Leseprobe Literaturmachen ll - Literatur und ihre Vermittler

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Literatur und Ged채chtnis Ursula Krechel

Wie viel Vergangenheit (er)fordert ein Text? Wie filtert der Schreibende das Wesentliche heraus? Wessen Ged채chtnis schreibt einen Text, hat Sprache ein Ged채chtnis? Was haben Literatur und Geschichte miteinander zu tun? 10


»Wer zu schreiben beginnt, hat einen Vorrat von Welt, von Gegenständen zur Verfügung. So soll es bleiben. So bleibt es und ändert sich doch.« Ursula Krechel

Ursula Krechel, geboren 1947 in Trier, studierte Germanistik, Theaterwissenschaften und Kunstgeschichte und verfolgte Lehrtätigkeiten an verschiedenen Universitäten. Lyrik bildet einen Schwerpunkt in ihrem Werk. Sie hat aber auch Prosa, Theaterstücke und Hörspiele veröffentlicht. Vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Joseph-Breitbach-Preis, erhielt sie für ihren 2012 erschienenen Roman Landgericht den Deutschen Buchpreis. Die Autorin hat in den vergangenen Jahren ihre eigene Schreiberfahrung in den unterschiedlichsten Institutionen, vor allem aber an der Universität Leipzig und am Literarischen Colloquium, weitergegeben. Inspirierter und inspirierender ist über den Aufbruch in die Welt der Literatur noch nicht geschrieben worden. Publikationen (Auswahl): Landgericht, Roman, 2012, Die da. Ausgewählte Gedichte, 2013, Stark und leise. Pionierinnen, 2015, alle Verlag Jung und Jung, Salzburg/Wien 11


Woher weißt du, was du schreibst? »Weiß ich’s denn?«, wäre die kokette Antwort, die sich unverantwortlich machende. Die Antwort, die die Verantwortung für das Geschriebene und seine Quellen leugnet. Die mystische Antwort hieße: »Ja, ich weiß, aber das Wissen ist mir aufgegeben, aufgetragen.« Die Mystikerinnen haben so gesprochen, möglicherweise hätten auch die Evangelisten so gesprochen, gäbe es autobiographische Überlieferungen von ihnen. Überlieferungen des Hörens, des Stillhaltens, des Entwickelns eines Stils. Habe ich es aufgelesen? Gelesen? War es so gewesen? Habe ich es erfunden und glaubwürdig gemacht? Will ich oder muss ich behaupten, dass etwas so und nicht anders gewesen ist? Und wer ist »ich«? Jemand von heute oder gestern oder vorgestern? Aber wie und warum will ich darüber schreiben? Es (ja was?) beschreiben? Oder sollte ich mich bescheiden? Die Eingangsfrage meines Vortrags zielt ins Zentrum der Poetologie, und jeder Autor, jede Autorin muss sie vermutlich ganz anders beantworten. Strikt möchte ich die Begriffe »Erinnerung« und »Gedächtnis« scheiden, obwohl in diesem Akt auch ein gewisser Voluntarismus ist. Erinnerungen sind an Personen gebunden. Sie können ein Geschenk oder ein dauernder Schrecken sein. Ich erinnere mich an einen Traum. Ich erinnere mich an eine Liebe. Ich erinnere mich an einen Unfall. Und diese drei Sätze können wie eine Folie übereinandergelegt werden. Eine Liebe, die ein Traum war und in der Erinnerung zu einem Unfall wurde. Ein Traum, in dem eine Liebe gerettet wurde bei einem Unfall. Ein Unfall, der Traum und Trauma ineinanderblendet und die Liebe ausblendet. Die Erinnerung ist individuell. Sie ist ein wichtiges Stimulans, um die Kontinuität des Individuums zu sichern, und sie stiftet Identität. Sie ist lebenswichtig und überlebenswichtig für das Individuum. Die vielen Begeisterten, die sich an ihren frühen Eintritt in die NSDAP nicht mehr erinnern können oder sich nicht mehr erinnern wollen, was nur eine Frage der Benennung subjektiver Vorgänge ist, ermöglichten sich so eine innere Kontinuität – 13


auf Kosten der objektiven Tatsachen. Die Aussagen der Historiker und des Bundesarchivs, in dem die entsprechenden Akten ruhen, sind eindeutig: Es gab keinen Parteieintritt ohne persönliche Entscheidung, ohne den Akt, eine Unterschrift zu leisten. Die sogenannte Elite wollte unter sich sein, und wer jung und ehrgeizig war, wollte zu dieser Elite gehören und nach dem Schock der Kapitulation wieder zu einer Elite gehören. Man kann das Opportunismus als Überlebensprinzip nennen und landet schnell bei einem moralischen Urteil, man kann vorsichtiger von einem Lernprozess und seinen widerspruchsvollen Ergebnissen sprechen. Die Erinnerungen sind ein Fundus, ein Kulissentheater. Sie können verschoben werden, eine kann die andere verdecken. Man kann ver-rückt werden, wenn man sie allzu sehr verschiebt. Man kann sie löschen oder überschreiben. Der seelische Wahrnehmungsapparat ist Sigmund Freud zufolge einerseits an einer »dauerhaften Erinnerungsspur« 1 interessiert, andererseits schließen sich »unbegrenzte Aufnahmefähigkeit und Erhaltung von Dauerspuren« 2 gegeneinander aus. »Es muß entweder die aufnehmende Fläche erneuert oder die Aufzeichnung vernichtet werden.« 3 Selbstverständlich sind Erinnerungen für den Schriftsteller eine unerlässliche Quelle: Seine eigenen Erinnerungen, Erinnerungen, von denen er gehört oder gelesen hat, Erinnerungen von Zeugen, die er im Interesse seines Textes aufgesucht hat. Wem diese Erinnerungen gehören, wem sie zugeordnet werden können, ist einigermaßen eindeutig, sofern es sich nicht um erinnerte Gerüchte oder Vorurteile handelt. Gehen die Erinnerungen in einen Text mit ästhetischem Anspruch ein, stellt sich die Frage ganz anders. Schriftsteller sind Allesfresser, Allesverwerter. Es geht ja nicht nur um Sachverhalte, sondern um Wörter, Sprachmelodien, Dialektales, um das Material eines zukünftigen Textes im weite1 Sigmund Freud: Notiz über den »Wunderblock« (1925). In: Gesammelte Werke. Bd. III. Hrsg. von Alexander Mitscherlich, Angeld Richards, James Strachey. Frankfurt am Main 1972. S. 387. 2 Ebda. 3 Freud. a. a. O. S. 388.

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ren Sinne. Ödön von Horváth saß im Biergarten und notierte, was am Nachbartisch gesprochen wurde. Herta Müller schneidet aus allen möglichen Zeitschriften Wörter und Wortgruppen in verschiedener grafischer Gestaltung aus und fügt sie zu Collagen zusammen. Alle Teile sind vorgefunden, und doch sind es genuine eigene Texte in einer höchst eigenwilligen Gestalt. Allein der Zorn über die bürokratische Kälte des Begriffs »Bundesergänzungsgesetz«, das die Wiedergutmachungsansprüche der vom Naziterror Entrechteten endgültig regeln sollte, bekanntlich mehr schlecht als recht, hat mich über viele Seiten meines Romans Landgericht angetrieben und befeuert. In meiner Arbeit spielen Zeugenaussagen eine ungleich wichtigere Rolle als meine eigenen Erinnerungen, denen ich ohnehin mit einer gewissen Skepsis gegenüberstehe. Indem Erinnerungen aufgeschrieben werden und mehr noch, wenn sie mit dem konstruktiven Anspruch von Literatur bearbeitet werden, verfestigen sie sich. Aus »So erinnere ich mich«, aus »So könnte es gewesen sein, wenn ich meinen Erinnerungen trauen darf« wird »So war es«. Nur das Märchen und die Legende arbeiten mit dem Impetus »So sollte es sein, wenn es mit rechten Dingen zuginge«. Oder: »So würde es gelingen.« Erinnerung ist eine Setzung, eine Behauptung, etwas, das keinen Widerspruch duldet, allerdings Kritik herausfordert oder ihr im Falle der sich nicht erinnernden NSDAPMitglieder widerspricht. Vielfach dienen Erinnerungen, mündlich oder schriftlich, auch dazu, andere mundtot zu machen; sie sind ein Herrschaftsinstrument. »Man muss dies aus der Zeit verstehen.« »Man wäre ja gleich ins Gefängnis gekommen.« So versuchten die Nazi-Eltern ihre 68er-Söhne und -Töchter zu disziplinieren – und erreichten genau das Gegenteil dessen, was sie beabsichtigten. Der Historiker muss verschiedene Quellen gegeneinander abwägen, er muss ihre Herkunft deutlich machen, er steht unter dem Beweiszwang des scheinbar Objektiven. Der Schriftsteller ist dazu nicht verpflichtet; er ist der Plausibilität des Narrativs, das er sich gewählt hat, verpflichtet. Er ist kein Fachmann fürs große Ganze und Universelle, als den sich deutsche Schriftsteller in der Folge der Gruppe 47 gerne imaginierten. 15


Sie waren wie so viele Zeitgenossen »gefühlte Opfer«. Hitler, so war der Tenor, hatte ihnen so viele Jahre gestohlen, nun wollten sie durchstarten, zur Sache kommen, zu ihrer Sache. Kinder der Diktatur legten sich das Diktat auf, nicht zurückzuschauen, sondern im »Nie wieder!« die Machbarkeit der Verhältnisse zu behaupten, sich zu behaupten. Es gab eine Haltung den Emigranten gegenüber, die mit keinem anderen Begriff als Bösartigkeit zu bezeichnen war. »Wir wissen, was wir drinnen mitgemacht haben, aber wir wissen nicht, was Sie draußen gemacht haben. Und wollen es auch gar nicht wissen.« Erhabene Gleichgültigkeit, Vitalismus, Larmoyanz, mit solchen Leuten war kein Staat zu machen, aber sie wurden staatstragend. Sie waren die Mehrheitsgesellschaft, eine rührselige, auf sich bezogene Gesellschaft, die ihre Schädigungen, ihr moralisches Defizit durch Geschäftigkeit verdeckte. Wer Literatur schreibt, hat nicht nur eine allgemeine Verpflichtung dem zu schreibenden Text gegenüber, sondern auch eine ethische Verpflichtung bestimmten Personen gegenüber, auf die er sich bezieht, die Quellen seines Erzählens sind. Mit anderen Worten: Er unterliegt dem Personenrecht, das gegen die künstlerische Freiheit sorgsam abgewogen werden muss, und im Zweifelsfall würde ich das Personenrecht höher veranschlagen, auch pragmatisch zum Schutz eines literarischen Textes vor einer möglichen einstweiligen Verfügung. Schriebe ich es nicht auf, ich hätte es morgen vergessen. Während ich diese Überlegungen skizziere, in einem tiefgekühlten Tea Room eines Hotels in Beijing bei der vierten Schale mit grünem Tee sitzend, watscheln im Gartenhof des Hotels vier blendend weiße Gänse um einen feinsinnig angelegten Teich, der von einem monumentalen Felsen bekrönt wird, aus dem an verschiedenen Stellen Wasser plätschert. Ein mondsichelartig gewölbtes Brückchen führt zu einem Pavillon, aber die Gänse betreten es nicht. Meine Erinnerung verbindet Gänse mit dem Landleben, vielleicht noch mit der Legende von den kapitolinischen Gänsen. Jetzt verbinde ich den Komplex Erinnerung mit den Beijinger Gänsen, dem Fake, einem skurrilen Einfall der Hotelleitung. 16


Literatur und Originalität Björn Bicker

Wie viel literarische Fantasie (er)fordert unsere Zeit? Kann ich über etwas schreiben, das ich nicht erlebt habe? Wie komme ich vom eigenen ins exemplarische Erleben? Wann wird Literatur langweilig? 116


»Identität wird oft sehr psychologisch gedeutet – da steckt aber noch viel mehr drin.« Björn Bicker

Björn Bicker wurde 1972 in Koblenz geboren und ist in Gerolstein/ Eifel zur Schule gegangen. Er studierte Literaturwissenschaft, Philosophie und allgemeine Rhetorik in Tübingen und Wien. Danach arbeitete er als Dramaturgie-Assistent und Dramaturg am Wiener Burgtheater und von 2001 bis 2009 als Dramaturg bei Frank Baumbauer an den Münchner Kammerspielen. Seit 2009 arbeitet er als freier Autor, Projektentwickler und Regisseur. Er schreibt Theaterstücke, Hörspiele, Prosa und Essays. Für verschiedene Stadtund Staatstheater entwickelt und leitet er künstlerische Projekte, die sich an der Schnittstelle von Kunst, Politik und sozialer Praxis befinden. Im Zentrum stehen meist Themen der deutschen und europäischen Einwanderungsgesellschaft. In den Projekten geht es u. a. um die Inszenierung von Teilhabe und Begegnung als Motor gesellschaftlicher Veränderung. Zuletzt: Nord – Ein Stadtteil dreht sich für das Staatstheater Stuttgart, New Hamburg für das Deutsche Schauspielhaus Hamburg und aktuell Munich Welcome Theatre an den Münchner Kammerspielen. Publikationen (Auswahl): Illegal. Wir sind viele. Wir sind da, 2009, Was wir erben, Roman, 2013, beide Verlag Antje Kunstmann, München 117


Erfahrungshunger, tagtäglich

»Man findet hier vielleicht die beiden Kategorien des Epischen und des Tragischen wieder. Die wörtliche Photographie führt zum Skandal des Grauens, nicht zum Grauen selbst.« Roland Barthes, »Mythen des Alltags« Die letzten paar Jahre gab es eine intensive Debatte darüber, ob Originalität in der Literatur, generell in der Kultur- und Kunstproduktion, überhaupt noch möglich sei. Von der Apologie des alten Geniegedankens – unausrottbar – bis zum Lob der unhintergehbaren Kopie – verführerisch – waren und sind alle Positionen vertreten. Mashup und Remix sind die neuen Begriffe, mit denen eine Kulturtechnik und zugleich Lebenshaltung beschrieben ist, die sich aus der Erfahrung des Digitalen, der sekundenschnellen und vor allem (fast) freien Verfügbarkeit von Text, Bild und Film speist. Es geht nicht mehr um Erfindung, Schöpfung und Inspiration, sondern um Copy and Paste, um die Ahnung, dass nichts mehr, kein Satz, keine Erzählung, kein Stil, keine Erkenntnis, einfach gar nichts mehr als neu gelten kann, weil alles schon da gewesen ist. Das Neue ist immer das Alte. Und das Alte wird das Neue durch diese zauberhafte Rekontextualisierung. Der Furor der Schöpfung existiert nur noch in der Erinnerung dessen, der beschreiben möchte, wie sich Inspiration anfühlt, während er oder sie – ja, was eigentlich? – Gedanken, Sätze, Ideen, Wort-, Bild- und Schnittfolgen abruft, die er oder sie irgendwo aufgeschnappt hat, ohne dokumentieren zu können oder zu wollen, wo, wie und in welchem Zusammenhang sie in seinen Fundus der Ausdrucksmöglichkeiten übergegangen sind. Die Kunst besteht im Neukombinieren der Einzelteile, im Schaffen veränderter Zusammenhänge. Das ist der Grund, warum Künstler zu Kuratoren geworden sind und Kuratoren zu Künstlern. Das kann einem passen oder nicht – es ist die Realität. Was dadurch entstanden ist, ist die wunderbare Möglichkeit zur Demokratisie119


rung von Wissens-, Kultur- und Kunstproduktion. Vielleicht ist es aber auch kein Zufall, dass zur gleichen Zeit mal wieder das vermeintlich erfahrungsarme Kreisen um den eigenen Bauchnabel der jüngeren Literatur bemängelt wird – die blut- und erfahrungsarme Literatur von Arztkindern aus der ostwestfälischen Provinz, die die Schreibschulen der Republik füllen, wird zum Synonym für die öde Wiederholung des immer gleichen bildungsbürgerlichen Selbstfindungsrituals Schreiben. Gleichzeitig entsteht aber durch die filigrane Wucht des Digitalen eine neue Art der politischen Praxis. Die Machtposition des Autors, des Urhebers, ist ein weiteres Mal infrage gestellt, oder besser: abgeschafft. Daraus erwächst eine neue Mündigkeit, der Wunsch mitzugestalten, mitzuschreiben, mitzufilmen, mitzuentscheiden. Das ist revolutionär. Ich wünschte mir, Joseph Beuys würde wieder auferstehen und erleben können, wie endlich seine Vision Wirklichkeit würde: Jeder Mensch ist ein Künstler. Als Beuys 1985 seinen letzten öffentlichen Vortrag in den Münchner Kammerspielen gehalten hat, war von den Segnungen des Digitalen noch nichts zu ahnen. Der Mann mit dem Hut würde jubeln: Dass jeder Mensch der Autor seiner eigenen Erzählung ist und somit der Urheber seiner eigenen Rechte, eben gerade nicht im wirtschaftlichen Sinne, sondern im politischen, demokratischen Sinne. Das ist eine Debatte, die hier zu weit führen würde: Ist das Ende der Originalität der Anfang einer neuen Demokratie? Sind die Narrationen dieser Welt doch viel politischer, als wir das bisher geglaubt haben? An diese Thesen, die ich hier als Fragen getarnt habe, will ich mich später im Text noch einmal erinnern. Vielleicht ist es doch nicht zu weit weg. Es ist kein Zufall, wenn das Zentralorgan des alten weißen Mannes, die Wochenzeitung DIE ZEIT, dieser Tage mit einer in vielerlei Hinsicht unfassbaren Retro-Frage titelt: »Ist Genie männlich?« Abgesehen von der dummdreisten Ignoranz gegenüber jahrzehntelangen, ernsthaft und klug geführten Gender-Debatten, etabliert so eine Headline im Vorbeigehen ein Prinzip, künstlerische Schaffensprozesse zu beschreiben, das unter jüngeren Künstlerinnen und Künstlern – um es freundlich zu sagen – nicht gerade favorisiert 120


wird. Aber klar: Mit dem Glauben daran, dass es so etwas wie Genie tatsächlich geben könnte – und ich sage bewusst Glaube, denn das Reden über diesen Begriff spielt sich im quasi-religiösen Bereich ab – mit dem Glauben an so einen Begriff und seine Implikationen ist der Glaube an die Macht und Übermachtposition des Autors, der Autorin geknüpft, das gottgleiche, nicht hinterfragbare Schöpfen neuer Welten, das in seiner letzten Konsequenz nichts als Bewunderung, Unterordnung und Nachfolge verlangt. Demgegenüber steht das freie Kombinieren, das Neuzusammenstellen, das Rekontextualisieren, das Re-enacten, das Dokumentieren, das Bearbeiten, das Kopieren des bereits Gesagten. Unter der Überschrift Rekreativitätsdebatte firmieren unzählige Versuche, den Prozess des kreativen Gestaltens nicht nur zu beschreiben, sondern, in Hinwendung zur vorgefundenen Wirklichkeit, auch zu vollziehen. Einer der inspirierendsten Texte in diesem Zusammenhang, den ich in letzter Zeit zu dieser Sache gelesen habe – ich verwende bewusst das Wort inspirierend –, ist das Manifest Reality Hunger von David Shields. Darin behandelt der Autor in einem alphabetisch angeordneten Register in 618 Artikeln die Frage, wie Kreativität funktioniert, sagt auch, welche Art von Literatur er sich wünscht, und er beschreibt seine Sehnsucht nach der Wirklichkeit, nach der Grenzauflösung zwischen Literatur, Journalismus, Kunst, Alltag, Politik und Leben. Dies tut er nicht, indem er in seiner verzweifelten Seele schürft, sondern indem er hemmungslos Gedanken, Texte, Zitate, Figuren von anderen Autoren klaut und sie neu kombiniert, zueinander anordnet, ihnen gemeinsame Überschriften gibt. Erstaunlich ist, dass bei diesem Verfahren ein ausgesprochen stilsicherer Text entsteht, der mehr über unsere Zeit und den Fundus unserer literarischen Tradition erzählt als jede vorgegaukelte Originalitätsprosa. Am Ende des Buches listet er – wohl von der Lizenzabteilung des Verlages gezwungen – alle Verweise auf, rät der Leserin, dem Leser aber dazu, die Seiten mit der Schere aus dem Buch zu entfernen. Das ist natürlich rhetorische Trickkiste im besten Sinne des Wortes. Natürlich will ich andauernd wissen, von wem dieser oder jener Textfetzen gerade stammt. Vielleicht, weil ich so konditioniert 121


bin: Ich muss wissen, wer der Autor ist, sonst ist der Text womöglich nichts wert. Ich möchte das Gelesene in mein bis dato angeeignetes Wissen einordnen können. Scheinbar reicht mir die unmittelbare Rezeption des Gelesenen nicht aus. Traue ich mir selbst etwa nicht? Brauche ich andauernd irgendwelche Autoritätsbeweise in Gestalt von Autorennamen und Quellen? Traue ich mir selbst als Autor meiner eigenen Erzählung nicht? Die Frage, ob es so etwas wie Originalität oder gar Genie gibt, werden wir nie abschließend beantworten, genauso wenig, wie wir abschließend feststellen werden, ob es nun einen Gott gibt oder nicht. Ich glaube eher, dass die Antwort auf diese Fragen genau in der Dynamik dieses vielschichtigen, weit verzweigten Redens und Schreibens liegt. Der Prozess selbst ist die Antwort. Und dieser Prozess ist so unplanbar und komplex wie das Leben selbst. Wenn Schreiben etwas mit dem Leben zu tun hat, ein untrennbarer Teil davon ist, dann ist doch die Frage, worüber wir schreiben, mindestens genauso interessant wie die Frage, wie wir schreiben. Oder noch besser: Die Frage, worüber wir schreiben, ist gar nicht zu trennen von der Frage, wie wir schreiben. Ein Gemeinplatz. Aber dennoch: Die Art, wie wir schreiben, sagt etwas darüber aus, wie wir leben, wie wir uns selbst sehen, wie wir unsere Gesellschaft beurteilen. Aus welchem Quell wir schöpfen, was uns antreibt, motiviert, behindert, umlenkt, beschleunigt, verlangsamt, was uns Klarheit verschafft, was uns benebelt, was uns den Blick verstellt, was uns einen guten Ausblick ermöglicht. Einen Ausblick auf – ja – auf was denn eigentlich? Was sehe ich, wenn ich aus mir rausschaue? Sehe ich dann wieder nur mich selbst? Oder sehe ich da andere Menschen, Gesellschaft, Politik, sehe ich, wer von wem wie behandelt wird? Sehe ich, dass wir in einem Land leben, dem eine Erzählung davon fehlt, was es bedeutet, ein Einwanderungsland zu sein? Sehe ich eine Gesellschaft, deren Vielfalt umwerfend schön ist, religiös, kulturell, ethnisch, intellektuell? Sehe ich Menschen, die ihre eigene Identität nicht darin sehen, Teil einer vielfältigen, hybriden Gesellschaft zu sein? 122



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