Leseprobe Viktor Martinowitsch - Paranoia

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3 Acht Wochen waren vergangen. Acht. Über diese Zeitspanne konnte man sonst wen vergessen. Acht. Acht Wochen. Acht Wo­ chen bis zum Herbst. Wir waren uns im Frühling begegnet, jetzt ist Sommer, aber in acht Wochen ist schon Herbst. Den gan­ zen Tag wie eine Funkstörung das Rauschen der Blätter vor dem Fenster, das auch daran erinnerte, dass der Frühling sich zum Sommer ausgewachsen hatte. Aber jetzt war es still, die Pappeln warteten starr vor Entsetzen auf das abendliche Gewitter und verströmten die Hitze, die sie den Tag über beim Schattenwerfen gespeichert hatten. Die Zeit heilt nicht etwa so gut, weil sie Menschen, die verges­ sen werden sollen, in Nebel aulöst. Wir erwecken sie ja wieder zum Leben und verschließen sie irgendwo in unserer Brust, päp­ peln sie mit Erinnerungen und ziehen uns bunte Taschenzwer­ ge heran, die nichts mehr mit den lebenden Personen von einst gemein haben, und wir lieben diese Zwerge, bis uns ein neuer, lebendiger Mensch begegnet. Nein, die Heilkunst der Zeit be­ steht darin, dass sie uns ständig neue, andere, lebendige Wesen in die Sprechstunde schickt. Sie machen den Mund auf, zeigen die Zunge, sagen »Aaaa«, und wir wissen bereits, dass nur wir diese Angina kurieren können. Die Zwerge verpufen, an ihre Stelle tritt ein neues, warmes, launisches, unvollkommenes Wesen, das so viel besser ist als sein Vorgänger, von den handzahmen Erin­ nerungen an ihn ganz zu schweigen.

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In diesen acht Wochen hatte die Zeit mir kein Stück geholfen. Sie hat mir keine neue Patienten zugeführt, keine aufregende Fi­ gur am Steuer im Wagen nebenan, keinen Schwanenhals, keine nackte Schulter. Das heißt, Figuren gab es reichlich, wir haben uns auch angesehen, sie haben mir sogar zugelächelt – meine Lady machte es möglich. Aber in der Sekunde, bevor die Seele den Körper verlässt und drüben auf dem Beifahrersitz neben ihr Platz nimmt, bevor du dich hinreißen lässt, gegen alle Regenbo­ genfarben der Ampel den Schwanenhals oder die nackte Schulter zu verfolgen, in dieser Sekunde also, legte mir jemand die Hand über die Augen und – verlucht seist du, Quacksalber Zeit! – lüs­ terte mir ins Ohr: Frau am Steuer. Am Steuer, genau wie sie. Sie saß jetzt auch irgendwo am Steuer. Hörte ihren Rap und park­ te auf dem Trottoir. Und als die Hand wieder verschwand, war die nackte Schulter schon verschwunden, und ich fuhr weiter auf meinem Erinnerungsgleis. Acht Wochen lang. Was habe ich in dieser Zeit getan? Ich habe mir die abstoßen­ de Gewohnheit zugelegt, mit mir selbst zu sprechen. Beziehungs­ weise mit ihr. Ich erzählte ihr alles, was ich sah. Der Rentner mit der wunderlichen Smaragdbrille mit Messinggestell, der rosa­ farbene Lincoln, die Plakate für die Warhol­Ausstellung – alles wurde Wort und war an sie adressiert: »Heute habe ich so einen Opa mit grüner Brille gesehen, der sah richtig zwergig aus.« Das war wohl ein Versuch, sie meinem Brustkasten einzuverleiben, dabei stand der Kasten immer ofen, sie konnte jederzeit gehen. Ehrlich gesagt, war sie wohl nie wirklich drin. Ich redete mit ihr, und das war besser, als sich in Selbstzufriedenheit zu üben, im Tümpel meiner Erinnerungen zu tauchen und ins Meer der Fan­ tasie abzudriften. Ich konnte sie nicht vergessen. Oder dich? Ich weiß nicht, ob ich in der dritten oder in der zweiten Person über dich sprechen soll – wir blieben irgendwie in Verbindung. Was ich auch tat,

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sie war da, in meiner Nähe. Ich habe mich ernsthaft bemüht zu schreiben und mich die ersten Wochen ordentlich gequält. Es wurde einfach nicht, die Pronomen glitschten mir aus der Hand, meine Sprache wurde von fremden Lebensformen unter wandert, die alles Etablierte, Gewohnte aufraßen. Du warst mein wich­ tigster Leser, und ich war stets darauf aus, die Sätze für dich zurechtzubiegen, musste aber beim nochmaligen Lesen feststel­ len, dass es so nicht ging, so konnte man nicht schreiben. Ich habe ernsthaft versucht, die feige hingemeuchelte Erzählung zu rekonstruieren, nur für mich, sie in passwortgeschützten Ar­ chiven einzulagern, in meinem Postfach zu verstecken, aber als wollte sich die Sprache für meinen Verrat an mir rächen, bekam ich auch die vermeintlich einfachen Formulierungen nicht mehr zusammen. Da musste ich einsehen, dass es einfach verlucht war, dass dieses hema nun in jener besseren, lichten Welt war, in die alle gelöschten Dateien eingehen. Natürlich hatte ich deine Adresse »gecheckt«, mit leichtem Unbehagen über meine Schnüfelei. Sie lief auf Jelisaweta Su­ pranowitsch, geboren in Kobrin. Zu Jelisaweta Supranowitsch ließ sich über MSS­, Miliz­, Wohnungs­ und Uni­Kanäle nicht besonders viel in Erfahrung bringen: Die Eltern waren früh ge­ storben, sie war in Kobrin bei der Großmutter aufgewachsen. Je­ lisaweta Supranowitsch hatte am Fremdspracheninstitut studiert. Aus. Keine Informationen über die Zeit nach dem Studium. Ar­ beitsstelle, Tätigkeit – Fehlanzeige. Natürlich drückte ich mich unter ihren Fenstern herum, das war mir vielleicht am unangenehmsten. Wie ein Spion, wie der letzte MSS­Plattfuß kam ich mir vor, während ich vergeblich versuchte, mich als Ménestrel oder Vagant zu sehen, hatte ich doch weder eine Mandoline noch sängerische Ambitionen. Ich wollte herausinden, zu welcher Zeit du nach Hause kamst, um bei der zufälligen Begegnung mit dir im Torbogen zum Hof die

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Einkaufstasche mit Milch und Eiern fallen zu lassen. Aber du kamst nicht nach Hause, und mich schmerzt der Gedanke, bei wem du acht Wochen lang die Nächte verbracht hast. Aber viel­ leicht arbeitest du ja nachts, oder du warst für zwei Monate ver­ reist, und überhaupt ist spionieren unanständig. Das hatte ofenbar auch der Audi A8 eingesehen, der nicht mehr vor meinem Fenster auftauchte. Und – wenn das kein Zei­ chen von Paranoia ist – ich hatte schon nach zwei Tagen ver­ gessen, was mir dermaßen in die Glieder gefahren war. Der Reiz war verschwunden, und der pawlowsche Hund stellte den Spei­ chelluss ein, oder was Pawlows Hunde sonst so getrieben haben. Sie heißt Jelisaweta, ein lirrender, schillernder Name, eine zauberhafte Melodie aus einer Spieldose, von einem lämischen Meister gefertigt in einer Zeit, da die Dinge noch schön waren. Diese Dose vermochte noch die munterste Melodie, eine klei­ ne Arie aus Mozarts Don Giovanni, in ein traumhaft gedehntes Je­li­sa­we­ta zu verwandeln. Je länger, je lieber sah und hörte ich die Lisa darin. Was vorgefallen war, hatte nichts mit einer endgültigen Trennung zu tun, wir waren beide felsenfest davon überzeugt, dass wir uns wiedersehen würden, wir zogen lediglich die Zeit in die Länge (weshalb?). Wenn ich nur den Kopf hängen ließ, würde sie, der unser Schweigen auch schon unerträglich ge­ worden war, mir ein Zeichen geben, mir mitteilen, dass sie selbst den Wunsch, sie zu vergessen, nicht ernst nehmen konnte. Einmal stand auf dem Tischchen im Café Schachmaty, an dem wir Fußball gespielt hatten, neben meinem Grüntee plötz­ lich eine Dose Kondensmilch, und der Kellner machte auf mei­ ne bohrenden Fragen – wer, wer und wann? – nur große Augen und beteuerte, er habe sie versehentlich auf dem Weg zur Küche, wo sie der Koch für das Tiramisu haben wollte, hier abgestellt. Aber hinter seinem irritierten Gesicht zeichnete sich noch ein spitzbübisches ab, und wenn ich nun lachte, würde er mit diesem

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zweiten Gesicht zurücklachen und mir erzählen, wie und wann du hier warst. Nun hatte ich mich aufgeregt und ihn erschreckt, und er dachte wohl, die Dose wäre kein Witz, also ruderte ich zurück und versuchte ein Lächeln (immer lächeln, wenn es um uns geht!), da war er schon mit meiner Dose unterwegs in die Küche, mit dem Leckerbissen für den Schleckerbären, also stürz­ te ich ihm nach, nahm ihn am Kragen, brüllte ihn an, dass sie für mich sei, und er rückte sie heraus. Zu Hause wurde jeder Millili­ ter durchgeseiht, jeder Millimeter des Etiketts mit der Lupe auf versteckte Botschaften abgesucht, aber the medium is the message (wieder McLuhan!), die Dose selbst war die Botschaft. Gegen Ende der fünften Woche las ich auf einer Werbetafel an der Brücke in die Troizker Vorstadt, unserer Brücke, unter der wir in die glimmende Glut der Stadt geschaut hatten, in gro­ ßen goldenen Lettern: »MEISTER PETZ«. Danke für dieses fette Ausrufezeichen! Als ich näher kam, konnte ich das Motiv erkennen – du hattest eigens ein Motiv entwickelt! Ein junger Mann sitzt im Pelzmantel im Café und rührt mit dem Pelz­ löfel goldlüssigen Honig in den Grüntee seiner oppenheim­ schen Pelztasse. Lächelnd schaut er nach rechts (du saßt im Café Schachmaty rechts von mir!). Und der Slogan, den ich von Wei­ tem vorschnell direkt auf mich bezogen hatte, lautete korrekt: »MEISTER PELZ«. Darunter, im Kleingedruckten, der Name des Kürschnereibetriebs, den es natürlich, ich habe es überprüft, nie gegeben hat. Auch bei der staatlichen Agentur für Werbe­ wesen zuckten sie nur die Achseln und erklärten, die Vorlage sei als E­Mail­Anhang gekommen und online bezahlt worden, die Bankverbindung würden sie mir natürlich nicht verraten. Und ich wusste nicht, ob ich ihnen glauben sollte, oder ob nicht doch genau dieser Graiker, die Zungenspitze im Mundwinkel, diesen Pelzpetz mit deiner Hilfe an seinem Monitor gezaubert hatte. Aber das war gar nicht so wichtig, Hauptsache, ich wusste, dass

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es mit uns nicht »aus« war, die Trennung nur auf Zeit und ein Wiedersehen unausweichlich. Vor meinem Fenster ein erstes, fernes Grollen, erste hektische Blitze. Die Pappeln hatten nicht umsonst geschwitzt! Das Ge­ witter, dessen Notwendigkeit die Bäume in beredtem Schweigen heiß diskutierten, rollte heran. Die Fenster mussten geschlossen, die Stecker aus den Dosen gezogen werden, dann wartete schon das Bett, denn morgen (morgen!) würden wir uns wiedersehen, da war ich mir sicher. Als ich heute unter der Brücke entlangspazierte – die Untä­ tigkeit treibt mich jetzt häuig auf die Straße, obwohl ich auch früher schon auf der Suche nach einem hema viel in der Stadt unterwegs war, immer bemüht, im Takt meiner Schritte die rich­ tigen Worte ticken zu hören – unter der Brücke also (ergänzt sei nur noch, dass sich meine Routen erheblich geändert haben und es mich von den abseitigen Straßen, den Zweigeschossern an der Kommunistitscheskaja, immer wieder in unser Dreieck zieht: Marx, Troizker Vorstadt, Bitter­Park), kurzum, unter der Brücke sah ich einen Mann in Orange, der eifrig ein von dir platziertes Graito zu entfernen suchte. Auf seinem Rücken stand »KOM­ ZENTREINORG«, das Orangenmännchen gehörte zu dem städtischen Betrieb, der für Baumbeschnitt, Straßenreinigung, die Entfernung von Anti­Murawjow­Aushängen und das Über­ malen von Graiti zuständig war, für die man (wusstest du das?) mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft wurde. Das Männchen hatte vom Ende her begonnen und verdeckte die Mitte, so dass kaum etwas zu erkennen war … Stehen bleiben ging eigentlich nicht, hier konnte immer noch das MSS auf Indiziensuche gegen das kriminelle Element sein, das kommunales Eigentum geschändet hatte, aber es war niemand zu sehen. Der ockerfarbene Schriftzug stammte aus einer Sprühdose. Neben dem Orangenrücken blitz­ te das Wort »ENTEN« auf, ohne jeden Zweifel. Ich hätte ihn

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fast beiseitegeschubst und starrte gebannt auf die Wand, sah aber ofensichtlich hinreichend professionell aus, dass er widerstands­ los zur Seite trat. Ich las: »ZWEN ˙ TEN JULI: ERINNERN AN DIE VERSCHWUNDENEN. UM …« Die Uhrzeit am Ende war schon übermalt. Du hattest alles richtig gemacht, sol­ che Aufschriften gab es tatsächlich an alten Brücken und Zäunen außerhalb der Innenstadt. Die noch am Leben und in Freiheit waren, fotograierten sie und schickten sie in den Westen, wo man glaubte, hier gebe es einen breiten nationalen Widerstand, während das MSS die Sprayer unfehlbar ausindig machte, über Spuren am Tatort, E­Mail­Adressen und weiß Gott (nein, der Teufel!), weiß der Teufel, wie sonst noch! Sie kamen ins Ge­ fängnis, und die Schriftzüge wurden von Jahr zu Jahr weniger. Als Zeichen des Erinnerns sollte man eine brennende Kerze ins Fenster stellen. Das tat freilich niemand, weil alle Angst hatten, dabei ist eine Kerze im Fenster zu einem bestimmten Termin noch kein Verbrechen. »ZWEN ˙ TEN« sah natürlich komisch aus. Das »ZW« war ein gutes Stück von den »ENTEN« entfernt, so dass das MSS da­ von ausgehen musste, der Sprayer hätte mit seiner Dose hantiert, sei nach den ersten beiden Buchstaben aufgeschreckt worden, abgehauen, zurückgekommen und habe dann an anderer Stelle weitergemacht und sich in der Aufregung verschrieben – für die weisen Raben ein klarer Beleg seines kurzzeitigen Schwächelns. Ich las dagegen sofort, was gemeint war, nicht »zweiten« sondern »Enten«, unser beider Enten, die hässlichen, treulosen Entlein, die impertinenten Enten. Aber das Wichtigste hattest du über­ sehen, und darüber würden sie sich jetzt in ihren Fachzentralen und Analysegruppen die Köpfe zerbrechen, über dieses eine De­ tail. Die Erinnerungsaktionen fanden am 16. jedes Monats statt, am Tag, als seine größten Feinde verschwunden sind: Sierakow­ ski, Wróblewski und Dąbrowski. Feinde, die sich selbst entführt

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hatten oder umgebracht wurden, wie auch immer. Aber heute … Der wie vielte war heute? Der erste! Ein einprägsames Datum: der erste Juli! Morgen war der zweite, also brauchte es morgen keinerlei Erinnerungsaktionen, niemand musste betrauert wer­ den, du wusstest sicher nicht einmal, was diese ganzen Aktionen sollten, als du deine »Enten« für mich gesprüht hast. Als ich ges­ tern hier vorbeikam, war die Wand noch unberührt, also konn­ te die Nachricht nur heute geschrieben worden sein. Wäre sie schon älter, hätten sie sie doch längst getilgt, übermalt, in dieser Stadt wurden solche Nachrichten keine zwei Stunden alt. Blieb nur noch die Frage nach der Uhrzeit. Was stand da, unter der Schicht frischer grauer Farbe? Dort spreizten sich irgendwelche Zifern, aber sie waren nicht mehr zu erkennen. Ich fragte kurz entschlossen, wohl wissend, was ich riskierte, aber der Orangen­ mann hatte mich ja auch den Rest lesen lassen: »Was stand da noch?« Er hatte die Stirn, sich zu räuspern und sich mit einem halb spöttischen, halb gutmütigen Blinzeln zu erkundigen: »Wer will das wissen?« Daraufhin versuchte ich, ihre Intonation zu ko­ pieren (obwohl ich keine genaue Vorstellung von ihr hatte), und antwortete kühl mit einem gewissen Nachdruck: »Die es wis­ sen müssen.« Da verschwand das angedeutete Orangenlächeln spurlos, er bedachte mich mit einem argwöhnisch­abschätzigen Blick, wandte sich wieder der Wand zu und begann übertrieben zu schimpfen: »Wenn ich den Schmierink erwische, reiß ich ihm die Arme aus. Elende Westgeldjunkies. 16.45« »Weiter nichts?«, fragte ich nach, aber er beachtete mich nicht mehr, sondern ließ mich seine Abscheu vor denen, »die es wissen müssen«, spüren, seine Angst. Wenn er es mir nicht verraten hätte, hätte ich sowieso den ganzen Tag bis zum bitteren Ende bei unseren Enten auf dich gewartet. Eisbären mögen Kondensmilch, aber was mögen Jelisawetas? Warum hatte ich nicht gefragt? Spieldosen? Nein,

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eher Melodien, Musik, so klangvoll wie ihr Name. Die Taschen voller Musik, den Arm voller Noten, so musste ich zu den Enten kommen und dich füttern, die Noten selbst auswickeln für dich, ich sah das knisternde Papier um die Noten schon vor mir, die leckeren Schokonoten, aber das war schon ein Traum, ein Traum. Das Gedränge begann kurz vor der Haustür. Es schien, als hätte sich das ganze Land in der armen, kleinen Innenstadt ver­ sammelt, auf deren begrenztem Raum auch mein Stalin­Haus sein stilles Plätzchen gefunden hatte. Schon am Morgen setzte das seltsame Treiben ein, als im gesamten Hof unter den Pap­ peln anstelle der schachigurenartig verteilten Katzen, die in ihrem Tagesschlummer einander stets zugewandt waren, stets bereit, mit Kampfesgeheul über jeden Eindringling herzufallen, der es wagen sollte, die für Menschen unsichtbaren Grenzen des Katzenreiches zu verletzen – als anstelle dieser blinzelnden Bäl­ ge also auf einmal Menschen mit Isomatten oder alten Decken unter den Pappeln aufmarschierten, mit Plastiktüten voller Pro­ viant und Alkohol. Hemmungslos breit machten sie sich auf dem Spielplatz und unter den ausgeblichenen Wäscheleinen, setzten sich auf die Erde, um Gurken und Tomaten zu schneiden, und schenkten Wodka in Plastikbechern aus. Die Katzen, die sich unter die parkenden Autos gelüchtet hatten, mussten staunend zur Kenntnis nehmen, dass es riesige, plumpe, stinkende Zwei­ beiner gab, die mit Kriegsgeschrei nicht zu vertreiben waren, und sie traten, nachdem ihnen das x­te Stück schwitziger Wurst auf Zellophanpapier angeboten worden war, angewidert den Rückzug an. Es hatte den Anschein, als hielte das ganze Land Leichenschmaus, als begieße es seine Toten in meinem Hof und in der gesamten Innenstadt. Ich bahnte mir vorsichtig einen Weg durch die Menge, die sich inzwischen näher gekommen und mit ihren Isomatten und

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Decken zu einem Gemeinschaftspicknick zusammengerückt war (die Katzen beäugten die Überlagerung der Reviere mit Unverständnis, ihrer sterilen Überlegenheit über diese chao­ tische, zweibeinige Rasse nun gänzlich gewiss). Einen mir ent­ gegengestreckten Plastikbecher lehnte ich dankend ab, ließ mich von einem medaillenbehängten Veteranen umarmen und erinnerte mich. Natürlich. Zweiter Juli. Die Generalprobe. Wie konnte ich das vergessen! Deshalb hatte sie unser Trefen für heute angesetzt, wo es »bei Entens« einen Massenaulauf gab und gewisse Leute uns in der bunten, betrunkenen Menge von Auswärtigen schwerlich inden würden. Die Generalprobe am Tag vor dem Stadtfest. Früher war der Tag der Stadt, der 3. Juli, an dem meine Stadt von den Faschisten befreit worden war, der eigentliche Festtag für alle mit Militärparade, Galakonzert und Feuerwerk. Aber Murawjow hatte dann doch nicht so viel für die Kartofelgesichter seiner glücklichen Wähler übrig, dass er sein Fest mit ihnen teilen wollte. Deshalb hatte er folgende Regelung getrofen: Das einfache Volk bekam seine »Generalprobe« bzw. seine »General­Probe«, wie es auf den Plakaten in der ganzen Stadt hieß, mit Feuerwerk, nächtlicher Parade und Konzert. Das eigentliche Fest fand tags darauf streng abgeriegelt nur für Murawjow und mit Passierscheinen ausgestattete Angehörige des MSS, der Präsidialverwaltung und der Regierung statt. Niemand wusste genau, was am Tag der Stadt ablief – die »Generalproben« hatten schon seit zehn Jahren nichts mehr mit dem zu tun, wofür angeblich geprobt wurde. Die Bewohner der Häuser in Tribünen­ nähe, denen mit Verweis auf postierte Scharfschützen untersagt war, sich den Fenstern zu nähern, berichteten von unerträglich lauter Orgelmusik, von chinesischen Flugdrachen und von fran­ zösischen Filmklassikern, die direkt auf die Fassade der Hoch­ häuser projiziert wurden, so dass der einzige Zuschauer fünfhun­ dert Quadratmeter »Leinwand« für sich hatte. Zu gerne hätte

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ich sein Gesicht dabei gesehen. So viel war klar: Das Murawjow­ Fest kam ohne Feuerwerk, Artisten, Skifahrer und abgehalfterte Popstars aus. Keiner der stämmigen, bodenständigen Männer in ihren kurzärmligen, weißen Feiertagshemden hätte einem das ab­ genommen. Sie tranken, »glühten vor« für das unfassbare Wunder des anstehenden Feuerwerks, stießen an »auf ihn«, feierten, dass sie dabei sein durften, luden ihn überall ein, reichten ihm Becher und Wurst. Ich hatte immer zugesehen, am Vorabend der Generalprobe aus der Stadt zu lüchten, weil ich diesen Riesenbetrug nicht mit ansehen wollte, aber jetzt sah ich, während ich mich auf dem Weg in unseren bitteren Park durch die Menge schob, nur glückliche Gesichter. Mir wurde klar, dass Murawjow wieder einmal alles richtig gemacht hatte, dass die Leute genau dieses Fest haben wollten. Eine Clique Jugendlicher ließ neben mir die Wodkalasche kreisen, sie hüllten sich ein, hüllten sich ein in die rot­grüne Staatslagge. Hinter einer der Flaggenfalten küss­ te sich ein Pärchen, taumelte halb nackt und betrunken zu Bo­ den, den anderen vor die Füße, die unbeirrt weiterliefen, bekam man doch an diesem Abend der Generalprobe, wo der Wodka nur die Hälfte kostete und die Miliz sich von Betrunkenen und Schlägern fernhalten sollte, so einiges zu sehen. Plötzlich fasste mich jemand an der Hand und zog mich in die entgegenge­ setzte Richtung – ich war in einer Polonaise gelandet, die sich mit patriotischen Gesängen durch die Massen wand, und schon klebte an meiner anderen Hand eine rothaarige Furie im kurzen, hautengen Flitterkleid, die mich breit angrinste und – oh Gott, warum konnte ich nicht so ein schlichtes Gemüt sein wie sie? Ich drückte ihre Hand in diejenige, die mich in die Polonai­ se hineingezogen hatte, warf ihr noch einen Handkuss zu, aber sie nahm mich schon gar nicht mehr wahr. Unter den Füßen knirschte der Müll, weiter vorne gab es eine Massenschlägerei,

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jemand hatte wohl etwas Verkehrtes gesagt oder etwas Verkehr­ tes verstanden. Die Frauen kreischten, mir sprangen im wilden Gemenge von Fäusten und Staub die grellroten Blutlecken ins Auge, die heroisch auf den schneeweißen Hemden prangten. Die Milizpatrouille in zweihundert Meter Entfernung machte natürlich keinerlei Anstalten einzuschreiten. Vielleicht waren sie alle zum richtigen Fest morgen eingeladen, wer wollte da schon mit einem blauen Auge aulaufen, nur weil er es bei der Gene­ ralprobe mit der Ordnungshüterei übertrieben hatte. Durch die Menschenmassen war der Prospekt nicht wiederzuerkennen, ich verlor die Orientierung. Hier und da standen Bühnen, auf denen Sänger herumzappelten, die weniger Begeisterung ausstrahlten, als sie es sich bei einem richtigen Konzert geleistet hätten. Aber das erhitzte, torkelnde, sabbernde Publikum verzieh heute alles. Hier im Zentrum saß niemand mehr, es war ja auch kein Platz, alles stand, ging, tanzte, trinkend oder aufeinander einredend, wie der Mann mit dem baschkirenschwarzen Haar und der Pelz­ mützenfrisur. In seinem Redeschwall, durchsetzt mit turkspra­ chigen Brocken, erzählte er mir von unserer Heldenstadt und nannte mich Andrej, stutzte dann, sah mich scharf an, fragte, wo denn Andrej sei, und lief zurück, seinen Andrej wiederzuin­ den. Ich wollte raus hier, nur noch raus. In ein anderes Habitat wechseln, aus dem überbevölkerten Salzwasser in unsere süßen Gewässer, und das künstliche Bächlein mit den Enten lag vor mir, die kleine Brücke, von der du die Entlein entdeckt hattest, und alles war übersät mit lärmenden Leibern, die anstießen mit Gläsern und Zungen, die lispelten und lallten. Die Enten hatten sich ernüchtert gen Süden verabschiedet oder waren nach dem übermäßigen Verzehr verschwitzter Zellophanwurst auf Grund gelaufen. Ich sah wohl in dieser Umgebung nicht fremd genug aus, zu wenig nach Außerirdischem oder Eisbär, denn ich wur­ de ständig angesprochen, dabei tat ich alles, den Eindruck zu

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zerstreuen und klarzustellen, dass ich nicht zu ihrer General­ probe gekommen war. Aber der Mann, der Schnauzbart und – oh Wunder – nicht das weiße, kurzärmlige trug, sondern ein original blau­weiß geringeltes Matrosenhemd, der noch vor we­ nigen Minuten in der Pose von Picassos Mädchen auf der Kugel selbstvergessen im Zierteich getanzt hatte, in der Rechten eine Flasche Wodka, in der Linken einen Kanten Brot, dieser Mann also fragte mich: »Wo steigt das Feuerwerk?« Und noch bevor ich mir klar wurde, dass es unhölich wäre, nicht zu reagieren, nahm sein Kumpel, der eben noch mit seinen Pranken im Teich nach Goldischen gewühlt hatte (als Zubrot zum Wodka?) mir die Antwort ab: »Überall!« Alle waren gekommen: der Achtjährige, den Papa an der Bier­ lasche nuckeln ließ, die Großmutter im Festtagsstaat mit ange­ leintem Mops, drei Oberstufenschülerinnen, die vor der vierten mit geraften T­Shirts und blanken Busen posierten, alle, außer dir. Dabei waren wir schon eine halbe Stunde über der Zeit, eine ganze, eineinviertel, und ich begann schon an den »Enten« zu zweifeln, vielleicht hieß es ja wirklich »zweiten« und hatte mit unseren Enten nichts zu tun … Kurz darauf verdeckten mir zwei linke Hände von hinten die Augen. In T­Shirt und Jeans, ohne deinen Mantel und die hochhackigen Stiefel, kamst du mir vor wie eine Miniaturausgabe deiner selbst, viel kleiner, als ich dich in Erinnerung hatte, aber mit deiner Schrumpfung hatte es eine besondere Bewandtnis: Alles Wichtige an dir, deine Hände, die Brauen, die Lippen, hatten genau die richtige Größe. Das leicht längliche Gesicht mit den Wangengrübchen … Meine Hände legten sich auf deine geschlossenen Flügel, wir wiegten uns sanft, und die Goldische, die auf handgeschnitzten Schaschlikspießen auf ein spontanes Lagerfeuerchen wanderten, brauchten uns nicht mehr leidzutun. Tausend Mal hatte ich mir in den vergan­ genen acht Wochen meinen ersten Satz zurechtgelegt, den ich

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dir bei unserem Wiedersehen sagen wollte, und auch du hattest sicher an deiner Eröfnung gefeilt, aber, du wirst entschuldigen, als Eisbär musste ich einfach improvisieren: »Du bist spät. Es ist schon sechs.« Darauf du, betont ruppig: »Ich hätte wohl vorher da sein sollen, was? Dir hier eine Jurte aufstellen? Das Nordlicht in die Bäume malen?« Und ich mit gespieltem Eifer: »Da stand doch Viertel vor fünf !« Und du, wieder ganz sanft, ohne künstlichen Vorwurf: »Da stand Punkt sechs, mein Bär. Und der Enten­Hinweis.« Ich brauchte noch ein paar Sekunden in enger Umarmung, bis mir ein Licht aufging. Sieh an, der Orangenmann! Hat die, »die es wissen müssen«, sauber gelinkt! Du spürtest, wie das Lachen mich schüttelte, gabst mich frei und wolltest wissen, was los war. »Der Typ, der dein Graito überstrichen hat, hatte die Zeit schon zugemalt. Ich hab so getan, als wär ich vom Amt, und hab ihn nach der Zeit gefragt. 16.45, hat er gesagt. Toller Hecht! Dass so einer noch frei rumläuft! Hast du ihn angeheuert, dass er die Nachricht überstreicht? Ich hatte schon überlegt, ob ich das Sig­ nal richtig verstanden habe.« »Geschieht dir recht! Was hast du dich auch verspätet. Wärst du früher an der Brücke gewesen, hättest du die Zeit noch gese­ hen.« »Das konnte ich doch nicht wissen! Sei froh, dass ich über­ haupt dort war, sonst dürftest du jetzt in dieser netten Gesell­ schaft mit den Herrschaften im Ringelhemd gegrillten Goldisch knuspern.« Darauf du, ganz ernst: »Glaub doch nicht, dass du zufällig bei der Brücke vorbeige­ kommen bist.«

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sichtlich im Zuge einer Suche nach gewissen Objekten, Klapper­ geräusche verursachte, ferner raschelte er mit Papier. Zurückge­ kehrt zu Mikrofon 1, lüsterte er der Füchsin etwas zu, die sich ofensichtlich noch im Schlafzustand befand. Durch punktuelle Tonverstärkung unter Einsatz der Multi­Apparatur »Echo­3« konnte folgender Wortlaut ermittelt werden: »Dieses Serviet­ tenveilchen soll das Erste sein, was meine Prinzessin nach dem Aufwachen sieht.« Füchsin gab nach Beendigung ihres Schlafzu­ standes keinerlei Wortäußerung von sich und verließ das Objekt nach Abschließung mit Schlüssel.

Ministerium für Staatssicherheit

Inventarverzeichnis der Haushaltsabfälle, verursacht durch die im unter Observierung stehenden Objekt Mietwohnung Seraimowitsch­Straße, Hs 16, Whg 7 beindlichen Personen

Vorliegendes Musterverzeichnis wurde gemäß Direktive 10­18 »Regelwerk zum Umgang mit Abfällen aus Objekten unter ope­ rativer Beobachtung« als ergänzendes Material zum Vorgang er­ stellt. Seine Einordnung in Band III der Vorgangsakte hat zum Ziel, den operativen Mitarbeitern die Erstellung einer umfassen­ den Darstellung von Tagesablauf, Gewohnheiten und Routinen zu ermöglichen. Erst. v. Jermolaitschik

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Die Abfälle wurden beim gemeinsamen Verlassen des Objekts durch die observierten Personen Füchsin und Gogol am 07. Ok­ tober entsorgt. Zur Verkapselung der Abfälle wurde ein nicht transparenter Standardzugbandsack mit erhöhtem Füllvolumen und gelbfarbigem Zellulosezugband verwendet. Die Einbrin­ gung des Abfallsacks in den Abfallbehälter erfolgte durch den Gogol, während Füchsin ihren Pkw Lexus startete und ausparkte. Oben im Sack wurde 1 Pizzakarton der Größe XL für eine Pizza »Quattro stagioni« des Restaurants Patio Pizza (Prospekt der Un­ abhängigkeit) aufgefunden, darin 1 Kassenbon über 35.000 Rub., inkl. Zustellung. Nicht vom Verzehr betrofen waren 2 Segmente mit Bestandteilen von Meeresfrüchten (Shrimps, Austern) und Oliven. Bei 3 weiteren Segmenten waren vom Mittelpunkt aus radial verlaufende Bissspuren im Belag zu erkennen. Der äuße­ re Rand der Segmente (trockener Teig) blieb unangetastet. Auf­ grund der Zahnbogenweite ist anzunehmen, dass die o.g. Spuren von der Füchsin eingebracht worden sind (ohne Sachverständi­ gengutachten). Ferner wurde in der obersten Abfallschicht 1 leere Château­Margaux­Rotweinlasche französischer Fabrikation so­ wie 3 gebrauchte Präservative in eng anliegender Toilettenpapier­ ummantelung ermittelt. In zweien ließ sich Ejakulat des Gogol nachweisen (gutachterlich geprüft). Ferner fanden sich die Scha­ len dreier Bananen sowie 200 g Apfelsinenschalen. Darunter wurde 1 knitterfreie, vollständige Ausgabe des An­ zeigenblattes Vabanque eingezogen. Datum und räumliche An­ ordnung der Zeitschrift lassen darauf schließen, dass sie die Grenze zur zweiten, älteren Abfallschicht markiert. Hier wurden 2 gebrauchte Präservative in eng anliegender Toilettenpapierum­ mantelung mit dem Ejakulat des Gogol sichergestellt, ferner 2 leere, lachgepresste Flaschen des Fruchtsaftgetränks »Unique«, 1 leere Schachtel für ca. 300 g Konfekt »Leonidas« belgischer Fab­ rikation, erworben im Valutashop Spezmarket (Sacharow­Str. 37).

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