Gottfried Fischborn, Peter Hacks und Heiner Müller

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Gottfried FISCHBORN

PETER HACKS UND HEINER MÜLLER

Edition Neue Klassik

Essay



Gottfried Fischborn

PETER HACKS UND HEINER MÜLLER

Essay-Collage

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VAT Verlag André Thiele


Edition nEuE KlassiK, nr. 6

Š Vat Verlag andrÊ thiele, Mainz am Rhein 2012 umschlag (Reihengestaltung): Martin Engelmann, Berlin Redaktion und satz: Felix Bartels, osaka druck: CPi Ebner & spiegel, ulm alle Rechte vorbehalten. www.vat-mainz.de isbn 978-3-940884-72-5


inhalt

Erster dialog. die private seite / Grund des schreibens Zweiter dialog. Über die ddR und den Kommunismus dritter dialog. aneignungsweisen / arbeitsweisen Müller / Grabbe Vierter dialog. Über utopien Fünfter dialog. Über eine apologie, die demokratie und die Massen hacks / Becher sechster dialog. noch einmal über den Kommunismus und zwischendurch möglichst kurz zum stalinismus Über Extreme lektüre siebenter dialog. Über den Menschen lektüre 2 hacks / Kleist achter dialog. Über die intellektuellen noch einmal doppelgänger auch triviale Gründe der Produktion neunter dialog. Über Geschichtspessimismus Eine tagebuch-Eintragung Zehnter dialog. Über zwei merkwürdige halbsätze, die hacks-Klassik, die Gattungen und das Museum seneca-notiz tragödie Geschichte historizität Siglen Anmerkungen

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Procedio Wie machen wir’s? oppolonius Wir ergänzen uns, werfen uns die Bälle zu. Procedio Wollen wir uns nicht lieber streiten? oppolonius Mal so, mal so. okay? Procedio so machen wir’s.


ERstER dialoG Die private Seite / Grund des Schreibens

oppolonius Wie waren Peter hacks und heiner Müller als Menschen? Procedio Was meinst du? oppolonius nun, mich interessiert zunächst die private seite … Procedio ich bin unlustig. oppolonius na, sag schon: Wie hast du sie kennengelernt? Procedio als student. durch ihre frühen texte. durch die aufführungen von »Columbus oder die Weltidee zu schiffe« und »die schlacht bei lobositz« 1956 am Deutschen Theater Berlin. Was Müller angeht durch die lektüre des »lohndrücker« im Jahre 1958 und dessen leipziger uraufführung sowie die Berliner inszenierung desselben stücks, zusammen mit der »Korrektur«, am Berliner Maxim-GorkiTheater, das war 1958. oppolonius aber wie hast du sie persönlich kennengelernt? Procedio Gerhard Piens, unser dozent für theatergeschichte und ein Münchner studienfreund von hacks, 7


brachte uns während einer Berlin-Exkursion zu einem Gespräch mit hacks und seiner Frau anna Elisabeth Wiede zusammen. das muß 1959 gewesen sein. Wir studenten waren miserabel vorbereitet und haben uns entsprechend blamiert. ich empfand die Blamage doppelt, weil mich die beiden auch durch ihre Jugend – und ihre jugendliche schönheit – stark beeindruckt haben. Gesagt haben sie wenig, weil wir in unserer Blödigkeit nichts zu fragen hatten, daher stumm wie die Fische blieben. das Ganze ist mir noch heute peinlich. heiner Müller traf ich das erstemal 1973 bei einem zweitägigen Kolloquium mit ddR-dramatikern, das wir an der leipziger theaterhochschule »hans otto« organisiert hatten. Wir waren ziemlich stolz darauf, weil der schriftstellerverband nie so viele stückeschreiber an seine tische gekriegt hatte. nur Peter hacks war leider nicht dabei, hat sich aber später positiv zu diesem unternehmen geäußert. sehr gern erinnere ich mich an eine lesung von »Germania tod in Berlin« bei uns in der theaterhochschule, es war anfang 74 am tag unseres ersten großen interviews, bei der heiner Müller vor lachen nicht weiterlesen konnte, als er an die große Clownszene (»die heilige Familie«) mit hitler und Goebbels kam. Er brach, wie man sagt, regelrecht zusammen und wir, die ganze truppe, mit ihm. Vielleicht nach einer Minute ging die lesung weiter. das stück mußte dann noch mehr als vierzehn Jahre warten, bevor es 1988 in der ddR öffentlich werden durfte.1 später, ich lebte ja nicht in Berlin, hatte ich nicht allzu viele Begegnungen mit den beiden, dafür einige sehr intensive. ich meine damit vor allem die vier großen interviews, mit jedem zwei, die wir im Rahmen zweier Forschungsprojekte auf tonband aufgenommen haben. das erste dieser Projekte wurde von meiner Kollegin Gerda Baumbach und mir gemeinsam konzipiert und betrieben, das zweite, unvollendet gebliebene, von meinem Kollegen Wolfgang Kröplin und 8


mir. am ersten der Gespräche mit hacks war außerdem Rolf Rohmer, am ersten Gespräch mit Müller Erika stephan beteiligt. die interviews, die übrigens auch mit zahlreichen anderen ddR-dramatikern geführt wurden, dauerten zwischen 200 und 250 Minuten. Es gab dafür auch ein fixes, allerdings recht flexibel gehandhabtes Frageprogramm, das die Vergleichbarkeit sichern sollte. leider scheint das zweite Gespräch mit hacks, geführt am 10. oder 11. Mai 1981 in seinem sommerhaus, verlorengegangen zu sein. ich habe inzwischen die hoffnung fast aufgegeben, daß es sich doch noch irgendwo finden wird.2 oppolonius du weichst meiner Frage aus, wie die beiden waren. Procedio Meine Großmutter, die Frau des oschatzer türmers, teilte die Menschen in anständige und unanständige ein. sie hätte gesagt, das sind anständige Menschen. oppolonius ist das alles? Gibt es nicht auch genügend Berichte und Belege über Boshaftigkeiten, Kleinlichkeiten, Eifersüchteleien? Procedio solche Berichte gibt es immer über jeden. hier geht es um zwei geniale dichter, einer davon auch ein großartiger theaterregisseur, und eminent politische Menschen. Zur privaten seite habe ich gesagt, was ich sagen wollte. höchstens würde ich hinzufügen: sie waren auf sehr unterschiedliche Weise äußerst höfliche Menschen. Oppolonius schweigt oppolonius aber was motiviert dich hier zum schreiben? ist nicht über diese beiden fast alles gesagt? 9


Procedio das wird nicht so bald, oder nie, der Fall sein. Ja, es gibt sehr viele kluge (und etliche weniger kluge) studien, Äußerungen, Kommentare zu Müller und mittlerweile auch zu hacks. andererseits: Eine große, mit entsprechendem anspruch auftretende studie zum thema wäre die aufgabe eines Jahrzehntes. oppolonius Gib’s zu, du bist zu faul dafür. Procedio stimmt. das hier soll ein persönliches Büchlein werden. sehr vieles, was mein politisches wie ästhetisches denken, Zweifeln, neues Überdenken und manchmal fast Verzweifeln in den letzten vierzig bis fünfzig Jahren ausmacht, läßt sich auf diese beiden autoren beziehen. und sie haben zusammen mit Volker Braun meine berufliche tätigkeit begleitet. sie waren, sie sind immer noch Bestandteil und ein Katalysator meines eigenen lebens. Über sie schreibend, finde ich zu einer art altersrésumé, zum Baustein oder Fragment einer geistigen autobiographie. oppolonius … und verzichtest deshalb auf eine deskriptiv rationale, in sich logische, essayistische oder streng wissenschaftliche darstellung? Procedio Es wäre überkomplex, weil von allen seiten bedrängend. Es wäre zu mühsam, jedenfalls für mich. ich leiste mir, darauf keine lust zu haben. ich will alles möglichst einfach sagen. Es soll auch genügend offenbleiben. Bewußt ein Fragment anzustreben, noch dazu als Collage – damit wird man freilich in den augen orthodoxer hacks-Pfaffen (wie sie von einem unorthodoxen hacks-Bewunderer genannt worden sind) als ein verdammenswerter Romantiker dastehen. 10


oppolonius Willst du zwischen den beiden autoren vermitteln? Procedio Ja. Vermittlung ist ja nicht die suche nach einer Mitte beim kleinsten gemeinsamen nenner. und hier geht es zuallerletzt um persönliche Feindschaft. die ist nur nebensächliches symptom eines Widerspruches, der aus gemeinsamem Boden gewachsen war. Jeder wirkliche Widerspruch (im unterschied zur bloßen Feindschaft oder divergenz) enthält zugleich die Einheit seiner Gegensätze. oppolonius Wir wollen den Widerspruch also austragen? Procedio um himmels willen – das wird der kulturwissenschaftliche diskurs zu leisten haben und es wird noch lange dauern. das ist eine sache der literaturgeschichte. Wir können versuchen, daß sich unser text aus einem tasten, einem suchen nach jener Einheit der Gegensätze im Widerspruch ergibt, ohne daß dieser verwischt wird. das wäre zugleich ein kleiner schritt, ihn auszutragen. das tun ja, soweit ich sehe, weder die hacks- noch die Mülleranhänger. sie sitzen immer noch in den alten schützengräben; ich fürchte, man spricht da und dort bis zum heutigen tage vom »hacks-Clan« und von der »Müller-Mafia«. oppolonius die beiden Protagonisten haben ihren Widerspruch nie miteinander, von angesicht zu angesicht, öffentlich ausgetragen, obwohl die weit verzweigte Kunstgemeinde der ddR jahrelang sehr darauf wartete. Werner Mittenzwei berichtet über eine Veranstaltung der akademie der Künste anläßlich des 100. Geburtstages von Georg lukács 1985, auf der er die Festrede hielt, und das anschließende Rundtischgespräch: »die Einladung hatte einen voraussehbaren Zulauf. das Publikum erwartete die längst 11


fällige auseinandersetzung zwischen Peter hacks und heiner Müller, deren extreme standpunkte bekannt waren. Man versprach sich ein duell der beiden toppolemiker. … doch heiner Müller ließ sich kein Wort abringen, und Peter hacks stürzte sich nicht auf heiner Müller, sondern auf Mittenzwei, zu dessen einleitender Rede er bemerkte, sie sei keine lukács-Ehrung, sondern eine lukács-schändung gewesen« (Mtz, 375). Procedio Fast dieselbe Erfahrung war schon zehn Jahre früher zu haben. auf dem Erich-Engel-seminar 1975, veranstaltet vom eaterverband, saß ich im total überfüllten saal des Berliner Künstlerclubs »Möwe« und hatte ein dreiergespräch zwischen Peter hacks, heiner Müller und Volker Braun zu moderieren. Ein alptraum noch in der Erinnerung. so etwas von sprachlosigkeit, in-sich-hineinschweigen dreier dichter habe ich nie wieder erlebt.

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ZWEitER dialoG Über die DDR und den Kommunismus BildER

… der Kommunismus sogar, das Endbild, das immer erfrischte Weil mit Blut gewaschen wieder und wieder, der alltag Zahlt ihn aus mit kleiner Münze, unglänzend, von schweiß blind … (heiner Müller, 1951) ManChMal WEnn iCh MEinE PRiVilEGiEn GEniEssE

Zum Beispiel im Flugzeug Whisky von Frankfurt nach (West-)Berlin Überfällt mich was die idioten vom sPiEGEl meine Wütende liebe zu meinem land nennen Wild wie die umarmung einer totgeglaubten herzkönigin am Jüngsten tag (heiner Müller, 1982) Es ist nicht wichtig, daß ein stück kommunistisch ist, es ist wichtig, daß der Künstler ein Kommunist ist. (Peter hacks, 1974) ich fühle mich verantwortlich ein wenig für die Welt, das gehört zu meinem Geschäft, sehr für mein land … (Peter hacks, 1974)

oppolonius die herrschende Politik- und alltagsrede setzt das Ende der realsozialistischen staaten mit dem Ende des Kommunismus gleich. haben unsere beiden dichter gleichfalls – nur mit umgekehrter Wertung – die ddR mit dem Kommunismus identifiziert? 13


Procedio selbstverständlich vertraten sie nicht diese triviale genaue umkehrung. sie haben nur beides, die ddR und den Kommunismus, nicht völlig voneinander getrennt, das ist ihnen gemeinsam. Gemeinsam ist sogar auch die schärfe der Kritik an der realsozialistischen Praxis, nur daß sie sich bei hacks auf die nach-ulbricht-Ära konzentrierte, während Müller stets die (neo)stalinistischen strukturen ins Visier nahm. Es ging hacks und Müller immer viel mehr um den Widerspruch zwischen ideal und Wirklichkeit als um die Überschneidungen. aber es ging auch um die Überschneidungen. die partiellen Übereinstimmungen. das Erreichte. oppolonius Welche ddR-Errungenschaft soll heiner Müller denn gewürdigt haben? Procedio Viele Male die immerhin durch die frühzeitige Brechung des bürgerlichen Bildungsprivilegs erreichte – wenngleich immer noch zu relativierende – Chancengleichheit. der Begriff blieb für ihn das Maß erreichbarer sozialer Gerechtigkeit schlechthin und sozusagen das kommunistische Mindestprogramm. oder er sagte in unserem ersten interview, es spräche sehr für die ddR, daß die hohe scheidungsquote überwiegend von Frauen bewirkt würde: sicheres Zeichen für Emanzipation. und dem ideologisch-politischen druck in der ddR stellte er die abwesenheit ökonomischen drucks gegenüber: »in der ddR war Geld für die Mehrheit der Bevölkerung kein Problem«, heißt es in der kurz nach der »Wende« auf Band gesprochenen autobiographie »Krieg ohne schlachten«. das ließe sich lange fortsetzen. Eine der letzten öffentlichen Äußerungen Müllers zur ddR am Ende des schicksalsjahres 1989 liest sich so: »ohne die ddR als basisdemokratische alternative zu der von der deutschen Bank unterhaltenen demokratie der BRd wird Europa eine Filiale der usa sein.« (Neues Deutschland v. 14. dezember 14


1989) hier klammert sich Müller an eine hoffnung, die eigentlich schon – auch für ihn – erledigt schien. Etwa zur gleichen Zeit sagt er zu Frank M. Raddatz: »die ddR muß einfach die alternative werden, sonst wäre das europäische haus ja eine todlangweilige angelegenheit. dann gäbe es als alternative nur noch den terrorismus und die Mafia …« (MW 11, 527). oppolonius Beide autoren erlebten jedenfalls den niedergang der ddR nicht mit Genugtuung, sondern schmerzlich, ein Gefühl, das bei hacks, anders als bei Müller, zuletzt bis zur Verabsolutierung überwog. aber als unser zweites Müller-interview im Rahmen der Werkausgabe veröffentlicht werden sollte, notierte meine Freundin und Kollegin Gerda Baumbach bei erneuter lektüre einige Eindrücke und schrieb mir unter anderem: »auffällig, wie selbstverständlich wir WiR gesagt haben. alle drei. das war schon unser land«. Eine 1993 erschienene anthologie »Was von den träumen blieb«, in der sich ddR-Prominente aus dem Kunst- und literaturbereich über verlorene träume und bewahrte utopien auf sehr persönliche Weise äußern, versieht Müller mit einem Vorwort, in dem sich die zornigen Worte finden: »das niveau der debatte um ddR-Vergangenheit ist so niedrig, daß man sie als in die ddR ›Verstrickter‹ nur auf allen Vieren führen kann.« die denunziation des gestorbenen landes habe alibifunktion, heißt es da, denn: »auf den toten Gegner kann man jedes Feindbild projizieren, das vom Blick in den spiegel abhält« (MW 8, 464). Gleich nach der »Wende« hat Müller alles versucht, die rigorose »abwicklung« der ostdeutschen akademie der Künste abzumildern und zu retten, was zu retten war; dafür hat er sich vor den Karren gespannt. Kein Zweifel: diese beiden Künstler waren kritische Patrioten. Von der anderen seite der geistigen Barrikade wurde denn auch, in einer großen 15


tageszeitung, herabsetzend formuliert, ein Grunddilemma führender Vertreter der ddR-literatur habe darin bestanden, daß sie sich aus der ambivalenz einer kritischen loyalität nie wirklich befreit hätten. Procedio dazu kann man nur sagen: Glücklicherweise ist es so. Es galt für viele ddR-Bürger, so lange es das land gab, wie anderswo auch, als selbstverständlichkeit: »Right or wrong – my country!« Müller hatte in unserem ersten interview die ddR als eines seiner beiden »Grunderlebnisse« bezeichnet, neben dem Faschismus und dem damit verbundenen, frühen Elementarerlebnis von Gewalt, »gegen die man nichts machen kann«; nach 1975 kamen seit der ersten amerikareise noch andere prägende Erfahrungen hinzu. Für hacks kann, ja muß man sagen, die ddR sei schlechthin die Grunderfahrung seines lebens gewesen. Peter hacks befand, die Zeit und die gesellschaftlichen Voraussetzungen – ein sozialistischer absolutismus – einer neuen Klassik seien gekommen, als sich das land in der politisch erfolgreichen ulbricht-herrschaft der sechziger Jahre konsolidieren konnte, und er schrieb mit dieser Prämisse eine Reihe von Meisterwerken, Goethe war sein Fixstern. und heiner Müller erlebte zur gleichen Zeit das »Jahrhundert der Konterrevolution« als Folge – auch – des stalinismus, der um das land, als dessen teil er sich bezeichnete und das er nach 1990 nicht verleugnete, keinen Bogen gemacht hatte; weitgehend daraus gewann er das Material für texte, die ihm schließlich Weltruhm einbrachten. da lag die Weggabelung, an der beider Wege sich trennten. so gab die ddR als diktatur – beide bekamen sie auch persönlich als solche zu spüren! – den ehemaligen Gefährten auf völlig gegensätzliche Weise die Grundlage ihres ebenso gegensätzlichen künftigen schreibens.

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oppolonius deine eigene haltung in einem satz? Procedio Âťich mĂśchte die ddR nicht wieder haben, aber nehmen lasse ich sie mir auch nicht.ÂŤ (Peter sodann)

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dRittER dialoG Aneignungsweisen / Arbeitsweisen oppolonius dein Buch »stückeschreiben«, erschienen 1981 im akademie-Verlag, wurde als erstes in der ddR herausgekommenes Buch über heiner Müller wahrgenommen und war es im Grunde auch. Von den vier Kapiteln beschäftigt sich freilich nur eines, allerdings das bei weitem umfangreichste, mit diesem autor. den stückeschreibern Claus hammel und armin stolper sind zwei andere Kapitel gewidmet und das letzte, zusammenfassende und theoretisch reflektierende bringt dann unter anderem auch Bezugnahmen auf und Vergleiche mit Peter hacks und Volker Braun. Es entsteht bei mir der Eindruck, daß du ein wenig kaschieren mußtest, daß du eigentlich ein Müller-Buch verfaßt hattest. Procedio das ist so nicht richtig, und zugleich ist es nicht einfach falsch. der text wurde schon 1975 geschrieben, als Müller aus dem offiziösen Verschiß, der 1961 nach dem debakel mit der »umsiedlerin«-uraufführung begonnen hatte, noch nicht lange herausgekommen war, und noch um 1980 wäre höchstwahrscheinlich ein reines heinerMüller-Buch kaum zu veröffentlichen gewesen. die nach meiner arbeit entstandene, hervorragende dissertation über Müllers stück »der Bau« von Gerda Baumbach zum Beispiel erwies sich als nicht publizierbar.3 aber andererseits war mein thema die künstlerische subjektivität von dramatikern, erschlossen aus ihrer schriftstellerischen und allgemeinen lebenstätigkeit. so war die Beschäftigung mit hammel und stolper, mit denen ich zudem befreundet war und deren 18


beste stücke ich – ganz besonders die von stolper! – bis heute sehr schätze, keine Camouflage, sondern gehörte unbedingt zur sache. Es galt, die unterschiedlichen Möglichkeiten des schreibens unter realsozialistischen Verhältnissen zu erkunden. aber ich verleugne nicht, daß heiner Müller das gar nicht so heimliche Gravitationszentrum war. in dem abschlußkapitel dann auch in Beziehung auf andere ddRdramatiker, vor allem Peter hacks, Volker Braun und armin stolper. oppolonius Welche der damaligen Ergebnisse sind heute noch brauchbar? Procedio ich beginne lieber mit dem, was fragwürdig geworden ist. Ein Rezensent von 19934 bemängelt die »simplifizierte Wirkungskette Erschüttertsein [des autors – G. F.] – Betroffenmachen – Erschüttern (des Zuschauers) – sozialistische impulse auslösen«, die ich im Zusammenhang mit meiner analyse von »Zement« beschrieben hatte. Eine »leerstelle sozialistisch-realistischer Kunstlehre«, nämlich die »ausgebliebene Entfaltung eines Begriffs von tragik und tragödie« werde eher paraphrasiert als ausgefüllt mit meinem Versuch, das tragische abzuleiten aus dem Widerspruch zwischen »umwegigem«, aber letztlich unbezweifelbaren humanen Fortschritt einerseits, der häufigen leidenserfahrung der individuen auf diesen Wegen andererseits. der Mann hatte recht. das geht, obwohl kein schlechter Gedanke, über die traditionelle tragikauffassung nicht hinaus. oppolonius darauf werden wir noch einmal zurückkommen müssen. Procedio das werden wir auch. Vorerst so viel: die neue Gesellschaft selbst, für die die »sozialistischen impulse« 19


ausgelöst werden sollen, habe ich damals nicht als substantielle Quelle des tragischen gesehen; allenfalls eben die »umwege«, die sie gehen muß. diese Kritik (auf die sich, wie man fairerweise hinzufügen muß, diese im Ganzen zugeneigte Rezension nicht reduzieren läßt) fügt sich ein in den Grundvorwurf, den fast alle bundesdeutschen Kritiker gegenüber den allermeisten ddR-Wissenschaftlern, die sich mit Müller beschäftigten, immer wieder erhoben haben: daß ihre arbeiten letztlich doch irgendwo, an irgendeiner stelle, in irgendeiner Weise in die affirmation einmündeten. oppolonius – ist er denn gänzlich falsch? Procedio nein, ich sagte es schon und habe mir die Jacke angezogen. Es zeigt sich darin nur, daß unsere westdeutschen Kollegen, natürlich anders sozialisiert, gewisse schwierigkeiten hatten oder noch haben, unsere älteren texte historisch zu lesen. Man sollte es vielleicht auch nicht erwarten, es wäre eine objektive Überforderung. ich sage das jetzt auch unabhängig von der Müller-aneignung. oppolonius Bitte werde konkret. Procedio in anspielung auf einige hauptthesen meines Buches: Zeit- und Erfahrungsgenossen werden wissen, daß um 1975 die radikale Betonung des individuums und seiner möglichen leidenserfahrungen auf den Wegen und eben auch umwegen der realsozialistischen Praxis und Geschichte – die Rede von einer »historisierung des menschlichen innenraums« oder von einer schmerzenden »Betroffenheit« der autorsubjektivität, die Betonung einer tragischen Möglichkeit überhaupt, die Forderung nach einer politischen aktivierung des Publikums als eines ko-produzierenden –, 20


daß das alles zu dieser Zeit so selbstverständlich und unriskant nicht war. ich meine jetzt nicht nur Zensur, ich meine: Es war nicht leicht und unriskant gegenüber der eigenen inneren, wertenden instanz, so zu denken. oppolonius ist es nicht auch unhistorisch, gar nicht erst zu prüfen, ob und wie weit Müller um 1975 nicht selbst noch systemstabilisierende Wirkungen seiner arbeiten wollte oder zumindest nicht ausschloß? Procedio im sinne einer einfachen, ungebrochenen, positivistischen oder gar propagandistischen affirmation hat er das nie gewollt, wenn wir von einigen allerersten anfängen absehen; es ging jederzeit um ein aufbrechen hin zur diskursivität. Warum aber hat er sich denn immer nach dem lehrstück gesehnt und – in durchaus trügerischer, euphorischer hoffnung! – mit »Wolokolamsker Chaussee« (teile 1 und 2) danach gegriffen, als Mitte der achtziger Jahre Gorbatschow auftauchte? Man könnte den spieß umkehren und fragen: hat er mit seinen texten am untergang der realsozialistischen Gesellschaft mitwirken wollen? oppolonius Er hat die ddR prinzipiell in Frage gestellt. Procedio Ja, aber der ton liegt auf »Frage«. die reine negation gilt der stalinistischen strukturiertheit. Wir reden von einem Mann, dem die stimme zitterte, als er 1988 den letzten teil der »Wolokolamsker Chaussee« (»der Findling«) vorlas: »… weil mir der abschied von der ddR nicht leicht fiel« (hb, 298). oppolonius ist dein Vorwurf der unhistorischen lektüre wissenschaftlicher texte aus der ddR durch Westdeutsche nicht allzu generalisierend? 21


16.90 EUR [D] ISBN 978-3-940884-72-5


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