S N E T R E PETER M
WIE E I S N E N N KÖ ? N E G ES W A EURO, DER ER D D N U E S I R G K U Z E B U DI A R GROSSE
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Peter Mertens
Wie können sie es Wagen?
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Der Euro, die Krise und der große Raubzug
Verlag andré iele
alle Rechte am deutschen Text vorbehalten. aus dem niederländischen von sabine Carolin Richter. © für die Originalausgabe: ePO Uitgeverij, »Hoe durven ze? De euro, de crisis en de grote hold-up«, Berchem-antwerpen, 2011, 2013, © Peter Mertens en ePO Uitgeverij all rights reserved. Original Dutch edition published by ePO Uitgeverij, Berchemantwerpen, Belgium. is german edition is published by arrangement with ePO Uitgeverij, Belgium. © für die deutsche ausgabe: VaT Verlag andré iele, Mainz 2013 Lektorat: Diethelm Hofstra, Lohmar Umschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburg satz: Felix Bartels, Osaka Druck und Bindung: anROP Ltd., Jerusalem Printed in israel. www.vat-mainz.de isbn 978-3-95518-003-4
inhalt Einleitung
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teil 1. belgien 1. Null Komma null null null null null fünf (und weitere Steuern) 2. Die Millionärssteuer ist zur Notwendigkeit geworden 3. In Würde alt werden 4. Hanswurste an der Spitze des Bankensektors
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teil 2. europa im morast 1. Niedriglohnland Deutschland 2. In Griechenland prallen zwei Welten aufeinander 3. Die »Men in Black« richten sich in Riga, Dublin und Lissabon ein 4. Das Europa des Wettbewerbs und der Ungleichheiten 5. Der stille Staatsstreich von BusinessEurope
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teil 3. ideologen eines vergangenen jahrhunderts 1. Die Kardinaltugenden Gier und Selbstsucht (nach Ayn Rand) 2. Die Scharlatanerie des Dr. Dalrymple 3. Edmund Burke und die Freiheit des ständigen Ja-Sagens teil 4. die krise und die rückkehr des nationalismus
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teil 5. nicht weniger, sondern mehr gesellschaftsdebatten 1. System Error – Die kapitalistische Wirtschaft gerät ins Stocken 2. Eine tiefe Gesellschaftskrise 3. Sozialismus 2.0 – nach Maß von Mensch und Natur Quellen
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einleitung Für meinen Vater, verstorben am 5. Mai 2010, ein Mann aus einem guss.
sommer- und Herbsttage sind während der entstehung dieses Buches verstrichen. ich habe geflucht und gelacht und zugleich viel zu viele Menschen mit hinein in den launischen Rhythmus des schreibens gezogen. Meine kinder, meine Partnerin, meine Mutter – sie alle haben endlose geduld bewiesen und mich mit großer Hingabe unterstützt. Danke armin, karim, nadine und Mama. Hugo Franssen hat das Buch zum erklingen gebracht. so wie früher ein Fotograf die Bilder ruhig und professionell in den Wässerungsschalen seiner Dunkelkammer entwickelte, hat Hugo sämtliche Texte in das Bad der sprache getaucht, wobei ihn ann, karim, kris und John gewissenhaft und konstruktiv unterstützten – ebenso wie Verleger Jos Hennes, der das Buch von Beginn an schulterte und vertrauensvoll für stets angenehme Bewegungsfreiheit sorgte. Marco Van Hees half mir durch den Dschungel der Finanzen, Danny Carleer führte mich durch die katakomben der Banken, Jo Cottenier begleitete mich von der Welt der Renten bis hin zu den Regelsetzungen der europäischen kommission, Fotoula ioannidis vermittelte mir einblicke in das aufsässige griechenland, Ruben Ramboer brachte mich bis ins Hinterzimmer von Dalrymples kabinett, Herwig Lerouge führte mich souverän von Burke bis zum sozialismus, Henri Houben durchknetete mich mit wirtschaftlichem Wissen und David Pestieau sorgte dafür, dass ich während dieser ganzen wunderlichen Reise nicht die Orientierung verlor. 7
Einleitung
ich habe dieses Buch nur schreiben können, weil andere Menschen mir die Chance dazu einräumten: Parteigenossen, die in diesen turbulenten Zeiten in aller stille bestimmte aufgaben übernahmen. neben vielen anderen denke ich dabei an Lydie neufcourt und Jo Cottenier, aber auch an David, Raoul, Jef und Boudewijn – und nicht zuletzt natürlich an alle Mitglieder, die mir nahe sind, die mit mir sprechen und die nicht nur unsere Partei, sondern auch mich selbst zu dem formen, was wir sind und was wir darstellen. Zu guter Letzt will ich es nicht versäumen, die kleine Lotus schrijvers ganz fest in die arme zu schließen. sechs Jahre ist sie alt, die lebhafte Tochter meiner besten Freunde aus dem kempener Land. als sie erfuhr, dass ich ein Buch zu schreiben begonnen hatte, machte sie mir ein fantastisches geschenk: mehrere zu einem wahren kunstwerk zusammengeheftete Din-a4-seiten mit eigenhändig von ihr gezeichneten sternen und Tieren – ein persönliches Buch darüber, dass es erlaubt ist zu träumen. Lächelnd überreichte sie es mir an einem warmen Tag im Juli mit den bedeutungsschweren Worten: »also, dieses Buch hier, das ist für dich! Damit du weißt, wie man so was macht.« in den folgenden mit schreibarbeiten angefüllten vier Monaten schöpfte ich kraft aus jenem breiten Lächeln des kleinen Mädchens Lotus, ganz besonders zu der Zeit, als der Herbst den sommer zu überflügeln begann. Ja, »’ne zanger is een groep« sang Wannes Van de Velde, »ein sänger ist eine gruppe«. inzwischen weiß ich, dass auch hinter einem Buch eine ganze gruppe von Menschen steht. Borgerhout, 11. november 2011
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teil 2 europa im morast 1. Niedriglohnland Deutschland Ohne Würde ist man kein Mensch. ich sehe zu viele Landsleute, die ihre Würde verloren haben. sie leisten schwere arbeit oder sehr nützliche arbeit, doch sie finden dafür keine anerkennung. Man gibt ihnen das gefühl, nicht mehr dazuzugehören. Dies gilt nicht nur für arbeiter, die schmutzige arbeit in Fabriken verrichten, sondern auch für erzieher in kindergärten. noch nie hatten so viele Deutsche psychische Probleme. es werden schon stimmen laut, sie wegzustecken in spezielle kliniken. ein Vater, der bloß sechs euro pro stunde verdient, kann nicht einmal mit sohn oder Tochter in die Ferien fahren. Welches Bild bekommt ein solches kind von seinen eltern? günter Wallraff
Dienstag, 31. Mai 2011. es regnet in Houthalen-Helchteren. Draußen sind es 14 grad, viel zu kalt für die Jahreszeit. im Restaurant De Barrier auf der grote Baan schieben bei einem geschäftsessen für rund 100 euro 160 Unternehmer die Beine unter den Tisch. ein gemeinsames Mittagessen mit Flanderns neuem gott: Bart De Wever. »Mit einer flämischen Front sollte es möglich sein, Reformen nach deutschem Modell durchzudrücken«, sagt De Wever. Die Unternehmer im Restaurant nicken zustimmend. Und der Redner ruft kampflustig in die Runde: »Die sozialen Reformen in Deutschland waren hart, doch sie werfen Früchte ab. Das muss auch hier bei uns passieren: einsparungen und strukturelle Reformen! Die Französischsprachigen wol71
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len das nicht – aus angst vor einem sozialen Blutbad. also müssen wir eine flämische Front bilden! Zusammen mit den Parteien, die sich uns mit eifer und Begeisterung anschließen wollen!«1 Bart De Wever als Herold für das deutsche Wirtschaftswunder. ausfahrt krise? auffahrt Deutschland! Der neue Hype für alle freien Märkte. »Das Vorbild liegt im Osten, im nahen Osten, genauer gesagt: in Deutschland«, posaunt die schlagzeile des standaard. Und darunter steht: »es ist ein bisschen wie Fußball: ein einfaches spiel, elf gegen elf … und am ende gewinnen die Deutschen. kann Belgien daraus etwas lernen?«2 Testgelände für Lohn- und Sozialdumping: die Ossis am 14. september 2010 strahlte das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) eine Reportage über wirtschaftliche aspekte der Wiedervereinigung Deutschlands aus: Beutezug Ost. Die Treuhand und die Abwicklung der DDR. gespannt auf der Vorderkante meines sessels kauernd, verfolgte ich die Dokumentation, die ein wesentlich differenzierteres Bild der Wirtschaft der vormaligen DDR präsentierte als bloß graue, verfallene Fabriken. natürlich wurden auch alte industriebetriebe gezeigt, wie wir sie von Bildern her kannten, doch da war auch eine moderne industrie, von der wir überhaupt nichts wussten. Und da waren die ostdeutschen staatsbanken, die im Zuge der annexion von 1990 weit unter Wert von westdeutschen Privatbanken aufgekauft wurden. Fünf Jahre später stellte der Bundesrechnungshof der vereinten Republik fest, dass jene Bankenprivatisierung den wirtschaftlichen aufbauprozess in den neuen Bundesländern »wesentlich beeinträchtigte«. Die ZDF-Reportage enthüllte die Bilanz der konkursverwaltungsgesellschaft, die den namen »Treuhand« trug: dem Wortsinn zufolge jemand, der ein eigentum getreu dem 72
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nutzen eines eigentümers verwaltet. es wurde jedoch nicht »verwaltet«, sondern es wurde »marodiert«. es war ein Beutezug. »Die DDR war überhaupt nicht wirtschaftlich bankrott. erst mit der einführung der D-Mark zu einem vollkommen irrealen Wechselkurs gingen wir bankrott«, sagt edgard Most, ehemaliger Top-Bankier bei der ostdeutschen staatsbank, der dann zur Deutschen Bank wechselte. als die Treuhand ihre aktivitäten 1994 beendete, waren Tausende öffentliche Unternehmen in private Hände verkauft – und zwar nahezu alle weit unter Wert. als die Maßnahmen 1990 aufgenommen wurden, arbeiteten vier Millionen Menschen in 12.000 Betrieben unter Treuhand-kontrolle. nach nur vier Jahren arbeit »unseres« andré Leysen, führendes Mitglied im Präsidium des Verwaltungsrats der Treuhandanstalt, waren von jenen vier Millionen Menschen nur noch anderthalb Millionen in arbeit. in diesen Zeiten eines politisch korrekten rechten Denkens darf ich so etwas eigentlich gar nicht schreiben. Über mafiöse Praktiken bei der annexion der DDR zu sprechen, das gehört sich einfach nicht. Doch die Wiedervereinigung Deutschlands und die einführung einer neuen deutschen Wirtschafts- und Währungsunion zum 1. Juli 1990 kennzeichnen nun einmal den Beginn eines Hauens und stechens nach unten. im Osten gingen dabei ungefähr 6 Millionen arbeitsplätze verloren. Bankier edgard Most kommentiert dazu: »schauen sie doch auf görlitz. Oder auf Bautzen. Wunderschöne städtchen und prachtvoll restauriert. aber es sind potemkinsche Dörfer, leere Hülsen. Millionen Menschen sind in den vergangenen Jahren weggezogen. in diesem ausmaß hat man das nirgendwo sonst in der industrialisierten Welt erlebt. Und das kann sich auch kein Land leisten.«3 Ostdeutschland wurde zum Testgelände für Lohndumping, die Verringerung sozialer errungenschaften, die Umschiffung tarifvertraglicher Regelungen und die erprobung 73
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neuer sozialverhältnisse. im Osten war alles erlaubt und was nicht funktionierte, wurde einfach den strukturen der Vergangenheit angelastet. Die Offensive wurde von einer schrillen Mediensymphonie über faule und verwöhnte Ossis begleitet, die es nicht gewohnt seien zu arbeiten. Dieselben Disharmonien klingen nun zwanzig Jahre später wieder durchs Land, diesmal mit Texten gegen die faulen und korrupten griechen. Das Testgelände im Osten stach Unternehmern in ganz Deutschland ins auge. 1993 befand Volkswagen, dass man 30.000 arbeiter zu viel beschäftigte. Da es eine sehr teure angelegenheit ist, derart viele Menschen auf die straße zu setzen, dokterte der Personaldirektor Peter Hartz eine Lösung zusammen: arbeitszeitreduzierung mit Lohnverlust. Volkswagens autobauer mussten auf fast ein Fünftel des gehalts verzichten, genau gesagt auf 17,9 Prozent. Volkswagens großer Boss, der steinreiche Herr Ferdinand Piëch, verzichtete hingegen auf nichts. als enkel von Ferdinand Porsche, des gründers von Volkswagen, erbte Piëch die Firma. an der aktion seines Personalchefs von 1993 verdiente er das sümmchen von einer Milliarde euro. Und doch verloren letztendlich 32.000 VW-arbeiter den arbeitsplatz. Damit begann eine umfassende attacke der deutschen arbeitgeber auf die arbeitsverhältnisse. ab 1996 lautete ihre zentrale Parole »einfrieren der Löhne«. Wenig später wurde die attacke auch auf politischer seite geritten. ihres kanzlers Helmut kohl gehörig überdrüssig, wählten die deutschen Wähler im Jahre 1998 die sozialdemokraten an die Macht. gerhard schröders rot-grüne koalition wünschte einen arbeitsmarkt mit weniger Regulierungen und weniger Vorschriften. also Deregulierungen. so sollte es beispielsweise einfacher – sprich: billiger – werden, Menschen auf die straße zu setzen. außerdem befand die neue koalition, dass die Lohnkosten herabgesetzt werden müssten. Überall wurde 74
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über zu hohe arbeitskosten gesprochen: es müsse etwas mit den Beiträgen geschehen, die die arbeitgeber als Teil der Löhne an die kassen für soziale sicherheiten abzuführen haben. Derartige Beiträge seien zu senken. Doch in diesem Punkt blieben die gewerkschaften standhaft, und die Verhandlungen scheiterten. Doch damit war der kuchen längst nicht gegessen. Rotgrün war fest entschlossen, den deutschen arbeitsmarkt gründlich zu reformieren. Der »Genosse der Bosse« und sein Dritter Weg kurz vor der Jahrhundertwende, bevor sich ein vorangegangenes Millenium im mythischen Jahr 2000 auflöst, sprudelt ein wahrhaft trunkenes empfinden von new age durchs Land: ein neuer Frühling, eine neue Zeit! Modernität! auch die sozialdemokraten tauchen in den Zeitgeist ein. Für sie folgt nun: die neue Mitte. Der Dritte Weg. Die Mitte zwischen was? Zwischen Liberalismus und sozialismus, so sehen sie es. gerhard schröder gibt sich enthusiastisch und hält seine Begeisterung für diesen neuen kurs gemeinsam mit dem anderen Modernisten der sozialdemokratie, Tony Blair von der anderen seite des Ärmelkanals, auf Papier fest. ihr Manifest trägt den deutschen Titel: Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten und erscheint im Juni des Jahres 1999. im ersten satz des Manifests geht es nicht um ein gespenst, das in europa umgeht, sondern er lautet: »in fast allen Ländern der europäischen Union regieren sozialdemokraten.« Und weiter heißt es im Text: »Die sozialdemokratie hat neue Zustimmung gefunden – aber nur, weil sie glaubwürdig begonnen hat, auf der Basis ihrer alten Werte ihre Zukunftsentwürfe zu erneuern und ihre konzepte zu modernisieren.« Die sozialdemokratie will sich modernisieren und glaubwürdig sein! Modern für wen? glaubwürdig für wen? ak75
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zeptiert von wem? Das sind Fragen, die sich nicht mehr stellen. Vor der aktion »glaubwürdige Modernisierung« richtet gerhard schröder einen appell an seine Freunde. nicht an diejenigen aus der gewerkschaft. auch nicht an diejenigen aus akademischen kreisen. Und auch nicht an diejenigen aus der progressiven oder demokratischen Welt. nein, an diejenigen aus der Welt der Unternehmer. er spricht seinen persönlichen Freund Peter Hartz an, den wir bereits als famosen Personaldirektor bei Volkswagen kennen. Manche kennen ihn besser als Organisator von amüsementreisen bei Volkswagen, Callgirls inbegriffen. am Vorabend der neuwahlen des Jahres 2002 bittet schröder seinen Freund Hartz, eine kommission zur Reform des arbeitsmarkts auf die Beine zu stellen. Und Hartz macht sich an die arbeit und entwirft mit seiner kommission die folgenden schlachtpläne: erleichterte entlassungen, senkung der sozialversicherungsbeiträge im niedriglohnsektor, zeitliche kürzungen des Bezugs von arbeitslosengeld, Verpflichtung von arbeitslosen zur annahme jedes Jobs in ganz Deutschland, Förderung von Zeitarbeit … Diese ganze Modernisierung platzierte eine Bombe unter das konzept »arbeit haben«. es verschob sich vom »arbeitsplatz« zum »Job«. keine festen Verträge mehr. keine festen arbeitszeiten mehr. keine ausreichenden Löhne mehr, um einigermaßen zurechtzukommen. schon bald trägt schröder den spitznamen: »genosse der Bosse«. Damit bringt der Volksmund klar zum ausdruck, für wen diese moderne sozialdemokratie glaubwürdig und akzeptabel herüberkommt. »Die Menschen werden vorsätzlich falsch informiert« Was Hartz und schröder aushecken, geschieht keinesfalls im Verborgenen, sondern wird ganz im gegenteil zum aus76
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hängeschild gemacht – auch von der zweiten rot-grünen koalition, die Mitte Oktober 2002 nach zweiwöchigen Verhandlungen in den sattel steigt. »Rot-grün hat immer klar und deutlich gesagt, dass es ihr Ziel ist, den niedriglohnsektor auszuweiten«, erinnert gewerkschaftsführer Detlef Hensche.4 Die rot-grüne Politik führt geradewegs hin zum absoluten Lohnwettbewerb, inklusive Lohndumping. Die deutschen grünen äußern diesbezüglich keine Bedenken, sondern sind bereit, die drakonischen einschnitte im Tausch gegen Zusagen für die ökologische Modernisierung des Landes sowie drei Ministerposten mitzutragen. es ist die geburtsstunde des rot-grünen Marktdenkens. Die deutschen sozialdemokraten und grünen werden die Hartz-gesetze bis zum bitteren ende leidenschaftlich verteidigen. Die Regierung des kanzlers schröder nimmt nahezu alle Vorschläge der Hartz-kommission in das Dokument mit dem Titel Agenda 2010 auf. Die agenda wurde am 14. März 2003 in Umlauf gebracht. »in Zukunft wird es niemandem mehr gestattet sein, ohne gegenleistung vom geldbeutel der allgemeinheit zu zehren«, sagt schröder im Deutschen Bundestag. Zwischen diesem auftritt und dem 1. Januar 2005 verabschiedet Rot-grün vier Reformpakete: Hartz i bis Hartz iv. Das konzept der Zeitarbeit wird verwässert, sodass der grundsatz von gleichem Lohn für gleiche arbeit entfällt. es gibt nun Minijobs, für die weniger als 400 euro pro Monat gezahlt werden, und nach einem Jahr der arbeitslosigkeit wird man hinab auf das niveau der sozialhilfe gestuft. aufgrund derart fragwürdiger Löhne können deutsche Firmen ihre Produkte zu niedrigen Preisen im ausland verkaufen und dadurch zugleich höhere Marktanteile als die konkurrenz erwerben. Die entrüstung über diesen gang der Dinge steigt, doch auch die angst nimmt zu. Wer arbeitet, mag sich gern glücklich schätzen, dass er überhaupt noch einen Job hat, und 77
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hält den Mund. Draußen kratzen viel zu viele Leute an der Tür, die auch für weniger geld und mit schlechterem Vertrag ohne zu zögern nachrücken würden. im august 2004 äußert sich dazu der grüne Minister Joschka Fischer im Tagesspiegel: »ich nehme diese angst der Menschen äußerst ernst, aber wir können ihre sorgen entkräften. Hartz iv wird zu keiner massenweisen Verarmung führen. nein, ganz im gegenteil. Hartz iv wird unter Beibehaltung einer sozialen Basisversicherung künftig mehr Chancen für den Zugang zum arbeitsmarkt erschließen.« Fischer zufolge sind die Menschen besorgt, weil sie »zielgerichtet falsch informiert und so zum Zweifeln gebracht werden.« Und zwar durch Leute, die »einfach nur Billigpolitik oder andere Profitmöglichkeiten vor augen haben.«5 Damit zielt der Minister auf gewerkschaftskreise und auf die linke PDs ab. Michael sommer, Chef des Deutschen gewerkschaftsbundes DgB, spricht beispielsweise von »sozialer Deklassifizierung von Menschen« durch Hartz iv. »Für Hunderttausende ein Verarmungsprogramm!« Hartz IV Offiziell heißt Hartz iv: »Das vierte gesetz über moderne Dienstleistungen am arbeitsmarkt«. Wenn es modern wäre, dann könnte man das so stehen lassen, aber es handelt sich schlichtweg um unverschämte Maßregelungen. nach einem Jahr ohne arbeit erlischt das Recht auf arbeitslosengeld (für Menschen über 55 Jahre sind anderthalb Jahre angesetzt). Danach fällt man zurück auf eine Beihilfe mit dem namen arbeitslosengeld ii. Deutsche abkürzung: aLg ii. Die Höhe des Regelbedarfs beträgt heute 382 euro pro Monat für eine alleinstehende erwachsene Person oder einen Familienvorstand mit einer Zulage für kinder zwischen – je nach Lebensalter – 224 und 289 euro. Wer kein eigenes Haus hat, erhält zusätzlich einen festen Betrag für Miete und Heizkosten. Zumindest wenn er älter als 25 ist, denn 78
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bis 25 ist man verpflichtet, bei den eltern zu wohnen. ein eigenes apartment für einen jungen arbeitssuchenden gilt offensichtlich als übertriebener Luxus. Die oben genannten 382 euro müssen ausreichen, um alle kosten für Lebensmittel, kleidung, gesundheit, Transport, Möbel, kommunikation und – so gott will – entspannung abzudecken. Doch bevor man aLg ii beantragen kann, muss man zunächst alle seine ersparnisse durchbringen. Mit ersparnissen keine Unterstützung. Man darf keinen Partner mit einkommen haben, und auch kein anderes Familienmitglied darf etwas verdienen. so etwas wird alles verrechnet. aus diesem grund geraten heutzutage wieder viele Frauen in vollumfängliche wirtschaftliche abhängigkeit von ihrem Partner. Rot-grüne Modernität eben! alle Menschen mit wenig spargeld oder einem gewissen Familienanschluss fallen nun unter die kategorie der »nichthilfsbedürftigen« und verschwinden somit aus der arbeitslosenstatistik. Unterdessen schnüffelt die Bundesagentur für arbeit in aufdringlichster Weise in der Privatsphäre von Leistungsempfängern herum. inklusive Überwachung von Bankkonten und überraschenden Hausbesuchen: Leben sie tatsächlich mit keinem Partner zusammen? Hat dieser Partner denn keine arbeit? Dieser Flatscreen da, der übersteigt nicht etwa ihre Verhältnisse? Warum wird das da nicht verkauft? Wozu denn diese Pillen und diese Medizin da? Und so weiter und so fort. Wenn ein kontrolleur unterstellt, dass aufgrund eines zweiten Tellers auf dem Tisch oder eines slips oder Leibchens neben dem Bett ganz sicher eine zweite Person im Haushalt wohnhaft sei, so hat man selbst zu beweisen, dass dies nicht stimmt. Umgekehrte Beweislast also. eine Übertretung der auflagen gilt als straftat und kann zur Folge haben, dass alle Leistungen, einschließlich Zahlung von Miete und Heizung, eingestellt werden. eine halbe Million deutsche arbeitslose haben auf diese Weise bereits ihre Unterstützung eingebüßt. 79
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so auch angela. sie erhielt ende 2010 das angebot, für einen euro pro stunde in einer schulkantine zu arbeiten. schwere arbeit für angela, denn sie war im vierten Monat schwanger und traute sich die Belastung aufgrund ihrer körperlichen Verfassung nicht zu. so wurden ihr die Unterstützung für drei Monate und auch die zusätzlichen Leistungen für schwangerschaftshilfe gestrichen. ein euro pro stunde? Das klingt nach einer geschichte aus Haiti. aber es ist Deutschland: Hier sind arbeitslose verpflichtet, jede Beschäftigungschance eines 1-euro-Jobs anzunehmen. sie müssen bei Wind und Wetter Hecken schneiden, straßen kehren, Besorgungsgänge für Pflegeheime erledigen oder öffentliche gebäude reinigen und erhalten dafür zusätzlich zu ihren 382 euro aLg ii maximal 1,50 euro pro stunde. Offiziell handelt es sich nur um »ergänzende und für die gesellschaft nützliche« arbeiten. aber auch Privatfirmen machen davon gebrauch, und so verschwinden feste arbeitsplätze. Wer für überflüssig befunden wird, bekommt das statut des existenzminimums aufgestülpt: nämlich das, was die Herren gerhard schröder und Joschka Fischer mit den eleganten Worten »mehr Chancen für den Zugang zum arbeitsmarkt« umkleiden. Die aktivierungspolitik. abgesehen vom Bezug eines Hungerlohns besteht noch die Verpflichtung, an jedem Tag der Woche (außer sonntags) von 8.00 bis 20.00 Uhr arbeitsbereit zur Verfügung zu stehen. Während dieser Bereitschaftszeiten darf man den Bezirk des zuständigen arbeitsamtes nicht verlassen, und man muss bereit sein, jeden arbeitseinsatz wo auch immer zu akzeptieren. Um den arbeitswillen unter Beweis zu stellen, muss man sogar Hunderte kilometer entfernt Bewerbungen einreichen, ungeachtet der eigenen ausbildung und selbst im Falle, dass ein zur Disposition stehender Job nicht genügend Lohn für den Lebensunterhalt einbringt. schließlich kann ja alles mit dem arbeitslosengeld ii verrechnet werden. insgesamt han80
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delt es sich um ein raffiniert ausgeklügeltes system moderner Zwangsarbeit. 2010 wurden nach angaben der Bundesregierung 828.300 sanktionen gegen Hartz-iv-empfänger verhängt. Dem arbeitslosenforum Deutschland zufolge waren 70 Prozent der strafmaßnahmen vollkommen ungerechtfertigt. »Die strafen der Jobcenter sind total überzogen. schon wenn jemand einen Termin versäumt oder zu spät kommt, verliert er zehn Prozent seiner Unterstützung. Bei anderen Pflichtverletzungen werden sogar dreißig Prozent gestrichen und bei wiederholten Vorkommnissen werden die abzüge noch größer: Zunächst sind es dreißig, dann sechzig und schließlich einhundert Prozent; es geht also bis hin zur vollständigen Verweigerung des existenzminimums«, sagt Martin künkler von der koordinierungsstelle gewerkschaftlicher arbeitslosengruppen.6 Den Richtern verschafft Hartz iv eine Menge arbeit. im Vergleich zu 2005, als Hartz iv in kraft trat, haben sich die eingereichten klagen bereits vervierfacht. Das sozialgericht Berlin hatte allein 2010 rund 32.000 Fälle zu verhandeln. im Jahre 2004 versahen dort sechzig Richter ihren Dienst, inzwischen sind es einhundertsechsundzwanzig, von denen sich siebzig ausschließlich mit Problemstellungen im Zusammenhang mit Hartz iv beschäftigen. siebzig Richter, die in Vollzeitarbeit durch arbeitslosenjagd entstandene Probleme untersuchen – und das allein in Berlin!7 Hartz iv hat dafür gesorgt, dass in den augen der öffentlichkeit gar nicht mehr die arbeitslosigkeit das eigentliche Problem ist, sondern … der arbeitslose – der ist der schuldige; der allein ist verantwortlich! Die rot-grünen Hartzgesetze haben zur stigmatisierung der arbeitslosen geführt! »Hartz« ist zum gebräuchlichen Begriff der deutschen Umgangssprache geworden. ein »Hartzer« ist ein »verachtenswerter nichtsnutz« und das Verb »hartzen« wurde 2009 sogar zum Jugendwort des Jahres gewählt. es steht für: 81
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nichts tun, rumhängen, faulenzen und dafür auch noch geld beziehen. Doch für diejenigen, die als arbeitslose betroffen sind, steht Hartz iv für angst und scham: es ist eine Brandmarkung! Bernd Mombauer vom kölner arbeitslosenzentrum e. V., das von kirchlichen und sozialen Organisationen unterstützt wird, sagt dazu: »Für viele ist Hartz iv eine katastrophe. Wer auf diese stufe sozialer Hilfe zurückfällt, kann das psychisch oft nur schwer verkraften und bleibt leicht darin stecken. nur wenige finden wieder hinaus.«8 all das stimmt äußerst nachdenklich – solche Zustände in einem Land, das Leute wie Bart De Wever lieber heute als morgen als Vorbild für unser eigenes Land adoptieren möchten: »Wen ich sehr bewundere und wer nicht immer den Respekt erhielt, den er verdient, das ist gerhard schröder. er verdient große anerkennung. er ist ein sozialist, der den Mut aufbrachte, die in Deutschland notwendigen Reformen durchzusetzen. Dass Deutschland heute so stark dasteht, verdankt es den Maßnahmen schröders. er hat das Land gründlich gesunden lassen. Der deutsche Wähler hat es ihm nicht gedankt … aber er war ein mutiger Mann. ich halte daran fest, ihm meine Hochachtung zu bezeugen.«9 Mit solchen Worten lässt De Wever auf peinlich deutliche Weise erkennen, wie beklemmend politisches einheitsdenken doch sein kann. »Wie in gottes namen könnte ein Land, das seine armut um mehr als ein Viertel anwachsen sah, als Modell für europa dienen?«, fragt Luc Cortebeeck, Vorsitzender des allgemeinen Christlichen gewerkschaftsbundes (aCV). »infolge der Zunahme von Minijob-Verträgen und dem Fehlen von Mindestlöhnen stieg nach europäischen normen die Zahl der Deutschen, die aufgrund zu geringen einkommens von armut bedroht sind, in weniger als vier Jahren um 26,4 Prozent: Betroffen sind 2,63 Millionen Menschen! ein großteil dieser armen hat arbeit. Unter der arbeitslosen Bevöl82
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kerung sieht die Lage noch bedeutend dramatischer aus: Vier von fünf arbeitslosen Deutschen stehen an der schwelle zur armut. Um kein anderes europäisches Land ist es da schlechter bestellt!« Und Luc Cortebeecks schlussfolgerung klingt so: »Das einzige, was Deutschland mit seinen Maßnahmen langfristig ins restliche europa exportiert, sind Lohndumping und armut.«10 Auf der anderen Seite des Berges leben Menschen wie Doris K. europas höchste stadt liegt in der schweiz: Davos. skiresort und nach eigenem Bekunden ein echtes »Ferienparadies für den aktiven Urlaub in herrlicher Berglandschaft«. Hier soll »the sky« nun einmal gerade so »the limit« sein! Wo sonst als in dieser am höchsten gelegenen stadt des alten kontinents könnten führende Unternehmer und ihre Freunde aus der Politik einander einmal jährlich treffen? Bei der jährlichen Zusammenkunft des World economic Forum ist Deutschlands Bundeskanzler gerhard schröder ende Januar 2005 bester Laune. Bankiers, Wirtschaftsgrößen, Unternehmer und Politiker – sie alle haben sich im großen saal versammelt, um seiner Rede zu lauschen. Dies ist sein augenblick! »Wir müssen und wir haben unseren arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in europa gibt. es hat erhebliche auseinandersetzungen mit starken interessengruppen in unserer gesellschaft gegeben. aber wir haben diese auseinandersetzungen durchgestanden. Und wir sind sicher, dass das veränderte system am arbeitsmarkt erfolgreich sein wird. Meine Damen und Herren, dieses Programm, das wir trotz erheblichen gesellschaftlichen Widerstands durchgesetzt haben, beginnt zu wirken. Wir haben in Deutschland nun schon seit Jahren keine steigenden Lohnstückkosten zu verzeichnen. Wir können auf dem Feld des internationalen 83
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Wettbewerbs exportergebnisse vorweisen, die kein Zeichen von schwäche, sondern ein Zeichen von stärke sind. Denn wir haben in einer Zeit der stagnation keine Marktanteile verloren, sondern ganz im gegenteil Marktanteile gewonnen.« Das ist der Davos-Moment der sozialdemokraten. auf YouTube kann man sich die Rede noch anschauen. einen niedriglohnsektor ausbauen, damit die Produkte billiger werden und auf diese Weise die Märkte ausländischer konkurrenten erobern. Das ist der kern des Deutschen Wirtschaftswunders. aber ein Berg ist so hoch, wie das Tal tief ist. Und auf der anderen seite des Berges leben Menschen wie Doris k. Menschen, die von ihrer arbeit nicht mehr leben können. Doris ist fünfzig. sie arbeitet schon ihr ganzes Leben im mobilen Pflegedienst für Hausbesuche. Wie viele ihrer kolleginnen und kollegen betrachtet die Berlinerin ihr Wirken nicht als Job, sondern als engagement. Doris ist Optimistin. eine Frau, die nicht nörgelt und nicht klagt, sondern den stier bei den Hörnern packt. Mit ihrem Lohn ist sie nicht zufrieden. »Okay, inzwischen gibt es in diesem Bereich einen Mindestlohn von 8,50 euro. ich habe aber nur einen Vertrag über dreißig stunden und verdiene deshalb keine tausend euro brutto. ich muss mich also entscheiden: entweder mehr arbeiten oder beim sozialamt anklopfen«. Doris hat sich dafür entschieden, mehr stunden zu arbeiten. in manchen Wochen arbeitet sie sogar bis zu 57 stunden. »Der Chef verrechnet meine Überstunden teils mit Urlaub und teils mit krankheitstagen, obwohl das unzulässig ist. Deshalb habe ich Beschwerde eingereicht. Das klima in unserem Betrieb lässt zu wünschen übrig. Wer es wagt, den Mund aufzumachen, kriegt gleich eins auf den Deckel. Unser Boss führt sich wie ein Despot auf. er bestimmt, wer den Mindestlohn bekommt und wer nicht, und macht auch schwierigkeiten bei der abrechnung von 84
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Fahrtzeiten und Benzin.« Die Personalfluktuation ist dementsprechend sehr hoch. »Manche Patienten haben in den vergangenen beiden Jahren dreißig bis vierzig verschiedene Pflegekräfte erlebt. so sind Vertrauensverhältnisse oder würdevoller Umgang mit den Patienten nur schwer zu realisieren.« Bei sinkendem Wasserstand zerbricht das eis; durch die Hartz-Reformen verschaffte sich die armut Raum. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und entwicklung (OeCD) stellt nüchtern und sachlich fest: »seit dem Jahre 2000 sind einkommensdisparität und armut in Deutschland schneller angestiegen als in den anderen OeCD-Ländern. Beide indikatoren haben sich im Zeitraum von fünf Jahren, zwischen 2000 und 2005, schneller erhöht als in den fünfzehn Jahren zuvor.«11 Das ist die schlimme Bilanz von sieben Jahren rot-grüner Politik. Deutschland baute seine exportposition auf kosten der eigenen arbeitenden Bevölkerung aus. Der ökonom Hans-Werner sinn, jahrelang Berater der sozialdemokraten im Ministerium für arbeit und soziales, fasst die Bilanz von Rot-grün wie folgt zusammen: »Der ausbau des niedriglohnsektors ist kein Beweis für das scheitern unserer Agenda 2010, sondern für ihren erfolg.«12 Hungerlöhne, unser größter erfolg! Fünfzig Cent für ein Zimmer, fünfundsiebzig Cent für das Bad gut acht Monate nach schröders Davos-Moment kommt es nach neuwahlen zur großen koalition zwischen sozialdemokraten und Christdemokraten. am 22. november 2005 wird angela Merkel als erste Frau ins amt des Bundeskanzlers gewählt. Die sPD behält das Ministerium für arbeit und soziales, die schlüsselbehörde für die Reform des arbeitsmarktes. 85
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Die große koalition behält den eingeschlagenen Weg bei. export über alles. Der export muss für das Wirtschaftswachstum sorgen. Dies bedeutet, dass die angriffe auf Löhne und arbeitsbedingungen unvermindert fortgesetzt werden. Der konsum privater Haushalte gerät indes in den freien Fall: von 59 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Jahre 2006 auf 56 Prozent im Jahre 2008. es ist das Jahr, in dem norbert Walter, Chefökonom der Deutschen Bank, seelenruhig verkünden wird, dass sich viele Deutsche auf eine Zukunft einrichten müssen, in der die gehälter zum Leben nicht mehr ausreichen werden.13 Ulrike B. (name geändert) weiß, was eine solche aussage bedeutet. als Zimmermädchen arbeitet sie für drei euro pro stunde. ihr Vertrag setzt fest, dass sie nach der anzahl gereinigter Zimmer bezahlt wird: fünfzig Cent für ein Zimmer, das der gast noch weiterhin bewohnt, fünfundsiebzig Cent für das Bad. »ich arbeite oft vierzig bis fünfzig stunden pro Woche, habe am ende des Monats aber kaum 600 euro Lohn«, berichtete das Mädchen im sommer 2010 der Financial Times Deutschland. »Deutschland entwickelt sich von einer klassengesellschaft zur kastengesellschaft«, sagt der schriftsteller günter Wallraff. Das ist wahrhaftig so. 2010 kamen in Deutschland mehr als fünfzigtausend euromillionäre hinzu. Fünfzigtausend! 7,2 Prozent mehr als im Jahr zuvor! Derweil müssen Ulrike, Doris und viele andere jeden Cent umdrehen, um über die Runden zu kommen. Ja, die armut der einen ist der Reichtum der anderen. es gibt inzwischen 862.000 deutsche Millionäre. Oder anders ausgedrückt: nahezu jeder dritte europäische Millionär (von denen es drei Millionen gibt) wohnt in Deutschland.14 aldi-Chef karl albrecht zum Beispiel. er sah sein Privatvermögen auf 17,7 Milliarden euro ansteigen. Oder susanne klatten von BMW, die mit ihren 10,1 Milliarden an persönlichem Vermögen nicht weiß wohin. 86
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als Belgiens lila-grüne Regierung zwischen 1999 und 2003 die höchsten steuersätze abschaffte und die körperschaftssteuer von 40 auf 33,9 Prozent senkte, war das eine kopie dessen, was damals die rot-grüne Regierung im benachbarten Deutschland tat. auch dort schaffte Rot-grün die höchsten steuersätze ab und senkte die körperschaftssteuer von 45 auf 25 Prozent. Die seit 1998 erfolgten steuersenkungen haben den staat Deutschland bis heute um 400 Milliarden euro ärmer gemacht. Wäre steuerlich alles so geblieben wie beim antritt von Rot-grün, so würde der Fiskus nun jährlich 51 Milliarden euro mehr einnehmen. Dies errechnete das Deutsche institut für Makroökonomie und konjunkturforschung, iMk.15 Die neoliberale ese, dass mit einer sparsamen Haushaltspolitik kombinierte steuersenkungen für Wachstum sorgen und dem staat Mehreinnahmen verschaffen, wurde damit erneut entkräftet. nein, die neoliberalen Fantasien haben mit der Realität nichts zu tun. steuergeschenke, die vor allem »gut gestellte« Familien begünstigten, vermochten die Wirtschaft nicht zu stimulieren, so das nüchterne und strenge Fazit der Wissenschaftler des iMk. Unter dem strich blieb für den staat ein Minus. Die schlussfolgerung des instituts lautet denn auch, dass sich (im inland wie im ausland) die Hoffnung, steuersenkungen würden sich letztendlich selbst finanzieren, als trügerisch erwiesen hat. Wäre alles beim alten geblieben, so hätte die bundesrepublikanische Regierung heute kein Haushaltsdefizit zu schultern, sondern Überschüsse zu verzeichnen. Dass im gleichen Zeitraum die großen Vermögen in außergewöhnlichem Umfang gestiegen sind, kann als eindeutiger Beleg dafür herangezogen werden, dass die politisch erwünschte Umverteilung von unten nach oben ausgezeichnet funktionierte, so das sarkastische schlussresümee des leitenden instituts. 87
Europa im Morast
Exportweltmeister: ein dreifaches Hoch auf die Schulden der Nachbarn! Um Deutschland in die Walhalla zu exportieren, waren noch straffere stimulantia als bloß niedrige Löhne nötig. Hans Tietmeyer kannte die Rezepturen. Tietmeyer war zum Zeitpunkt der gründung der europäischen Zentralbank (eZB) im Jahre 1998 Präsident der übermächtigen deutschen Zentralbank, der Bundesbank. er sorgte dafür, dass Frankfurt zum sitz der eZB wurde, und wachte darüber, dass der Basiszinssatz der eZB niedrig war. als dann jenseits des atlantischen Ozeans alan greenspan den amerikanischen Zins auf fünf Prozent anhob, bewirkte Tietmeyer mithilfe seines Freundes Wim Duisenberg, dass die Zinsen der eZB bei 2,5 Prozent stehen blieben. Zwischen 1999 und 2001 wurde europäisches geld somit wesentlich billiger – gute nachrichten für die deutsche industrie. es war eine Dreifach-injektion: sinkende Währungswerte, ultraniedrige Zinstarife und obendrein auch noch die sinkenden Lohnstückkosten. schröder und Tietmeyer konnten so die deutsche Wirtschaft aus ihrer Lethargie reißen. Diese entwickelte eine phänomenale exportmaschinerie. im Jahre 2008 zog Deutschland an den viel größeren Vereinigten staaten vorbei und blieb ein Jahr lang exportweltmeister. Die deutsche Handelsbilanz verzeichnete kräftige und weiter wachsende Überschüsse: 154 Milliarden im Jahre 2010. Ja, der euro produzierte herausragende Meldungen für Deutschland.16 in 2010 exportierte Deutschland Waren im Wert von 960 Milliarden euro, vor allem Fahrzeuge, chemische Produkte, elektrogeräte und Maschinen. Die Bundesrepublik pumpte stattliche Beträge öffentlicher geldmittel in die Forschungsabteilungen großer Unternehmen, die gewisse nischen besser besetzen konnten. Die angehörigen der neuen reichen klassen Chinas, Brasiliens und indiens kaufen lieber einen BMW oder Mercedes als einen Renault oder Fiat. 88
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Die chinesische industrie verwandelt sich in rasantem Tempo zu einem Bereich, der lieber Produkte mit höherer Wertschöpfung als beispielsweise billige T-shirts herstellt. Dazu aber sind Maschinen und steuerungssysteme von technologisch hoch entwickeltem standard erforderlich. Und wer baut so etwas? Deutschland. allerdings – und das wird leicht aus den augen verloren – verbleiben fünfundsechzig Prozent der deutschen exporte in der europäischen Union selbst.17 am standort Deutschland regierte das Prinzip »Beggar thy neighbour«: Lebe auf kosten des nachbarn und bringe ihn an den Bettelstab, gleichgültig ob er ein ferner oder ein naher nachbar ist. Mittels aggressiver Lohnpolitik und niedriger Zinsen eroberten deutsche Unternehmen Marktanteile auf kosten anderer europäischer Länder und anderer europäischer industrien sowie auf kosten vieler dortiger arbeitsplätze. importländer mussten sich verschulden, um ihre importe bezahlen zu können. Hier der deutsche exportboom und dort die wachsenden schuldenberge irlands, griechenlands, italiens und Portugals – zwei seiten ein und derselben Medaille. Das tägliche Finanzblatt De Tijd zog dazu das Resümee: »Um es auf den Punkt zu bringen: Deutschland erzielte jene beeindruckenden Wachstumsraten auf kosten des auslands, die Länder der eurozone eingeschlossen. Oder spitzer ausgedrückt: Die griechen kauften sich grün und blau an deutschen Produkten.«18 ein dreifaches Hoch auf die schulden der nachbarn! Drogeriemarkt Schlecker, Pieter Timmermans und der Mindestlohn anton schlecker ist ein knickeriger kerl. einst hatte er eine Drogeriekette mit rund 14.000 Filialen und 50.000 Mitarbeitern, die ihm einen Jahresumsatz von etwa 7 Milliarden euro bescherten. Besonders höflich ist er allerdings nicht. 89
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Bei einer Betriebsratsversammlung bezeichnete er eine Personalabgeordnete als »blöde kuh«. außerdem ließ Herr schlecker sein Personal mit versteckten kameras überwachen. er folgte einem sozialen kollisionskurs. 1998 wurde er zu einer gefängnisstrafe von zehn Monaten auf Bewährung und zu einer geldstrafe in Höhe von einer Million euro verurteilt, weil er seinen Verkäufern vorgelogen hatte, dass er ihnen tarifvertragliche Löhne zahle. in Wirklichkeit bezahlte er sie weit unter Tarif und versuchte das auch weiterhin, denn lagen niedriglöhne etwa nicht im politischen Trend? 2009 heckte er einen neuen Plan aus: er würde Mitarbeiter entlassen, um sie anschließend zu Löhnen auf Dumpingniveau wieder einzustellen. ein genialer Plan, um neuartig strukturierte geschäfte zu eröffnen, für die er bereits den nicht ganz so unauffälligen namen »schlecker XLMärkte« ersonnen hatte. extrem niedrige Löhne (Xs) in extrem großen geschäften (XL). Und so gründete Herr schlecker höchstpersönlich eine Zeitarbeitsfirma: »Menschen in arbeit«, kurz: Meniar. Damit bewies er ein gutes auge, denn an die Tarifverträge der Branche war Meniar nicht gebunden und so konnte schlecker statt des Mindestlohns von 12,70 euro bloß 6,50 euro stundenlohn zahlen. Die Hälfte! Clever ausgetüftelt! Wäre da nicht schleckers Verkaufspersonal gewesen. Die Menschen in arbeit, sozusagen. Denn die wollten das so nicht hinnehmen, spuckten dem Herrn schlecker in die suppe und versalzten ihm seine gewitzten Pläne. nach zweijährigem aktivismus krönte die tapfere Verkäuferschar ihren Widerstand. schlecker musste einen Tarifvertrag akzeptieren, der einen Mindestlohn von 9,07 euro vorsah. nach einem langen, von skandalen und negativen Berichten überschatteten Weg meldete Herr schlecker schließlich im Jahre 2012 insolvenz an. Deutschland hat keinen branchenübergreifenden gesetzlichen Mindestlohn, der für alle gilt. Manche Bereiche haben 90
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eigenständige Mindestlöhne aufgestellt. Dies bleibt nicht folgenlos. Laut Bundesagentur für arbeit hat sich seit dem Jahre 2003 die anzahl derjenigen mit mehreren Jobs auf 2,4 Millionen Menschen verdoppelt. größtenteils handelt es sich dabei um die ergänzung einer Hauptbeschäftigung mit einem Minijob. Diese Menschen müssen also nach ableistung ihrer vollen arbeitszeit noch eine zusätzliche nachtarbeit oder Wochenendarbeit auf sich nehmen, weil die Reallöhne so niedrig sind.19 Um die endlose spirale der Lohnkonkurrenz rückläufig zu gestalten, fordern die deutschen gewerkschaften einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn von 10 euro ein. Dies würde 7,7 Millionen Menschen eine Lohnerhöhung einbringen. »gleicher Lohn für gleiche arbeit« lautet die kernforderung der gewerkschaften. »equal Pay«. Vom ersten arbeitstag an. nach Berechnungen der Friedrich-ebert-stiftung würde die schaffung eines solchen Mindestlohns 12,8 Milliarden euro in die staatskasse schwemmen.20 seltsamerweise mischte sich im Juni 2011 urplötzlich generaldirektor Pieter Timmermans vom Verband belgischer Unternehmen (VBO) in diese Debatte ein. er packte seine schreibfeder, um den Beitrag »Deutschland, ein solides und gutes Vorbild« zu verfassen. schon die Überschrift macht klar, in welche Richtung der VBO Belgien marschieren lassen will. in seinen ausführungen lässt Timmermans verlauten, dass es nicht seinen Wünschen entspräche, wenn Deutschland »einen branchenübergreifenden Mindestlohn, den manche Leute verfechten, einführe.« Dies sei absolut nicht erforderlich, schreibt der generaldirektor, weil »es die ›working poor‹ mit einbeziehen würde, für die Deutschland ohnehin bessere als nur die durchschnittlichen Werte vorzuweisen hat.«21 Hatte Timmermans den einen Monat zuvor veröffentlichten aktuellen Bericht der Vereinten nationen über Deutschland denn nicht gelesen? Dort wird ausgeführt, dass 91
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eine Rekordzahl deutscher staatsbürger – nämlich 13 Prozent der Bevölkerung – unterhalb der armutsgrenze lebt. Darunter 2,5 Millionen kinder und 1,4 Millionen Menschen mit arbeitsplatz. erwerbsarme, also.22 Timmermans lügt das Blaue vom Himmel herab, doch das scheint ihn nicht zu kümmern. Die Warnung vor einem allgemeinen, branchenübergreifenden deutschen Mindestlohn richtet sich zuvorderst … an Belgien, wo der Mindestlohn – ein gewährleistetes Monatseinkommen mittlerer Höhe – durch den Tarifvertrag nr. 43 des nationalen arbeitsrats geregelt wird. Den arbeitgebern und dem Flämischen arbeitgeberverband (Voka)23 ist diese Regelung ein Dorn im auge. sie wollen den Mindestlohn abschaffen. Konservative Gesinnungen VBO-Funktionär Timmermans und Bart De Wever sind nicht die einzigen, die in Belgien den Weg für das deutsche Verarmungsmodell ebnen wollen. auch andere versuchen den Widerstand mit ihren ideologischen Macheten wegzumähen. »an der Tagesordnung sind wieder jene konservativen gesinnungen, wie sie so kennzeichnend für jede grundlegende Debatte über Veränderungen in unserem Lande sind. Das deutsche Modell wird verleumdet. ›Hamburgerjobs‹, sozialabbau, erwerbsarmut … alles wird aus der kiste gekramt, um nur ja nicht dem deutschen Beispiel des vormaligen sozialdemokratischen Bundeskanzlers gerhard schröder folgen zu müssen.« so spricht alexander De Croo. Und der Vorsitzende der Open Vld (Flämische Liberale und Demokraten) fährt fort: »Dass sich die deutsche arbeitslosigkeit in den vergangenen Jahren trotz der krise halbierte, vergisst man natürlich zu erwähnen.« Jetzt schwimmt alexander De Croo genau auf einer Welle mit dem VBO und hat als einpeitscher auch noch einen guten Rat für den potenziellen
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Regierungsbildner in petto: »Hoffentlich hat elio Di Rupo den Mut, ein zweiter gerhard schröder zu sein.«24 Was ist er doch empört, dieser De Croo: »Das deutsche Modell, verleumdet!« Welcher niederträchtige schweinehund, noch dazu mit konservativer gesinnung, hat es gewagt, das zu tun? etwa Bärbel Pross? Über ein »sauberes Deutschland« weiß sie fachkundig zu sprechen. Bärbel ist nämlich Putzfrau bei der Berliner Firma gegenbauer. ihr kleines auto ist immer bis obenhin mit Putzmitteln, Papierhandtüchern und klopapier beladen. Und fünf prall gefüllte Müllsäcke muss sie da auch noch jeden Tag hinzustopfen. sie verdient 8,40 euro pro stunde. aber was man ihr für diesen Lohn abverlangt, ist wirklich nicht mehr normal. »Früher musste ich innerhalb von vier stunden eine zweitausend Quadratmeter große etage im Haus der Deutschen Rentenversicherung gereinigt haben. Heute habe ich einen Vertrag über 3,8 stunden täglich. Danach muss meine etage sauber sein. Manchmal weiß ich einfach nicht mehr, wo mir der kopf steht«, sagt Bärbel. Lange hat sie unbezahlte Überstunden geleistet, um mit der arbeit fertig zu werden. Das macht sie nun nicht mehr. »Mit all den Überstunden müsste ich ein Jahr lang bezahlten Urlaub bekommen«, lacht sie. Heute konzentriert sie sich beim Reinemachen auf das Wesentliche. Bärbel hat eine zweite stelle angenommen. im einzelhandel. Das bringt ihr 12,60 euro pro stunde ein. »Leider kann ich meine dortige stundenzahl nicht erhöhen, sodass ich immer noch putzen gehen muss. Wie viel gegenbauer für meine Reinigungsarbeiten berechnet? Das kann ich nicht nachprüfen. es wird aber definitiv nicht weniger sein als früher. Beim Personal wird heftig eingespart. Das deutsche Modell ist ein Unding!« »aber«, hält De Croo vollmundig dagegen, »die arbeitslosigkeit ist fast um die Hälfte gesunken!« ist das tatsächlich 93
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so? Weiter oben steht bereits einiges zu den arbeitslosen geschrieben, die einfach aus der statistik verschwinden, weil sie nicht unterstützungsberechtigt sind: weil sie noch bei Papa und Mama wohnen, weil sie jemanden lieb haben, der irgendeinem Job nachgeht, weil sie dank einer erbschaft getrost noch ein paar Monate dahinsiechen können oder weil sanktionen gegen sie verhängt wurden. nein, über diese versteckte arbeitslosigkeit lässt De Croo kein einziges Wort verlauten. in Deutschland verschwanden zwischen 1999 und 2008 laut statistiken von eurostat 180.000 Vollzeitstellen – 130.000 bei den Männern und 50.000 bei den Frauen. im selben Zeitraum aber kamen nicht weniger als 2,7 Millionen Teilzeitstellen hinzu. nach offizieller Lesart belegt man sofort dann einen »arbeitsplatz«, wenn man eine einzige stunde pro Woche arbeitet. Zeitarbeit, Minijobs, kurzzeitbeschäftigung und so weiter. Besonders Frauen kamen in solchen neuen arbeitsverhältnissen unter. Deutschland schuf keine Beschäftigung, sondern tat nur so, als ob: indem man ganz einfach ordentlich bezahlte Vollzeitarbeit in zwei, drei oder vier temporäre und unterbezahlte arbeitsplätze aufspaltete.25 einer von zehn arbeitsplätzen in Deutschland ist ein Minijob, auch 400-euro-Job genannt. Diese 400 euro bilden eine magische grenze, denn bis zu diesem Betrag hat der Chef keine sozialabgaben zu leisten. Die meisten Minijobber verdienen gehörig weniger als jene 400 euro. Der durchschnittliche Monatslohn erreicht etwa die Höhe von 250 euro. insofern fördert die Regierung solche arbeitsplätze also.26 Das Resultat: im heutigen Deutschland tragen zwei Millionen arbeitsplätze weniger zur sozialen sicherheit der Bevölkerung bei als im Jahre 1991. Das ist das wahre gesicht des Modells, das manche als garant für die entwicklung in ganz europa verherrlichen. eine wahrlich emanzipierte sichtweise zum ema Beschäftigung. Wer das laut sagt, wird einer konservativen gesinnung bezichtigt. 94
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»Ich denke, man weiß in Ihrem Land nicht wirklich, wovon man spricht« günter Wallraff, der vor allem durch das Buch Ganz unten bekannt wurde, hat seine eigenen sichtweisen dazu: »Die Wirtschafts- und sozialpolitik hat viele Deutsche in die scheiße geritten. nein, Deutschland ist ganz sicher kein Vorbild für Belgien.«27 er gab ein ausführliches interview in De Standaard: de standaard Belgische Politiker treten einander auf die Füße, um in vorderster Reihe die erfolge der deutschen Wirtschafts- und sozialpolitik zu bejauchzen. sie jubeln über ein neues Wirtschaftswunder und schreien, dass Belgien gut daran täte, es zu kopieren. wallraff ach, tatsächlich? ich denke, man weiß in ihrem Land nicht wirklich, wovon man spricht. Mir ist klar, dass Deutschland nun im ausland gut dasteht. es werden statistiken zum Wirtschaftswachstum und zur senkung der arbeitslosenzahlen zitiert. Viele dieser statistiken aber spiegeln nur die halbe Wahrheit wider oder werden manipuliert. ein Beispiel: es heißt, dass in den vergangenen Jahren in Deutschland zwei Millionen neue arbeitsplätze geschaffen wurden. Das stimmt. Man vergisst jedoch hinzuzufügen, dass nur ein Viertel dieser neuen arbeitsplätze ein Lohngefüge aufweist, von dem man leben kann. es gibt rund 1,4 Millionen deutsche arbeitnehmer, die zwar eine arbeit haben, damit aber nicht genug verdienen, um den elementaren Lebensunterhalt abzudecken. Wir reden hier von Jobs, für die fünf bis acht euro pro stunde gezahlt werden. Damit ist gerade einmal ein Monatslohn von rund 900 euro zu erreichen. Das sind arme, die da arbeiten. erwerbsarme, ›working 95
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poor‹. Und hier spreche ich noch nicht einmal von den sogenannten Minijobs, den kleineren Diensten und Hilfsarbeiten, die arbeitslose für manchmal bloß einen euro pro stunde anzunehmen verpflichtet sind. Finden sie das normal? Dass Menschen nahezu unbezahlt aufkleber und kaugummi von Verkehrsschildern abkratzen müssen? auf diese Weise werden Menschen ihrer Würde beraubt. de standaard auf dem Weg hierher war im autoradio ein interview zu hören, in dem alexander De Croo erzählte, dass in Deutschland die armut sinkt. ist das richtig? wallraff Wie bitte? Deutsche haben es immer gut verstanden, statistiken zu führen. Über alles, selbst über die verwerflichsten Dinge. Und so werden natürlich auch die armen unseres Landes heute sorgfältig beobachtet. evangelische kirchen, katholische Organisationen, soziale institutionen und Verwaltungen halten ein wachsames auge auf sie. Mir ist keine einzige studie oder Umfrage bekannt, die belegen würde, was dieser belgische Herr da behauptet. Die armut nimmt zu. schlimmer noch: sie erhält eine struktur, sie geht rascher von einer auf die nächste generation über. auch bedingt durch Deutschlands schlechtes Bildungssystem. Diesbezüglich verwandeln wir uns allmählich in ein unterentwickeltes Land. Wer – wie jener Herr da – das gegenteil behauptet, der macht das nur zu Propagandazwecken.28 »Eine Angelegenheit zwischen unten und oben« ende Februar 2011 protestierten in der gesamten Bundesrepublik die arbeiter und angestellten der Metallindustrie. Die aktionen richteten sich gegen den neuen gesetzentwurf, der im Bundestag vorlag: kein Mindestlohn in der Metall96
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industrie, keine weiteren einschränkungen für Zeitarbeit, keine Lohngleichheit für feste Mitarbeiter … Trotzdem hielt sich der organisierte Widerstand zunächst noch in engen grenzen. »ich sehe den Zeitpunkt für große soziale Proteste in Deutschland noch nicht für gekommen. Doch das kann sich rasch ändern.« so der Tenor der Rede von Bernd Riexinger, Verantwortlicher von ver.di in stuttgart, während einer gewerkschaftskonferenz am 9. Juli 2011, bei der auch Dieter sauer vom institut für sozialwissenschaftliche Forschung e. V. in München als Redner auftrat. Die situation in den Betrieben sei von »tiefen Ohnmachtserfahrungen« gekennzeichnet, sagte sauer. aber auch von der wachsenden erkenntnis – so belege seine analyse –, dass hinter den Problemen »nicht nur die Macht gewisser Personen steckt, sondern die gesamte kapitalistische ökonomie. Und diese erkenntnis betrachte ich als schritt nach vorn.« eine Tendenz zur Rückkehr zu alten Vorgehensmodellen erkennt der Wissenschaftler nicht. »Die konzepte des korporatismus sind voller Risse und spalten. Durch Verhandlungen allein sind Win-win-situationen oft nicht mehr zu erreichen.« »kern der gewerkschaftsarbeit ist es, solidarität zu organisieren, und das muss auch die zentrale Rolle bleiben«, ruft Christa Hourani von der initiative zur Vernetzung der gewerkschaftslinken während der konferenz in die Runde. Bernd Riexinger fügt dem hinzu: »Wir müssen deutlich machen, dass es bei der sogenannten Hilfe für griechenland nicht um eine angelegenheit zwischen Deutschland und griechenland geht, sondern um eine angelegenheit zwischen unten und oben. Überall muss die Lösung heißen, dass diejenigen die krise bezahlen, die sie verursachten und die das geld dazu haben.« in den schillernden Deutschland-Prospekten der Tourismusbranche sieht alles wunderschön aus: pulsierende städte 97
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mit architektonischen Höhepunkten, einkaufsparadiese und aufregendes nachtleben. Bezaubernde Fachwerkstädte und traditionelle Weindörfer mit gemütlichen Festen und traditionellen spezialitäten. Faszinierende Landschaften in malerischer natur. Burgen und klöster und typisch deutsche Romantik. Das Bild eines Landes der tausend Möglichkeiten. Doch Deutschland ist auch das Land mit 1,4 Millionen erwerbsarmen, mit 2,5 Millionen kindern in armut und mit 7,5 Millionen analphabeten. Darf eine zufällige Begegnung dieses kapitel abschließen? eine Plauderei an der autobahn mit Jürgen, einem Lastwagenfahrer aus der deutschen stadt essen: »Die Menschen knirschen mit den Zähnen,« sagt er. »es wird der Moment kommen, dass alle genug haben. Die Politiker sehen das absolut nicht kommen. sie sind so realitätsfremd, so korrupt. niemand will noch etwas von ihnen wissen. es ist emotional aufgestaut, es brodelt, überall. ich weiß nicht, wann es knallen wird, aber ich weiß, dass es knallen wird. Und wenn es an die Oberfläche kommt, ja, dann wird es eine riesige explosion sein. Wir müssen vor allem dafür sorgen, dass diese explosion auch genügend Wirkung zeigen wird.«
2. In Griechenland prallen zwei Welten aufeinander als die Morgenröte aufzog stand eseus, der sohn des aegeus, von seiner Bettstatt auf. er band sich glänzende sandalen um und wandelte die von Wellen beleckten gestade des Meeres entlang. Da wurde er einer gruppe Menschen gewahr, die elendiglich zeterten und heulten. auch sah er sieben athenische Jünglinge und sieben Töchter, die an Bord eines schiffes mit schwarzen segeln der Trauer warden gebracht, die Hände gebunden mit schweren Tauen. eseus rief mit heller stimme: 98
In Griechenland prallen zwei Welten aufeinander
»Wer sind diese jungen Menschen?« »schnelle schiffe bringen sie nach kreta. Unser Mitleid gehört ihnen.« »Warum?«, fragte eseus. »Was geschieht dort mit ihnen?« »Weißt du das nicht? sie werden dort lebend zum Minotaurus geführt, dem wütenden Biest in kretas Labyrinthen, dort am Rande des weinfarbenen Meeres.« griechenland und das Meer! Umgeben von zwei Meeren, dem ionischen Meer im Westen und dem Ägäischen Meer im Osten, ist die Halbinsel seit jeher ein Land der seefahrer gewesen. als das schiff des eseus, der den Minotaurus auf der insel kreta besiegt hatte, mit gebauschten segeln in athens Hafen zurückkehrte, hatte es der Held versäumt, weiße statt schwarze segel zu hissen. also glaubte sein Vater aegeus, dass sein sohn vom Minotaurus getötet worden sei. Überwältigt von Trauer, stürzte sich aegeus ins Meer, das aufgrund dieser Begebenheit seinen namen trägt: die Ägäis. Der Hafen des antiken athens, damals nur wenige kais umfassend, ist nun der Hafen von Piräus. griechenland besitzt heute die stolze Zahl von 123 Häfen. Piräus ist der größte, ein gewimmel von Frachtern, Fähren, Containerund Ro-ro-Verkehrsschiffen, kreuzfahrtschiffen, Tankern, katamaranen und Fischerbooten. Zweitgrößter Hafen ist essaloniki im nordosten des Landes, ein bedeutender Umschlagplatz für die schifffahrt in Richtung schwarzes Meer und asien. Die griechischen Reeder verfügen über die größte Handelsflotte der Welt: Zusammen besitzen sie über 4.100 schiffe, 16 Prozent der Welthandelsflotte, und damit mehr als die Japaner oder Chinesen. Die griechischen Reedereien verdienen mehr als der gesamte Tourismussektor. im Jahre 2010 verzeichneten die großen Reedereien eine einkommenssteigerung auf 15,4 Milliarden euro, während der Tourismus 99
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vergleichsweise bescheidene 9 Milliarden euro generierte. Dennoch fließt kaum ein Cent dieser Reederei-Milliarden in die staatskassen. Denn gestützt auf einen Dschungel fiskaler Bestimmungen genießen die Reeder seit jeher eine faktische steuerfreistellung. Der Fiskus schaut ihre Rechnungen nicht an. somit ist jede griechische Millionärsfamilie, die anteile an einer Reederei oder an einem maritimen konsortium hält – insgesamt rund tausend Familien – von der steuer befreit. ein gut geschmiertes steuerparadies. Die Reeder horten ihr geld in der schweiz oder auf Zypern, in Liechtenstein oder in London. Der mit großem abstand reichste von ihnen ist spiros Latsis, sohn des alten schiffsmagnaten John Latsis. Familie Latsis engagiert sich auch im schiffsbau und im Bankwesen, und sohnemann spiros ist überdies größter aktionär von Hellenic Petroleum. auf der Liste der Multimilliardäre dieser Welt belegt er Platz 68. er studierte an der London school of economics zusammen mit einem gewissen José Manuel Barroso, der im Juni 2004 Präsident der europäischen kommission wurde und zwei Monate später, im august, zu einer Ferienwoche auf einer prachtvollen Vergnügungsjacht von Familie Latsis eingeladen war. Latsis hat neulich Privatsea gegründet, einen exklusiven Jachtclub, der seinen Mitgliedern »außergewöhnliche erlebnisse an Bord der spektakulärsten Jachten der Welt« verspricht. Dazu gehört auch die Jacht alexandria, mit einer Länge von 122 Metern eine der größten der Welt. Wo sich dereinst aegeus ins Meer gestürzt hatte, schlüpften Barroso und spiros Latsis an Deck der vielleicht luxuriösesten Yacht der Welt in ihre Badehosen. einen Monat später billigte die europäische kommission subventionen des griechischen staates für die schiffswerften der Familie Latsis in Höhe von 10,3 Millionen euro. Zufall? Oder doch die weiter vorn bereits zitierte kleine Welt des »man kennt einander« und des »uns kann keiner was«? 100
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Durch die Hintertür wird der Reichtum aus dem Land geschleust »so anständige Menschen, aber gezwungen, im Hausmüll nach essensresten zu wühlen«, sagt ein Mitarbeiter des abfuhrunternehmens traurig. Während im Herbst 2011 viele griechen Mülltonnen nach nahrung durchstöbern, gibt es auch griechen mit geld. Mit viel geld. Mit sehr viel geld sogar. selbst mitten in der krise bleibt griechenland ein steuerparadies für Reedereien, für sechstausend größere Unternehmen und für die institution der orthodoxen kirche. Bis vor kurzem war im griechischen Reisepass auch die Religion des inhabers vermerkt. Dies änderte sich erst nach einer klage beim europäischen gerichtshof für Menschenrechte in straßburg im Jahre 2001. Die griechisch-orthodoxe kirche ist mächtig, das ist kein geheimnis. kirche und klerus dominieren noch einen großen Teil des öffentlichen Lebens – moralisch und politisch, jedoch auch wirtschaftlich. abgesehen vom staat, sitzt die orthodoxe kirche auf dem größten Vermögen des Landes. sie hält neun Millionen aktienanteile an der griechischen nationalbank und besitzt Hotels, Parkhäuser, Warenhäuser, Unternehmen sowie 350 zentrale touristische stätten. Zugleich ist die institution kirche mit ihren 130.000 Hektar Wald, Feldern, Bergen und stränden auch der größte grundbesitzer des Landes, was ihr jährlich Millionenbeträge einbringt – geld, das bis vor kurzem steuerfrei war. als im Jahre 2010 schließlich doch eine steuer erhoben wurde, verweigerten einige klöster die Zahlung. schockiert demonstrierten gläubige vor athens größter kirche mit dem Transparent: »Jesus hat gesagt, dass man teilen muss.« Teilen? nein, das ist kein gebaren griechischer Millionäre! in griechenland verdientes geld verschwindet immer schneller im ausland. Vor allem in den sicheren Tresoren von schweizer Banken, die keine Fragen stellen. Die griechischen Millionäre haben insgesamt bereits 280 Milliarden euro nach 101
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Zürich verlagert und nochmals ebenso viel auf andere ausländische Banken verteilt. 560 Milliarden euro – ein exodus an zu versteuerndem geld in doppelter Höhe des griechischen Bruttoinlandsprodukts.29 Dass sich viele ihrer Landsleute keine elektrizität oder gar erkrankungen mehr leisten können und dass immer mehr ihrer Mitbürger Hunger leiden, das kümmert diese Millionäre nicht. so entsteht eine gleichsam surrealistische situation: aus der vorderen Haustür bettelt die griechische Regierung die europäische Union um weitere Darlehen an und garantiert, auch den allerletzten Cent aus dem arbeitsvolk herauspressen zu wollen, um sie zurückzuzahlen, während zugleich Millionäre den Reichtum des Landes durch die Hintertür aus dem Land schleppen. im Prinzip ist griechenland ein reiches Land. im Jahre 2007 wurde fünfmal mehr Reichtum als 1990 produziert. Doch während das Bruttoinlandsprodukt um das Fünffache stieg, schraubten sich die gewinne um das 28fache in die Höhe! Durch neoliberale steuerreformen blieben diese gewinne steuerlich weitgehend unangetastet. nur wenig mehr als ein Drittel des griechischen Reichtums gelangt zu den Lohnempfängern: nur 36,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts fließen in die Löhne. Das ist bei Weitem der niedrigste Prozentsatz innerhalb der europäischen Union. so erreichen die gehälter auch bloß magere 60 Prozent des europäischen Durchschnitts. Der von der griechischen gesellschaft produzierte Reichtum gelangt nicht in die Hände dieser gesellschaft, sondern in die Hände von deren reichsten segmenten. Und deshalb ist die Behauptung, »die« griechen hätten jahrelang über ihre Verhältnisse gelebt, blanker Unsinn. Mitten in der Krise: 7,9 Milliarden Euro für französisches und deutsches Kriegsgerät im sommer 2009 ereignen sich merkwürdige Dinge. griechenland bezahlt mitten in diesem krisenjahr 2,5 Milliarden 102
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euro für sechs französische Fregatten, weitere 400 Millionen euro für fünfzehn französische Puma-kampfhubschrauber des Rüstungsgiganten eaDs nv und zusätzliche fünf Milliarden euro für sechs U-Boote der deutschen yssenkrupp ag. Bumms, welch ein Paukenschlag! 7,9 Milliarden euro für französisches und deutsches kriegsgerät, und das mitten in der krise. Merkel und sarkozy schmieden Plan um Plan, um dafür zu sorgen, dass griechenland die Darlehen deutscher und französischer Banken bezahlen kann. Das Duo speit ese um ese darüber aus, was das griechische Volk zu tun und zu lassen habe, doch wenn es um die Rüstungsgeschäfte geht, pressen beide im Lichte der Medienscheinwerfer die Zähne fest zusammen. Der Spiegel stellte eine beeindrukkende Liste der griechischen einkäufe in Deutschland auf: U-Boote, Jagdbomber, Panzer … Das kleine griechenland mit seinen 11 Millionen einwohnern belegt in der Weltrangliste der großeinkäufer konventioneller Rüstungsgüter den fünften Platz. Die Rüstungsausgaben sind exorbitant hoch: im Jahre 2009 bezifferten sie sich auf 3,3 Prozent des nationalhaushalts. Länder wie Frankreich und großbritannien verzeichneten im selben Jahr Militärausgaben von 2,5 respektive 2,6 Prozent. Die Vereinigten staaten hatten mit 4,8 Prozent die nase vorn. krise hin, krise her, die großen europäischen Bruderstaaten setzten die griechen mit der Drohung, keine weiteren kredite zu gewähren, unter Druck. Die Presseagentur aP zitiert einen Berater des Premierministers Papandreou: »niemand sagt offiziell: ›kauft unsere kriegsschiffe oder wir helfen euch nicht bei der schuldenbewältigung!‹ Doch es liegt die unmissverständliche Botschaft zugrunde, dass wir größere Hilfe erhalten, wenn wir auf der Rüstungsebene auf ihre Wünsche eingehen.« Und die Zeitschrift Vrede schreibt: »als Papandreou im Februar 2010 in Frankreich um Hilfe bei den finanziellen Problemen seines Landes werben wollte, 103
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soll Präsident sarkozy Druck auf ihn ausgeübt haben. am Tag, als Papandreou nach Paris flog, ließ griechenland verlauten, dass man den geplanten ankauf sechs französischer FReMM-Fregatten im Wert von 2,5 Milliarden euro trotz des sich auftuenden finanziellen abgrunds keiner Revision unterziehen wolle.«30 griechenland ist naTO-Mitgliedstaat, damit man in der Region den Fuß in der Tür hat. als knotenpunkt dreier kontinente hat das Land eine enorme strategische Bedeutung. Besonders jetzt, da die naTO und amerikanische strategen ihre volle aufmerksamkeit auf nordafrika, den nahen Osten, iran, den Balkan, die Länder Osteuropas und Russland richten. anfang Oktober 2011 kaufte das bankrotte griechische establishment noch rasch weitere 400 Panzer und 20 amphibienfahrzeuge der amerikanischen armee. Und anscheinend auch noch vier kriegsschiffe im Wert von jeweils drei Millionen euro aus Frankreich. Die Vereinigten staaten, Deutschland und Frankreich spielen die zwischen griechenland und der benachbarten Türkei bestehende Rivalität geschickt aus. als Lieferanten für beide Rivalen profitieren die Rüstungsfabrikanten doppelt. Bestellt griechenland neue Waffen, so muss das Rüstungsunternehmen bloß ein kurzes Weilchen abwarten, bis die Türken ihr interesse an den gleichen Dingen anmelden. Der kalte krieg im kleineren Format, so könnte man meinen. Tatsächlich jedoch ist dieses ganze neue kriegsmaterial überhaupt nicht für eine konfrontation griechenlands mit der Türkei bestimmt, sondern es ist vielmehr Teil einer naTO-strategie zur schaffung neuer, im sinne Washingtons ausgerichteter Machtverhältnisse im nahen Osten. Warum sonst bleibt es in Washington, Brüssel und Frankfurt hinsichtlich der Tatsache, dass die griechische Regierung an allem außer an kriegsmaterialien spart, so auffällig still? 104
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Faktenfreie Politik oder wie man Hetzkampagnen startet auf der griechischen insel Hydra, wo die Häuser schneeweiß sind und das Meer tiefblau, wohnt die niederländische Journalistin ingeborg Beugel. sie berichtete jahrelang über das Land und schreibt mit eifer über die gerüchteküche und Machenschaften der griechischen Politik und wirtschaftlichen elite. »ich finde es höchst interessant, dass die europäische Union in so arroganter, knüppelharter und unerbittlicher Weise unterschiedlichste Forderungen an griechenland stellt, während Brüssel die griechische Regierung nicht im geringsten dazu drängt, doch endlich einmal die korrupten Politiker ins Visier zu nehmen. Diese stören Brüssel offenbar gar nicht. schlimmer noch: Brüssel schweigt wie ein grab, weil sonst viele zwielichtige Praktiken ans Licht kämen, die ihre schatten über europa werfen würden. Zum Beispiel streute siemens horrende summen Bestechungsgelder aus, um eine Monopolposition bei den Olympischen spielen in athen (2004) zu erlangen. Damals ging es um Milliarden, doch wenn man den Dingen nachspürte, käme auch ein deutsches Unternehmen ins spiel, und das möchte Deutschland nicht. auch für teure deutsche U-Boote wurden hohe schmiergelder bezahlt. griechenland hat sie zum doppelten Preis erworben, den die Türkei zu bezahlen hatte. Und im gegenzug für ›Hilfeleistungen‹ zwang Frankreich griechenland zum kauf von kampfflugzeugen zu gepfefferten Preisen. Die Wilddiebe erzählen schamlose Lügen: Bei der sogenannten Hilfe für griechenland wird nichts verschenkt; es wird fett daran verdient«, erzählt die Journalistin dem niederländischen Radio1.31 Wilddiebe? geert Wilders nennt die griechen »Junkies«, denen man kein geld geben darf. »schummel-griechen machen unseren euro kaputt«, titelt die Bild-Zeitung. Und Frits Bolkestein behauptet: »ein großteil der griechischen Bevölkerung ist faul.«32 angela Merkel zufolge nehmen die 105
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griechen zu viel Urlaub und gehen zu früh in Ruhestand. »Wir können keinen einzigen euro teilen, solange die einen sehr viel Urlaub haben und die anderen sehr wenig. Das passt auf Dauer nicht zusammen«, zitiert die Deutsche Presseagentur (DPa) die Bundeskanzlerin.33 Und die athener – so hören wir in De Sevende Dag – erhalten auch noch einen Bonus, damit sie pünktlich zur arbeit erscheinen. alles ein gefundenes Fressen für die breite öffentlichkeit: so sind sie eben, die südeuropäer! Urlaub machen, Luxusrenten einsacken und dann noch von der Terrasse aus, wo sie den lieben langen Tag verdösen, um Unterstützung betteln. Dass die Lästereien über die faule Veranlagung der griechen pure Hirngespinste sind, spielt dabei absolut keine Rolle. sich schlichtweg über Tatsachen hinwegzusetzen, das nennt man: faktenfreie Politik. Hängen südeuropäer den kittel früher an den Haken, um die mediterrane sonne zu genießen? nein, das trifft so nicht zu. Die OeCD-Zahlen für 2011 indizieren, dass griechische Männer mit durchschnittlich 61,9 Jahren aufhören zu arbeiten, also einen Monat später als die Männer in Deutschland. griechische Frauen setzen sich etwas früher zur Ruhe: im alter von 59,6 Jahren, im Vergleich zu 60,5 Jahren bei den Frauen im Musterland Deutschland. 2007 betrug – ebenfalls laut OeCD – eine durchschnittliche griechische Rente 617 euro. ingeborg Beugel erzählt von Menschen auf Hydra, die in den Ruhestand gehen und dann sofort arbeit suchen müssen, um noch über die Runden zu kommen. »Meine untere nachbarin ist 94 Jahre alt und Witwe. ihre monatliche Rente beträgt 400 euro. Das reicht nicht einmal für Windeln und Medikamente. Dank Familie und nachbarn schlägt sie sich unter erbärmlichsten Umständen durch. ich kenne keinen einzigen Holländer, der drei Jobs nachgehen müsste, um über die Runden zu kommen, aber ich kenne Dutzende griechen, die drei Jobs fürs bloße Überleben brauchen. natürlich gibt 106
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es auch griechen mit zu hohen und frühzeitigen Pensionen, aber die bilden die ausnahme und nicht die Regel. Übrigens lebt hier auf Hydra auch eine vollkommen sorgenfreie ehemalige niederländische Lehrerin, die mit fünfzig Jahren in den Ruhestand ging, danach nie wieder arbeiten musste und nun griechenland ohne finanzielle einschränkungen für den Rest ihres Lebens genießen kann. Für alle ihre griechischen kolleginnen ist das ein Ding der Unmöglichkeit.«34 auch mit ihrer abstempelung der griechen als »permanente Urlauber« liegt Merkel merklich daneben. Laut der agentur eurofound hatten griechen im Jahre 2010 durchschnittlich 23 Tage Urlaub. Deutsche hatten deren 30. Über die anzahl der persönlichen Urlaubstage der angela Merkel wollen wir uns nicht auslassen. auch ihr jährliches Urlaubsgeld sollte leicht über dem Durchschnitt liegen. aber vielleicht arbeiten die griechen einfach weniger? nein, auch das stimmt nicht. nach Zahlen der OeCD haben griechen im Jahre 2008 durchschnittlich 2.120 stunden gearbeitet, das sind 740 stunden mehr als Holländer, 690 stunden mehr als Deutsche, 570 stunden mehr als Belgier und 470 stunden mehr als Briten. eine weitere Behauptung im Rahmen der Hetzkampagne gegen die »faulen griechen« bezieht sich auf die angebliche personelle Überbelegung des griechischen öffentlichen sektors. Die Fakten? 2009 zählte griechenland 768.009 Beamte – temporäre, abgeordnete und alle anderen inbegriffen. Diese 11,4 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung reichten europaweit für Rang vierzehn. schweden hatte 30 Prozent Beamte, Dänemark 29 Prozent und Frankreich 21 Prozent. Deutschland: 10,2 Prozent. alle jene Behauptungen über die faulen und urlaubsverwöhnten griechen – und übergreifend auch über die portugiesischen, spanischen und anderen Bewohner der »knoblauchländer«, wie der stets so sensibel formulierende geert 107
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Wilders sie umschreibt – sind einfach aus der Luft gegriffen. Doch der schaden ist angerichtet. Merkels sprüche prangten auf den Titelseiten der Zeitungen, und wer liest dann noch irgendwo hinten auf seite 18 die Richtigstellungen? Das klischee bleibt haften: mediterrane nutznießer, die das geld rechtschaffener nordeuropäischer steuerzahler verprassen. schon einstein sagte wissend: »es ist schwieriger, eine vorgefasste Meinung zu zertrümmern als ein atom.« Rousfeti und Fakelaki: Griechenlands göttliche Monster im zwanzigsten Jahrhundert hat griechenland zwei Diktaturen, eine ausländische Besatzung und einen Bürgerkrieg überstanden. nach der rechten Diktatur der Militärjunta wurde griechenland 1975 zur parlamentarischen Republik. Bis dahin hatte das Land noch niemals ein ausgestaltetes soziales sicherheitssystem kennengelernt. soziale Hilfe für kranke, Ruheständler, invaliden und arbeitslose – das war kaum vorstellbar. Und so musste alles, was soziale Vorkehrungen anbelangte, »geregelt« werden. Da gab es entweder Unterstützung seitens der Familie oder durch Freunde oder – wo man es sich leisten konnte – durch einen zugeschobenen Umschlag. 1981 kam die sozialdemokratische Partei Pasok an die Macht und legte den grundstein für ein umfassendes system des politischen klientelismus, vor allem im öffentlichen sektor. Ohne Parteiausweis keine arbeit, keine soziale sicherheit und keine Beihilfen zum Leben. Rousfeti – das Zauberwort für eine art politische kundenbindung. Pasok und die rechtsgerichtete Partei neue Demokratie beherrschen dies meisterhaft. Man weiß mit dem Phänomen umzugehen, denn schließlich ist es in unserem Lande keine unbekannte größe. Vetternwirtschaft für alle, aber vor allem für die großen Unternehmen. Das system der schmiergelder trägt den na108
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men Fakelaki. Den Höhepunkt bildeten dabei wohl die Verträge für die Olympischen spiele, wobei der staat griechenland letztendlich 8 Milliarden euro verlor. Was die Journalistin ingeborg Beugel darüber schrieb, ist nur allzu wahr. Um Verträge für das ultramodern verfeinerte sicherheitssystem für die Olympischen spiele an Land zu ziehen, schmierte beispielsweise siemens verschiedene Politiker, hohe Beamte und führende Militärs. sowohl die Partei neue Demokratie als auch Pasok durften an der kasse vorbeischauen. ein ehemaliger Parteifreund der Pasok gestand ein, kurz vor den Wahlen des Jahres 2000 von einem spitzenfunktionär des Unternehmens siemens 420.000 euro angenommen zu haben. selbstverständlich eine goodwill-aktion, mochte die nette geste auch fast eine halbe Million euro kosten. Man weiß schließlich, was sich gehört. siemens bekam den Vertrag. natürlich gibt es sie also in griechenland: die korruption. Derart gesetzte anreize der sechstausend größeren Unternehmen des Landes werden auf circa 15 Milliarden euro jährlich taxiert. Zum Vergleich: Für Belgien belaufen sich die schätzungen zu groß angelegtem steuerbetrug auf 30 Milliarden euro. Jeder Belgier wird sich daran erinnern, dass das luxemburgische schwarzgeld der kBC Bank aufgrund von Verfahrensfehlern unangetastet blieb und dass die belgische Obrigkeit dem Textilmagnaten Roger De Clerck sogar noch geld zahlen musste, weil sich sein Prozess zu lange dahinschleppte. Handel und Wandel dieser gestalt wurden zur inspiration für die TV-serie Das göttliche Monster. Politische Vetternwirtschaft und korruption sind weder typisch griechische noch typisch belgische Probleme. sie sind typisch für den kapitalismus, für die ellbogen-Rangeleien im Wettstreit um den größten Happen am Markt und um zweistellige Renditen. »es ist den griechen ein Dorn im auge, dass Premierminister Papandreou noch keinen einzigen korrupten Politiker 109
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auf die anklagebank gesetzt, keinen Unternehmer oder schiffsreeder bestraft und noch keinen einzigen Cent der Milliarden von euro zurückgeholt hat, die in diversen Taschen verschwanden«, schreibt ingeborg Beugel. Man spuckt vor der Regierung verächtlich aus. Wo Papandreou auftritt, hisst man schwarze Fahnen. als sein innenminister sich einen Film anschauen wollte, erkannten ihn studenten im kino und kippten ihm Wasser und Joghurt über den kopf, bevor er von einem lauten Pfeifkonzert und höhnischen Rufen begleitet aus dem kino floh. Panhellenische sozialistische kleptokraten, eine Regierung von Dieben also, so nennt soziologieprofessor James Petras die herrschende Pasok-Partei: »Die Pasok wurde rund um eine elite und deren gefolgschaft aufgebaut, die noch niemals steuern bezahlte, sich aber geld aus der staatskasse holte und sich auf Regierungsgeschenke verließ. steinreiche Reeder entzogen sich der steuer, indem sie unter fremder Flagge (Panama) segelten. aber sie wollten lieber griechische kapitäne anheuern und zahlten dafür gerne in die Parteikasse ein. Rechtsanwälte, Ärzte und architekten meldeten schmale einkommen an und empfingen als versteckte einkünfte unter dem Tisch Barzahlungen, die ihre gehälter weit überschritten. Manager, immobilienspekulanten, Banker und importeure bezahlten schmiergelder an Parteiführer, um persönliche steuervergünstigungen und eU-kredite sicherzustellen, die sie in touristische Projekte investierten oder auf überseeischen konten deponierten. so baute die Partei zusammen mit der geschäftselite ein organisiertes netzwerk von kleptokraten auf. sie plünderten die staatskasse und ließen die Rechnungen dafür über die Löhne und gehälter der arbeitenden Bevölkerung begleichen. Denn von Löhnen müssen ja schließlich steuern einbehalten werden. Für Lohnempfänger ist griechenland ein schlechtes Pflaster, denn sie sind dort die einzigen, die steuern zahlen.«35 110
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Goldman Sachs International und die Schönfärbung von Zahlen griechenland wurde strukturell instabil, da sich der produzierte Reichtum im Laufe der Jahre zunehmend bei der elite sammelte und sich die kaufkraft der Bevölkerung so verminderte. Hinzu kam, dass ein großer Teil des Volkseinkommens für konsumgüter aus dem ausland verwendet wurde. europas südliche achse diente den exportwirtschaftsländern, allen voran Deutschland, als absatzmarkt. Dafür erhielt sie wohlwollende Darlehen, nicht zuletzt von … deutschen Banken. auf diese Weise floss im ausland geliehenes geld in dasselbe ausland zurück. im Zeitraum 1975–1980 verzeichnete griechenland noch einen Handelsbilanz-Überschuss von 1,5 Prozent: es wurden mehr güter und Dienstleistungen exportiert als importiert. in den Jahren 1990–2000 schlug die Bilanz auf ein Defizit von 3 Prozent um, und seit dem Beitritt zur eurozone verschlechterten sich die Zahlen zu einer negativen Handelsbilanz von 10 bis 13 Prozent. griechenland begann Produkte zu importieren, die es früher selbst produziert hatte. aufgrund der Finanzkrise schnellten die staatsschulden urplötzlich rasant in die Höhe: von 115 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Jahre 2007 auf 143 Prozent in 2010, und als kettenreaktion stiegen sodann auch unaufhaltsam die Zinsen für jene schulden. Vor allem ist es die Zinslast, die schwer wie ein Mühlstein am Halse der Wirtschaft hängt: Während die griechen ein Jahrzehnt zuvor noch jährlich 9 Milliarden euro an Zinsen auf laufende Darlehen abzuzahlen hatten, waren es im Jahre 2010 bereits über 15 Milliarden. im Oktober 2009 flog ein immenser schwindel auf: Die »beiden Papas« der griechischen sozialdemokratie, Ministerpräsident giorgos Papandreou und sein Finanzminister giorgos Papakonstantinou, enthüllten, dass ihre Vorgänger 111
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systematisch falsche und vor allem viel zu rosige Zahlen über griechenlands staatsdefizite vorgelegt hatten. Das Haushaltsdefizit habe im Jahre 2009 bereits 12,7 Prozent und nicht bloß 3,7 Prozent betragen. entrüstet tönten die staatsführer und Minister der anderen euroländer, dass die griechen ganz europa in übelster Weise betrogen hätten. Didier Reynders (seit nahezu Menschengedenken Belgiens Finanzminister) bekannte später im französischen Wirtschaftsmagazin La Tribune kleinlaut: »Zum Zeitpunkt seines Beitritts zur eurozone im Jahre 2001 wussten wir bereits, dass griechenlands statistiken gefälscht waren.«36 e New York Times wusste zu berichten, dass die beiden amerikanischen großbanken JP Morgan und goldman sachs zehn Jahre lang professionelle Hilfe dazu geleistet hatten, die korrekten griechischen schulden- und Haushaltsziffern zu verdunkeln.37 Und wer war damals Vizepräsident und geschäftsführender Direktor bei goldman sachs international? Mario Draghi! Trotz der schönfärbung griechischer Zahlen – von der Draghi zwingend gewusst haben muss, denn schließlich war es seine eigene Bank – empfahlen Merkel, sarkozy und andere europäische staatsführer diesen Mario Draghi für das neu zu besetzende amt des Präsidenten der europäischen Zentralbank. Weltmeister in der Disziplin der Doppelmoral, das sind sie! anprangernd deuten sie begleitet von schallend-verächtlichem Pfui, Pfui, Pfui mit dem Zeigefinger der einen Hand auf die beschönigende Fälschung griechischer Haushaltsziffern, während sie zugleich mit der anderen die protokollarischen Unterschriften leisten, die einen spitzenfunktionär genau der Bank, die federführend bei diesen Fälschungen mitgeholfen hat, in einen der strategisch wichtigsten europäischen sessel hieven. Der Wille der Troika ist Gesetz nach den enthüllungen von Pasoks »beiden Papas« ende 2009 fielen die Finanzmärkte über Hellas her wie der Mi112
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notaurus über die ihm als Opfer zugeführten jungen athener. einhellig setzten die Ratingagenturen die griechische kreditwürdigkeit herab, sodass es für athen bedeutend teurer wurde, geld zu leihen. Zugleich kletterten auch die Darlehenszinsen. spekulanten setzten auf den baldigen konkurs des Landes und erwarben im großen stil sogenannte Credit Default swaps, die als eine art Versicherung große summen abwerfen würden, so griechenland seine staatsanleihen nicht mehr tilgen könnte. am 15. Januar 2010 legte der in die enge getriebene Papandreou der europäischen kommission einen ersten Plan, und zwar den umfangreichsten sparplan seit den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts vor. Der stabilitäts- und Wachstumspakt der eU sieht nämlich vor, dass das Haushaltsdefizit jedes einzelnen Mitgliedstaates auf drei Prozent zu begrenzen ist, und auf diesen grenzwert richtete Papandreou seine Politikführung aus. er setzte die Mehrwertsteuer und die Rentenaltersgrenze nach oben und nahm im öffentlichen Dienst erhebliche kürzungen vor. Darüber hinaus kündigte er Maßnahmen gegen steuerhinterziehung an. Die europäischen instanzen segneten alles ab, jedoch nicht ohne griechenland unter die strenge aufsicht der Union zu stellen. am 3. März 2010 reagierte schließlich auch das griechische Volk auf Papandreous Pläne: Offener aufruhr tobte durchs Land. Häfen, Flughäfen, Banken, Rundfunk und Fernsehen, Unterricht, öffentliches Transportwesen … alles lag flach. griechenland ging auf die straße! Das griechische Parlament musste die Pläne an jenem Tage billigen. Dies verlangten die europäische kommission, die europäische Zentralbank und der internationale Währungsfonds, und der Wille dieser »Troika« war gesetz. ansonsten würde es nämlich keine Hilfe geben: Und so flehte giorgos Papakonstantinou die Parlamentarier im Halbrund an, dem drakonischen sparplan zu zuzustimmen, »um unsere glaubwürdigkeit auf den Märkten wiederherzustellen.« Und so geschah es. 113
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europas nadelstreifenanzugträger reagierten begeistert. Die neue iron Lady angela Merkel war schier aus dem Häuschen: »Wir bejubeln die heute beschlossenen Maßnahmen der griechischen Regierung. sie bilden ein sehr wichtiges signal für den Markt, um neues Vertrauen in griechenland zu setzen, aber auch in den euro.«38 am liebsten allerdings hätten Deutschland, die niederlande und weitere Länder griechenland in konkurs geraten lassen. Dieses Wunschdenken war in der breiten Bevölkerung geschürt worden: »61 Prozent (!) der Deutschen sind gegen jede Hilfe für griechenland«, hallte es im März 2010 durch die Presse. nun ja, schließlich war dem deutschen Durchschnittsbürger über Wochen hinweg tagtäglich eingebläut worden, dass jede einzelne deutsche Familie für griechenlands Rettung Hunderte euro werde geben müsse. nun saßen aber noch deutsche und andere Banken auf griechischen schuldverschreibungen in Milliardenhöhe, und nicht nur die Banken waren verwundbar, sondern auch Versicherungsgesellschaften und Rentenfonds saßen auf solchen geldanlagen fest. somit bestand durchaus die gefahr eines Dominoeffekts, in dessen Zuge auch andere schwache euroländer wie irland, Portugal oder spanien zu Fall kommen konnten. Das wäre eine katastrophe! Und so nahmen Pläne für ein europäisches Rettungspaket gestalt an. Das Frühjahr 2010 brachte keine Veränderung. griechenlands situation am kapitalmarkt verschlechterte sich weiterhin. Und so schickte ende april 2010 giorgos Papandreou von seiner Urlaubsinsel kastelorizo einen sOsRuf: Die situation sei so fatal, dass er die europäische Union auf knien um neue kredite anflehe. Jean-Claude Trichet von der europäischen Zentralbank, Dominique strausskahn (zum damaligen Zeitpunkt Chef des iWF) und José Manuel Barroso forderten zunächst weitere drakonische einsparungen ein. »Dafür sollen diese armseligen griechen erst mal was springen lassen«, lautete die insgeheime Maxime 114
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der Troika, die dem netzwerk von Familie Latsis und anderen steinreichen griechen ja nicht unbekannt war. Funktionäre des iWF, der eU und der eZB flogen nach athen, um die verstärkte kontrolle zu konkretisieren. am 2. Mai legte Papandreou ein neues sparpaket vor, eines aus Blut und Tränen: es wurden die Löhne im öffentlichen Dienst um durchschnittlich 10 Prozent gekürzt, die Mehrwertsteuer nochmals erhöht, Löhne für Überstunden abgebaut sowie Prämien für Ostern, Weihnachten und Urlaub im öffentlichen Dienst beschnitten – auch für alle Ruheständler. Für das anrecht auf volle Rente sind fortan 40 statt 37 Beitragsjahre nachzuweisen, und außerdem erfolgt die Berechnung der Rentenhöhe nun basierend auf den letzten zehn arbeitsjahren statt wie zuvor auf den fünf am besten bezahlten Jahren. Für die meisten Personen verringert sich die Rente dadurch beträchtlich. Der Mindestlohn wurde auf 592 euro gesenkt. Drei Tage später, am 5. Mai, organisierten die gewerkschaften den bereits dritten generalstreik binnen weniger Monate, doch Papandreou schaltete auf stur. Rasch waren die Folgen spürbar. Die neunundzwanzigjährige Lehrerin irini erzählt: »Heute ist mein gehalt auf dem konto verbucht. erstmals ein anderer Betrag als gewohnt, wegen Papandreous Maßnahmen. ich habe ausgerechnet, dass ich jährlich über ein volles Monatsgehalt mehr abzuführen habe. es ist unglaublich, dass ausgerechnet das Bildungswesen so schlimm herhalten muss. Warum greift Papandreou nicht in anderen Bereichen zu? Zum Beispiel bei den reichen Reedern? Oder haben die da etwa nichts damit zu tun?« Um das Vertrauen der Finanzmärkte zurückzugewinnen, sollen jetzt also kindergärtnerinnen, stewardessen, Landwirte, Bankangestellte, Bauarbeiter, Verkäufer und Rentner für eine krise bezahlen, die sie gar nicht verursacht haben? in der allgemeinheit wächst der Unmut, die Volksseele beginnt zu kochen. ingeborg Beugel rechnet vor: »Lehrer ver115
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dienen nach der ersten einsparungsrunde des Jahres 2010 im monatlichen Durchschnitt nur noch 800 euro. Davon entfallen sofort 500 euro auf die Miete und andere feste nebenkosten. somit verbleiben 300 euro zum Leben. an die gründung einer Familie braucht man als Lehrer eigentlich gar nicht mehr zu denken. Und was fängt eine kindergärtnerin oder stewardess mit einem Monatsgehalt von 650 euro an?«39 Die Deutsche Bank kauft Zeit Und doch, trotz des sozialen kahlschlags, ging der angriff der Finanzmärkte auf griechenland weiter. anfang Mai 2010 herrschte in Brüssel eine fiebrige atmosphäre. Beratungen über Beratungen, und überall wurde telefoniert. »Wir haben eine situation wie nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers«, hallte es als Warnschrei an jenem Freitag, dem 7. Mai, über den europäischen gipfel der staats- und Regierungschefs. »Wir brauchen ein abkommen, bevor am Montagmorgen die asiatischen Börsen öffnen!« noch am abend legte der gipfel die Richtlinien für einen Rettungsschirm für den euro fest, die am selben Wochenende im Rahmen einer außerordentlichen sitzung der europäischen Finanzminister konkret auszuarbeiten und zu verabschieden waren. im allerletzten augenblick, am Montag dem 10. Mai kurz vor zwei Uhr morgens, lag das konkrete ergebnis vor. Der Vorsitzende Jean-Claude Trichet von der eZB bewies um Viertel nach drei Uhr an diesem frühen Montagmorgen trotz Müdigkeit stärke. er informierte in einer knappen erklärung darüber, dass die Bank zum ankauf von staatsanleihen der »krisenstaaten« übergehen werde. Für liberale Ultras eine Todsünde: sie befanden, dass Zentralbanken sich in Haushaltsprobleme nicht einzumischen hätten, auch die eZB nicht. Und es geschah dennoch. 116
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Die eZB werde dubiose schuldpapiere der »krisenstaaten« nicht direkt von Regierungen aufkaufen, sondern auf dem »sekundären Markt«, also bei den Banken. so konnten diese sich ihrer wertlosen Papiere entledigen, im austausch für geld, das die eZB nachdrucken ließ. Wie zuvor bereits die amerikanische Zentralbank Fed wurde die eZB auf diese Weise zu einer Bad Bank. Die zweite entscheidung des Maigipfels war, dass die euroländer für einen gemeinsamen notfallfonds sorgen mussten, die european Financial stability Facility. Diese eFsF, eine aktiengesellschaft, kann kredite für Länder in not bereitstellen, die an den Finanzmärkten keine realisierbaren Darlehen mehr aufnehmen können. Die eFsF soll die kredite als gebündelte Obligationen auf den Markt bringen. Die Bezeichnung »eurobonds« kann in diesem Zusammenhang keine Verwendung finden, da die Mitgliedstaaten keine direkten kredite an ein in schwierigkeiten befindliches Land vergeben. Darum kümmert sich die eFsF. Die Mitgliedstaaten bürgen für die kredite. kommission und eZB stellen die eFsF als instrument heraus, das »krisenstaaten« den Rücken stärke. Tatsächlich aber soll die eFsF vor allem verhindern, dass solche staaten allzu rasch bankrott gehen, weil sonst die großbanken mit deren wertlosen Papieren enorme Verluste einfahren würden. in den ersten Tagen des Monats Mai schnürte die eU auch das »griechische Rettungspaket« in Höhe von 110 Milliarden euro. Bedingung für dieses Paket war, dass athen die Macht an die europäische kommission, die europäische Zentralbank und den iWF übertrug, der sich an der Finanzierung beteiligte. Diese Troika legt viermal jährlich einen Bericht über die Fortschritte der Reformen und einsparungen vor. Ohne erkennbare Fortschritte werden keine weiteren kredite bewilligt. Wenngleich mehr hinter den kulissen, spielte in diesen ereignisreichen Tagen des Monats Mai 2010 neben Trichet 117
»Die Verantwortlichen der Krise sind die Banken, die Spekulanten und die Milliardäre. Sie haben jetzt noch mehr Macht, und die Politik lässt sie gewähren. Im Jahre 2008 haben die Regierungen harte Maßnahmen versprochen. Nichts davon wurde erreicht. Stattdessen haben diese Leute sich Völker und Länder wie Portugal und Griechenland vorgeknöpft. – Wie können sie es wagen?« »Dieses Buch ist unerlässlich. Ich begrüße es als einen Anfang im Kampf gegen den herrschenden Asozialismus.« – Dimitri Verhulst
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