Leseprobe Erwin Krottenthaler, José F.A. Oliver – literaturmachen – Literatur und ihre Vermittler

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Wie gehe ich mit der Angst um, zu scheitern? Scheitere ich, wenn ich einen Text verwerfe und von Neuem beginne? Ist Scheitern eine Größe in mir oder von außen festgelegt? Ist Scheitern eine Voraussetzung für etwas Neues? 44


»Es gibt ernst zu nehmende rationale Gründe für eine Verunsicherung. Eine andere Frage ist natürlich, wer diese Verunsicherung in welche Richtung lenkt. Das ist das Establishment, der Status quo, die herrschenden Interessen. Sie versuchen abzulenken von den eigenen Unzulänglichkeiten. Das haben die Machthaber ja schon immer gemacht.« Ilija Trojanow

Ilija Trojanow, geboren 1965 in Sofia, floh 1971 mit seinen Eltern über Jugoslawien und Italien nach Deutschland. Ein Jahr später zog die Familie nach Kenia, wo Ilija Trojanow, unterbrochen von einem längeren Deutschlandaufenthalt, bis 1984 lebte. Anschließend studierte er in München Rechtswissenschaften und Ethnologie und gründete zwei auf afrikanische Literatur spezialisierte Verlage. Weitere biografische Stationen waren Mumbai (1999) und Kapstadt (2003 bis 2007). 2006 erschien sein Roman Der Weltensammler, der ihn berühmt machte. Ilija Trojanow erhielt unter anderem den Preis der Leipziger Buchmesse (2006) und den Würth-Preis für Europäische Literatur (2010). Er war Stadtschreiber in Mainz und Poetik-Dozent in Tübingen. Derzeit lebt er in Wien.

Jüngste Publikationen: Eistau, Roman, Carl Hanser Verlag, München 2011; Die Versuchungen der Fremde: Unterwegs in Arabien, Indien und Afrika, Malik Verlag, München 2011 und Stadt der Bücher (mit Anja Bohnhof ), LangenMüller Verlag, München 2012 45


&ĂŝůƵƌĞ ŝƐ ŶŽƚ ĂŶ ŽƉƟŽŶ ŽĚĞƌ͗ Von Anfang an auf Scheitern eingestellt Ein Mann auf einem Schiff. Ein weiterer Mann. Und dessen Ehefrau. Der eine Mann ist Librettist, der Verheiratete Komponist. Die drei sind auf Weltreise. Wenn das Kreuzfahrtschiff in New York anlegt, müssen Librettist und Komponist ein Musical fertig geschrieben haben. Sie hatten eine Weltreise Zeit dafür. Es bleiben ihnen noch einige Tage auf hoher See. Ihnen fehlt nur noch eine letzte Nummer, ein Schlager, ein Lied, das um die Welt gehen könnte. Die meisten Projekte zerschellen an den Herkulessäulen des Anfangs. Bevor der erste Satz, die erste Skizze, der erste Entwurf hingekritzelt worden ist, thront eine Neontafel mit dem Spruch QUO VADIS über allen Absichten. Kaum ist der Anfang gemacht, schon nach dem ersten Augenaufschlagen der Geschichte, spürt man ihren Wellengang. Hinter den entzifferbaren Wellen erscheint der Ozean endlos und ewig gleich. Genau das verunsichert uns. Der Komponist hat sich in den Librettisten verliebt. Er bildet sich ein, seine Frau ahne nichts davon. Sie haben bislang eine glückliche Weltreise verlebt. Auf dem Kreuzfahrtschiff toben sich Sehnsüchte aus. Er hat sich in die zartgliedrigen Finger verliebt. Der Librettist verfasst immerfort Entwürfe. Sein Füllfederhalter streicht mit grüner Tinte über das Papier. Wenn sie zu dritt im Salon sitzen, drängt es den Komponisten, den Librettisten zum Tanz einzuladen. Der Beginn ist die Hälfte des Ganzen. Pythagoras paukte diesen Sinnspruch seinen Schülern ein. Aristoteles wiederholte die 47


Weisheit. Platon suchte sie zu variieren: Der Beginn ist der wichtigste Teil der Arbeit. Horaz schliff den Edelstein um: Wer beginnt, der hat schon halb vollendet. Dichter und Denker sind sich über Epochen hinweg einig, unabhängig von ihrer Weltanschauung: Aller Anfang ist schwer, aber hat man ihn vollbracht, ist der Rest reine Beharrlichkeit. Allein Geheimrat Goethe opponierte: Aller Anfang ist leicht und die letzten Stufen werden am seltensten erstiegen. Mit dem Anfang haben wir uns festgelegt (und damit dem Scheitern Tür und Tor geöffnet), der Verdacht nagt an uns, ob diese Entscheidung die richtige war. Wäre ein Tag früher nicht der bessere Einstieg gewesen? In der Kajüte statt auf dem Außendeck? Ist die Liebe zwischen ihm und ihr wirklich schon erloschen? Fliegen Sturmvögel vorbei oder ein einzelner Albatros? Wer seinen eigenen Beginn übermäßig unter die Lupe nimmt, verunsichert sich heillos. Wir müssen losgehen, müssen abbiegen, umdrehen, aufsteigen und hinabrutschen, und doch sehnen wir uns bei jeder Entscheidung nach der Freiheit der unbeschränkten Wahl. Die Erregung ist spürbar. Wellen walzen heran, alles Wasser ist in Bewegung. Die Gischt spritzt hoch, bis zur Brücke hinauf. Das Schiff fällt in tiefe Täler, richtet sich ächzend auf. Fall um Fall. Auf dem rutschigen Außendeck stehen zwei einsame Gestalten. Der eine ist der Librettist, der andere der Komponist. Sie berühren sich an Schultern und Hüften, der schneidende Wind rechtfertigt es. Der Komponist hat seine Hände in den Seitentaschen seiner Felljacke vergraben. Wie wäre es hiermit, sagt der Librettist und drückt ihm eine beschriftete Serviette in die Hand. »Weit ist der Weg nach Montevideo niemals hätt’ ich dort Halt gemacht, wenn nicht ein Mädchen in Rio, oder war’s in Santiago, mir zum Lohne einen zweiten Kuss versprochen hätt.«

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Das Schiff stürzt in die nächste Tiefe und arbeitet sich mühsam wieder empor. Der Komponist zündet sich eine Zigarette an und wirft das erloschene Streichholz weg. Ein Satz geht ihm durch den Kopf, den er nicht zuordnen kann: In jedem Anfang liegt die Ewigkeit. Er spricht ihn aus, zweimal, um sich gegen den Wind verständlich zu machen. Das ist alles, was wir tun können, erwidert der Librettist, immer wieder von Neuem anfangen, immer und immer wieder. Die ersten Blutspritzer auf der Leinwand. Das klingt nicht nach viel und ist doch beachtlich, denn wir könnten auch schweigen. Das Verstummen wird gemeinhin als das größte Scheitern eines Schriftstellers angesehen (»Er hat nur diesen einen Roman verfasst«; »Nach diesem Meisterwerk hatte er sein Pulver verschossen«). Anders betrachtet könnte das Schweigen als höchste Ebene einer geistigen Entwicklung gelten. Als Weisheitsakt. Der Autor hat das Recht, würdevoll zu verstummen, ohne dass ihm dies einen negativen Eintrag ins Zeugnis einbringt. Anders gesagt: Hölderlin und Rimbaud haben sich von den prometheischen Fesseln ins Schweigen befreit. Und dafür (zumindest im Falle Hölderlins) mit dem Verstand bezahlt. Trotzdem, seitdem müssen wir beim Schreiben immer wieder die Alternative des Verzichts mitdenken. Am nächsten Abend stellt der Bandleader den Passagieren einen unbekannten Tanz vor, einen Viervierteltakt, der schwingt, aber nicht hechelt. Der Fagottist führt den Tanz vor, mit der Sängerin des Orchesters. Das Publikum applaudiert, als wäre das Pferd, auf das sie alle gesetzt haben, soeben als Sieger durchs Ziel gelaufen. Dieser Tanz stammt von den Kleinen Antillen, erklärt der Bandleader. Stellen Sie sich vor, Afrika wirbelt mit Frankreich über die Tanzfläche. Ein großer Hit in Paris, neulich, bei der Kolonialausstellung. – Und der Name, woher kommt dieser merkwürdige Name, fragt der Komponist in Tischlautstärke. Aus dem Französischen, s’embéguiner, antwortet der Librettist. Was das wohl bedeuten mag? – Flirten, um jemanden werben. – Mein Lieber, der Komponist legt seine Hand augenfällig auf die elegante Hand des Librettisten, du bist so umwerfend bewandert. – Und nun, ruft der Bandleader aus, beginnen wir den Beguine. 49


d øã çÄ > Ý ½ã Ù Janne Teller

Gibt es heute noch eine »Jugendliteratur«? Wie viel wovon ist jungen Lesern zumutbar? Schreibt man für Jugendliche anders als für Erwachsene? Gibt es diesbezüglich Altersgrenzen? Tabus? Ab wann ist ein Leser mündig? 100


»Junge Leute stellen sich alle fundamentalen Fragen ganz von allein. Es sind die Erwachsenen, die sich unwohl fühlen, wenn an der Lackierung all dessen gekratzt wird, was wir aus reinem Konformismus täglich mitmachen.« Janne Teller

Janne Teller stammt aus einer österreichisch-deutschen Familie. Als Makroökonomin arbeitete sie von 1988 bis 1995 als Beraterin für die EU und für die UNO in Daressalam, Brüssel, New York und in Mosambik. Seit 1995 widmet sie sich ganz ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin und lebt abwechselnd in New York, Mailand, Paris und Kopenhagen. Besonderes Aufsehen erregt hat ihr Jugendroman Intet (deutsch: Nichts). Er wurde nach dem Erscheinen der dänischen Ausgabe im Jahr 2000 in Skandinavien kontrovers diskutiert. Die deutsche Ausgabe ist 2010 erschienen.

Jüngste Publikationen: Komm, Roman, 2012 und Alles – worum es geht, Erzählungen, 2013. Beide Carl Hanser Verlag, München 101


Schreiben ʹ Ĩƺƌ ĚĞŶ ũƵŶŐĞŶ DĞŶƐĐŚĞŶ ŝŶ ũĞĚĞŵ ǀŽŶ ƵŶƐ Übersetzung aus dem Englischen: José F.A. Oliver in inhaltlicher ƵŶĚ ƐƟůŝƐƟƐĐŚĞƌ ďƐƉƌĂĐŚĞ ŵŝƚ :ĂŶŶĞ dĞůůĞƌ

Ich bin keine Jugendbuchautorin! Kinderbücher bilden die Ausnahme, sind allenfalls eine Parenthese in meinem literarischen Gesamtwerk. Meine Romane, bis auf einen einzigen, habe ich ausschließlich für Erwachsene verfasst. Auch meine Essays und all die anderen Texte aus meiner Feder richten sich an ein erwachsenes Lesepublikum. Und da ich keine eigenen Kinder habe, lese ich auch keine Bücher für Kinder oder Jugendliche. Deshalb wusste ich zunächst nicht, was ich zum Thema »Text und Lesealter« hätte beitragen können. Nichtsdestotrotz wurde mir jedoch sehr bald klar, dass ich, aufgrund der Art und Weise, wie ich meine Bücher schreibe – und angesichts der heftigen Auseinandersetzungen, die es um einige Texte gab, welche vor allem ein junges Lesepublikum vor Augen hatten –, vielleicht gerade deshalb dazu prädestiniert wäre, Sie an ein paar Erfahrungen teilhaben zu lassen, die ich im Umgang mit diesem Sujet gemacht habe.

DĞŶƐĐŚ ĂůƐ hŶŝǀĞƌƐƵŵ ʹ ĚĞƌ ^ĞĞ ĚĞƐ ͩ ůůĞƐͨ Wenn ich schreibe, werde ich mit meinen literarischen Figuren eins. Ich kann meine Geschichten nicht aus der Distanz eines allwissenden Autors entwickeln, der entscheidet, was als Nächstes mit ihnen passieren wird. Das würde ihrer Entfaltung hinderlich sein. Damit eine Geschichte lebendig wird, bin ich gezwungen, jede einzelne meiner literarischen Figuren zu sein. Nicht nur in der rationalen Vorstellung dessen, was ihre jeweiligen Wesenszüge ausmacht, vielmehr muss ich ihre unterschiedlichen Persön103


lichkeiten, ihre voneinander abweichenden Charaktere und ihre Handlungen einfühlsam verinnerlichen. So, als wäre ich sie. Unabhängig davon, was mit ihnen noch geschehen wird. Nur, indem ich sie bin – mit meinem Vorstellungsvermögen –, kann ich wissen, was sie tun werden. Das bringt natürlich einen ungeheuerlichen Kraftakt mit sich, verlangt äußerste Konzentration und erfordert sehr viel Zeit. Eine Tatsache, die zweifelsohne erklärt, weshalb ich beim Schreiben nur sehr langsam vorankomme. Dies mag auch eine Erklärung dafür sein, dass ich »aus dem Bauch heraus« schreibe. Es ist das »Bauchgefühl«, das mich wissen lässt, wie die einzelnen Charaktere empfinden. Es ist nicht der Verstand. Mein Kopf birgt zwar das rationale Vorstellungsvermögen, mein Bauch hingegen fühlt sich ein. Es ist immer derselbe Prozess, bedeutet immer dieselbe Mühe. Ob ich nun über einen karibischen Kriegschirurgen schreibe, die Hauptfigur in meinem Roman Europa. Alles, was dir fehlt, ob ich von einem mächtigen Verleger mittleren Alters berichte, der ein Frauenheld und noch voller Schaffenskraft ist, wie in meinem Roman Komm, oder ob ich einen Vierzehnjährigen in meiner Erzählung Nichts zu Wort kommen lasse, der nicht mehr daran glaubt, dass das Leben noch irgendeinen Sinn haben könnte, und der deshalb für sich beschließt, dass es überhaupt keinen Wert mehr habe, auch nur das Geringste zu tun, und dadurch seine Freunde fast in den Wahnsinn treibt, weil sie ihm beweisen wollen, dass er sich im Unrecht befindet. Wie immer sich die Wesenszüge einer Figur auch fügen, das Verfahren, mich selber dabei zurückzunehmen, um ein anderer zu sein, bleibt dasselbe: Ich muss alles vergessen, was mein Leben bestimmt, was meine eigenen Probleme anbelangt, meine eigenen Bedürfnisse und Emotionen, um jene literarische Figur zu werden, die sich mir offenbart. Hinzu kommt, dass ich nicht nur mit dem Protagonisten meines Buches eins werde, sondern mit allen Figuren, die nach und nach zum Tragen kommen. Familienmitglieder, Freunde, jede einzelne Person (selbst jedes Tier). Männer 104


wie Frauen. Seien sie jung oder alt, gutmütig oder heimtückisch. Ob sie meiner Kultur – einer meiner Kulturen – angehören oder einer anderen, und so weiter, und so fort. Die Möglichkeiten sind derart vielfältig, dass indes eine unglaubliche Vorstellungsgabe vonnöten ist. Aber vor allem verlangt dieser Arbeitsprozess eines: Empathie. Und darüber hinaus den unbedingten Willen, jener Geisteshaltung ins Humane Gehör zu schenken, von der ich glaube, dass sie uns zwar allen eigen ist, uns gleichwohl in unserem von Persona und Ego dominierten Alltag nicht immer klar wird. Wenn das Mensch-Sein ein tiefgründiger See ist, dann tauche ich in ihn ein und lasse meine verstandesmäßigen Vorstellungen hinter mir, um die Ursprünge des Menschlichen zu vernehmen, die weit mehr zu erkennen geben, als dies ein Einzelner jemals zum Ausdruck bringen könnte. Es ist jene Quelle, für die ich die Bezeichnung »Alles« gefunden habe. Wenn ich es richtig mache, wenn es mir wahrhaftig gelingt, mich unter der Oberfläche zu bewegen, dann wird auch das Erzählte wahrhaftig, und die Geschichten werden viel klüger sein als ich als Person.

^ĐŚƌĞŝďĞŶ ĂůƐ ^ĞŝŶƐĨŽƌŵ ʹ >ĞƐĞŶ͕ Ƶŵ njƵ ůĞďĞŶ Mein Antrieb beim Schreiben ist es, Weisheit und Einsicht zu erreichen. Deshalb schreibe ich immer über das, was ich nicht begreife. Ich bin zutiefst davon überzeugt, weil ich erkannt habe, dass ich dort, wo ich absolut wahrhaftig mit meinen literarischen Figuren umgehe, also sie so erschreibe, wie es mir mein »Bauchgefühl« sagt – ich es meinem Kopf also nicht erlaube, sich einzumischen –, dass mir diese Figuren dann, wenn die Geschichte fertig ist, etwas mitteilen, was ich sonst nicht hätte verstehen können. Ein Manuskript beginnt oft mit einem Thema, das mich schon lange zuvor beschäftigt hat. Etwas, das ich fortwährend hinterfragt habe und nicht verdrängen konnte. Es gibt vieles, was ich nicht verstehe. Vieles, was ich gerne besser verstehen würde. Deshalb er105



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