Mathias Ullmann
SIE WERDEN MICH MĂ–GEN Die Robert-Hartmann-Trilogie Roman VAT
Mathias Ullmann
Sie werden Mich Mögen
die robert-hartmann-Trilogie
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Verlag André Thiele
© VAT Verlag André Tiele, Mainz am rhein 2012 Umschlag: gestaltungsmerkmal.de, dresden Satz: Felix Bartels, Osaka druck: Anrop Ltd., Jerusalem Umschlag unter Verwendung eines Bildes von piai – Fotolia.com Alle rechte vorbehalten. Printed in israel. www.vat-mainz.de isbn 978-3-940884-37-4
Josephsmacher 2005
Mildernder Umstand, den man vorm J端ngsten Gericht anf端hren kann: Wir hatten sowieso nie darum gebeten, geboren zu werden. Kurt Vonnegut, Zeitbeben
eins Mein name ist hartmann, robert hartmann. wenn Sie mir das jetzt nicht glauben, dann liegen Sie richtig. ich bin realist genug, um davon auszugehen, dass Sie ohnehin nichts von dem glauben, was ich ihnen erzählen werde. eigentlich könnte ich auch gleich meinen im Pass verzeichneten namen nehmen, vielleicht heiße ich ja tatsächlich robert hartmann. im Sächsischen gibt es eine schöne Formulierung dafür, etwas völlig Sinn- und würdeloses mit großer ernsthaftigkeit zu tun: Man macht sich zum robert. Manchmal habe ich das gefühl, dass ich genau dies tue. Aber das ist nicht weiter schlimm. genauer gesagt: ich lebe davon. hartmann dagegen klingt gut. das Leben ist ein einziger härtetest – und ich komme trotzdem durch. das Leben ist hart, Mann, aber ich bin härter. Schade, dass hertha als Männername nicht so recht anerkannt ist. clemens und claudia würden, wenn sie diesen namen hörten, laut auflachen: Papa, du und hart! das glaubst du doch wohl selbst nicht! was die schon wissen. Besser, dass sie nichts wissen. claudia und clemens sind meine beiden Kinder. die natürlich auch nicht claudia und clemens heißen. Sie sind halbwaisen, so viel wenigstens ist wahr. ich bin witwer. Mein geld verdiene ich freiberuflich, überwiegend als Josephsmacher. Sehen Sie jetzt aber bitte nicht in irgendeinem Branchenbuch nach, dann schon eher in der Bibel. ist jedenfalls kein Ausbildungsberuf. wissen Sie, wie oft ich gegenüber irgendwelchen Ämtern nachweisen muss, dass ich in der Lage bin, für meine Kinder angemessen zu sorgen? ich sage es ihnen: So oft, dass es einem spätestens beim dritten Mal ganz gewaltig auf die nüsse geht. entschuldigung. ich verspreche, nicht mehr zu fluchen. die Ämter tun ja auch nur ihre Pflicht. die Leute dort machen das, was sie müssen, und sie machen es, um irgendwie durchs Leben zu kommen. das eint uns. claudia ist gerade viel zu früh aus der Schule gekommen. es gab Ärger, das ist ihr anzusehen. Sie ist kurz vorm heulen. ich 7
bekomme schon raus, was sie bedrückt, noch vertraut mir meine Tochter jeden Kummer an. Und Papa hört zu und tröstet. Man ahnt kaum, wie sehr einem Kind schon damit geholfen ist, dass man ihm einfach zuhört. claudia ist vierzehn. Und eigentlich sollte sie jetzt ihre geige aus dem Kasten nehmen und Fingerübungen machen, bevor sie zur Musikschule geht. in dem Zustand allerdings, in dem sie nach hause gekommen ist, ist sie dazu kaum in der Lage. ich geh dann mal trösten … claudias Problem besteht kurz gesagt, darin, dass Männer auch schon mit vierzehn oder fünfzehn Jahren ausgemachte Volltrottel sind. irgendein Schulkamerad hat ihr wohl unlängst heiße Blicke zugeworfen. Und nun hat er das alles wieder vergessen und sich an eine von claudias Klassenkameradinnen rangeschmissen, weil die nämlich größere Brüste hat. Sagt claudia. was ist das für eine welt, in welcher Männer Frauen nur danach beurteilen, wie groß deren Brüste sind? der Junge schleppt offenbar einen Brustkomplex aus seiner Kindheit mit sich herum. Vielleicht ist er nicht lange genug gestillt worden? Oder zu lange, wer weiß das schon? Zumindest teilt er diesen Komplex anscheinend mit der Mehrheit der männlichen Bevölkerung deutschlands. Mit mir nicht, ich könnte mir so etwas gar nicht leisten. davon abgesehen muss jeder zugeben, dass claudia wundervoll aussieht. glücklicherweise erkennen wenigstens Frauen das sofort. clemens kommt heute später nach hause, er hat Fußballtraining. hoffentlich verstaucht oder prellt er sich nicht wieder irgendetwas, sonst muss ich noch zur Apotheke am neustädter Bahnhof und Salbe kaufen. clemens ist zwölf und er kann einmal ein großartiger Fußballer werden. Am liebsten spielt er im defensiven Mittelfeld. Von dort aus hat er das gesamte Spiel vor sich und kann es lenken. Und das macht er richtig gut. ich sag jetzt nicht, von wem er das wohl geerbt haben könnte. davon abgesehen ist auch clemens ein bildhübsches Kind. wenn er noch drei, vier Jahre älter wird und auch mal an etwas anderes denkt als an Fußball, dann, liebe damenwelt, wird es 8
schwungvoll. ich sollte allerdings rechtzeitig mit ihm darüber reden, dass es bei Frauen auf die Brustgröße zu allerletzt ankommt. nun ja, zumindest fast zuletzt. nun haben Sie auch die Begründung dafür, warum ich immer in so kurzen Abschnitten schreibe: Zu mehr komme ich in der Zeit zwischen zwei erziehungsnotfällen einfach nicht. wenn die Kinder am Vormittag in der Schule sind, gehe ich einkaufen, wasche, mache die wohnung sauber und koche – meist mehr als nötig. die hälfte des essens wird dann eingefroren, damit sich die Kinder an den Abenden, an denen ich beruflich unterwegs bin, einfach etwas aus der gefriertruhe nehmen können. habe ich schon gesagt, dass das Jugendamt ganz besonders darauf achtet, ob die Kinder vernachlässigt aussehen? das tun meine Kinder wirklich nicht. Jedenfalls geht der ganze Vormittag für solche dinge drauf. Am nachmittag bin ich dann abwechselnd Seelentröster, nachhilfelehrer, Medizinmann, Fitnesstrainer, Korrepetitor, Konzertbesucher, Schlachtenbummler, chauffeur oder schlicht erzieher und Papa. Sie sehen, es ist immer etwas los hier. es ist vielleicht nicht ganz fair, meinen Kindern diese namen zu geben, clemens und claudia. clem und clau. während meiner Studienzeit in Leipzig gab es im Stadtzentrum einen An- und Verkauf für gebrauchte Möbel. in dem habe ich mir meine erste eigene Bude zusammengestoppelt. dieser Laden hieß im Volksmund nie anders als »Klemm & Klau«. der Laden existiert schon lange nicht mehr. Aber es ist schön, an ihn zurück zu denken. wenn ich mir das bisher geschriebene ansehe, dann kann ich mich nur fragen: ein bisschen kleiner hast du es wohl nicht? Klischeefamilie, zwei Kinder, Junge und Mädchen. Sie schöngeistig-künstlerisch orientiert, er eher der handfeste, sportliche Typ. Und beide schön und erfolgreich, was sonst. wirkt arg konstruiert, das kann ich mir eigentlich nur ausgedacht haben. wenn es so wäre, hätte ich zumindest ein paar Sorgen und sehr viel rennerei weniger. ich musste gerade mal eben in die Küche, um Scherben zusammenzufegen. claudia ist ein einziges ver9
heultes elend. Beim Unterricht vorhin hat sie die gedanken nicht von diesem Busenfetischisten freibekommen und war dementsprechend unkonzentriert. Oder einfach nur schlecht. Und zur Strafe darf sie – sollte sie sich nicht gewaltig zusammenreißen – in vierzehn Tagen bei dem Stück von Pachelbel nicht die erste geige spielen. was ist da schon eine runtergefallene Teetasse? Papa macht’s weg, Papa kauft eine neue. Aber nicht wieder in einem so ekligen grün. claudia konnte diese Tasse noch nie leiden. ich verstehe allerdings nicht, warum sie dann immer wieder genau diese genommen hat. der Alltag stellt einen vor Fragen, die jeden Philosophen überfordern. dieses Buch schreibe ich eigentlich aus romantischen gründen. ich hege nämlich die altmodische Überzeugung, dass man immer schön ehrlich sein sollte. Meinen Kindern habe ich viel zu oft erzählt, dass ich an den Abenden, an denen ich geschäftlich zu tun habe und nicht zu hause sein kann, recherchen durchführe. Und dass ich vielleicht irgendwann daraus ein Buch mache. gesagt ist gesagt. recherchen habe ich im weitesten Sinne wirklich angestellt. Und das mit dem Buch, das hole ich jetzt nach. wenn ich an meine Kinder denke, dann ist das hier allerdings kein Lesestoff, den ich mir für die beiden wünschen würde. heute ist so ein Abend, wie ich ihn liebe: es ist Juni, ich habe in den kommenden zwei Tagen keine Aufträge, und die Kinder liegen im Bett und schlafen. Bis auf die Teetasse ist heute nichts zu Bruch gegangen. es ist noch gar nicht spät, sodass ich mich in aller ruhe auf meinen Balkon setzen kann. Aus meinem Lieblings-Afrikaladen habe ich mir eine schöne Flasche südafrikanischen Pinotage mitgebracht, der schon in der Karaffe atmet – genau das richtige, um die rotweinzeit zu verabschieden und allmählich den Sommer einzuläuten. ich zünde mir eine Zigarette an. in der wohnung rauche ich nicht, wegen der Kinder. Aber hier auf dem Balkon, da gönne ich mir das hin und wieder. Seit die Autobahnumgehung für dresden fertig ist, geht auch nicht mehr der gesamte Transit zwischen Balkan und nordkap in fünfzig Meter entfernung an meiner wohnung vorbei. Man hört jetzt sogar die Vögel morgens und abends! das einzige, was noch nervt, sind nachts die Krankenwagen, deren Fahrer die Sirene wahrscheinlich nur anschalten, um selbst nicht einzuschlafen. Allerdings wäre ich für den Fall, dass sich clemens beim Fußball 10
einen komplizierten Beinbruch zuzieht, für doppelte Sirenenbestückung auf dem Krankenwagen. Und für eine jaulende Motorradeskorte, mindestens. Oder besser gleich den rettungshubschrauber. claudia hat große chancen, Musikerin zu werden, wenn nichts dazwischen kommt. Leider weiß ich nur zu gut, was alles passieren kann. Jetzt gucken Sie bitte nicht so genervt: ich bin alleinerziehender Vater. ich bin Ossi. ich bin Freiberufler. ich erkenne in jeder paradiesischen Aussicht das Loch in der Pappe, welches diese Aussicht als billige eaterkulisse entlarvt. ich sehe in jedem fetten wurm den haken. Selbst wenn gar keiner drin steckt. Jedenfalls versuche ich, mir über die Probleme, die kommen könnten, im Klaren zu sein. wenn nichts kommt, umso besser. Für Pessimisten ist Unrechthaben sehr erfreulich. es ist nicht unwahrscheinlich, dass claudia ein völlig unmusikalischer Trampel über den weg läuft, dem ihre Körbchengröße ausreicht und in den sie sich unsterblich verliebt. Und schon ist ihr die gesamte Musik aber so was von egal. dabei hat das Mädchen Talent, richtiges Talent. Sie schafft es, sich in die Musik hineinfallen zu lassen und vom ersten Ton an alles Störende um sich herum zu vergessen. nun ja. Fast immer. einmal, als die Agentur ziemlich generös war und ich mehr Aufträge als üblich erledigt hatte, haben wir eine echte Opelgeige gekauft. das instrument hat einen Klang, dass einem schon beim Stimmen glückstränen kommen. ich gestehe, dass sie das musikalische Talent nicht von mir geerbt hat, sondern von ihrer Mutter. »Best of both worlds«. Sie ist eben ein glückskind. geigerinnen in claudias Alter haben es ohnehin schwer, einen Freund zu finden, der den Fleck an der linken Seite des halses, der durch das Anliegen der geige entsteht, nicht für den Knutschfleck eines anderen Jungen hält. wenn ein Bursche aber halbwegs interesse für Musik zeigt, dann lässt sich dieses Missverständnis leichter ausräumen. Ansonsten: wussten Sie, dass nur ein Bruchteil aller Musiker das rentenalter bei akzeptabler gesundheit und Arbeitsfähigkeit erreicht? haben Sie schon mal was von Tinnitus gehört, von 11
gehörsturz? Oder von Arthrose? Fragen Sie mich ruhig, ich kenne mich damit inzwischen aus. irgendwas muss ich bei meinen dauernden Bibliotheks- und Archivtagen schließlich lesen. ich kann nur sagen: Man macht sich keine Vorstellung! dabei geht es claudia im Vergleich zu clemens ja noch geradezu goldig. der Junge hat das Zeug zum Fußballprofi. Sein Trainer hat mir neulich mitgeteilt, dass der Junge ab herbst seinem himmel ein ganzes Stück näher kommen könnte: Talentesucher von dynamo wollen ihn unter die Lupe nehmen. Also informiere ich mich seit einiger Zeit sehr genau darüber, was in so einem kleinen Fußballerbein alles kaputtgehen kann. da gibt es jede Menge Menisken, Adduktoren sowie Kreuz-, Quer- und Syndesmosebänder, die an- oder abreißen können. Zu allem Überfluss lauert überall auch noch das gespenst des ermüdungsbruches, um sich auf den nächstbesten Knochen zu stürzen. Von lächerlichen blauen Flecken oder geprellten Schienbeinen fange ich gar nicht erst an, auch nicht von solch geheimnisvollen und perfiden erscheinungen wie dem Pfeifferschen drüsenfieber, welches sich offenbar besonders gern Sportler als Opfer aussucht. Mit Sport und seinen gefahren kenne ich mich inzwischen ebenso gut aus wie mit Musikerkrankheiten – die neurosen alleinerziehender Väter sind ein weites und von der wissenschaft bislang kaum erforschtes Feld. Ob mich jemand zu einer zweiten dissertation zulässt? ich bin da immerhin experte. Oh ja, ich habe einen doktortitel. Obwohl mir das manchmal eher peinlich ist. Aber was soll man machen, davon wird der Titel ja nicht ungültig, und zurückgeben möchte ich ihn auch nicht. Mal angenommen, ich bekäme einen Job bei infineon, dann wäre alleine der Titel schon ein paar extrascheine pro Monat wert. der Titel zählt; wofür man ihn bekommen hat, interessiert keinen. Aber dazu später. Vielleicht geht ja auch alles gut und in drei, vier oder fünf Jahren sind meine Kinder so weit, dass sie für ihren eigenen und auch noch für meinen Lebensunterhalt sorgen können. dann könnte ich mich zur ruhe setzen. ich stelle mir schon den Triumph vor, wenn ich dem Finanzamt mitteile, dass ich von nun an gedenke, von den einnahmen meiner Kinder zu leben. ha! 12
hirnriss 2009
Counting flowers on the wall at don’t bother me at all Playin’ solitaire till dawn with a deck of fifty-one Smokin’ cigarettes and watchin’ Captain Kangoroo Now don’t tell me I’ve nothing to do e Statler Brothers, Flowers on the wall
null Sie haben clemens verhaftet. es kann nicht wahr sein, es darf nicht wahr sein, und dennoch ist es leider wahr. ich soll nachher auf die Polizei kommen. Zur Klärung eines Sachverhaltes. ich wollte wissen, was man ihm vorwirft, was er angeblich ausgefressen haben soll. »dazu können wir ihnen am Telefon leider keine Auskunft erteilen.« ich hasse dieses Amtsdeutsch. ich muss jetzt schnellstens zur Polizei, ihn da herausholen! was immer es sein mag – clemens ist unschuldig. das kann gar nicht anders sein. es handelt sich um ein Missverständnis, das sich sofort aufklären wird. Aber vielleicht ist das auch eine ganz hinterhältige Falle! es kann ja sein, dass es überhaupt nicht um clemens geht, sondern um mich. Kommissar Scheffler hat Sehnsucht nach mir, und weil er an mich nicht herankommt, hat er sich eben clemens gegriffen, um mich so zu zwingen, ihm in die Arme zu laufen. Aber die kriegen uns nicht! clemens nicht und mich gleich gar nicht. ich geh dann eben mal los, um meinen Sohn aus den Klauen der Justiz zu befreien.
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eins entschuldigen Sie, dass ich so hereingeplatzt bin, ohne vorher anzuklopfen. Aber die Situation war ja auch angemessen dramatisch, da ist für höfliche weitschweifigkeiten keine Zeit. weil ich aber kein anstandsloser Trampel bin, hole ich das jetzt nach. Also: Mein name ist hartmann. robert hartmann. ich gehe stramm auf die Fünfzig zu, bin freiberuflicher historiker und verwitweter Vater zweier Kinder. eines davon, sie haben es sicherlich erraten, ist männlich, wird in ein paar Monaten sechzehn Jahre alt und heißt clemens. das andere Kind heißt claudia. Sie wird in diesem Sommer achtzehn und befindet sich nach meiner derzeitigen Kenntnis nirgendwo in Polizeigewahrsam. Mir fällt im Augenblick auch kein grund ein, der eine Festnahme claudias rechtfertigen könnte. es sei denn, ein extrem unmusikalischer Zeitgenosse verklagt sie wegen ruhestörung. Sie spielt geige. dann müsste die Polizei gemeinsam mit claudia gleich noch drei weitere junge, hübsche damen festsetzen. claudia ist nämlich ein Viertel eines Streichquartettes namens Q16, das in dresden und Umgebung schon eine ganze Menge Lob und den einen oder anderen Fünfzig-euro-Schein eingeheimst hat. Ansonsten geht sie auf das gymnasium, elfte Klasse, und hat sich noch nicht entschieden, ob sie nach dem Abitur lieber Musik oder Biologie studieren will. Von den Leistungen her sollte sie beides schaffen. da ist also im Moment nichts, was sie auf die schiefe Bahn bringen könnte. Und genau das habe ich bis vor ein paar Stunden auch von meinem Sohn gedacht! da können Sie mal sehen, wie man sich in Menschen täuschen kann. Bislang war ich der festen Meinung, mit meinen beiden Kindern geradezu unverschämt viel glück gehabt zu haben. claudia, die 342
Künstlerin. clemens, die Sportskanone. er spielt Fußball bei dynamo dresden. Allerdings ist das ende schon abzusehen. So brutal das für mich als Vater auch ist – ab herbst wird clemens nicht mehr bei mir wohnen, sondern im tiefen wilden westen. in Leverkusen. dort wird er auf ein Fußballinternat gehen, sein Abi machen und nebenbei für Bayer spielen. darauf hat er seit Jahren hingearbeitet. Mit einer Beharrlichkeit, die mir manchmal unheimlich vorkam. er will Fußballprofi werden. das ist einer der gründe, warum ich, von ganz vereinzelten Ausrutschern einmal abgesehen, noch nie ernstliche Probleme mit meinen engelchen hatte. ich denke da beispielsweise an drogen. clemens hat sich einmal aus dummheit und Unerfahrenheit sinnlos betrunken. Am nächsten Tag musste er mit schwerstem Brummschädel ein Punktspiel bestreiten, seitdem ist er gründlich kuriert. claudia sagt kurz und knapp, dass drogen vielleicht manche Musiker kreativ machen – gleichzeitig machen sie aber auch launisch, und das ist für das Zusammenspiel gift. Sie scheint an diesen dingen zumindest schon einmal vorsichtig geschnuppert zu haben. wenn es damit allerdings Probleme gäbe, dann würde sie mir davon erzählen. da bin ich mir sicher. das trifft bei den beiden übrigens auch auf das andere große Minenfeld zwischen eltern und Kindern zu, die leidige Partnersuche. nach meinen nicht repräsentativen Kenntnissen suchen sich Kinder meist Partner aus, die ihren eltern nicht gefallen. die, die den eltern als ideale Schwiegersöhne oder -töchter erscheinen, halten die Kinder dann für schlicht unmöglich. nicht so bei meinen Kindern. claudia hat derzeit keinen jungen Mann in der nähe, den sie als »ihren festen Freund« bezeichnen könnte. nicht, dass sie mit ihrem Aussehen keinen Mann finden würde. Aber sie verbringt ihre Zeit nun einmal am liebsten mit Musik. Mit ihren Mitmusikerinnen und besonders mit der anderen geigerin, Sophie. das hat vor ein paar Jahren zu dem gerücht geführt, sie sei vielleicht lesbisch. Anstatt den Tratschkühen die bemalten gesichter zu zerkratzen oder ihnen wenigstens in den hintern zu treten, hat sie diesen wissenden was-wisst-ihr-denn-schon-gesichtsausdruck entwickelt, an dem prallt so etwas ab. das hat sie zwar nicht unbedingt beliebt ge343
macht, aber Beliebtheit bei Klassenkameradinnen stand auf claudias wunschliste ohnehin nie vorne. Sie wird respektiert und das genügt ihr. das einzige Zeichen von Schwäche und Unsicherheit, das sie sich leistet: Sie raucht seit etwa einem Jahr. Sehr selten, soweit ich das überblicken kann, und dann auch nur ganz normale Zigaretten. Aber es ärgert mich – und ich habe keine handhabe dagegen, weil ich nämlich selbst rauche, ungeachtet der unzählbaren Bitten meiner Kinder in den vergangenen Jahren, es doch endlich sein zu lassen. diesen gesichtsausdruck, von dem ich gesprochen habe, hat claudia übrigens auch mir gegenüber ab und an drauf. ich kann nicht sagen, dass ich das liebe. Sicherlich hat das Mädchen schon die ein oder andere erfahrung gemacht, ob mit Jungs oder doch mit Mädchen, das wage ich nicht zu entscheiden. Aber wenn daraus für sie Probleme gewachsen wären, hätte sie es mir erzählt. Und sei es nur zum Stressabbau. denn wenn sie mal wirklich druck in der Musik oder in der Schule hat, redet sie eine Stunde wie aufgezogen auf mich ein, danach ist es wieder gut. genauso läuft es auch bei clemens. der hat seit vier Jahren eine feste Freundin, Jaqueline. ich weiß nicht, was die beiden schon miteinander ausprobiert haben und will es auch nicht wissen. das einzige, was clemens möchte, ist, jede sinnlose Aufregung zu vermeiden, die ihn in seiner Konzentration auf die, seiner Meinung nach, wichtigen dinge stört. Jaqueline ist klug genug, ihm ruhe zu bieten. wahrscheinlich gehen die Probleme ab herbst mit der Trennung los, aber bis dahin gilt: Bloß keinen Stress. Falls es den doch gibt, dann wissen meine beiden, zu wem sie jederzeit kommen können. wenn Sie mich jetzt fragen, wie ich mir in diesem Punkt so sicher sein kann und ob in diesem idyllischen Familiengemälde, das ich da zeichne, nicht noch ein wichtiges Teil fehlt: Meine Frau, ich nenne sie in der erinnerung immer guinnevere oder guinn, ist vor mittlerweile elf Jahren gestorben. Seitdem sind wir zu dritt. Und das hat uns als Familie zusammenwachsen lassen. wir vertrauen einander und können über jedes Problem zu zweit oder zu dritt beraten. das tun wir aber nur, wenn die Probleme wirklich akut sind. Also mitunter monatelang gar nicht, 344
dann wieder einmal zwei wochen lang jeden Tag. Ansonsten gilt auch hier: BloĂ&#x; keinen Stress. Und dann rennt mein goldsohn los und bereitet sich selbst eine Menge davon!
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Zwei ich habe clemens aus den Fängen der Justiz befreit und ihn vorerst den Bütteln des Staates entrissen. Auch wenn ich beruflich gerade einiges um die Ohren habe, ich bin, nachdem der Anruf von der Polizei kam, stehenden Fußes dorthin, um meinen Sohn auszulösen. ich kann die Tatsache nur preisen, dass ich als Freiberufler meistens herr über meine Zeit bin. ich saß einem alten Bekannten gegenüber, genauso wie ich es mir in meinen Verschwörungstheorien zurechtfantasiert hatte: Kommissar Scheffler. der ist inzwischen mindestens zum hauptkommissar emporgestiegen. ich habe von den entsprechenden dienstgraden keine Ahnung, deshalb meine ich hier mit Kommissar lediglich seine Tätigkeit, nicht seinen rang. ich will den guten Mann schließlich nicht degradieren! ich kann nicht behaupten, dass die erinnerung an meine Begegnungen mit ihm zu den sonnigen Seiten meines Lebens zählt. in dresden waren damals mehrere Leute ermordet worden, und ich war für Scheffler einer der Verdächtigen. Selbst nachdem sich alles geklärt hatte, ließ er keinen Zweifel daran, dass für ihn die geschichte nicht abgeschlossen sei. Mein Argwohn war also nicht gänzlich aus der Luft gegriffen. damals allerdings bearbeitete Scheffler Mordfälle. was clemens genau angestellt hatte, wurde mir immer noch nicht gesagt. Aber dass mein Sohn unter die Mörder gegangen wäre, das wollte ich mir dann doch nicht vorstellen. »So viele Morde gibt es selbst in dresden nicht«, klärte Scheffler mich auf. »da muss man eben die Arbeit erledigen, die ansonsten so anfällt. So etwas wie ihr Sohn beispielsweise.« er war dünner geworden in den vergangenen Jahren, das haar spärlicher. ich nahm an, er hatte was mit dem Magen. Und mein Sohn war also angefallen! »nun, ihr Sohn hat Aufkleber auf Autos geklebt.« ich musste lachen. »deswegen wird er festgenommen? wissen Sie, wie oft ich sinnlose Karten mit werbung oder für gebrauchtwagenhändler, die mir meine Karre abschwatzen wollen, hinter 346
den Scheibenwischern oder im Fenster habe? werden die jetzt auch alle festgenommen? weil gerade nichts anderes anfällt?« »es geht um Aufkleber!« »Ach je, der Junge ist nun mal fußballverrückt. wahrscheinlich hat er dynamo-Sticker verteilt. Oder für seinen neuen Klub, Bayer Leverkusen.« »Leider, lieber herr dr. hartmann, ist das alles nicht so harmlos. die Aufkleber waren eindeutig beleidigender natur.« er langte in eine Schublade seines Schreibtisches, um mir triumphierend einen kleinen Packen wichtiger Beweisstücke zu präsentieren, in Folie eingetütet. ein kleiner Stapel Aufkleber, weiß. darauf stand mit leuchtend roter Schrift, sehr gut lesbar: »dein Auto ist peinlich!« ich lächelte. »Also, für mich ist das keine Beleidigung. Bestenfalls ein ästhetisches Urteil!« »wie ich schon sagte, so humorvoll wie Sie sehen wir es leider nicht. ihr Sohn hat sich zunächst einmal nicht wahllos Autos vorgenommen, sondern ausschließlich solche der gehobenen Klasse. Und er ist, nachdem er den Aufkleber darauf angebracht hat, noch mit einem farblosen Lack aus der Spraydose drübergegangen, damit man das nicht so einfach wieder abbekommt.« Alles, was recht ist, mein Sohn hatte schon immer einen hang zur gründlichkeit. »Kommen Sie, herr Kommissar. Jungenstreiche. geben Sie ihm eine Verwarnung oder wie immer das heute im Amtsdeutsch heißt. Pfänden Sie sein Taschengeld für den nächsten Monat, lassen Sie ihn zehn Stunden gemeinnützig arbeiten. ich verspreche, ihm ebenfalls ordentlich den Kopf zu waschen – dann wird ihm das eine Lektion sein.« »ich fürchte, damit wird er nicht davonkommen. Sie dürfen ihn jetzt natürlich mit nach hause nehmen. das mit dem Kopfwaschen schadet sicher auch nicht, aber ansonsten hoffe ich, dass Sie eine gute private haftpflichtversicherung haben. der Staatsanwalt ist entschlossen, Anklage zu erheben. wegen Sachbeschädigung und Vandalismus.« Jetzt blieb mir doch der Mund offen. Aber Scheffler gab mir die Zeit, ihn auch wieder zuzuklappen. »So«, murmelte ich. »Vandalismus. darf man erfahren, was für eine Art Auto der Staatsanwalt fährt?« 347
»ich glaube nicht, dass das in diesem Zusammenhang eine rolle spielt.« ›Und ob es das tut‹, dachte ich, allerdings nur ganz leise. wenn der meinem Sohn ans Leder will, drehe ich ihm einen Strick wegen Befangenheit! Aber Scheffler ließ mich nicht zu ende denken. »wie schon gesagt, Sie können ihren Sohn jetzt mitnehmen. er soll sich bitte zu unserer Verfügung halten. Außerdem, das ist jetzt zwar eher ein Zufall, dass ihr Sohn hier ist, herr dr. hartmann, aber es trifft sich gut – es gibt da noch eine Sache, über die ich Sie informieren möchte.« Auch du – claudia? »Sehen Sie, ihre Frau ist nun vor beinahe elf Jahren ermordet worden. die Tat ist bis heute immer noch nicht vollständig aufgeklärt. So etwas gibt es eigentlich nicht, darf es nicht geben. deshalb wollen wir jetzt ein paar von den älteren Fällen noch einmal ansehen. es wird sicher auch in ihrem interesse liegen zu erfahren, wer das damals getan hat.« »das ist so lange her, und meine Frau wird nicht wieder lebendig davon.« »dennoch: es könnte sein, dass wir Sie in den nächsten wochen noch einmal zu uns bitten und ihnen ein paar Fragen stellen.« »Sie können mich gerne alles noch einmal fragen, was ich damals schon gefragt worden bin.« »Sehen Sie, herr dr. hartmann, ich will ihnen nichts versprechen, aber es hat sich in den vergangenen Jahren einiges entwickelt, auch in der Kriminaltechnik. Methoden, an die damals noch nicht zu denken war. dnA-Analysen und all diese neuen Möglichkeiten. ich will Sie nicht mit details langweilen. dies alles steht uns jetzt zur Verfügung und das werden wir nutzen, auch in ihrem Fall.« warum wurde ich den ganzen rest des Tages das gefühl nicht los, dass die letzten Sätze schon gar nicht mehr vorrangig auf guinns Tod gemünzt waren? »Und«, fragte ich meinen goldsohn auf dem nachhauseweg, »zufrieden mit dem, was du angerichtet hast?« 348
»ganz und gar nicht zufrieden«, antwortete clemens. »die sollten mich nicht schon so früh fassen! hab’ nicht mal die hälfte von dem geschafft, was ich mir vorgenommen hatte!« »du hast nerven!« darauf antwortete er erst einmal nicht. »Aber warum das ganze?«, fragte ich weiter, als wir zuhause angekommen waren. »war das eine Mutprobe?« »haben Sie dir die Aufkleber nicht gezeigt?« »doch.« »Und?« »was und?« »hast du über das nachgedacht, was da stand?« »ich wusste nicht, dass du neuerdings was gegen Autos hast.« »nicht gegen alle! Aber, Mensch Papa, sieh sie dir doch an, diese riesenschleudern, diese Protzkisten!« »Bisher hast du es zu schätzen gewusst, wenn ich dich irgendwohin zum Spiel gefahren habe.« clemens nahm einen gesichtsausdruck an, den er sonst nur verwendet, wenn er mir begriffsstutzigem Amateur taktische Feinheiten der raumarbeit im defensiven Mittelfeld erklärt. »Schau mal, es gibt Autos. es gibt große Autos. Und es gibt sinnlos, hirnrissig große Autos. Klar ist man manchmal auf so ein ding angewiesen. das ist nicht schön, aber lässt sich nicht vermeiden. Unser Auto ist groß, damit wird ja auch eine Menge transportiert, wenn ich an claudia und ihren Fichtelverein denke. Um diese Autos geht es nicht. du brauchst auch nicht gucken, an unserem klebt kein Aufkleber. Aber auf diesen riesenkisten, die keinen anderen Sinn haben, als damit rumzuprotzen! Spritfresser, sinnlose Spritfresser mit Spoilern und hirschfängern und geländeausstattung und Allrad, zu nichts anderem genutzt, um Kindilein dreihundert Meter weit in die Schule zu fahren und dann fünfhundert Meter weiter ins Büro und am Abend das ganze wieder retour. Und wozu? Zu nichts als Protz!« claudias geigenspiel als gefichtel und ihr Streichquartett als Fichtelverein zu bezeichnen ist eines von clemens’ brüderlichen Privilegien. Jedem anderen würde claudia wahrscheinlich die nase einschlagen, als Mindeststrafe. Aus clemens’ Mund hören sich diese Begriffe außerdem geradezu zärtlich an. 349
Abgesehen davon hatte auch ich ein Problem mit etlichen der neuen Automodelle, die so auf den Straßen herumrollten – allerdings eher ein ästhetisches. ganz unabhängig von ihrer größe. Und mit zunehmendem Alter hatte ich auch Probleme mit der Fahrweise anderer. ich habe das gefühl, es gibt, unabhängig von der größe des Autos, nur drei Kategorien von Autofahrern: raser und drängler einerseits, Bremser und Bummler andererseits und mich. was die Aufkleber betrifft, hätte ich Kommissar Scheffler widersprechen sollen. Soweit ich verstanden habe, klebten die Aufkleber ja hinten am Auto! Also war der Tatbestand der Beleidigung, den der Kommissar und der Staatsanwalt konstruierten, vollkommen falsch! der betreffende Fahrer sah den Sticker beim Fahren ja gar nicht, wohl aber die, die hinter ihm fuhren oder gerade überholt worden waren. das war dann doch auch nichts anderes als: »eure Armut, eure lahme Kiste kotzt mich an!« das war sicher nicht clemens’ Absicht. Aber um diesem widerspruch aufzulösen, hätte er die Sticker eben auf die Frontscheibe kleben müssen, von innen zu lesen! »Ach, clemens! weißt du, manche Leute verdienen geld, und manche verdienen mehr geld als andere. So ein Auto ist nun einmal eine prima gelegenheit, das zu zeigen. Und sich daran zu freuen.« »genau. weil einige Leute mehr geld verdienen und das zeigen wollen. Oder weil sie zumindest so tun wollen, als ob sie mehr verdienen. genau darum hauen wir so ganz allmählich unsere welt kaputt. Jeder kauft irgendwelchen Scheiß, den er gar nicht braucht, nur um zu zeigen, dass er ihn sich leisten kann. wer sich nichts leisten kann, der ist raus aus dem rennen. egal, wie viel rohstoffe und energie damit sinnlos verballert werden. es geht mir doch gar nicht um die Autos, aber irgendwo muss man doch mal anfangen! Und wir? wir könnten uns bestimmt auch so eine Müllkiste leisten. Aber du kaufst keine!« wo mein Sohn recht hat, da hat er recht. ich könnte mir so eine Müllkiste leisten. Und ich tue es nicht, aus gründen, die clemens noch nicht kennt. Mir war es immer wichtig, nicht für wohlhabend gehalten zu werden. 350
das sind wir zwar, aber das geht nur mich und meine Kinder etwas an. So leicht hinnehmen wollte ich clemens’ neu erwachtes Umweltengagement aber auch nicht. »hast du dir schon mal angesehen, mit was Fußballprofis im normalfall so durch die gegend fahren? Und wahrscheinlich auch in Leverkusen?« »das weiß ich.« »Und?« »die wollen mich haben. Sie haben sich lange mit mir unterhalten. Also wissen sie, was ich für ein Typ bin. ich habe meinen eigenen Kopf, das wissen sie, und trotzdem wollen sie mich haben.« »das kann sich ganz schnell ändern, wenn du deinen neuen Kollegen auch so einen Aufkleber auf ihr Schmuckstück pappst.« »das werde ich schon nicht machen. Ansonsten – es genügt, wenn auf dem Platz alle das gleiche Trikot anhaben. es müssen nicht auch noch alle das gleiche im Kopf haben.« »deinen Optimismus möchte ich haben … So, und wie soll es nun weitergehen?« »ich werde da schon irgendwie rauskommen. Versteh mich bitte, die geschichte war mir wichtig. es hat sogar Spaß gemacht. Aber es kann sein, dass wir jetzt was zahlen müssen. das ist etwas, worum ich dich bitten möchte. ich nehme an, das Zahlen, das kommt erst einmal auf dich zu, über die Versicherung und die heben dann deine Beiträge an und so weiter. du sollst das bitte alles ganz genau aufschreiben. ich zahle das nach und nach ab von dem geld, was ich in Leverkusen bekommen werde. Bis auf den letzten cent, das ist versprochen! ich habe das eingerührt, also will ich auch dafür geradestehen. Auch wenn es mich im Moment finanziell wohl überfordern würde. ich werde das abarbeiten.« ich wüsste da ein paar Möglichkeiten, wie clemens es abarbeiten könnte. Aber ich halte nach Möglichkeit Job und Familie fein säuberlich auseinander. ich habe meine gründe dafür.
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Drei Ach ja, arbeiten. irgendwie läuft es ja immer auf dieses leidige ema hinaus. da mir nach dem Tod meiner Frau keine reiche witwe über den weg gelaufen ist, die ich hätte heiraten können, bin ich irgendwann auf das weite Feld der dienstleistungen marschiert, um mir ein paar claims abzustecken. es würde zu weit führen, alles aufzuzählen, was ich so getrieben habe. eine meiner letzten ideen, wider erwarten sogar recht einträglich, bestand darin, einigen nicht so ganz armen dresdnern die Salons ihrer edel sanierten oder neu gebauten Villen am Stadtrand oder mit elbblick mit einer wohlsortierten und repräsentativen Bibliothek auszustatten. dazu sind diese Leute vor lauter Arbeit nicht selbst gekommen. Klingt verrückt, hat aber tatsächlich eine weile funktioniert. ich konnte dem Finanzamt mehrfach Summen melden, die man als historiker sonst nur schwer erwirtschaftet. was hat sich das Finanzamt gefreut für mich! Und kassiert! Vor zwei Jahren war das, und es lief ein knappes Jahr lang richtig gut. ich konnte sogar was für schlechte Zeiten zur Seite legen. Allerdings hatte ich damals noch nicht an die ersten Anflüge von ökoterrorismus bei meinem Sohn gedacht. Vor einem Jahr flaute es dann allerdings wieder merklich ab. inzwischen gab es ein, zwei Trittbrettfahrer auf diesem gebiet, und insgesamt legte der Aufschwung Ost in dresden erst einmal eine Verschnaufpause ein. nebenher hatte ich noch einen Vertrag bei den Staatlichen Kunstsammlungen in dresden. Aber das war ein befristeter werksvertrag, der eines nicht so schönen Tages nicht mehr verlängert wurde. ich hatte mich aufgrund der Bibliotheksgeschichte weniger in meine Arbeit verbissen als man sich von mir erhofft hatte. Meine eigene Schuld und schade obendrein. diese Arbeit hatte in mein Leben so etwas Stetiges, beruhigend Solides gebracht. 352
Aber, wie gesagt, wenn man ordentlich was beiseitegelegt hat, dann kann man solche Phasen nutzen, um Pläne für die Zukunft zu schmieden. ganz schwäbische hausfrau eben. ich will nicht prahlen, aber derzeit geht es mir finanziell so gut wie nie zuvor. es gab Zeiten, da war es hart, die Kinder nicht spüren zu lassen, dass man jeden cent dreimal umdrehen musste. Fragen Sie doch als Selbstständiger mit sehr unregelmäßigen geldeingängen bei ihrer Bank mal nach einem dispokredit! dank dieser Zeiten weiß ich mein jetziges glück erst recht zu schätzen. dann kam der vergangene winter, und der war richtig hässlich. erst wollte er nicht kommen, dann wollte er nicht wieder gehen. nun macht es mir zwar einen riesenspaß, mit dem Zug nach Altenberg hochzufahren, um ein paar runden Langlauf zu drehen – aber doch nicht mehr als drei Monate lang! Bei aller landschaftlichen Schönheit – in Skandinavien wäre ich am denkbar falschesten Ort geboren. ich brauche ab und an eine ordentliche dosis Sonne und wärme. wenn dann auch noch ein kleines Meer in der nähe ist, um so besser. nun hatte ich aber im vergangenen winter noch ein paar restbestände der Bibliotheken zu bestücken. die Kinder hatten Schule, und in den winterferien waren Trainingslager und Auftritte. ich konnte nicht, wie ich das am liebsten gemacht hätte, mit meinen Kindern in ein Flugzeug steigen und für vierzehn Tage auf die Seychellen düsen. Allein hätte ich fliegen können. wahrscheinlich wären die Kinder sogar ganz froh gewesen, mich für ein paar Tage los zu sein. Aber ohne meine Kinder hatte ich keine Lust dazu. Also habe ich mehrmals die billigste Trostvariante gewählt: ich bin mit dem Auto zum dresdner Flughafen hinausgefahren, habe mich hingesetzt, einen cappuccino getrunken und mich so gefühlt, als würde ich gleich einchecken und dresden in der Kälte allein lassen. der dresdner Flughafen, insbesondere im winter, eignet sich für solche Träumereien gut, weil man da weitgehend ungestört 353
ist. er dürfte wohl der weltweit ruhigste Flughafen dieser größe sein. ein riesiges licht- und luftdurchflutetes gebäude, durch das ein paar winzige, versprengte Menschlein laufen, nichts, was einem die ruhe verderben könnte. wenn dann noch Meeresrauschen eingespielt würde, könnte man sich auf jede schöne insel träumen. ich sollte frühmorgens jetzt immer genau in den Spiegel gukken. es könnte ja sein, dass mir clemens wegen meiner ökologisch verantwortungslosen Flugträume über nacht einen Aufkleber auf die Stirn gepappt hat. deine Lebensweise ist peinlich! Als ich nach einer dieser Traumstunden wieder aus dem sündhaft teuren Parkhaus rollte, hörte ich im Verkehrsfunk, die Königsbrücker Straße sei gesperrt. wegen einer demonstration. nun hätte ich ohne Mühe auch über die Autobahn zurück in die Stadt fahren können – aber: hallo? es gab eine demo! in dresden! das wollte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen. ich fuhr nach Klotzsche, stellte mein Auto ab und lief hinunter in richtung Königsbrücker. Tatsächlich: Schon an der ersten großen Kreuzung kam von links, vom gelände eines der dresdner chiphersteller, ein demonstrationszug auf die hauptstraße marschiert, der ein paar hundert Meter weiter unten, an der zweiten Ausfahrt aus dem Betriebsgelände, noch verdoppelt wurde. es war eine schlichte Selbstverständlichkeit, dass ich mich ohne Fragen in den demonstrationszug einreihte. Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker, das hatte ich mit der Muttermilch eingesogen, und ich fing eben mit dem werktätigen Teil meines eigenen Volkes an. es gibt drei große chiphersteller im norden von dresden. da weltweit in dieser Branche zu viele Anbieter auf dem Markt waren, musste über kurz oder lang einer davon ins gras beißen, und folgerichtig stand nun einer von den dresdnern vor der Pleite. wenn die käme, dann wären mit einem Schlag dreitausend Arbeitsplätze weg. darunter sicher auch der ein oder andere gut dotierte Posten im Vorstand – also potentielle Auftraggeber für mich. ich hatte also durchaus einen grund, mitzumachen. 354
Außerdem: hey, das war immerhin für mich die erste demo seit dem herbst ‘89. damals war ich noch in Leipzig, und es waren wundervolle, gefährliche, verrückte und aufregende Zeiten. Zeiten, in denen man ein halbes Jahr lang glauben konnte, mit einem Mal sei alles denkbare möglich und erlaubt, politisch ebenso wie privat. Zeiten, in denen ich guinn kennenlernte. ich fühlte mich glatt zwanzig Jahre jünger. die Kinder würden sich auch allein was zum Abendessen machen können. damals waren sie noch nicht einmal geboren. Vielleicht sollte ich sie mit dem handy hierher bestellen, damit sie mal sahen, was ihr Vater in seiner Jugend so erlebt hatte! Trotzig wurden Transparente getragen, herrliche demonstrationsmetaphorik. die Politiker hatten die chipfabriken im dresdner norden als Silicon Saxony bezeichnet, als Leuchttürme, die weit in die region hinausstrahlten. nun war auf vielen dieser Plakate ein Leuchtturm ausgefallen, und dramatisch zerschellten Schiffe an bitterbösen Felsen zu seinen Füßen. ich hatte immer gedacht, dass es gerade am Fuß eines Leuchtturms ohnehin immer zappenduster ist. Aber man sollte beim ersten Mal nicht gleich zu viel verlangen. Mit ein bisschen Übung würde da sicher noch Schwung reinkommen. Abgesehen von den Plakaten herrschte eine Stimmung, die man mit viel gutem willen durchaus als in Ansätzen kämpferisch bezeichnen konnte. na schön, um das System in die Knie zu zwingen, würde noch etwas Training vonnöten sein, dazu sah das ganze denn doch ein wenig zu brav aus. Aber ‘89 hatten wir auch anfangs noch brav geguckt. das war jedoch alles nur Tarnung! es war durchaus möglich, dass in diesem demonstrationszug der Keim einer künftigen revolutionären Massenbewegung lag. nur würden die führenden genossen dann auch die Bündnisfrage couragierter angehen müssen. es fehlten eine Menge Leute, die dabei sein sollten. es waren nahezu ausschließlich Mitarbeiter der Firma, die hier demonstrierten, und die, wenn die Firma pleiteging, ihren Job verlieren würden. Aber das waren alles hochqualifizierte Leute, die würden über kurz oder lang etwas neues finden. wenn auch nicht unbedingt in dresden und zu den Bedingungen, die sie dort hatten. Aber die gesamte dresdner neustadt fehlte. das war nach der wende ein heruntergekommener Stadtteil, dessen Bausub355
stanz aus der gründerzeit sowohl den Krieg als auch die ddr überlebt hatte, wenn auch sehr bröcklig und mit Außenklo. hier fingen die ersten jungen Leute an, alternative Kneipen und galerien in besetzten häusern einzurichten. die gegend wurde zum geheimtipp. Man konnte feiern ohne ende. es wurden immer neue gaststätten aufgemacht, und plötzlich galt dieses Viertel als angesagt. Künstler zogen hierher und immer mehr junge Leute, die gut verdienten. nicht zuletzt aus den chipfabriken im norden. die kaputtesten häuser wurden abgerissen. dort entstanden dann neue mit nicht mehr so billigen Mieten. wer in einem Szeneviertel leben möchte, der muss eben tiefer in die Tasche greifen. Trotzdem gab es immer noch dieses manchmal chaotische nebeneinander von kreativen habenichtsen und gutverdienender urbaner Bohème. diese vielen, kleinen Boutiquen und galerien und Kneipen rund um den erdball. Ausgestattet mit einem anderen, anspruchsvolleren und, zugegeben, auch teureren Angebot als die üblichen Supermärkte. die schließlich davon lebten, dass bei den chipbuden ordentlich verdient wurde und die Leute, die dort arbeiteten, ihr geld auch gern wieder ausgaben. Jedoch von all diesen Läden und galerien und gaststätten waren keine Kampfesgenossen zu sehen. es war komplett vergessen worden, dieses revolutionäre Potential einzubinden. Keiner da. nur ich! ich habe die ehre der dresdner dienstleistenden gerettet. Leider hatte ich kein entsprechendes Transparent dabei, damit ich dies später auf den revolutionsvideos auch würde beweisen können. die demonstration führte talwärts in richtung innenstadt, um dann an der Tannenstraße unvermittelt nach links abzubiegen und auf einem schlammigen Acker zu enden. ein paar Autos standen da. Transporter mit runtergelassenen Seitenwänden, auf welchen eine improvisierte Bühne aufgebaut war, wo Politiker, gewerkschafter und Betriebsangehörige kämpferisch und vor allem heiser in die jämmerlich schlechte Tonanlage hineindeklamierten. »Und jetzt?« fragte ich meinen nachbarn. 356
»Jetzt geht’s nach hause!« »Aber – das kann es doch nicht schon gewesen sein!« »was soll denn jetzt noch kommen?« »ich meine – dass wir demonstriert haben. das hat da unten in der Stadt doch kein Aas mitbekommen!« »was soll’s? wir haben keine genehmigung bekommen, mit der demo in die Stadt zu gehen.« Keine genehmigung! das traf mich wie ein Stein. ich lief zur Straßenbahn und holte mein Auto ab. ich mag zwar nach zwanzig Jahren ein wenig aus der Übung sein. Vielleicht verklärt die erinnerung auch so manches, aber in dem Punkt war ich mir sicher: So kann man doch keine demo machen. das musste doch auch anders gehen. Professioneller!
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»Eine haarsträubende Geschichte, die ebenso vergnüglich wie subtil, ebenso Krimi wie Persiflage ist. Ullmanns Buch ist eine wunderbare Satire.« dpa Deutsche Presse-Agentur
18.90 EUR [D] ISBN 978-3-940884-37-4
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