Storch 800
Flug Storch 800 war nicht ans Ziel gekommen, und das Unglück war so verlaufen: In etwa acht Kilometern Höhe entriegelte sich durch ein kleines Fehlerchen der Verschluss der Frachtraumtür, woraufhin sie, gepresst vom Luftdruck im Innern des Flugzeugs, nach außen aufklappte und zunächst einen kleinen dritten Flügel bildete. Der Wind riss die aufgeklappte Frachtraumtür jedoch sogleich ab, wirbelte sie zum Himmel fort, und an den herausreißenden Scharnieren pellte sich die Aluminiumhaut des Flugzeuges wie eine Fischbüchse auf. Mit etwas Glück hätte das Flugzeug weiterfliegen und notlanden können. Doch im Falle von Storch 800 war das unmöglich, denn aus dem gerissenen Loch flogen sechs überraschte Passagiere, die von der Turbine unter der rechten Tragfläche aufgesaugt und zu einem Brei aus Fleisch und winzig kleinen Knochensplittern mouliniert wurden. Die Turbine war jedoch nicht dazu ausgelegt, sie konnte ein Vögelchen oder einen Spatzenschwarm verdauen, nicht aber sechs ausgewachsene Menschen, weshalb sie nach solch außergewöhnlicher Kost heftig zu vibrieren begann. Das Triebwerk rüttelte so stark an der Tragfläche, dass diese abriss und ihren eigenen Weg einschlug. Mit nur noch einem Flügel war die Manövrierfähigkeit des Flugzeuges erheblich gemindert. Es torkelte im Wind und schoss selten zu beobachtende Kapriolen. Heftige Luftwirbel schlugen gegen die Nase der Maschine und trennten das Cockpit ab, wobei sich das von der Frachtraumluke gerissene Loch als Sollbruchstelle erwies. Damit war dem Piloten endgültig die Einflussnahme auf die Steuerung genommen und eine sichere Landung undenkbar. Aus der offenen Röhre, die der enthauptete Rumpf bildete, sprudelten jetzt auch die restlichen Passagiere mit ihrem Gepäck, ihrem Essen, ihren Taschen und allen anderen unbefestigten Din114
gen ins Freie. Zusätzlich entzündete sich das aus dem abgerissenen Flügel spritzende Kerosin und setzte das himmlische Schauspiel in ein feuriges Licht, das den Insassen allerdings nicht lange in Erinnerung bleiben sollte. So war das Flugzeug kurz vor New York abgestürzt. Den genauen Hergang und die Ursache der Katastrophe kannten bisher nur die drei Männer, die sich in einem Berliner Büroturm im siebzehnten Stock hinter verschlossener Tür zur Beratung zurückgezogen hatten. »Was sagen wir denn nun der Öffentlichkeit?«, fragte der älteste der Herren, die auf Ledersesseln um einen schweren Glastisch herum Platz genommen hatten. Sein schütteres Haar lag akkurat zu einem Scheitel gezogen auf dem Schädel. Er hatte ein fleischiges Gesicht, aus dem die Augen nur durch schmale Speckschlitze unter einer langen Stirn hervorlugten. Als Vorstandsvorsitzender der Storch-Airlines musste er sich um eine Erklärung für den Absturz der Maschine seines Luftfahrtunternehmens bemühen. »Das hier können wir auf jeden Fall nicht erzählen«, fuhr er nach kurzer Stille fort und drückte die Wiedergabetaste des vor ihm liegenden Tonbandgerätes. Er lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und faltete die Hände. Aus dem Lautsprecher ertönten die letzten Sekunden der Aufzeichnung des Voicerecorders, welcher die Gespräche im Cockpit des verunglückten Flugzeuges mitgeschnitten hatte: »›He Papi, was ist denn das da für’n Knopf ?‹ – ›Das ist der Knopf, mit dem die Frachtraumluke entriegelt wird.‹ – ›Darf ich da mal draufdrücken?‹ – ›Nein, auf keinen F… krrrk.‹« Schweigend saßen sie um das Tonbandgerät, das nach dem abschließenden Knacken nur noch leeres Band abspielte und leise mit der Wickelspule raschelte. »Was sagt uns das?«, fragte der Vorstandsvorsitzende und schaltete das Gerät ab. »Das sagt uns«, gab er selbst die Antwort, »dass der Kapitän seinen Sohn mit ins Cockpit genommen hat, was natürlich verboten ist. Das sagt uns weiterhin, dass die üblichen sechs Passagiere aus dem Loch heraus- und in die Düse gesaugt worden sind, wodurch die Maschine bekanntlich abstürzen muss, weil ein 115
Flügel abbricht. Das haben uns ja damals die aufwendigen Computersimulationen gezeigt, die wir haben durchführen lassen, nachdem wir bei ähnlich gearteten Unglücken bei der Bergung der Leichen immer sechs Stück nicht gefunden haben. Also, diesmal ist wieder die Frachtraumtür aufgegangen – nicht durch eine Bombe, die in irgendeinem Koffer war, nicht durch eine aufgescheuerte Isolierung an einem Kabel, das den Elektromotor zum Entriegeln eingeschaltet haben könnte – nein, das war der Sohnematz des Captains, der mal aus Jux auf das Knöpfchen gedrückt hat. Prima! Das können wir wirklich keinem erzählen. Das geht nicht. Das darf nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Also, meine Kollegen, wir müssen uns was Besseres einfallen lassen. Aber was?« Er lehnte sich in die Polster hinein und rieb sich das glatte Kinn. »Sex?«, schlug der Pressesprecher vor. »Sex zieht immer. Sex sells! Wir erzählen nicht, dass der Sohn des Captains auf den Knopf gedrückt hat, sondern dass die Stewardess versehentlich an den Knopf gestoßen ist, als sie Sex hatte.« »Mit wem? Mit dem Sohn?«, fragte der dritte Mann am Tisch. »Nein, mit dem Kapitän oder dem Copiloten, wie auch immer, ist doch egal.« »Quatsch, Herr Mönninger, das ist doch absurd und bringt uns überhaupt nicht weiter. Ob nun der Bengel auf den Knopf drückt oder der Copilot es mit der Stewardess treibt, ist einerlei. Die Schuld läge bei uns, da wir unzuverlässiges Personal eingestellt hätten. Wir müssen irgendetwas finden, das plausibel klingt und uns entlastet«, brummte der Vorsitzende. »Tschuldigung, ’s war ja nur so ’ne Idee von mir«, sagte Mönninger beleidigt und schaute verlegen durch die Gläser seiner Brille. Er beulte den Mund nach vorn, zuckte mit den Schultern und richtete seine Augen auf das leere Blatt Papier, auf das er sich mit verschränkten Armen stützte. »Wie wär’s mit höherer Gewalt? Das Flugzeug ist mit einem UFO kollidiert«, sagte der dritte Mann. Er war stellvertretender Vorstandsvorsitzender von Storch-Airlines. »Sehr gut, Herr Strack«, erwiderte der Vorsitzende, einen Zeigefinger hebend. »Vom Ansatz her sehr gut, eine wirklich ausgezeichnete Idee, allerdings würden sich Heerscharen von UFO116
Forschern auf solche Nachrichten stürzen und versuchen, die Echtheit der Beweisfotos, die wir dafür herstellen müssten, anzuzweifeln. Und irgendjemandem würde es vielleicht noch gelingen, die Fälschung nachzuweisen, weil er ein winzig kleines Fehlerchen findet, vielleicht einen Schatten, der in die falsche Richtung zeigt, oder einen Lichtreflex an der falschen Stelle. Dann wären wir doppelt dran. Aber die Idee mit der höheren Gewalt gefällt mir. Das wäre etwas Unvorhersehbares gewesen, und die Schuld könnten wir dem übernatürlichen Ding in die Schuhe schieben.« Er trommelte mit den Fingernägeln auf die Tischplatte. »Höhere Gewalt ist gut. Wer kriegt die Schuld?«, murmelte er leise in die Hand, in die er sein Kinn stützte. »Ein Attentat! Wie wär’s damit?«, fragte Strack. »Das hatten wir letztes Mal schon«, antwortete Mönninger. »Ja, ein Attentat wäre nicht schlecht, wenn wir nicht letztes Mal schon eines gehabt hätten. Die Schuldfrage wäre kein Problem. Die Schuld läge beim Attentäter, das wäre klar. Aber wir müssten uns rechtfertigen, warum wir den Verbrecher nicht im Vorfeld bemerkt haben, und außerdem müssten wir ihn suchen und am besten irgendwann finden und präsentieren. Wir bräuchten eine Person, die mit Reue im Gerichtssaal sitzt und sagt, dass es ihr furchtbar leid tut, was sie da angestellt hat. Wer soll das machen? Wer kann das bezahlen? Denn erstens gibt es keinen echten Attentäter. Und zweitens …« »Moment! Wer sagt denn, dass der Attentäter noch leben muss?«, warf Strack ein. »Er könnte doch an Bord der Maschine gesessen haben.« »Ein Selbstmörder?« »Richtig, ein Selbstmörder.« »Aha, ein Selbstmörder, wie beim letzten Mal«, sagte Mönninger gelangweilt und machte eine Notiz auf seinem Blatt. »Ja, wie beim letzten Mal«, bekräftigte Strack seinen Vorschlag. »Wie beim letzten Mal«, sagte Schilling. »Ein Selbstmörder, der mit einer Handgranate das Flugzeug in die Luft gesprengt hat und deswegen nicht mehr bestraft werden kann, aber die Schuld daran trägt. Nur zu dumm, dass wir beim letzten Mal schon gesagt haben, dass wir alle erdenklichen Vorkehrungen getroffen haben, damit so etwas auf keinen Fall noch einmal vorkommt.« 117