Owen Jones, Prolls. Die Dämonisierung der Arbeiterklasse

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Owen Jones

Prolls Die D채monisierung der Arbeiterklasse



Owen Jones

PR OL LS Die Dämonisierung der Arbeiterklasse

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Verlag André iele


© 2011, 2012 Owen Jones, London Für die deutsche Ausgabe: © 2012 VAT Verlag André iele, Mainz Alle Rechte an der deutschen Übersetzung vorbehalten. Die Übersetzung folgt der zweiten, vollständig überarbeiteten und ergänzten englischen Auflage: Owen Jones, »Chavs. e Demonization of the Working Class«, London: Verso, Mai 2012. Übersetzung: Christophe Fricker Umschlag: gestaltungsmerkmal.de, Dresden Satz: Felix Bartels, Osaka Druck: Anrop Ltd., Jerusalem Printed in Israel. isbn 978-3-940884-79-4 www.vat-mainz.de


InhALT

Vorwort zur neuausgabe

7

Einleitung

31

Der eigenartige Fall der Shannon Matthews

43

Klassenkämpfer

70

Politik gegen Proll

106

Am Pranger

139

»Wir sind jetzt alle Mittelschicht«

170

Die schiefe Ebene

201

Der britische Albtraum

216

Widerstand

22

Schluss: Eine neue Klassenpolitik?

278

Dank

301

noten

303


Vorwort

Mein Buch hilft dabei. Ein paar Autoren setzen gesellschaftliche Veränderungen aber nicht allein in Gang. Wir brauchen den Druck der Massen. Überall leiden die Menschen unter ideologisch aufgeladenen Spardiktaten. Sie müssen für einen neuen Weg kämpfen. Die konservativen Torys, Blairs new Labour und ihre reichen hintermänner sollen nicht denken, dass sie schon gewonnen haben. Jetzt steht viel auf dem Spiel. Februar 2012

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einleitung Wir alle kennen das. Man ist unter sich, und plötzlich lässt jemand eine ungeheuerliche Bemerkung fallen. Einen kleinen Satz ganz nebenbei, einen geschmacklosen Kommentar. Das Beunruhigende ist nicht einmal so sehr die Bemerkung selbst, sondern die Tatsache, dass sie offenbar sonst niemanden stört. Kein sorgenvoller Blick. Keiner zuckt zusammen. Mir ging es eines schönen Winterabends beim Essen mit Freunden in einer vornehmen Gegend im Londoner Osten so. Jeder bekam sein Stück Käsekuchen, und dann schnitt jemand das ema an, das überall in der Luft lag: die Kreditklemme. Irgendwann versuchte der Gastgeber, mit einem kleinen Witz die Stimmung aufzuheitern. »Ist doch schlimm, dass Woolworth zumacht. Wo kaufen jetzt die ganzen Prolls ihre Weihnachtsgeschenke?« Er würde sich nie für einen Spießer halten. Auch die anderen nicht, waren sie doch alle gebildet, weltoffen, bürgerlich. Mehr als eine hautfarbe war am Tisch vertreten. Es waren genauso viele Männer wie Frauen da, und nicht jeder war hetero. Politisch hätten sich alle als linksliberal bezeichnet. Sich für elitär zu halten, lag ihnen fern. Wenn ein neuer mit einem Wort wie »Kümmeltürke« oder »Schwuchtel« um sich geworfen hätte, wäre er ziemlich schnell rausgeflogen. Aber ein Witz über Prolls im Billigladen störte keinen. Im Gegenteil: Alle lachten. Wohl keiner wusste, dass das englische Wort für »Prolls«, »chavs«, von »chavi« kommt, was auf Romani »Kind« heißt. Und zu den 100.000 Lesern des Little Book of Chavs (eine Art Reiseführer zu den Prolls) gehörte wohl auch keiner. Dieses schlaue Buch beschreibt Prolls als »die erblühende Klasse von Unterschicht-Bauern.« Wer es im Buchladen schnell überfliegt, erfährt, dass Prolls an der Supermarktkasse arbeiten, in Fastfood-Restaurants 31


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oder als Putzfrauen. Tief im herzen mussten aber alle wissen, dass das Wort Proll nur die Arbeiterschicht ins Visier nimmt. Der »Witz« hätte genauso gut so lauten können: »Ist doch schlimm, dass Woolworth zumacht. Wo kauft jetzt die ekelhafte Unterschicht ihre Weihnachtsgeschenke?« Mich verstörte weniger, was gesagt wurde, als wer es sagte und wer mitlachte. Jeder am Tisch hatte eine gutbezahlte Stelle. Ob sie es zugegeben hätten oder nicht, jeder verdankte seinen Erfolg vor allem seiner herkunft. Alle wuchsen in gutsituierten Familien und in schönen Vororten auf. Einige waren auf teure Privatschulen gegangen. Die meisten hatten in Oxford, an der LSE oder in Bristol studiert. Dass ein Kind aus der Arbeiterklasse es ähnlich weit bringen sollte wie sie, ist fast undenkbar. Ich wurde zum Zeugen einer jahrhundertelangen Tradition: Die Reichen machen sich über die Armen lustig. Das gab mir zu denken. Wie kann es sein, dass es in Ordnung ist, Arbeiter zu hassen? Comedians, die auf Privatschulen gegangen sind und Millionen verdienen, verkleiden sich als Prolls und treten in beliebten Sitcoms wie Little Britain auf. Die Zeitungen weiden sich an Schauergeschichten über das »Leben unter Prolls« und tun so, als wären alle Arbeiter so. Internetseiten wie »ChavScum« giften gegen ihr ProllZerrbild. Arbeiter sind anscheinend die einzige Gruppe, über die man praktisch alles sagen darf. Kaum jemand in Großbritannien verachtet Prolls so sehr wie Richard hilton. herr hilton ist Geschäftsführer von Gymbox, einem hippen newcomer in der Londoner FitnessSzene. Gymbox ist bekannt für Kurse mit verrückten namen und wendet sich an Fitness-Freaks mit dicken Brieftaschen. Ein neumitglied muss zunächst 17 Pfund hinlegen und dann jeden Monat 72 Pfund. herr hilton sagt selbst, dass Gymbox vor allem mit der Verunsicherung seiner gutbürgerlichen Zielgruppe Geld verdienen will. »Unsere Mitglieder brauchen Selbstverteidigungskurse. Sie leben in London und haben Angst.« 32


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Im Frühjahr 2009 fügte Gymbox seinem ohnehin schon bunten Strauß (darunter Busen-Aerobic, Pole-Dancing und Flittchen-Boxen) einen neuen Kurs hinzu: Proll-Bekämpfung. »Mies gelaunte Prolls brauchen keine Verwarnung«, hieß es auf der Webseite, »ihnen gehört die Fresse poliert.« Und so ging es weiter, alles im Ton eines Milizionärs, der gleichzeitig PR-Profi ist: »Einem Kind seinen Lutscher klauen ist von gestern. hier lernen Sie, wie man einem Asi seinen Bacardi abluchst und Gejammer zu Gewimmer macht. ProllBekämpfung hat nichts mit Sandsäcken zu tun, hier werden Recht und Ordnung wieder hergestellt.« Die Flugblätter waren noch deutlicher. »Verschwenden Sie Ihre Zeit nicht mit Sandsäcken und holzbrettern, schlagen Sie lieber einem Proll die Zähne ein. In dieser Welt sind Bacardi-Breezers Ihr Schwert und Verwarnungen Ihre Trophäe.« Manche meinten, dass ein Aufruf zur Körperverletzung doch zu weit gehe. Als die Aufsichtsbehörde der Werbeindustrie auf den Fall aufmerksam wurde, betrieb Gymbox haarspalterei. Man beleidige niemanden, »weil ja niemand zugeben würde, dass er ein Proll ist. Zu dieser Gruppe will niemand gehören.« Das Verfahren gegen Gymbox wurde mit der unglaublichen Begründung eingestellt, die Proll-Bekämpfungs-Kurse »würden Gewalt gegen bestimmte soziale Gruppen sicher weder gutheißen noch zu ihr aufrufen.« Wer die Verachtung hinter diesen Kursen wirklich verstehen will, muss mit Richard hilton sprechen. Er definiert Prolls als »junge Straßenkinder in Burberry-Klamotten« und erklärt: »Sie wohnen in England, sprechen es aber wohl eher ›Engerland‹ aus. Sie können sich kaum ausdrücken, es sind praktisch Analphabeten. Sie lieben ihre Pitbulls und ihre Messer. Wenn du sie versehentlich streifst oder sie schief anguckst, stechen sie auf dich ein. Mit 1 haben die Frauen zum ersten Mal geworfen, und die meiste Zeit verbringen sie damit, Gras oder Klamotten zu jagen oder was sie halt in ihre dreckigen Kinderfinger kriegen. Wenn sie mit 21 noch nicht im Knast sitzen, nennt man sie tragende Säulen der 33


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Gemeinschaft, und sie werden zum leuchtenden Vorbild, weil sie so viel Glück hatten.« Auf die Frage, ob die so genannten Prolls es in Großbritannien schwer haben, sagte er einfach: »nein, sie haben es nicht anders verdient.« Der Kurs war anscheinend ein Riesenerfolg, »einer der beliebtesten, die wir je angeboten haben.« Und weiter: »Die meisten sind drauf angesprungen und haben sich wohlgefühlt. Ein paar Polizisten fanden es schlimm.« Und trotzdem hält herr hilton sich nicht für einen heuchler. Im Gegenteil. Sexismus, Rassismus und homophobie zum Beispiel »haben hier nichts verloren.« Der Geschäftsmann Richard hilton macht mit der Angst und dem hohn vieler gutsituierter Londoner im Angesicht der »Unterschicht« den großen Reibach. Was für ein Bild: Verschwitzte Banker lassen ihren Rezessionsfrust an tierähnlichen, armen Jugendlichen aus. herzlich willkommen bei Gymbox – Klassenkampf und Fitness in einem. Über hiltons unverhohlene Verachtung mag man staunen, aber viele in der Mittelschicht sehen die Teenager aus der Arbeiterschicht genauso. Dumm. Gewalttätig. Kriminell. Vermehren sich wie die Karnickel. Und natürlich sind das alles keine Einzelfälle – sie ernten Lob als »tragende Säulen der Gemeinschaft«. Gymbox ist nicht die einzige britische Firma, deren Geschäftsmodell auf der Panik der Mittelschicht beruht. Das Reiseunternehmen Activities Abroad bietet exotische Abenteuerurlaube an, die oft mehr als 2000 Pfund kosten. huskySafaris in der kanadischen Wildnis, Ferien in finnischen holzfällerhütten usw. Prolls brauchen sich gar nicht zu bewerben. 2009 schickte das Unternehmen eine E-Mail an die 24.000 Menschen auf seiner Mailing-Liste und zitierte darin einen Daily-Mail-Artikel aus dem Jahr 200: Danach schließen Kinder, die »Mittelschicht-namen« tragen, mit achtmal höherer Wahrscheinlichkeit die elfte Klasse ab als Kinder, die »Wayne oder Dwayne« heißen. Daraufhin hätten die 34


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Mitarbeiter sich gefragt, welche namen wohl auf den Teilnehmerlisten ihrer Reisen stehen. Sie durchsuchten ihre Datenbank und machten zwei Listen. Die erste enthält häufig vertretene namen, die zweite solche, »denen man bei uns eher nicht begegnet«. Alice, Joseph und Charles standen auf der ersten. Britney, Chantelle und Dazza gab es bei Activities Abroad nicht. Das Ergebnis: Das Unternehmen pries seine »prollfreien Aktivurlaube« an. nicht jeder fand das lustig, aber das Unternehmen gab nicht nach. »Ich glaube einfach, es ist Zeit, dass die Mittelschicht auf ihr Recht pocht«, sagte Geschäftsführer Alistair McLean. »nennen Sie das von mir aus Klassenkampf. Ich werde mich jedenfalls nicht dafür entschuldigen, dass ich zur Mittelschicht gehöre.«12 Ich sprach mit Barry nolan, einem der Inhaber des Unternehmens, der genauso trotzig war. »nur Guardian-Leser haben die nase gerümpft, aber die wohnen auch in sicherer Entfernung. Unsere Zielgruppe reagierte jedenfalls sehr positiv. Die Aktion war ein überwältigender Erfolg.« Offenbar stieg die Zahl der Buchungen um 44%. Gymbox und Activities Abroad verfolgten in gewisser Weise unterschiedliche Strategien. Gymbox wendet sich an eine furchtsame Mittelschicht, die glaubt, dass die sozial Unterlegenen ein gewalttätiger Mob seien, der nur darauf wartet, sie in irgendeiner dunklen Gasse zu erstechen. Activities Abroad machte Geschäfte mit dem Ressentiment gegen Billigflüge, die es Arbeitern erlauben, in die der Mittelschicht vorbehaltene Sphäre des Auslandsurlaubs »einzufallen«. nach dem Motto: »nicht mal im Ausland entgeht man ihnen heute.« Aber beide belegen, wie sehr die Mittelschicht heute die Arbeiterklasse in Großbritannien verachtet. Mit der ProllSchelte lässt sich gutes Geld machen, sie ist ein großer Markt. noch deutlicher wird das, wenn irgendeine Zeitungsschlagzeile als neuer Beweis in die Kette der Anti-Proll-Geschichten eingeht. 3


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Als der frühere Gefängnisinsasse Raoul Moat im Juli 2010 den Partner seiner Ex-Freundin erschoss und dann floh, wurde er für einige wenige unter den Marginalisiertesten zu einer Art Antiheld. Der Kriminologie-Professor David Wilkinson erklärte, Moat werfe ein Licht auf die »Mentalität, der mittellosen, männlichen, weißen Arbeiterklasse, die es in der Welt sonst zu nichts bringt. Wenn einer sowas macht wie Moat, erkennen sich die Leute da wieder.« Mir nichts, dir nichts werden weiße Arbeiter zu Schlägertypen reduziert, die auf gar keine gute Bahn kommen wollen. Im Internet gab es kein halten mehr. Der folgende Kommentar stammt von der Webseite der Daily Mail: »Man sieht das ja im Supermarkt, im Bus und immer öfter auch auf der Straße, immer mehr tätowierte, laute, lallende Prolls mit widerwärtigen Gören im Gefolge, für die es nicht mal die einfachsten höflichkeitsregeln gibt und die nie zugeben würden, dass sie auch mal nicht Recht haben. Solche Leute werden dann bei einem hinterhältigen Mörder sentimental. Sie haben keine Werte, keine Moral, und ihre Dummheit ist einfach hoffnungslos. Am besten, man geht ihnen aus dem Weg.«13 Diese Form des Klassenhasses gehört inzwischen zum akzeptierten Grundbestand britischer Kultur. Er zeigt sich in Zeitungen, Fernsehshows, Filmen, Internetforen, sozialen netzwerken und ganz alltäglichen Gesprächen. Wer sich über Prolls beschwert, will vor allem die wirkliche Lage der Arbeiterschicht verschleiern. »Wir sind jetzt alle Mittelschicht«, lautet das bekannte Mantra – alle außer der nichtsnutzigen, bockigen Schwundstufe der alten Arbeiterklasse. Simon heffer vertritt diese ese mit nachdruck. Er ist einer der prominentesten, rechten Journalisten des Landes und lässt gern verlauten, »dass es so etwas wie eine anständige Arbeiterklasse eigentlich nicht mehr gibt. Was die Soziologen früher Arbeiterklasse nannten, sind Leute, die heute überhaupt nicht mehr arbeiten, sondern in der sozialen hängematte liegen.«14 heute gibt es stattdessen die »verrohte Unterschicht«. 36


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Ich fragte ihn, was er damit meint. Seine Antwort: »Es hat ja seinen Grund, dass die anständige Arbeiterklasse ausgestorben ist, denn sie hatte Ziele, und die Gesellschaft hat es ihr ermöglicht, diese Ziele zu erreichen.« Sie sei aufgestiegen, »hat studiert, hat gut bezahlte Arbeitsplätze gefunden und ist zur Mittelschicht geworden.« Offen bleibt, wie die Millionen Menschen ins Bild passen, die mit ihrer hände Arbeit ihr Geld verdienen oder die nicht studiert haben. Laut heffer gibt es in der britischen Gesellschaft zwei große Gruppen: »heute gibt es keine Familien mehr, die generationenlang anständig und bescheiden leben. Die Einen verlassen sich nur noch auf den Wohlfahrtsstaat und werden zur Unterschicht, die Anderen werden zur Mittelschicht.« So sieht heffer also die Gesellschaft. Angenehme Bürger auf der einen Seite, hoffnungsloser Schutt auf der anderen (die »Unterschicht«, dieser »Teil der Arbeiterklasse, der unmotiviert und nicht ambitioniert ist«) und nichts dazwischen. Das hat mit der tatsächlichen Struktur der Gesellschaft nichts zu tun – wie könnte es auch? Die Journalisten, die so etwas produzieren, lernen die Leute nie kennen, über die sie herfallen. heffer gehört zum Bürgertum, lebt auf dem Land, und seine Kinder sind in Eton. Irgendwann gibt er zu: »Eigentlich weiß ich nicht viel über die Unterschicht.« Das hält ihn nicht davon ab, über sie zu lästern. Verteidiger des Wortes »Proll« behaupten, dass es Arbeiter nicht dämonisiere. Es beziehe sich nur auf asoziale hooligans und Schläger. Das stimmt wohl nicht. Erst einmal ist völlig klar, dass es nur gegen Angehörige der Arbeiterschicht gerichtet ist. Als das Wort »chav« 200 zum ersten Mal in einem Wörterbuch auftauchte, lautete die Definition: »ein junger Angehöriger der Arbeiterschicht, der Sport- und Freizeitkleidung trägt.« Seitdem hat sich die Bedeutung deutlich erweitert. Angeblich ist es die Abkürzung für »Council housed and Violent«, also »wohnt in einer Sozialwohnung und ist gewalttätig«. Viele drücken darin ihr Missfallen gegenüber Arbeitern aus, die ihr ganzes Geld angeblich für Kitsch und 37


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Quatsch ausgeben statt für die diskrete Eleganz der bürgerlichen Welt. Promis, die aus der Arbeiterklasse stammen, zum Beispiel David Beckham, Wayne Rooney und Cheryl Cole, werden regelmäßig als Prolls verspottet. Das Wort »chav« umfasst inzwischen alle negativen Vorstellungen von der Arbeiterklasse: Brutalität, Faulheit, minderjährige Mütter, Rassismus, Alkoholismus usw. In den Worten der Guardian-Journalistin Zoe Williams: »Das Wort schien ursprünglich etwas neues zu bieten. nicht nur Abschaum, nein, Abschaum in Burberry! Inzwischen hat es so viele Facetten wie jedes andere Wort mit dem Tenor: arm, also wertlos.«15 Sogar Christopher howse, der Leitartikler des konservativen Daily Telegraph, wandte ein: »Immer mehr Leute benutzen das Wort als Deckmantel für ihren Klassenhass. Wer es in den Mund nimmt, ist auch nicht besser als ein verwöhnter Privatschüler, der sich über ›die Penner‹ lustig macht.«16 Das Wort gilt oft als Synonym für die »weiße Arbeiterschicht«. 2008 widmete die BBC ihr einen Schwerpunkt und ritt weiter darauf herum. Rückwärtsgewandt, borniert und voller ethnischer Vorurteile, lautete die Diagnose. Seit atcher ist »die Arbeiterklasse« tabu, während die »weiße Arbeiterklasse« zu Beginn des 21. Jahrhunderts immer mehr in den Brennpunkt rückt. Weil das politische Establishment so lange nicht über Klassen reden durfte, konzentrierten sich Politiker und Medien allein auf ethnische Ungleichheiten. Die weiße Arbeiterklasse war einfach irgendeine marginalisierte, ethnische Minderheit, alle ihre Probleme waren also von einem ethnischen Standpunkt aus zu betrachten. Sie wurde so etwas wie ein Völkchen, über das die Geschichte hinweggegangen war – orientierungslos in einer multikulturellen Welt und besessen, ihre Identität vor den Gefahren massenhafter Zuwanderung zu verteidigen. Die Vorstellung von einer »weißen Arbeiterklasse« war Öl ins Feuer einer neuen liberalen Borniertheit. Weiße Arbeiter durfte man verachten, weil sie selbst ja Rassisten waren. 38


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Ein Argument für das Wort »Proll« soll sein: »Prolls benutzen es selbst. Wo ist das Problem?« Richtig ist: Viele junge Arbeiter haben sich das Wort zu Eigen gemacht. Die Bedeutung eines Wortes hängt aber oft davon ab, wer es benutzt. Wenn ein heterosexueller über »Tucken« spricht, ist das ganz klar homophobie, auch wenn schwule Männer es inzwischen selbst verwenden. »Paki« ist eines der schlimmsten rassistischen Schimpfwörter, die ein Weißer in Großbritannien in den Mund nehmen kann, und trotzdem verwenden junge Asiaten es inzwischen untereinander fast als Kosenamen. Die rechtspopulistische US-amerikanische Krawalljournalistin Dr. Laura Schlessinger sorgte 2010 für einen Skandal, indem sie im Gespräch mit einem afroamerikanischen Anrufer elfmal während ihrer Radiosendung das Wort »nigger« gebrauchte. Sie versuchte sich damit herauszureden, dass schwarze Comedians und Schauspieler das Wort ebenfalls verwendeten. In allen Fällen hängt die Bedeutung des Wortes vom Sprecher ab. Wenn ein Bildungsbürger »Proll« sagt, ist das Klassenhass. Liam Cranley wuchs als Sohn eines Fabrikarbeiters in einer Arbeitersiedlung im Großraum Manchester auf und erklärt mir, wie das auf ihn wirkt: »Da geht es um meine Familie, meinen Bruder, meine Mutter. Da geht es um meine Freunde.« Dieses Buch zeigt, dass Proll-Verachtung kein isoliertes Phänomen ist. Sie ist das Produkt einer gespaltenen Gesellschaft. »Wenn die Ungleichheit wächst, wachsen vor allem auch Vorstellungen von Überlegenheit und Unterlegenheit in einer Gesellschaft«, sagt Richard Wilkinson, Mitautor des bahnbrechenden Buches e Spirit Level, das die Verbindungen zwischen Ungleichheit und einer ganzen Anzahl sozialer Probleme aufzeigt. Die Ungleichheit ist heute fast größer als je zuvor. »Die beinahe überall spürbare Ungleichheit ist in den meisten Teilen der Welt etwas ganz neues«, erklärt humangeographie-Professor und »Ungleichheits-Experte« Danny Dorling. 39


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Im Lauf der Jahrhunderte wurde gesellschaftliche Ungleichheit immer wieder durch die Dämonisierung der Menschen am unteren Ende gerechtfertigt. Denn es sieht schon komisch aus, wenn einige durch den Zufall der Umstände ihrer Geburt oben sind und andere für immer unten bleiben müssen. Etwas anderes ist es, wenn du dir deine Stellung oben verdient hättest. Und vielleicht sind die Leute unten ja unten, weil sie nichts können und nichts wollen. Das Phänomen geht aber über die Ungleichheit noch hinaus. Die Dämonisierung der Arbeiterklasse ist das Erbe eines sehr britischen Klassenkampfes. Als Margaret atcher 1979 an die Macht kam, begann ein frontaler Angriff auf die Grundfesten der britischen Arbeiterklasse. Ihre Institutionen wie Gewerkschaften und Wohnungsgesellschaften wurden aufgelöst. Ihre Betriebe, von der Schwerindustrie bis zum Bergbau, wurden geschlossen. Ganze Ortschaften wurden in alle Winde zerstreut, einige haben sich nie erholt. Werte wie Solidarität und das gemeinschaftliche Streben wurden abgelöst vom Einzelkämpfertum. Entmachtet und entehrt wurde die Arbeiterklasse lächerlich gemacht und musste als Sündenbock herhalten. Weil die Arbeiterschicht auch aus Politik und Medien vertrieben wurde, konnte sich dieses Bild durchsetzen. Politiker, besonders in der Labour-Partei, wollten einst die Lebensumstände der Arbeiterklasse verbessern. heute wollen sie Menschen höchstens dabei helfen, ihr zu entkommen. Landauf, landab versprechen Politiker, die Mittelschicht zu vergrößern. Ziele zu haben heißt nur noch, sich bereichern zu wollen: aufzusteigen und zur Mittelschicht zu gehören. Früher glaubte man, dass gesellschaftliche Probleme wie Armut und Arbeitslosigkeit Probleme des Kapitalismus seien, mit denen man sich beschäftigen musste. heute gelten sie als Folge individuellen Verhaltens, persönlicher Fehler und sogar bewusster Entscheidungen. Allzu gern wird so getan, als habe das Schicksal von Arbeitern vor allem mit ihrer »Ambitionsarmut« zu tun. Man 40


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schiebt die Schuld auf ihre persönlichen Eigenschaften, nicht auf gesellschaftliche Gleichgewichtsstörungen, von denen die Reichen profitieren. Das hat sogar zu einem neuen Sozialdarwinismus geführt. Der Evolutionspsychologe Bruce Charlton verkündet: »Arme haben einen niedrigeren IQ als Reiche, und das bedeutet einfach, dass ein viel geringerer Prozentsatz von Arbeiterkindern die Aufnahmekriterien unserer Eliteuniversitäten erfüllen wird.«17 Das Zerrbild der Prolls wird in den kommenden Jahren die britische Politik bestimmen. nach der Wahl 2010 kam eine konservativ geführte und von Millionären dominierte Regierung an die Macht und begann mit einer seit den 1920er Jahren nicht mehr gesehenen Kürzungspolitik. Die Weltwirtschaftskrise, die 2007 begann, wurde ausgelöst von einer gierigen und inkompetenten Elite reicher Banker, aber es wurde und wird erwartet, dass der Durchschnittsbürger die Zeche zahlt. Weil es gar nicht so leicht ist, den Sozialstaat zu zertrümmern, verurteilt die Regierung diejenigen, die auf ihn angewiesen sind. Beispiel: Jeremy hunt, ein konservativer Minister mit einem geschätzten Vermögen von 4,1 Millionen Pfund. Er verteidigte die Kürzung von Sozialleistungen damit, dass langfristige Bezieher sich für die Anzahl ihrer Kinder »rechtfertigen« müssten. Der Staat werde arbeitslose Großfamilien nicht länger subventionieren. Allerdings haben nur 3,4% aller Familien, die langfristig staatliche Unterstützung in Anspruch nehmen, mehr als drei Kinder. hunt griff aber auf das uralte Vorurteil zurück, dass sich die da unten unkontrolliert vermehren, und zitierte das Zerrbild der verkommenen, alleinstehenden Mutter, die durch ihren Fortpflanzungstrieb den Staat ausbeutet. Das Ziel war klar: Der Angriff auf diejenigen, die am meisten Unterstützung brauchen, sollte verschärft werden. Dieses Buch will die Dämonisierung der Arbeiterklasse darstellen. Aber es will nicht die Mittelschicht dämonisieren. Wir sind alle Gefangene unserer Klasse. Das heißt nicht, 41


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dass wir Gefangene unserer Vorurteile sein müssen. Das Buch will die Arbeiterklasse auch nicht glorifizieren. Es zeigt Aspekte der Lebensumstände einer Mehrheit der Arbeiterklasse, die vom Zerrbild des Prolls aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt wurden. Vor allem geht es mir nicht darum, einfach einen Einstellungswandel zu fordern. Klassenhass gibt es nur in einer gespaltenen Gesellschaft. Letztendlich müssen wir nicht gegen Vorurteile kämpfen, sondern gegen das, was sie ermöglicht.

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ii klassenkämpfer Die eine Seite predigt den Klassenkampf, die andere Seite praktiziert ihn. George Bernhard Shaw Back to Methuselah

Die Torys haben sich in der Moderne bemüht, so zu tun, als stünden sie jenseits von Klassen- oder Partikularinteressen. »One nation« war im ganzen 20. Jahrhundert eines ihrer Lieblingsschlagworte. Als David Cameron 200 zum Vorsitzenden der konservativen Partei gewählt wurde, pflegte die Partei ihre Weichspülerrhetorik: Sie verstehe die Jungen und Marginalisierten (Cameron will, dass wir einen »hoodie knuddeln«, höhnte Labour), sie wolle sogar die Kluft zwischen Reich und Arm verringern. In sicheren hinterzimmern, abseits der Kameras, verschwindet diese Werbesprache schnell. Während meines letzten Studienjahres habe ich selbst einmal erlebt, wie die Masken fielen. Einer der führenden Tory-Politiker vom gemäßigten Flügel sprach abseits der Medien mit Studenten. Um zu gewährleisten, dass er offen sprechen konnte, musste auch die studentische Presse draußen bleiben, und alle Teilnehmer mussten schwören, die Anonymität des Redners zu wahren. Wir sahen bald, warum. Das Kaminfeuer prasselte an jenem regnerischen novemberabend, und der konservative Spitzenmann legte sein Geständnis ab. Als wäre es eine banale nebenbemerkung, sagte er: »Die konservative Partei ist eben ein Zusammenschluss privilegierter Interessen. Sie ist vor allem dazu da, diese Privilegien zu verteidigen. Wahlen gewinnt sie, indem sie anderen Leuten gerade genug zugesteht.« 70


Klassenkämpfer

Diese Analyse hätte auch in der sozialistischen Arbeiterzeitung stehen können. Ein führender Konservativer hatte zugegeben, dass die Partei der politische Arm der Reichen und Mächtigen war. Sie vertrat die Interessen der oberen Zehntausend. Sie führte einen Klassenkampf. Beim Wort Klassenkämpfer denken die meisten wohl an einen dicken Gewerkschafter, dem die Zornesröte ins Gesicht steigt, wenn er mit unbeholfenen Worten »die Manager« geißelt, und nicht an distinguierte herren in Maßanzügen und ihre gewählte Ausdrucksweise. Ich fragte den früheren Labour-Vorsitzenden neil Kinnock, ob die Konservativen die wahren Klassenkämpfer der britischen Politik seien. Er schüttelte bedächtig den Kopf. »nein, das mussten sie nie sein«, sagte er. »Denn wir haben Frieden mit ihnen geschlossen, ohne zu merken, dass sie mit uns nicht Frieden geschlossen hatten.« Die Dämonisierung der Arbeiterklasse wird nur vor dem hintergrund des Experiments atchers der 1980er Jahre verständlich, aus dem die heutige Gesellschaft hervorgegangen ist. Sein Kern bestand in einem Angriff auf das Milieu, die Betriebe, Werte und Institutionen der Arbeiterklasse. Arbeiter sollten nicht stolz sein, sondern versuchen, ihrem Schicksal zu entkommen. Das kam nicht aus heiterem himmel, es war der höhepunkt eines Klassenkampfes, den die konservative Partei seit über 200 Jahren führte. So stellen die Torys das natürlich selbst nicht dar. Sobald die Besitzstände jenes »Zusammenschlusses privilegierter Interessen« durch zaghafte soziale Reformargumente gefährdet schienen, wurden diese als Klassenkampf diskreditiert. Des Klassenkampfes wurde die Labour-Regierung nach dem Krieg bezichtigt, die das staatliche Gesundheitswesen und den modernen Sozialstaat eingerichtet hatte. »Der Klassenkampf ist der schlimmste aller gesellschaftlichen Stolpersteine«, hieß es im konservativen Parteiprogramm von 191. Labour hoffe »durch Aufrufe zum Klassenkampf, zu Gier und neid noch einmal an die Macht zu kommen«. 71


Klassenkämpfer

Aber selbst ein oberflächlicher Blick zeigt, dass die Konservativen immer »privilegierte Interessen« verteidigt haben, besonders gegen die drohende Arbeiterklasse. Im gesamten 19. Jahrhundert wollten die Torys nur die Reichsten wählen lassen. Der Entwurf zu einer Reform des Wahlgesetzes von 1831, nach dem immerhin jeder fünfte erwachsene Mann das Wahlrecht erhalten sollte, löste hysterische Reaktionen aus. Ein konservativer Abgeordneter verurteilte den Entwurf als »Revolution gegen den natürlichen Einfluss von Rang und Besitz.« Lord Salisbury, der spätere konservative Premierminister, erging sich in düsteren Voraussagen, denn »erstklassige Männer würden den Mob nicht umwerben, und der Mob würde erstklassige Männer nicht wählen.« Im 20. Jahrhundert gerieten die Torys und ihr Zusammenschluss privilegierter Interessen erst recht unter Druck. Millionen von Arbeitern hatten sich gewerkschaftlich organisiert. Aus den Gewerkschaften ging die Labour-Partei hervor, die den Interessen der Arbeiterschaft zum ersten Mal im Parlament Gehör verschaffen wollte. Schon lange vor atcher begannen die Rückzugsgefechte der Torys. Die Regierungen unter Lord Salisbury und Arthur Balfour verteidigten das berüchtigte Taff-Vale-Urteil von 1901 mit Zähnen und Klauen, nach dem die Gewerkschaften Unternehmen für streikbedingte Verluste entschädigen mussten. Mit Blick auf diese Episode gestand der spätere konservative Premierminister Stanley Baldwin: »Die Torys dürfen sich über den Klassenkampf nicht beschweren. Immerhin haben sie damit angefangen.« Während des Generalstreiks 1926 warnten die regierenden Torys vor einer roten Revolution, und sie machten die Armee mobil. nach Beendigung des Streiks prahlte der unversöhnliche Klassenkämpfer Arthur Balfour: »Der Generalstreik hat der Arbeiterklasse in vier Tagen eine bessere Lehre erteilt als das jahrelange Gerede.« Warnstreiks und Arbeitsniederlegungen aus Solidarität mit anderen Arbeitern wurden verboten, die Verbindungen zwischen Gewerkschaften und La72


Klassenkämpfer

bour-Partei geschwächt. Die Arbeiterklasse wurde auf die Plätze verwiesen. Da fragt man sich, wie die Torys im Zeitalter der Massendemokratien überhaupt eine Wahl gewinnen wollten. Und dennoch sind sie die erfolgreichste politische Partei der westlichen Welt. Während zweier Drittel des 20. Jahrhunderts stellten sie die Regierung. Margaret atchers Vordenker Ferdinand Mount verwarf mir gegenüber die eorie vom »Zusammenschluss privilegierter Interessen« als »den ostentativen Zynismus, den manche alten Politiker eben genießen. Wie hätten wir denn regelmäßig 12 bis 14 Millionen Stimmen bekommen, wenn wir die weniger privilegierte Mehrheit nicht irgendwie doch verstanden hätten?« Das ist eine gute Frage. Warum würden Arbeiter reichen Absahnern ihre Stimme geben? Selbst der alte Klassenkämpfer Lord Salisbury staunte darüber, dass fast jeder dritte Arbeiter im frühen 20. Jahrhundert die Torys wählte. hier kommt der zweite Teil der ese unseres anonymen Politikers ins Spiel: Die Partei gewinnt Wahlen, »indem sie anderen Leuten gerade genug zugesteht.« Schon immer wollten die Konservativen den Zusammenhalt der Arbeiter schwächen. Oft waren sie wirklich einfallsreich, wenn es darum ging, den einzelnen Arbeiter zu umwerben. Eine Taktik waren gemäßigte Sozialreformen, um letztlich die Arbeiterklasse für die Konservativen zu gewinnen. Benjamin Disraeli, der konservative Premierminister des späten 19. Jahrhunderts, den die immer kleiner werdende Gruppe der »One nation«-Torys immer noch als ihren Gründervater betrachtet, war darin besonders gut. Seine Regierung verabschiedete begrenzte Reformen, verkürzte zum Beispiel die tägliche Arbeitszeit auf zehn Stunden und verbot die Vollzeitarbeit von Kindern. Er spekulierte, dass »die Konservativen sich dadurch auf lange Sicht die Zuneigung der Arbeiterklasse sichern« würden. Einige Gewerkschafter fanden damals tatsächlich die Liberalen noch weniger attraktiv, und auch Margaret Thatcher ließ sich vom 73


Klassenkämpfer

Laissez-faire-Kapitalismus des frühen Liberalen William Gladstone inspirieren. Disraeli wollte natürlich besonders die bestehende soziale Ordnung schützen. Der relativ gemäßigte Tory Michael heseltine nannte das ein Jahrhundert später »guten aufgeklärten Kapitalismus, Paternalismus gewissermaßen. Adel verpflichtet. Ich bin fest überzeugt, dass die Mächtigen und Privilegierten Verpflichtungen haben.« Kein Tory würde es für das Ziel seiner Partei halten, die Arbeiterklasse zu unterdrücken. Selbst die reaktionärsten Politiker versuchen, ihre Politik durch den Verweis auf das Gemeinwohl zu begründen. Viele hatten und haben sicher ein hehres Ideal des Dienstes an der Gemeinschaft. Die Konservativen sind zutiefst davon überzeugt, dass alles, was für die Wirtschaft gut ist, auch für das Land gut ist. Aber zur Führung der Torys gehörten immer nur die besonders Wohlhabenden, die liberale und später linke Reformansätze kleinhalten wollten. In der Demokratie reicht die Peitsche nicht aus, man muss der Arbeiterklasse auch etwas Zuckerbrot anbieten. Die konservative Trumpfkarte im Kampf um die Stimmen der Arbeiter ist von jeher der Populismus. Im späten 19. Jahrhundert beuteten sie die Vorbehalte gegen irische und jüdische Einwanderer aus, die im restriktiven Ausländergesetz von 1904 gipfelten. Zuzugsbeschränkungen stehen seitdem in jedem konservativen Wahlprogramm. Jedes Fahnenschwenken nützt den Konservativen. Man denke nur an den Widerstand gegen die irische Selbstbestimmung im frühen 20. Jahrhundert. Und natürlich schürt man gern die Angst vor der Kriminalität und tritt für »Recht und Ordnung« ein. Religiöse Bindungen spielten früher ebenfalls eine wichtige Rolle. Wer sich mit Überzeugung zur Anglikanischen Kirche bekannte (die man früher die »Konservative Partei beim Beten« nannte), wählte mit großer Wahrscheinlichkeit auch konservativ. Liverpool ist heute eine hochburg der LabourPartei. Aufgrund der dezidiert antikatholischen Stimmung 74


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gehörte die Stadt früher zum Kernland der konservativ wählenden Arbeiterschaft. Auch mit Aufstiegsversprechen lassen sich Wahlen gewinnen und Arbeiteridentitäten untergraben. Oben ist noch Platz, versprach man. Wer aufsteigt, dem gehe es besser. In Gegenden ohne starke Mittelschicht, zum Beispiel Schottland, Wales und im größten Teil von nordengland, fand das wenig Anklang. Aber wo es eine Mittelschicht gab, wählten auch Arbeiter eher Torys. Man wollte den Anschluss nicht verlieren, das Bürgertum vielleicht sogar einholen. Der Zeithistoriker Ross McKibbin erklärt: »Labour ist stark in den Bergbau-Wahlkreisen, das war auch in der Zwischenkriegszeit so, und im Osten von London, denn überall dort gibt es praktisch keine Mittelschicht. Sobald es ansatzweise eine Mittelschicht gibt, wählen Arbeiter anders.« Vor allem haben die Torys mit rücksichtslosem Pragmatismus Arbeiterstimmen gewonnen. nach dem Zweiten Weltkrieg mussten sie Zugeständnisse machen. Die Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise schienen die freie Marktwirtschaft auf Dauer diskreditiert zu haben, die Torys mussten den Sozialstaat, höhere Steuern und starke Gewerkschaften akzeptieren. Tony Crosland, ein führender Labour-Politiker der nachkriegszeit, erklärt, dass die Konservativen »Maßnahmen vertraten, die sie 20 Jahre vorher noch als viel zu links abgelehnt hätten.«60 Aber da die Konservativen während der gesamten 190er Jahre an der Macht waren und Gewerkschaften und Labour gemäßigte Positionen vertraten, lehnten sich einige Torys zurück. »Der Klassenkampf ist vorbei, und wir haben ihn gewonnen«, verkündete Tory-Premierminister harold Macmillan 199. Der Waffenstillstand war nicht von Dauer. Die Übereinkunft endete in den 1970er Jahren: Unternehmensgewinne sanken dramatisch, die Gewerkschaften ließen die Muskeln spielen. Es sah so aus, als wäre wieder Klassenkampf. Eine neue Tory-Generation wollte ihn diesmal endgültig gewinnen. 7


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Einer der einflussreichsten Briten der vergangenen Jahrzehnte ist wohl Keith Joseph. In den frühen 1970ern war er, der Sohn eines Baulöwen, einer der führenden Vertreter des rechten Flügels der Torys. nachdem die Konservativen 1974 gleich zwei Parlamentswahlen verloren hatten, kündigten Joseph und mit ihm eine ganze Politiker-Generation den nachkriegskonsens sozialstaatlich orientierter konservativer Regierungen auf. Sie wollten die Macht der Gewerkschaften beschränken, Staatsbetriebe privatisieren und zur freien Marktwirtschaft des 19. Jahrhunderts zurückkehren. Josephs Erweckungserlebnis war die Abwahl des Tory-Premierministers Edward heath, der den Machtkampf mit den Bergarbeitern verloren hatte. »Erst im April 1974 trat ich zum Konservatismus über«, bekannte er später. »Ich hielt mich auch vorher schon für konservativ, aber jetzt erst verstand ich, dass ich es noch nicht war.« Keith Joseph und seine Parteigänger waren Anhänger des amerikanischen Kapitalismus-Gurus Milton Friedman. Als die Labour-Partei 1974 die Regierung übernahm und versprach, »Macht und Wohlstand grundlegend und unkündbar auch Arbeitern und ihren Familien zugänglich zu machen«, war Friedman fast ausschließlich unter Akademikern bekannt. Eine Ausnahme war Chile, wo General Augusto Pinochet mit amerikanischer Unterstützung 1973 in einem der gewaltsamsten Putsche der bewegten lateinamerikanischen Geschichte den gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende stürzte. Pinochet und seine ideologischen Bundesgenossen in Großbritannien hatten ein wichtiges Ziel gemeinsam: den Gedanken an die Arbeiterklasse zu beseitigen. Chile solle »nicht ein Proletarierland sein, sondern ein Unternehmerland.« Aber Keith Joseph vergab seine Chance, eine ähnliche Bewegung in Großbritannien zum Erfolg zu führen. In einer Rede im Oktober 1974 sprach er von den »unteren Schichten« so wie früher die bürgerlichen Eugeniker. Er vertrat die Auffassung, »dass ausgerechnet diejenigen Frauen Kinder be76


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kämen, die sie am wenigsten erziehen könnten. Mütter, die schon als Jugendliche schwanger waren und zu den Gesellschaftsklassen 4 und  gehören. Einige sind wenig intelligent, die meisten ungebildet.« Der entscheidende Satz aber war: »Das Gleichgewicht unserer Bevölkerung, unser menschlicher Grundbestand, ist in Gefahr.« Die Botschaft war eindeutig: Die Armen vermehrten sich zu schnell, und sie drohten alles andere zu überschwemmen. Joseph wiederholte zwar nur die Vorurteile vieler wohlhabender Briten, aber er machte den Fehler, das öffentlich zu tun. Auf den Vorsitz der Konservativen Partei konnte er sich jetzt keine hoffnung mehr machen. Aber es war nicht alles verloren. Er installierte seinen Schützling, die Abgeordnete für den Wahlkreis Finchley: Margaret atcher. Er legte die geistigen Fundamente des aufkeimenden atcherismus. Seine Kritiker nannten ihn »atchers Rasputin«. nach ihrem Wahlsieg 1979 begannen die Konservativen mit dem gewagtesten gesellschaftlichen Experiment seit der herrschaft der Puritaner 300 Jahre zuvor. »Wir müssen dieses Land verändern, unsere ganze Einstellung verändern, eine ganz neue haltung schaffen«, mobilisierte atcher ihre Partei. Wer die Einstellung des atcherismus gegenüber der britischen Arbeiterklasse verstehen will, muss zuerst atcher selbst verstehen. Einige ihrer Bewunderer haben oft versucht, sie, fälschlicherweise, als ein Kind bescheidener Verhältnisse zu porträtieren. atchers überzeugter Fan, der Abgeordnete David Davis, sagte mir einmal: »Margaret war in der Mittelschicht stärker verwurzelt, als sie zugab.« Vielleicht klingt es kitschig, sie die Tochter eines Einzelhändlers zu nennen, aber diese herkunft hat ihre politische haltung geprägt. Sie wuchs im Städtchen Grantham in Lincolnshire auf, und ihr Vater pflanzte ihr Werte ein, die für die untere Mittelschicht typisch sind: die Arbeit nur für sich selbst, die instinktive Ablehnung gewerkschaftlicher Organisation. Ihr Biograph hugo Young stellte fest, dass sie mit Arbeitern kaum in Kontakt kam, geschweige denn mit Gewerkschaftern. 77


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Diese haltung verfestigte sich zweifellos 191, als sie einen reichen Geschäftsmann, Denis atcher, heiratete, der die Gewerkschaften am liebsten verboten hätte. Sie umgab sich mit Vertretern der Eliten. 88% der Minister in ihrem ersten Kabinett waren auf eine Privatschule gegangen, 71% waren Unternehmensgeschäftsführer, 14% Großgrundbesitzer. Ein Kabinettsmitglied stellte daher kurz vor den Wahlen 1979 fest: »Sie ist eben immer noch eine Frau aus Finchley. Sie hält die Arbeiterklasse für faul, betrügerisch, stur und minderwertig.«61 atcher hatte das eine Ziel, uns vom Klassendenken abzubringen. »Die ›Klasse‹ ist ein kommunistisches Konzept«, schrieb sie später. »Es pfercht Menschen in Gruppen zusammen und hetzt diese Gruppen gegeneinander auf.«62 Sie wollte mit der Vorstellung Schluss machen, dass wir nicht durch individuelle Anstrengungen, sondern durch gemeinsame Arbeitskämpfe unseren Lebensstandard verbessern können. Wir sollten uns »am Riemen reißen«. Wenige Monate nach ihrem Wahlsieg 1979 wollte sie dem Land das klarmachen. »Moral ist Privatsache. Es gibt kein gesellschaftliches Gewissen, keine gesellschaftliche Zuneigung, keine gesellschaftlichen Freiheiten«, wollte sie sagen. »Es ist leicht und bequem, von sozialer Gerechtigkeit, sozialer Verantwortung und einer neuen Weltordnung zu sprechen, aber es befreit uns nicht von unserer individuellen Verantwortung.« Das war ihren Redeschreibern wohl zu viel und wurde gestrichen. atchers berüchtigte Erklärung einige Jahre später konnten sie nicht verhindern (sie stand ausgerechnet in der Frauenzeitschrift Woman’s Own): »Es gibt keine Gesellschaft. Es gibt einzelne Männer und Frauen und Familien.« Die Torys sind zwar ein Ergebnis der britischen Klassengegensätze, werden daran aber ungern erinnert. Für die rechten Ideologen in atchers Gefolge ist das ema »Klassengesellschaft« aus mehreren Gründen inakzeptabel. Es unterstellt, dass die eine Seite Wohlstand und Macht besitzt, 78


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die andere nicht. Wer so denkt, wird bald auch glauben, dass sich das ändern müsse. Es unterstellt, dass eine Gruppe von der Arbeit für andere lebt, und man denkt vielleicht an Ausbeutung. Es ermutigt dazu, die eigenen wirtschaftlichen Interessen als Gegensatz zu denen anderer zu definieren. Vor allem aber erinnert es an die Möglichkeit einer mächtigen politischen und wirtschaftlichen Organisation, die zum Kampf gegen Geld und Privilegien aufruft. Daher wurde das Konzept einer Arbeiterklasse für atchers Modell des Kapitalismus, in dem jeder für sich selbst kämpft, zum Todfeind. atcher hatte keinerlei Interesse daran, die Klassengesellschaft zu überwinden. Sie wollte uns nur weismachen, dass wir nicht in ihr lebten. »nicht die Klassengesellschaft spaltet die nation, sondern das Klassenbewusstsein«, hieß es in einem offiziellen Dokument der Konservativen Partei von 1976.63 Trotzdem führte der atcherismus zur selben Zeit den aggressivsten Klassenkampf der britischen Geschichte, indem die Gewerkschaften zerschlagen wurden, die Steuerlast der Reichen vermindert und die der Armen und der Arbeiter erhöht sowie die staatliche Unternehmensaufsicht heruntergeschraubt wurde. atcher wollte den Klassenkampf beenden, und zwar nach den Maßgaben der Oberschicht. »Die Torys der alten Schule sagen, es gebe keinen Klassenkampf«, erklärte der herausgeber der Parteizeitung, Peregrine Worsthorne. »Die neuen Torys verschweigen nicht: Wir sind Klassenkämpfer und wir wollen gewinnen.« Kernstück dieses Kreuzzugs war der konzertierte Versuch, die Werte, Institutionen und Traditionsbetriebe der Arbeiterklasse zu zerstören. Die Arbeiterklasse sollte als politische und wirtschaftliche Kraft ausradiert und durch ein Sammelsurium von einzelnen Geschäftsleuten ersetzt werden, die alle für ihre eigenen Interessen kämpfen. Im neuen, angeblich aufstrebenden Großbritannien würde jeder versuchen, sozial aufzusteigen, und wer es nicht tat, war selber schuld. Der Klassenbegriff sollte verschwinden, die Praxis der Klassentrennung noch vertieft werden. 79


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atchers Doppelschlag gegen Industrie und Gewerkschaften ist und bleibt der größte Angriff auf das Großbritannien der Arbeiterklasse. Der systematische Angriff auf das produzierende Gewerbe verwüstete ganze Kommunen und hinterließ Arbeitslosigkeit, Armut und all ihre problematischen Begleiterscheinungen, für die dann später die Kommunen selbst verantwortlich gemacht wurden. Unter Beschuss geriet aber vor allem die Arbeiteridentität. Die alten Industriebetriebe waren das herz der Gemeinschaften um sie herum. Die meisten Menschen vor Ort arbeiteten seit Generationen an derselben Stelle. Die Gewerkschaften, die sicher auch Fehler machten, gaben den Arbeitern Kraft, Solidarität und Einfluss. Dadurch entstand ein Gefühl der Zugehörigkeit, man war stolz auf die gemeinsamen Erfahrungen. Wer, wie ich, in einem Land ohne starke Gewerkschaften aufgewachsen ist, unterschätzt den Einfluss des atcherismus leicht. Dessen Erbe war so stark, dass Tony Blair nach seinem Wahlsieg 1997 stolz verkündete, die Gewerkschaften blieben auch nach seinen angekündigten Reformen »so eingeschränkt wie nirgendwo sonst« in der westlichen Welt. Vor atcher wurde die Arbeiterklasse vor allem aus Angst vor den Gewerkschaften dämonisiert. »In den 60ern, 70ern und 80ern wurden Streikende, die meist zur Arbeiterklasse gehörten, von den Medien feindlich beäugt«, erinnert sich MirrorJournalist Kevin Maguire. Aggressive Aktivisten und »Gewerkschafter, die das Land erpressen«, standen überall in den Zeitungen. Zum Kern der Tory-Strategie gehörte die schlaue Manipulation einer Reihe von Streiks meist schlecht bezahlter kleiner Angestellter 1978 und 1979, im später so genannten »Winter of Discontent«, dem Winter der Unzufriedenheit. noch 30 Jahre später muss der Winter der Unzufriedenheit als Schauergeschichte herhalten, sobald auch nur Gerüchte eines Streiks aufkommen. Mit Weltuntergangsstimme ist dann die Rede vom Müll auf den Straßen und den unbeerdigten Toten. 80


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Dabei wären die Streiks leicht vermeidbar gewesen. James Callaghans Regierung hatte mehrere Jahre lang die Reallöhne sinken lassen, um die Inflation zu senken. Diese Politik beruhte auf der irrtümlichen Annahme, dass Lohnsteigerungen der Grund für steigende Preise sind. Das Gegenteil ist der Fall. Überall in der westlichen Welt war die Inflation hoch, ganz unabhängig von der Macht der Gewerkschaften. »Wirklich los ging es in den späten 1960ern mit dem Beginn der wirtschaftlichen Liberalisierung und der Aufhebung vieler Kreditkontrollen, so dass ein Wachstum auf Pump begann«, erklärt der Ex-Banker Graham Turner. hinzu kam, dass die US-Regierung den Markt mit Geld überschwemmte, um den Vietnam-Krieg zu bezahlen, was die Inflation überall im Westen in neue höhen trieb. Schlecht bezahlte Arbeiter streikten im Winter 1978/79, weil ihr Lebensstandard rapide sank, und sie wurden für eine Inflationskrise zur Kasse gebeten, an der sie nicht schuld waren. Tony Benn war während dieses Winters Mitglied der Labour-Regierung. »Es war ein wirtschaftlicher Konflikt zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, und die Regierung war auf Seiten der Arbeitgeber«, erinnert er sich. »Das sorgte für jede Menge Enttäuschung.« Zweifellos waren im Winter der Unzufriedenheit mehr und mehr Menschen auch mit den Gewerkschaften unzufrieden. Die rechte Boulevardpresse überschlug sich fast in ihren Darstellungen eines im Chaos versinkenden Landes. Die öffentliche Infrastruktur wurde zurückgefahren. Den immer weiter verarmenden Arbeitern, die in den Streik getrieben wurden, hörte keiner zu. atchers Regierung hat diese Erfahrungen rücksichtslos ausgenutzt. Die Gewerkschaften sollten endgültig vernichtet werden. Dank neuer Gesetze konnten Arbeitgeber Streikende entlassen, Abfindungen senken, Arbeitsniederlegungen aus Solidarität verbieten, Gerichte durften Gewerkschaftsvermögen einziehen, und die Gewerkschaften mussten hohe Strafen bezahlen. Die Regierung gab sich mit Gesetzesänderungen nicht 81


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zufrieden und wollte Exempel statuieren. Laut dem Tarifexperten Professor Gregor Gall »setzte sich die Regierung in einigen Musterprozessen gegen die Gewerkschaften durch und ermutigte private Arbeitgeber dazu, ebenfalls gegen die Gewerkschaften vorzugehen.« 1980 bekamen zunächst die Stahlarbeiter atchers eiserne Faust zu spüren. Sie verloren eine 13-wöchige Streikschlacht, Tausende wurden entlassen. 3.000 Polizisten gingen drei Jahre später auf streikende Arbeiter beim Stockport Messenger, einer Zeitung, los und schlugen auf sie ein. Die Regierung beschlagnahmte das Vermögen der beteiligten Gewerkschaft, der National Graphical Association. Zu erwarten wäre, dass die Gewerkschaften in dieser Situation zusammenhalten und sich wehren. Das taten sie nicht. Die Gewerkschaften waren, ebenso wie die LabourPartei, hoffnungslos zerstritten. atchers Kreuzzug in all seiner Entschiedenheit brachte ihre Führung aus der Fassung. Die Regierung bemerkte die Schwäche ihrer Feinde und pickte sich die Arbeiter heraus, die es wagten, sich zu wehren. nichts von alledem war aber so niederschmetternd wie atchers schärfste Waffe: die immer länger werdenden Schlangen vor den Arbeitsämtern. Für die Torys war es ein gefundenes Fressen, dass die Arbeitslosenzahl unter Labour 1979 auf über 1 Million stieg. In ihrem Auftrag entwarf die Werbeagentur Saatchi & Saatchi das berühmte Poster »Labour Isn’t Working« (Labour tut nichts, Labour kriegt es nicht hin). Unter atcher erreichte die Zahl allerdings nach manchen Schätzungen sogar die 4 Millionen. Wer Angst vor der Arbeitslosigkeit hat, wehrt sich nicht. »Die Arbeitslosigkeit ermöglichte atcher ihre Arbeitsmarktreformen erst«, glaubt der frühere Labour-Vorsitzende neil Kinnock. »Kurzsichtige Besitzbürger, zum Beispiel Zeitungsjournalisten, halten 4 Millionen Arbeitslose für einen wütenden, selbstbewussten Arbeiterstamm. Das bedeutet aber tatsächlich einfach, dass mindestens 4 Millionen Menschen eingeschüchtert sind. Wer Angst vor der Arbeitslosigkeit hat, macht beim Arbeitskampf nicht mit.« 82


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Geoffrey howe, atchers erster Finanzminister, bejahte meine Frage, ob die Massenarbeitslosigkeit mitverantwortlich für den Erfolg des Vorgehens gegen die Gewerkschaften war. »Man sah einfach, dass sie nichts erreichten.« Seine Politik, so fügt er schnell hinzu, »war aber nicht darauf ausgerichtet, das zu zeigen.« Seiner Meinung nach war einer der großen Erfolge atchers, mit der »Tyrannei der Gewerkschaften« Schluss gemacht zu haben. Andere Torys sind weniger zimperlich. Laut Sir Alan Budd, Chefökonom im Finanzministerium in den frühen 1990ern, »glaubte die Regierung nicht eine Sekunde lang, dass ihre Politik die Inflation senken würde. Sie sah aber, dass die Arbeitslosigkeit stieg, und das war ein gutes Mittel, die Arbeiterklasse zu schwächen.« Was auch immer ihre Motive waren, »das Erbe von Geoffrey howe ist die De-Industrialisierung unserer Wirtschaft«, sagt der Ökonom Graham Turner. Innerhalb von drei Monaten nach ihrem Wahlsieg 1979 deregulierten die Torys den Devisenhandel. Mit der Währungsspekulation ließ sich nun gutes Geld verdienen. Der Finanzmarkt blühte auf, während das produzierende Gewerbe dahinsiechte. Der steigende Kurs des Pfundes machte der Industrie das Leben schwer, denn er verteuerte die Exporte. 1983, nach nur fünf Jahren, war ein Drittel der britischen Industriearbeitsplätze verschwunden. Ganze Städte waren ruiniert. Die heutige Wirtschaftskrise zeigt, wie sehr man zum Spielball der Finanzmärkte geworden ist, und selbst führende Torys wollen nun dafür sorgen, dass Großbritannien wieder etwas produziert. Viele Industriestädte haben sich nie erholt. Aber bereut jemand atchers Politik der verbrannten Erde? Ich frage ihren Finanzminister, ob er die kruden Leitzinserhöhungen immer noch für richtig hält. »Es ging gar nicht anders«, sagt Geoffrey howe. »Das Management war einfach unfähig, selbstmörderisch. Wir haben es der Industrie sicher nicht leicht gemacht, aber es gab keine Alternative. Wären wir einen anderen Weg gegangen, hätten wir neue Probleme 83


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verursacht.« howe findet, die verarbeitende Industrie sei selbst schuld. »Das war nicht schön, klar. Die Industrie selbst hat sich das zuzuschreiben. Ich weiß immer noch nicht, warum sich die britische Industrie damals einfach verabschiedet hat.« Der altgediente Abgeordnete und frühere Mitbewerber um den Parteivorsitz, David Davis, zeigt noch weniger Reue. »Ob es auch anders ging?«, fragt er erbost. »Was hätten Sie denn getan? Sagen Sie doch mal. Der Industrie das Geld nachwerfen? Dadurch ist das Problem doch erst entstanden! Was hätten wir denn machen sollen?« Die atcher-Regierung habe »den Menschen vor Ort sogar unter die Arme gegriffen. nein, nein, da waren sie sehr aktiv. Manchmal hat man einfach keinen Erfolg, das ist doch das Problem. Wenn die Regierung Wirtschaftspolitik macht, hat sie, wenn sie Glück hat, eine Erfolgschance von 0%.« Sogar howe gibt zu, dass viele entsprechende Initiativen, etwa die Gründerförderung, einfach zu »Steuerflucht-Unternehmen« wurden. Die Industrie sei, so Davis, ohnehin nur noch an »Krükken« gegangen, die atcher wegschlagen musste. »Das ist doch ein Kampf gegen Windmühlen, wenn man die Industrie von der Abwanderung nach China abhalten will«, glaubt er. »Paradox ist, dass ausgerechnet Sozialisten dagegen protestieren, obwohl es doch eine Art der Umverteilung ist, vom reichen Westen in den armen Osten. Ich habe damit zum Teil gar kein Problem.« Schnell fügt er hinzu, er »will natürlich nicht, dass wir Arbeitsplätze exportieren«. Das wäre aber der logische Schluss aus seiner Argumentation. Der Wirtschaftsredakteur des Guardian hält das für eine »groteske Geschichtsklitterung«. »Die Torys kamen an die Macht und haben eine Reihe von desaströsen ökonomischen Fehlentscheidungen getroffen. Das Pfund schoss nach oben, die Exportwirtschaft war nicht mehr wettbewerbsfähig. Die Inflation lag bei 20%, die Zinsen bei 17%, niemand konnte sich mehr Kredite leisten, und ohne die geht es in der Industrie nicht.« Dass die 1% der britischen Industrie, die schon 84


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in den frühen atcher-Jahren gegen die Wand fuhren, nicht zu halten waren, sei einfach nicht wahr. Mit anderen Worten: Die britische Industrie starb aufgrund der Politik der Regierung und nicht weil die Welt ebenso war. In keinem anderen westeuropäischen Land vollzog sich diese Entwicklung so schnell. Interessant ist der Vergleich mit den Reaktionen auf die Finanzkrise 2008. Während der atcherismus die Industrie in den 1980ern ausbluten ließ, pumpte new Labour Steuergelder in Milliardenhöhe in die Banken, die als Folge ihrer Gier und ihrer Inkompetenz vor dem Abgrund standen. Warum? Die Banken waren systemrelevant. »Das ließe sich auch von der Industrie sagen«, meint Graham Turner. »Die Welt erholt sich, und wenn man die Industrie geschützt hätte, gäbe es jetzt mehr Industriearbeitsplätze.« Da fragt man sich: Wollten die Torys der Industrie überhaupt helfen, der sie dann die eine oder andere Krokodilsträne nachweinten? atcher und ihre Jünger hielten Finanzen und Dienstleistungen für die Zukunftsbranchen. Produktion bedeutete Vergangenheit. Der frühere BBC-Korrespondent John Cole erinnert sich in seinen Memoiren daran, dass er atcher fragte, wie diese »postindustrielle Dienstleistungswelt« funktionieren sollte. »Sie zitierte einen Unternehmer, den sie ein paar Tage vorher getroffen hatte und der das Battersea-Kraftwerk kaufen und in ein ›Disneyland‹ verwandeln wollte, welches er natürlich ›emenpark‹ nannte.« Am nächsten Tag erzählte er dem Wirtschaftsattaché der amerikanischen Botschaft davon. »Er sah mich völlig überrascht an, legte langsam seine Gabel ab und rief: ›John, ihr könnt doch nicht alle euer Geld damit verdienen, einander die Tür aufzuhalten.‹«64 Genau darauf lief atchers Wirtschaftspolitik aber hinaus. Die alte Industriearbeiterschaft war schwer getroffen. Gut bezahlte, sichere, qualifizierte Arbeitsplätze, auf die man stolz war und an denen sich die eigene Identität festmachte, wurden vernichtet. Was an die Arbeiterklasse erinnerte, ver8


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schwand. Aber selbst nach atchers Wiederwahl 1983 war die Arbeiterklasse als politische und gesellschaftliche Kraft noch nicht tot. Die Entscheidungsschlacht stand noch bevor. »Die Leute haben noch nicht gemerkt«, sagt Geoffrey howe, »dass die atcher-Regierung eigentlich eine neuauflage der heath-Regierung war. Die Köpfe waren großenteils dieselben.« Da ist etwas dran. Die Torys unter Ted heath waren 1974 von streikenden Bergarbeitern aus dem Amt getrieben worden. heath hatte das Wahlvolk gefragt: »Wer hat in Großbritannien die Macht?« Die Antwort lautete: »Du jedenfalls nicht.« Die niederlage war schmerzhaft. Praktisch zum ersten Mal hatten die Gewerkschaften eine Regierung gestürzt. Das steckte Margaret atcher in den Knochen. Ihre Antwort war einer der hinterhältigsten Racheakte der britischen Geschichte. Doch ging es nicht nur um Vergeltung. Die Bergleute waren im gesamten 20. Jahrhundert die Speerspitze der britischen Gewerkschaftsbewegung. 1926 wurde Großbritanniens einziger Generalstreik ausgerufen, um die Bergleute zu unterstützen. Im Alleingang konnten sie das Land zum Stillstand bringen, indem sie die Energiezufuhr abstellten, wie sie in den 1970ern gezeigt hatten. Wer die Bergleute loswird, ist nicht mehr zu stoppen. Daher war die niederschlagung des Bergarbeiterstreiks der Wendepunkt in der Geschichte der modernen britischen Arbeiterklasse. »Die Bergarbeitermilieus waren lebendig, aber alles drehte sich um die Zeche. Die Zeche war das herzstück, das alle zusammenbrachte«, erinnert sich Chris Kitchen, Chef der Bergarbeitergewerkschaft nUM. »Der Ehrenkodex unter Tage hielt die ganze Gemeinschaft zusammen. Am Wochenende hat keiner der jungen Leute über die Stränge geschlagen. Mit einem Älteren legst du dich nicht an, denn unter Tage hängt dein Leben vielleicht von ihm ab. Da reißt man sich auch Samstagabend in der Kneipe zusammen.« 86


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Als die atcher-Regierung 1984 ihre Pläne vorstellte, Zechen zu schließen, standen viele gesunde Kommunen vor dem Aus. In der Kohleregion von Yorkshire kam es zu spontanen Streiks, die bald auf andere Landesteile übergriffen. nUM-Chef Arthur Scargill rief daraufhin alle Bergleute landesweit zum Streik auf, und eine Vollversammlung im April desselben Jahres unterstützte seine Entscheidung. nur die Bergleute in nottinghamshire, die – wie sich bald herausstellte: irrtümlicherweise – glaubten, ihre Arbeitsplätze seien sicher, schlossen sich nicht an, was die anderen Kumpel verbitterte. Tony Benn erinnert sich, wie der Arbeitskampf »die Gewerkschaften elektrisierte. Ich bin innerhalb eines Jahres 299mal öffentlich aufgetreten, und überall spürte ich so viel Unterstützung und handlungsbereitschaft.« Für die Medien und atchers Unterstützer wurde Scargill zur Zielscheibe. Die Aktivitäten der Bergleute versetzten einige auch in Angst. Der erz-thatcheristische Daily-Telegraph-Journalist Simon heffer ließ sich mir gegenüber sogar zu einem nazi-Vergleich hinreißen: »Ich halte Scargill ehrlich gesagt für krank. Ich war 1984 auf dem Labour-Parteitag und hörte seine Rede, die eine erschütternde Wirkung hatte. Ich hatte ihn noch nie reden hören, ich hatte überhaupt noch nie jemanden gehört, der mit Worten so viel anrichten konnte. Das lag an seiner altstalinistischen Argumentation. Wenn ich mich recht erinnere, das ist aber schon 20 Jahre her, sagte er: ›Margaret atcher kämpft für ihre Klasse, und ich kämpfe für meine.‹ Ich habe Fernsehbilder von hitler gesehen, und an dessen Demagogie hat mich das erinnert. Mir hat das Angst gemacht. Ich konnte zwar auf Distanz gehen, aber andere waren vollkommen ergriffen, und die sind wahrscheinlich heute immer noch ergriffen davon.« Im Gegensatz zu den meisten Bergleuten in nottinghamshire streikte Adrian Gilfoyle bis zum bitteren Ende. Er erinnert sich vor allem an den Zusammenhalt unter Tage. »Die Streiks sollten Arbeitsplätze retten«, sagt er. »Ich habe zwei 87


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Jungs. Ich hätte nicht unbedingt gewollt, dass sie unter Tage arbeiten, wenn sie einen anderen Arbeitsplatz gefunden hätten, aber wenigstens hätten sie die Möglichkeit gehabt damals, und das war eine gute Schule. Dafür lohnte sich der Kampf.« Manchmal war es ein Kampf im wahrsten Sinne des Wortes. »Morgens um fünf waren Polizisten aus London da, und die stampften mit ihren Schilden auf den Boden und wecken uns alle auf«, erinnert sich Gilfoyle. »Ich konnte das gar nicht glauben. Das war fürchterlich. Aber dadurch waren wir nur noch mehr entschlossen.« Das war aber alles noch nichts gegen die Schlacht von Orgreave. Am 18. Juni 1984 versuchten fast 6.000 Bergleute, die Kokerei in Orgreave in South Yorkshire zu besetzen. Adrian Gilfoyle war einer von ihnen. Sie trafen auf Tausende von Polizisten, viele davon beritten, aus zehn verschiedenen Landkreisen. Plötzlich griff die Polizei sie an. »Vom ersten Tag an war klar, dass die Bergleute schuld sein sollten. Die Streikposten standen einfach da, und plötzlich ging die berittene Polizei auf sie los. So fing das an. Ich weiß noch, mein Bruder und ich standen da und konnten es gar nicht glauben, da galoppierte so ein Bulle auf seinem Pferd auf uns los, wir konnten uns gerade noch retten, und er schlug mit seinem Schlagstock einem anderen Kerl den hinterkopf auf. Wir rannten in einen Laden, der Verkäufer hielt die Polizei fern, sagte zu uns: ›nehmt euch einen Korb, tut rein, was ihr wollt, und dann los, ich bin auf eurer Seite.‹ Aber das Ganze war furchtbar.« Alle Verfahren gegen die festgenommenen Streikposten wurden eingestellt, sie erhielten hunderttausende von Pfund an Entschädigung. Wie so viele streikende Bergleute erhielt Gilfoyle wertvolle Unterstützung von seiner Frau. »Sie war in der Frauengruppe und so. Sie demonstrierte mit, ging nach Ollerton, als der Kerl da getötet wurde [der 23-jährige Kumpel und Streikposten David Jones aus Yorkshire starb unter ungeklärten Umständen], ging auf seine Beerdigung. Ich hab ein Foto 88


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mit ihr am Grab.« Eines Tages sagte er zu ihr: »Morgen geh ich wieder arbeiten, Schatz.« Darauf sie: »Dann dreh ich dir den hals um.« nicht nur Bergleute wie Adrian Gilfoyle brachten Opfer: Irgendwann kam seine Frau tränenaufgelöst nach hause, ihre Grundschule hatte sie entlassen, nachdem ein Streikbrecher sich beschwert hatte. Kurz nach Ende des Streiks kam sie krank nach hause. »Sie sagte, ruf den Arzt. Ich hatte während des Streiks mein Telefon ausgeschaltet, ging zum nachbarn, da brach sie mit einem herzinfarkt zusammen, ein paar Minuten später war sie tot.« Sie war erst 33, die beiden Söhne fünf und acht. Am 3. März 198, nach einem Jahr des titanischen Kampfes, brach der Streik zusammen. Blaskapellen und Gewerkschaftsfahnen begleiteten die trotzigen Bergleute zurück zur Arbeit. »Maggie hat gekriegt, was sie wollte«, sagt Gilfoyle. »Wir sind völlig geknickt zurückgegangen.« Anders als 1974 war die Regierung vorbereitet gewesen. Ein schon 1978 an die Öffentlichkeit gelangter Schlachtplan für den Kampf gegen die Gewerkschaften, vor allem gegen die Bergleute, der so genannte Ridley-Plan, hatte sogar das Vorhalten von Kohle vorgesehen. Andere Gewerkschaften und die Labour-Führung hatten die Bergleute nicht unterstützt, weil es keine Urabstimmung gegeben hatte. »Die Labour-Führung und die Arbeiterbewegung standen gegeneinander, weil die Partei die Bergleute praktisch nicht unterstützte«, sagt Tony Benn. Wie man sich auch dazu stellte, das Schicksal der Arbeiterbewegung hing an dem Streik. Von der niederlage hat sie sich nie erholt. Die Bergleute waren die am besten organisierte Kraft des Landes. Waren sie besiegt, gab es für andere keine hoffnung. Scargill musste sich üble Kritik an seinen vermeintlich hysterischen Aussagen anhören, die Regierung wolle den Bergbau zerstören. heute ist fast nichts vom Bergbau übrig. Sogar atchers rechte hand, norman Tebbit, gab kürzlich zu: »Großen Teilen des Bergbaumilieus ging es jetzt dreckig, die Arbeit war weg, Drogen und Schattenwirtschaft zogen 89


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ein. Zweifellos brachen Gemeinschaften daran auseinander, Familien zerfielen, Jugendliche gerieten außer Kontrolle. Mit den Schließungen waren wir zu weit gegangen.«65 Befürworter und Gegner des Streiks sind sich einig, dass die Gewerkschaften diese Lektion nie vergessen werden. »Das war für die Regierung der Wendepunkt«, sagt Robert Forsythe, ehemals Bergarbeiter in West Lothian. »Wer die Bergleute schlägt, schlägt jeden.« Simon heffer stimmt zu. »Für viele Linke ist der Bergarbeiterstreik weiterhin ein Albtraum. Jede große Arbeiterorganisation weiß jetzt, dass man sich mit der Regierung auf eigene Gefahr anlegt.« noch heute, ein Vierteljahrhundert später, geht das Gespenst des Streiks bei den Gewerkschaftern um. Mit den Worten von Gewerkschaftsfunktionär Mark Serwotka: »Das Erbe waren Jahre der niedergeschlagenheit und des Defätismus.« Viele Kumpel und ihre Unterstützer feindeten neil Kinnock an, weil er den Streik nicht unterstützt hat. Dieser verflucht immer noch sowohl Scargill als auch atcher, hat aber vor allem über die Vertreter der Kumpel wenig Gutes zu sagen. Er sieht die Konsequenzen und hält die niederlage der Arbeiterbewegung für »hilfreich«. Die Gewerkschaften »hatten verstanden, dass die Tory-Regierung mit jedem würde aufräumen können, wenn sie die ›Kohle‹ erledigt hatte. Das hat die Mentalität der Bewegung radikalisiert. Das kann man nicht nur der einen Seite in die Schuhe schieben.« Und weiter: »Das Vorgehen der atcher-Regierung hatte in gewisser Weise mit der niederlage von Ted heath zu tun. atcher wollte vor allem, um es mal ganz vorsichtig zu sagen, die Gewerkschaften wieder unter Kontrolle bringen. Strategisch gesehen ging das am besten, wenn man sich zuerst mit den Bergleuten anlegte. Die Regierung hat, wie jeder andere auch, verstanden, dass das für die gesamte Arbeiterbewegung Folgen haben würde. Und genauso kam es.« Viele hielten den Bergarbeiterstreik für das letzte Gefecht der Arbeiterklasse. Ihre besten Bataillone wurden besiegt, in die Zechendörfer zurückgeschickt, und dort erwartete sie 90


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ein qualvoller Tod. Der bekannte historiker David Kynaston erinnert sich an die Stimmung nach dem Streik: »Jetzt dachte jeder, dass die alte Arbeiterklasse nicht mehr die Durchschlagskraft von einst hatte. Damit hatte sich die Stimmung gedreht. Leute wie ich in unseren gemütlichen Vororten waren eigentlich nicht abgeneigt gewesen, aber plötzlich sah die ganze Sache ziemlich unwichtig aus.« Am Vorabend von atchers Kreuzzug war die hälfte der Arbeiterschaft gewerkschaftlich organisiert. 199 war es nur noch ein Drittel. Die klassischen Arbeiterbranchen gab es nicht mehr. An der alten Arbeiteridentität war nichts mehr zu feiern. atcher versprach eine Alternative: Vergesst eure Arbeitermilieus und schließt zum Besitzbürgertum auf. Für die, die auf der Strecke blieben, war im neuen Großbritannien kein Platz mehr. Mit großem Tamtam stellte die eben erst gewählte atcherRegierung 1979 ihr Wohngesetz vor. Michael heseltine tönte: »Dieser Entwurf stellt die Grundlage für einen der wichtigsten gesellschaftlichen Umbrüche des Jahrhunderts dar.« Im Mittelpunkt stand das später so genannte »Kaufrecht«. Wer in einer Sozialwohnung lebte, konnte diese jetzt zu einem deutlich reduzierten Preis kaufen, nach 20 Jahren beispielsweise zum halben Preis. Angeboten wurden 100%-hypotheken. In nie dagewesener Weise förderte die Regierung den hausund Wohnungsbesitz. Zweifellos freuten sich viele Arbeiter über diese Initiative. Innerhalb eines Jahrzehnts wurden eine Million Kaufverträge abgeschlossen. Stolze neue Besitzer renovierten ihre Wohnungen oft erst einmal. 198 gab auch die Labour-Partei ihren Widerstand auf. nicht immer beruhten die Käufe und Verkäufe aber auf Freiwilligkeit. Ende der 1980er kamen die Kommunen finanziell unter die Fuchtel der Regierung, die sie zu vielen Verkäufen drängte. Wer eine Wohnung besitzt, gehört aber noch nicht automatisch zur Mittelschicht. Ob man eine hypothek abbezahlt 91


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oder Miete zahlt, ändert nichts daran, dass man Geld verdienen muss. neil Kinnock erinnert sich: »In den 0ern, 60ern und 70ern kauften die Leute dort, wo ich wohnte, ihre häuser von anderen Privatleuten, und das hat ihre Überzeugungen und ihre Identität nicht verändert.« Vielen Autobauern gehörten ihre Wohnungen, und trotzdem waren sie in den 1970ern besonders aktive Gewerkschafter. Die Initiative war aber untrennbar mit atchers Versuch verbunden, uns zu Individuen zu machen, die vor allem an sich selber denken. nur so könnten wir für unsere Erfolge und Misserfolge Verantwortung übernehmen. Für den atcherismus bemaß sich der Erfolg eines Menschen am Umfang seines Besitzes. Wer sich nicht anpasste, wurde verachtet. Aufstieg bedeutete nicht länger die gemeinsame Arbeit für ein besseres Leben, sondern die Vermehrung des eigenen Besitzes, unabhängig von dem Preis, den die Gesellschaft dafür zu zahlen hatte. Und dieser Preis war hoch. Wer es wagte, seine Wohnung nicht kaufen zu wollen, fiel offiziell in Ungnade. In der Zeit vor atcher zahlte der Bewohner einer Sozialwohnung durchschnittlich 6,20 Pfund Miete pro Woche. In zehn Jahren vervierfachte sich die Miete. Unter atcher sanken die Investitionen in Wohnraum um dramatische 60%. Die nächste Generation litt am meisten. Kommunen durften keine neuen Sozialwohnungen mehr bauen, um die verkauften zu ersetzen. Die Wohninitiative Shelter sprach sich damals gegen das Kaufrecht aus. »Wir erkannten, welche Auswirkungen das langfristig auf die Verfügbarkeit von Wohnraum haben würde«, sagt Mark omas von Shelter. »Wir befürchteten, dass die Einnahmen aus den günstigen Verkäufen nicht in neue Baumaßnahmen investiert würden, und diese Befürchtung erfüllte sich. Erst seit ganz kurzer Zeit bauen wir wieder mehr häuser, als wir nach dem Kaufrecht verkaufen.« Weil die nachfrage nach Wohnraum stieg, kletterten die Preise in astronomische höhen. Große Teile der Bevölkerung 92


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konnten sich das nicht mehr leisten. Millionen Menschen standen jahrelang auf Wartelisten für sozialen Wohnraum. Allein zwischen 1984 und 1989 stieg die Zahl der Obdachlosen in Großbritannien auch daher um 38%.66 Die Initiative trieb einen Keil in die Arbeiterklasse. Jetzt standen sich Eigentümer und Mieter von Sozialwohnungen gegenüber. Unter dem Kaufrecht wurden die besten häuser und Wohnungen verkauft. Die relativ wohlhabenden Mieter wurden zu Eigentümern. Die verbleibenden Mieter waren ärmer, ihre Wohnungen in einem schlechten Zustand. 1986 gehörten schon zwei Drittel der Mieter zu den unteren 30% der Einkommen, nur 18% gehörten zur oberen hälfte. noch sieben Jahre zuvor hatte ein Fünftel der reichsten 10% in sozialem Wohnungsraum gelebt. Dieser war nun immer mehr eine Sache der Armen und Schutzlosen. Erst seit den 1980ern erwarb der soziale Wohnungsraum seinen schlechten Ruf als verfallen, gefährlich und verarmt. Was daran keine Übertreibung war, ließ sich direkt auf die Politik der Regierung zurückführen. Auch auf andere Art und Weise wurde die Vorstellung vom sozialen Aufstieg neu definiert. atchers Großbritannien vergötterte den Reichtum und die Reichen. Den Konservativen zufolge waren die Reichen reich, weil sie hart arbeiteten und Talent besaßen, und das bedeutete im Umkehrschluss, die Armen waren faul und unbegabt. atchers Schlachtruf lautete: »Wer am härtesten arbeitet, soll auch nach Steuern noch am meisten bekommen. Wir sind auf Seiten derer, die arbeiten, und gegen die Drückeberger.« Die Reichen, vor allem die Banker, wurden verehrt wie nie zuvor. Großbritannien geriet durch die Deregulierung der Finanzbranche immer mehr in deren Abhängigkeit. Geschäftemacher und Spekulanten waren die neuen helden. »Jeder ein Kapitalist«, erklärte atcher. Das Ziel war unerreichbar, aber die Marschroute war nun klar. Zum ersten Mal seit Generationen setzte sich die Regierung explizit das Ziel, den Reichen möglichst viel Geld zu93


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zuschieben. Die Spitzensteuersätze auf Einkommen bzw. Kapitalerträge sanken während der ersten haushaltsperiode von 83 bzw. 98 auf 60%, die Körperschaftssteuer von 2 auf 3%. Der damalige Finanzminister nigel Lawson ging 1988 sogar noch weiter: Er senkte den Spitzensteuersatz auf 40%. Geoffrey howe verteidigte diese Maßnahmen, »denn Unternehmergeist sollte durch die Steuergesetzgebung belohnt und nicht bestraft werden.« In Wahrheit mussten nun nicht mehr die Reichen, sondern alle anderen die Steuerlast schultern. »Ob das die Vermögens- oder Einkommensverteilung positiv beeinflusste, weiß ich nicht«, sagt howe. »Die Liberalisierung erleichterte jedenfalls das Geldverdienen, das Sparen, das Investieren …« nach howes Aussage mussten die Konservativen »neue Mittel auftreiben, damit die Last der direkten Steuern sinken konnte.« Also wurde die Mehrwertsteuer erhöht. Je ärmer ein Bürger ist, desto mehr von seinem Einkommen geht für die Mehrwertsteuer drauf. Die Reichen hatten Oberwasser. Am Ende der Tory-herrschaft 1996 besaßen die reichsten 10% der Familien mit drei Kindern über 21.000 Pfund mehr als zu atchers Regierungsübernahme.67 Die Einkommen der obersten 10% der Ehepaare waren um 6% gestiegen, während ihre Steuerlast von gut der hälfte auf etwa ein Drittel ihres Einkommens sank.68 Regisseur Stephen Frears über die Senkung des Spitzensteuersatzes auf 40%: »Ich kam mir vor, als würde Lord Lawson bei uns vor der Tür stehen und sagen: hier ist ein Scheck über 0.000 Pfund für Sie.« Für alle anderen stiegen die Steuern von 31,1% des haushaltseinkommens 1979 auf 37,7% Ende 1996, und das dank der »niedrigsteuerpartei«. Die Realeinkommen der untersten 10% brachen nach Wohnkosten um fast ein Fünftel ein.69 Ihr Anteil am Gesamtvermögen des Landes halbierte sich beinahe.70 Eine Familie mit drei Kindern im untersten Zehntel der Bevölkerung war 1996 um 62 Pfund ärmer als zu Beginn von atchers Regierungszeit. 1979 lebten  Millionen Menschen in Armut, 1992 waren es fast 14 Millionen. 94


Medien und Politiker stempeln eine wachsende Bevölkerungsgruppe als rücksichtslos, faul und kriminell ab. Die Mitglieder dieser Klasse werden mit einem hasserfüllten Wort bedacht: »Prolls«. Das »Proll«-Stereotyp wird von Politik und Medien benutzt, um die Notwendigkeit realer Veränderungen zu verdecken und die wachsende soziale Ungleichheit zu rechtfertigen. Auf der Basis von Gesprächen mit Politikern, Meinungsmachern und Arbeitern legt Owen Jones eine scharfe Anklage des Medien- und Politestablishments vor und zeichnet ein verstörendes Porträt der sozialen Ungleichheit und des Klassenhasses in modernen Gesellschaften. »Eine leidenschaftliche und gut dokumentierte Anklage der Verachtung der Oberschicht für die Arbeiter.« ERIC HOBSBAWM »Großartig und kämpferisch.« POLLY TOYNBEE, THE GUARDIAN »Ein Buch voll Leidenschaft, Verständnis und moralischem Anstand.« NEW YORK TIMES »Book of the week« von LONDON TIMES und von THE INDEPENDENT

18.90 EUR [D] ISBN 978-3-940884-79-4


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