracht hatte, seit sie zwei war. Also war er schnell dazu übergegangen, sich mit dem weniger berauschenden, dafür aber sichereren Vergnügen zu trösten, das ihm die sportstudentinnen in höheren semestern, die jüngeren Gastdozentinnen und die geschiedenen kolleginnen bereiteten. und nun, da diese intellektuell und körperlich temperamentvolle studentin im zweiten Jahr in all ihrer prädesillusionierten Pracht vor ihm stand, war Weinstocks Geist, trotz des leichten Anflugs von Versuchung, die dort aufflackerte, mit nichts anderem beschäftigt als der Frage, wie er es an diesem Abend vermeiden könnte, bei einer weiteren Vorlesung des instituts mit einem Titel wie »die Bioethik von dickens’ Unser gemeinsamer Freund« anwesend sein zu müssen. »ich schätze mal, mir geht’s gut«, antwortete Ms. Baruch (die Weinstock, wenn er im Privaten so seinen Gedanken nachhing, Ata hu Adonaj nannte). ihr Tonfall war der von jemandem, der die tiefere Wahrheit hinter der höflichen Antwort enthüllen wollte. »sie schätzen mal …?«, fragte er kooperativ. »Nun ja, wissen sie, Martin, es kann hier in Harvard ganz schön einsam werden … Besonders während der Examenszeit, wenn sich jeder so verdammt viel Mühe gibt, Präsident zu werden, bevor er zweiundvierzig ist … nur um unseren guten alten JFk zu übertrumpfen, falls sie wissen, was ich meine.« »Ja«, murmelte Weinstock mitfühlend, »ich glaube schon. Aber ich dachte immer, Sie hätten eine Menge Freunde.« »Freunde?« Alexis ließ sich mit einer raschen kombination aus ungläubigkeit und koketterie in den stuhl neben ihm fallen. »in Cambridge hat man keine Freunde – man hat Verabredungen.«
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Weinstocks eigener kleiner, schwarzer Taschenkalender – von einer Armada an Verabredungen zu Mittagessen, Empfängen, Lesungen, Lehrkörperversammlungen, konferenzen und kollegialen kaffeepausen ausgebeult – gab Alexis recht, und ihn überkam das plötzliche Gefühl der solidarität mit der jungen Frau, die ihren sommer zwischen ihrem ersten und zweiten studienjahr damit verbracht hatte, im kibbuz Ravnosh nah dem see Genezareth Hühner zu rupfen. »Nun ja«, brachte er sein Mitgefühl zum Ausdruck, »falls es irgendwie ein Trost ist, es ist für dozenten nicht anders.« »Weiß ich«, gab Alexis im Ton völliger selbstsicherheit zurück, »ich war im letzten Jahr mit einem Professor für Regierungspolitik gut befreundet, und er beschwerte sich andauernd darüber … Aus dem, was sie im unterricht hin und wieder sagen, schließe ich, dass sie hier auch manchmal einsam sind.« sie lehnte sich jetzt so weit vor, dass Weinstock fast schon die feinen Nackenhärchen hätte zählen können. Oh Gott, hilf mir, dachte er. Ein langes schweigen legte sich zwischen sie. »Nicht wirklich«, antwortete er zögerlich. das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war eine Beschwerde wegen sexueller Belästigung, zumal die universitätsrichtlinien zu diesem ema so gut wie jede Form der interaktion zwischen studierenden und dozierenden, die über eine konversation über »die Erzählung der Frau aus Bath« hinausging, in einen Akt der Gewalt verwandelten. so frei von Esprit sein Leben in Harvard auch war, Weinstock nahm doch an, dass es an der Buckholtz state noch schlimmer sein würde, wo nicht einmal die sich beständig ausdehnende Aura seines Lebenslaufs sein stetig schrumpfendes selbstwertgefühl ausgleichen könnte. »Oh, nein«, wiederholte er, während seine Augen schon fast überquollen vor Tränen. »ich bin nicht wirklich einsam hier … ich mach nur manchmal gerne einen Witz darüber.« »Ja, sicher. Aber sie wissen ja, was Freud gesagt hat …« Alexis, die seit ihrem sechzehnten Geburtstag vollständig durchanalysiert war, legte, das konnte er aufgrund ihrer frü-
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heren Gespräche sagen, einen psychoanalytischen Eifer an den Tag, der an polizeiliche Ermittlungsarbeit grenzte. »Nein. Was hat Freud denn gesagt?« Weinstock war aufrichtig neugierig. »Er hat gesagt, dass man niemals etwas nur aus spaß sagt. irgendwo in Zur Psychopathologie des Alltagslebens, glaube ich.« Hol’s der Teufel, dachte sich Weinstock plötzlich. Hatte nicht Charles Bukowski irgendwo gesagt, dass selbst ein achtzigjähriger Mann zumindest zeitweise den Tod besiegen könne, indem er mit einem achtzehnjährigen Mädchen schlief? (Bukowski zu lesen, das war ähnlich wie dem »Club Med« anzugehören oder sich heimlich an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zu bewerben, etwas, von dem er sicher war, dass es mindestens die Hälfte der jüngeren Harvarddozenten regelmäßig taten, doch von denen hatte gewiss keiner den Mumm, das zuzugeben.) »Hören sie mal, Alexis«, Weinstock drehte seinen schreibtischstuhl so, dass er direkt in die aufreizenden braunen Augen seiner studentin blicken konnte. »Würden sie es als schrecklich unangebracht ansehen, wenn wir irgendwo etwas trinken gingen?« Alexis’ rechte Hand fand diskret den Weg auf Weinstocks linke kniescheibe. sie sah ihn mit einem gönnerhaften Blick an, kokett und mitleidig. »Aber nein. Überhaupt nicht, Martin«, antwortete sie mit gespielter sittsamkeit. »ich dachte schon, sie würden nie fragen.« 6 »ich fühle mich wie ein Hochstapler«, vertraute Marikovski Weinstock im keller des Faculty Club an. »ich lebe in der ständigen Angst, dass früher oder später jemand darauf kommt, dass ich ein stinknormaler Einfaltspinsel bin, der
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zufällig dazu kam, ein paar mittelmäßige Bücher zu schreiben, die eine völlig überzogene Aufmerksamkeit von den fünfzehn oder zwanzig Leuten bekamen, die es auf sich genommen haben, sie zu lesen.« Weinstock konnte es nicht fassen. Marikovski, Autor von rund zweiundsiebzig Büchern, mehr als 300 wissenschaftlichen Aufsätzen, das Objekt eines intensiven und lukrativen Angebotskrieges zwischen Yale und Harvard, war ihm immer so vorgekommen, als wäre er in der Beletage des akademischen Lebens in Amerika angekommen. und jetzt dieses unglaubliche Geständnis. »das ist seltsam«, antwortete Weinstock kollegial, »ich fühle mich auch wie ein Hochstapler – nur, ich bin einer.« »du!« Marikovski schien erstaunt. »Einer der bedeutendsten jungen dichter des Landes?« »Oh, klar.« Weinstock konnte nicht umhin, über Marikovskis ernsthaft erstaunte Miene amüsiert zu sein. »ich habe ja noch nicht einmal Ulysses gelesen, von der Göttlichen Komödie ganz zu schweigen.« schon bevor er nach Harvard gekommen war, wurde Weinstock gesagt, dass dies ein Ort sei, an dem den Lebenden kaum ein stellenwert beigemessen würde, dass seine einzige Hoffnung zu bleiben darin bestünde, sich mit fast schon religiöser Hingabe dem Leben der Toten zu widmen. die Fakten schienen das zu bestätigen: Von den 394 Cocktailpartys, Eröffnungen und Empfängen, zu denen er bis jetzt eingeladen worden war – die 114 Anlässe, bei denen Harvard sich selbst feierte, nicht eingerechnet –, waren 186 zu Ehren von Toten und die übrigen 94 zu Ehren von kranken oder sterbenden abgehalten worden. Er hatte mitgezählt. »Ah, ja«, gab Marikovski zu. »Aber du gehörst immerhin zu den kreativen. Es sind Leute wie ich, die die wahren Hochstapler sind.« Weinstock konnte irgendwie nichts Überzeugendes vorbringen, um Marikovskis Argumentation zu widerlegen und
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fuhr einfach fort, die Olive in seinem Wodka-Martini umherzuschwenken. »Ja«, gab er ziemlich zögerlich zurück. »Man hat es nicht leicht hier, nicht wahr?« »Nein, das hat man wirklich nicht. Tja, gerade diese Woche habe ich eine Einladung abgelehnt, einen Monat in südamerika zu verbringen, damit ich hierbleiben kann, um zu arbeiten … einfach nur, weil ich mich zu unsicher fühlte, einen Teil meines Forschungssemesters für so etwas Frivoles zu verwenden.« »du hast was?« Weinstock, der schon seit Jahren von einer Reise nach Brasilien und zu den Galapagosinseln träumte, verstand die Welt nicht mehr. »Ja – ich habe eine Reise nach Rio abgelehnt, wo ich einen kurzen Vortrag hätte halten sollen und dann in einer zweiwöchigen schiffsreise den Amazonas hinuntergefahren wäre. ich war der Ansicht, ich sollte hierbleiben und mein Buch über oreau fertig schreiben.« Marikovski schüttelte beim sprechen traurig den kopf, wie jemand, der von der Beschränktheit seines eigenen Willens enttäuscht ist. »siggy«, protestierte Weinstock, »oreau ist tot. und überhaupt, wer hätte dir mehr dazu geraten, diese Reise anzutreten, als er? Während du – siegfried Marikovski, der leibhaftig direkt hier vor mir sitzt – am Leben bist.« »Wir sind alle tot.« Marikovski nahm einen schluck von seiner dr. Pepper diät-Cola. »du weißt, was Borges sagte – ›Wir sind alle Tote, die mit Toten sprechen‹. Einige von uns sind hier in dieser kurzen Ellipse des Lebens einfach nur am schauspielern und versuchen so zu tun, als wäre das gar nicht so.« »ich tu nicht so als ob.« Weinstock glaubte, einen kleinen Nachtrag zu Marikovskis Äußerung machen zu müssen. »ich lebe. ich sehe beim besten Willen keinen Grund dafür, auch nur damit anzufangen, tot sein zu spielen, bis es wirklich soweit ist.« so sehr er seinen älteren kollegen auch mochte, war sich Weinstock lange schon darüber im klaren,
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dass Marikovski ein zutiefst melancholischer Mann war. Nachdem er im Alter von acht Jahren beide Eltern verloren hatte, als sie von der ss in das Ghetto von Wilna deportiert worden waren, hatte er sich drei Jahre lang in Wäldern und Eisenbahnwaggons in Polen und Österreich versteckt, bevor ihn bei kriegsende eine österreichische Familie in der Nähe von salzburg aufnahm. Als seine Adoptivfamilie endlich ein Ehepaar als entfernte Verwandte in Palästina ausfindig machte, wurde Marikovski mit zwölf Jahren dorthin geschickt, um bei ihnen in der kleinstadt Afula zu leben. doch der Familienvater wurde im unabhängigkeitskrieg getötet, seine Frau beging kurz darauf selbstmord, und der kleine siggy fand sich bald auf einem schiff nach Amerika wieder, um in einem anderen Verwandtenkreis zu leben, dem ein Reinigungsgeschäft in Valley City, North dakota, gehörte. dort verlebte Marikovski – ein fragiler, asthmatischer Junge – als einziges jüdisches kind in einer schule voll von schwedisch- und norwegisch-amerikanischen Lutheranern mit der statur von Football-spielern eine leidvolle Adoleszenz, von der er sich, auch in Anbetracht der anderen, wenig beneidenswerten biografischen Tatsachen, nie erholte. »ich hatte eine schlimmere kindheit als du.« das war ein spiel, dem sich Marikovski und Weinstock des Öfteren hingaben – eines, das Weinstocks älterer kollege immer haushoch gewann. Weinstock war klar, dass, obwohl seine bewussten Absichten ehrenhaft und wohlmeinend waren, Marikovski in den dunkelsten Ecken seines auch nur menschlichen Herzens entzückt von dem Gedanken war, dass Weinstock sich in der gleichen tödlichen Falle der akademischen Festanstellung den Weg nach oben bahnte, in der er sich selbst befand. »Hast du schon das Neuste gehört?« Weinstock nahm eines samstagnachts den Telefonhörer ab, um den nicht gerade heiteren klang von Marikovskis stimme zu vernehmen. »Nein, was gibt’s?«
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»Man hat herausgefunden, dass in städten lebende Wissenschaftler die glücklichste Berufsgruppe darstellen.« »Waaaas?« Weinstock fand es gar nicht so witzig, durch solch unglaubwürdige Neuigkeiten aus seinem gewohnheitsmäßig frühen schlummer aufgeschreckt zu werden. »Wer zum Teufel hat das denn herausgefunden, siggy?« »das stand in der New York Times von heute Morgen. Man hat eine untersuchung durchgeführt, und es kam heraus, dass dozenten an städtischen universitäten glauben, dass sie einen zufriedenstellenderen Lebensstil hätten als irgendeine andere Gruppe.« »klar«, brummte Weinstock verschlafen, »aber hat sie irgendjemand gefragt, ob sie ein besseres Leben haben? Wen zum Teufel haben sie denn noch gefragt – Bestatter und Müllmänner?« »sei nicht so zynisch, Martin«, ermahnte ihn Marikovski. »ich glaube, die Chancen stehen ganz gut, dass die Rechnung für dich hier aufgeht, weißt du … das institut braucht jemanden wie dich … und Gamson wird Ende des Jahres in den Ruhestand gehen.« Bilder der fahlen Gesichter am stammtisch des »Club des Todes« oder des schlaffen, lethargischen körpers von Morton Gamson lebten vor Weinstocks Auge auf, wann immer Marikovski die Möglichkeit erwähnte, dass in Harvard die »Rechnung« für ihn »aufgehe«. »das ist nett von dir, siggy.« Er gähnte in den Hörer. »ich weiß, dass du alles machst, was in deiner Macht steht, um mir zu helfen.« »Glaub mir, Martin, das tue ich … das ist kein schlechter Ort, weißt du, Cambridge … Man kann hier eine Menge Arbeit erledigen.« der Gedanke an Marikovskis abgesagte Reise den Amazonas hinunter raste durch Weinstocks Geist wie eine schar Leichname auf dem Weg zu einem scheiterhaufen in Benares.
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»Ja sicher«, stimmte er zu. »Es ist ein großartiger Ort, um Arbeit zu erledigen.« Am folgenden Nachmittag fand sich Weinstock wieder einmal im Faculty Club ein und lief auf dem Weg zum Mittagessen mit Leonard Hapgood, dem Leiter der Psychiatrie am krankenhaus von Cambridge, an den blassen stammtischgesichtern vorbei. Hapgoods Forschung beschäftigte sich mit den gleichen Fragen der ödipalen Auseinandersetzung zwischen Vater und sohn, mit denen Weinstock sich laut Rezensenten in seinen Gedichten so erschöpfend befasste. »Manchmal, das muss ich ihnen jetzt sagen, Martin«, bekannte Hapgood bei seinem zweiten Glas Pouilly Fumé, »fühle ich mich wie ein furchtbarer Hochstapler.« »Ein Hochstapler?« Weinstock schaute ungläubig von seinem Mineralwasser auf. »sie? Wie können Sie sich nur wie ein Hochstapler vorkommen?« »Oh, das ist einfach.« der Ausdruck schläfriger Traurigkeit, den Weinstock mit den älteren universitätsdozenten zu assoziieren begonnen hatte, breitete sich plötzlich auf Hapgoods Gesicht aus. »Zwei ihrer kollegen auf der anderen seite des Flures gewinnen den Nobelpreis für Medizin, ein student, dem sie einmal eine B- gegeben haben, bekommt ein MacArthur-stipendium, und von zwei Leuten, gegen deren Festanstellung sie gestimmt haben, erhält der eine den National Book Award und der andere den PulitzerPreis, und da fangen sie eben an sich zu fragen: ›Wer bin ich? – Leonard Hapgood, Autor von vierzehn lumpigen Büchern, die niemand je gelesen hat außer anderen Psychiatern und ein paar Patienten, die College-dozenten sind; Leiter der Psychiatrie, der sich in Wahrheit von seinen Patienten nur dadurch unterscheidet, dass er die schlüssel hat‹, und da denken sie sich: ›ich bin nichts als ein gottverdammter Hochstapler.‹«
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Weinstock, Autor von zwei schmalen blauen Gedichtbändchen und zwei Artikeln in der Sports Illustrated, konnte kaum glauben, was er da hörte. »Leonard, Gott im Himmel, wenn Sie sich wie ein Hochstapler fühlen, wie kann dann irgendjemandem an diesem Ort wohl in seiner Haut sein?«, platzte er heraus. Mehrere der bis dahin scheintoten Tischgenossen des stammtischs unterbrachen ihre Chablis-geschwängerten Tagträume, um verärgert zum störenfried ihrer kollegialen Ruhe hinüberzustarren. »Begreifen sie es denn nicht?«, stieß Hapgood aus, dass der Pouilly Fumé nur so spritzte. »darum geht es hier doch im Grunde. Niemand soll sich hier wohl in seiner Haut fühlen … Glauben sie, die würden sich weiterhin so verrückt machen, wenn sie glücklich wären?« Weinstock war einen Augenblick lang sprachlos. Er starrte über den Tisch auf seinen Freund, der zum Leben erwacht schien, während er seine missliche Lage so akkurat beschrieb. »sie haben recht. Zumindest habe ich mich in meiner Haut nicht sonderlich wohlgefühlt, seit ich hier bin.« »und das, mein junger Freund« – Hapgood schaute in einer Art Halbkreis, dessen Radius so ziemlich alle insassen des speisesaals einbezog, über seine schulter – »ist der Grund dafür, warum wir alle in Harvard es so sehr brauchen und lieben, Mitglieder von Clubs zu sein. denn ein Club gibt einem zumindest irgendwie das Gefühl, sich wohl in der eigenen Haut zu fühlen. Ein Club ist eine Möglichkeit, der ganzen Welt zu sagen: ›Heda, ich bin in Ordnung. ich bin was Besonderes. ich gehöre hierher.‹« Ein plötzlicher Anflug von Übelkeit überkam Weinstock, als er Hapgood dabei zusah, wie er sich an seinem eigenen Gefangensein, an seinem eigenen, unverdienten selbsthass weidete. irgendwie hatte die Empfehlung des Tages, das »Hühnchen kiew«, seinen Reiz verloren.
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