Programmmagazin der FNF 01/2013

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Friedrich Naumann

STIFTUNG

FÜR DIE FREIHEIT

Wie modern ist unsere Demokratie? Programm

1/2013 Herfried Münkler Die Zukunft der Demokratie Norbert Bolz Im Interview über den Zustand der parlamentarischen Demokratie, unsere Meinungsfreiheit und die Marke Politik Jan Fleischhauer Medien und Politik – eine professionelle Reflexion

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Editorial Liebe Leserinnen und Leser, Mancher Abgeordnete besitzt sicher jenes Buch des Soziologen Max Weber mit dem Titel „Politik als Beruf“ – ein Vortrag, den Weber im Jahr 1919 in München gehalten hat. Die Monarchie hatte gerade versagt, der Kaiser war ins Exil gegangen. In diesem Moment der totalen Krise versuchte Weber das realistische Bild eines Berufspolitikers zu entwerfen, wie ihn ein demokratisches Deutschland braucht. Der Text fasziniert auch heute ungebrochen, weil er einerseits von der Leidenschaft zur Politik als Berufung handelt und zugleich nüchtern und rational Politik als Beruf thematisiert. Gesinnungs- und Verantwortungsethik – der große Realist Max Weber verwehrte sich schon damals sowohl gegen die Demokratieverachtung der altbewährten Eliten als auch gegen die politische Romantik revolutionärer Utopien. Im Grunde würde Max Weber heute ähnlich argumentieren, um die parlamentarische Demokratie gegen gefühlte Politikverdrossenheit und Krisendiagnostik zum Trotz zu verteidigen. Obwohl die Strukturen unserer parlamentarischen Parteiendemokratie heute gefestigt erscheinen, unsere Krisen eine ganz andere Qualität haben und die Gestaltungsmöglichkeiten so groß sind wie nie zuvor, tun sich viele Bürger damit schwer. Paradox: Während die Piraten-Partei eine andere Mitbestimmung gegenüber den etablierten Parteien thematisiert, wird gerade diese geforderte Beteiligung in Form von Volksabstimmungen, wo bereits angeboten, von erstaunlich wenigen wahrgenommen. Das kommende Wahljahr 2013 nehmen wir zum Anlass, genauer hinzuschauen, wie es um die parlamentarische Demokratie bestellt ist. Professor Herfried Münkler analysiert im Leitartikel die strukturelle Krise, der sich die Demokratie aktuell gegenübersieht. In einem Pro und Contra beziehen Patrick Döring, FDP-Generalsekretär, und Johannes Ponader, Geschäftsführer der Piratenpartei, Stellung zur traditionellen Delegiertendemokratie und den Neuen Medien in der politischen Willensbildung. Außerdem werfen wir einen kritischen Blick auf das Kommunikations- und Markenmanagement der Parteien und das Spannungsfeld Politik und Kapitalmarkt. Der SPIEGEL-Kolumnist Jan Fleischhauer macht sich Gedanken über die Wechselbeziehung zwischen Medien und Politik, während der Medienwissenschaftler Professor Norbert Bolz im ausführlichen Interview die „Politik der Alternativlosigkeit“ kritisiert. Wer von vornherein die Auswahlmöglichkeiten auf eine Option reduziert, verhindert Debatten über gesellschaftlich relevante Themen. Ganz in diesem Sinne wünsche ich Ihnen auch bei diesem Heft eine anregende Lektüre.

Dr. h. c. Rolf Berndt Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

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Jan Fleischhauer Medien und Politik – eine professionelle Reflexion

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Prof. Herfried Münkler Die Zukunft der Demokratie

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Prof. Norbert Bolz Im Interview über den Zustand der parlamentarischen Demokratie, unsere Meinungsfreiheit und die Marke Politik Standpunkte Patrick Döring / Johannes Ponader Delegiertendemokratie versus Onlinedemokratie

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Wolfram Sauer Ein Update für die Demokratie – Soziale Medien im Wahljahr 2013

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Prof. Dr. Michael Hüther Zwei, die sich nicht verstehen: Politik und Kapitalmarkt

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Christoph Bieber Politische Kommunikation und Markenpflege im digitalen Zeitalter

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Lesetipps

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Programm 1/2013

Medien und Politik – eine professionelle Reflexion Jan Fleischhauer

Seit ich Journalist bin, also seit etwa 25 Jahren, höre ich, dass es mit dem Journalismus bergab geht. Was die Anzeigensituation angeht, sieht es in der Tat nicht sehr rosig aus, da wünscht man sich als Journalist eine deutliche Besserung. Aber das meinen die Kritiker nicht. Ihre Klage richtet sich auf die innere Verfassung der Branche. Wohin sie blicken, sehen sie Entpolitisierung und Verflachung. Verfallszeichen überall: Da will der Chefredakteur der „Zeit“ dem Lügenbaron von Guttenberg per Interview wieder aufs Pferd helfen. Der begehrte Henri-Nannen-Preis geht, Gott steh uns bei, an die „Bild“-Zeitung und der „Spiegel“ hat zum 30. Jahrestag der Kanzlerwerdung Helmut Kohls nichts Besseres zu tun, als dessen private Tragödie zu beleuchten, anstatt sich noch einmal im Detail die Spendenaffäre vorzunehmen. Vielleicht ist die moralische Krisendiagnostik unvermeidlich in einem Milieu, in dem viele Menschen davon leben, anderen hauptberuflich die Leviten zu lesen.

Tatsächlich gibt es wenig Grund, sich um den Qualitätsjournalismus Sorgen zu machen. Man kann sogar mit gutem Grund sagen, dass es um ihn heute deutlich besser bestellt ist als noch vor 20 Jahren. Wenn Unabhängigkeit und Distanz wichtige Kriterien sind, dann haben sich die Dinge jedenfalls eindeutig zum Positiven gewendet. Es ist noch nicht lang her, dass manche Politiker und Journalisten mediale Interessengemeinschaften bildeten, dass man sich duzte und gemeinsam in den Urlaub fuhr. Auch deshalb ist vielen der Umzug von Bonn nach Berlin ja so schwer gefallen, in diese große Stadt, wo es so zugig und unpersönlich zugeht und man einander gar nicht mehr richtig kennt. Auf der Verabschiedung eines geschätzten Kollegen hat ein Vertreter dieses Duz-Korporatismus vor ein paar Jahren im Rückblick die schöne Formel gefunden: „Nähe erspart Umwege.“ Nicht alles, was dem Journalisten das Leben leichter macht, muss allerdings den Interessen seiner Leser dienen.

Nähe erspart nicht nur Umwege, sie hat auch den weniger erfreulichen Nebeneffekt, dass sie korrumpiert. Die Währung, in der Journalisten für Informationen zahlen, sind Aufmerksamkeit und Schmeicheleien. Ich frage mich manchmal, wann es diese goldene Zeit des politischen Journalismus, von dem ständig die Rede ist, wohl gegeben haben mag. Sind die Kanzlerjahre mit Helmut Kohl gemeint, der allen aufgeklärten Menschen als ausgemachter Tor galt, den ein historischer Unfall ins Kanzleramt gespült hatte? Oder die Wiedervereinigung, als die gesamte linke Presse auf dem falschen Fuß erwischt wurde und dann hektisch den Ereignissen hinterherschrieb? Wahrscheinlich lag diese goldene Zeit in den späten Sechzigern, als die gute Bundesrepublik entstand. Dass 1968 die eigentliche Staatsgründung erfolgte, für die wir noch immer dankbar sein dürfen, ist ein Mythos, der in den gehobenen Kreisen bis heute gepflegt wird. Und gegen Mythen ist bekanntlich kein Kraut gewachsen.

Jan Fleischhauer ist Autor und Kolumnist des SPIEGEL. Vor kurzem erschien bei Rowohlt sein Buch „Der Schwarze Kanal – was Sie schon immer von Linken ahnten, aber nicht zu sagen wagten.“ (224 Seiten; 12,90 Euro)

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Prof. Herfried Münkler

Die Zukunft der Demokratie

Weil das jedoch eine sehr viel größere und schwierigere Aufgabe ist als die Bekämpfung politischer Feinde, neigen viele dazu, die neuen Herausforderungen in der alten

Schon Tomasi di Lampedusas Leopard wusste, dass sich vieles ändern muss, damit alles so bleiben kann, wie es ist. Dabei ging er davon aus, dass der bestehende Zustand im Wesentlichen gut war. Der Veränderungsbedarf erwuchs also nicht aus dem Zustand selbst, sondern aus dessen sich wandelnden Rahmenbedingungen. Man kann dies als liberal-konservative Weltsicht bezeichnen: Während die progressiv-reformerische Politikperspektive ein Ideal kennt, dem die realen Verhältnisse nähergebracht werden sollen, konzentriert sich die liberal-konservative Sicht auf die Gefährdungen des Erreichten. Der Wettbewerb der politischen Parteien beginnt mit der Frage, welche von beiden Sichtweisen den Wählern plausibler ist. Erst danach geht es um die Frage, welche Vorschläge die Parteien machen, um ihre Sicht in praktische Politik umzusetzen.

„Alternativlosigkeit ist das politische Aus für die parlamentarische Demokratie.“

Herfried Münkler ist Politikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Politische Theorie und Ideengeschichte. Er lehrt als Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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Seit gut einem Jahrzehnt geht die Sorge um, die westlichen Gesellschaften seien in eine postdemokratische Ära eingetreten, in der die parlamentarische Demokratie einer allmählichen Erosion ausgesetzt ist. Nun ist diese Sorge eigentlich nicht neu; im Prinzip begleitet sie die Demokratie seit ihren Anfängen. Aber während es früher politische Gruppen waren, die als Bedrohung der demokratischen Ordnung identifiziert wurden, geht es nunmehr um strukturelle Entwicklungen. Beides sollte weder miteinander vermischt noch verwechselt werden. Politische Gegner der Demokratie, oligarchische Gruppen oder Anhänger einer Diktatur kann man bekämpfen. Der Herausforderung durch strukturelle Veränderungen muss man anders begegnen: Hier muss sich die Demokratie selbst verändern, um sich als maßgebliche politische Ordnung behaupten zu können.

Manier personifizierbarer Feindschaft zu beschreiben und vermutlich auch so zu denken. Damit soll nicht bestritten werden, dass Manager- und Bankerboni ein Ärgernis und eine Provokation darstellen, aber das Hauptproblem, um das es bei der Diagnose von der Postdemokratie geht, sind sie mit Sicherheit nicht. Die eigentliche postdemokratische Herausforderung umfasst zwei Elemente, die nicht so ohne weiteres in ein Pro- und Contra-Schema zu bringen sind. Da ist zunächst das Problem der Temporalstrukturen: Der klassische Territorialstaat besaß die Fähigkeit, den zeitlichen Ablauf politischer, sozialer und ökonomischer Prozesse seinen eigenen Bedürfnissen gemäß zu gestalten. Allenfalls in Kriegszeiten war er in Fragen der Be- und Entschleunigung nicht sein eigener Herr. Friedenszeiten waren mithin dadurch definiert, dass man sich mit Entscheidungen Zeit lassen konnte.

Das kam der Demokratie zugute: Wo man Bedenk- und Beratungszeit brauchte, nahm man sie sich, und wo es keine klaren Mehrheiten oder zu große Ungewissheiten gab, schob man Entscheidungen auf. Das ist in vielen Fragen nach wie vor möglich. Doch in Fragen der Fiskalpolitik hat sich das im Zeitalter der Globalisierung geändert. Unglücklicherweise sind die damit verbundenen Fragen und Probleme die wichtigsten, und sie verlangen in wachsendem Maße schnelle Entscheidungen oder aber Absprachen, die auf Regierungsebene getroffen werden. Das Parlament als das Zentrum der demokratischen Ordnung gerät damit ins Hintertreffen. Und wenn es dann doch noch am Politikprozess beteiligt wird, kann es zumeist nur abnicken, was die Exekutive festgelegt hat. Das war in außenpolitischen Fragen schon immer der Fall; jetzt aber betrifft es das Staatsbudget und damit den Kern der parlamentarischen Ordnung. Die parlamentarische Demokratie, so der zweite Punkt, wirkt als Komplexitätsreduzierer: Die Fülle der politischen Optionen wird von ihr auf große Alternativen reduziert, die dann von Regierung und Opposition in Konkurrenz zueinander vertreten werden. Das verschafft Übersichtlichkeit, Klarheit und damit Entscheidungs-

fähigkeit – auch und gerade für die Wähler, die sich nicht permanent mit politischen Fragen beschäftigen können und wollen. So sorgt der Gegensatz von Regierung und Opposition für die Beteiligung einer großen Mehrheit des Volkes am Politikprozess. Durch ihn werden komplizierte Sachfragen in politische Fragen transformiert, und diese sind dadurch gekennzeichnet, dass im Prinzip jeder darüber befinden und entscheiden kann. Die jüngste Karriere des Begriffs „alternativlos“ zeigt, dass diese Ordnung bedroht ist: Alternativlosigkeit ist das politische Aus für die parlamentarische Demokratie. Der Wettkampf der Parteien, auf diese zwei neuen Herausforderungen Antworten zu finden, ist der vielleicht nicht spektakulärste, aber vermutlich wichtigste Teil des Wahlkampfs. Es ist dies keine Auseinandersetzung über Politikfelder (policies), auf denen üblicherweise Wahlkämpfe ausgetragen und entschieden werden, sondern ein Wettbewerb um die Rahmenbedingungen demokratischer Politik (polity). Der setzt bei den Bürgern eine erhebliche Urteilsfähigkeit voraus und wird darum nur für einen Teil von ihnen entscheidungsrelevant sein. Umso wichtiger ist es, hier Alternativen zu entwickeln, die eine intensive Debatte in Gang bringen.

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„Wir haben es mit einer tiefen Strukturkrise der parlamentarischen Demokratie zu tun.“ Professor Norbert Bolz über den Zustand der parlamentarischen Demokratie, unsere Meinungsfreiheit und die Marke Politik

Die Funktionsweise der parlamentarischen Demokratie wird derzeit durch die wiederholte Verkündung der „Alternativlosigkeit“ in Frage gestellt, wie beim Sparkurs oder den EU-Hilfen für Griechenland. Ist das Wahlvolk überhaupt noch beteiligt an diesen Entscheidungen? Mit Sicherheit nicht. Gefragt wird es formal nach wie vor, da es immer noch turnusgemäß Wahlen gibt. Die haben nach wie vor eine gewisse Sanktionsgewalt, aber sachliche Beiträge zur politischen Diskussion kann das Publikum schon lange nicht mehr leisten. Das wird von den Fachleuten bestimmt und die bewegen sich im

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Bereich der professionellen Politik. Der politische Diskurs wird in eine endlose Talkshow verwandelt mit der Folge, dass sich die Bürger nicht mehr mit den großen politischen Themen auseinandersetzen können – man traut es ihnen nicht mehr zu. An Stelle der sachlichen Auseinandersetzung ist die rein emotionale Bewertung getreten. Die härteste dieser Bewertung liegt natürlich im Ressentiment. Sehr viel Politik, die heute betrieben wird, ist Ressentiment-Politik. Ihr Stichwort, auf das fast alle hören, ist sozial, wie soziale Gerechtigkeit. Beide Wertbereiche werden dadurch bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Wir wären gut beraten, die Frage, was ist Gerechtigkeit, heute wieder zu stellen und einen Begriff des Sozialen zu entwickeln, der unserer Gegenwart angemessener ist.

Könnten durch Methoden wie Liquid Democracy wieder mehr Bürger beteiligt werden? Nein. Liquid Democracy ist eine tolle Idee und vor allem eine tolle technische Möglichkeit. Aber man sollte keine Sekunde daran glauben, dass damit eine Art radikal demokratische Kollaboration möglich wäre. Gerade in Netzwerken gilt, was Spezialisten „power-law“ oder „Pareto-Verteilung“ nennen: Einige wenige beherrschen die ganze Szene. So ist es natürlich auch bei Liquid Democracy: Einige wenige Aktivisten erzeugen den Anschein, das Volk würde diskutieren. Am Grundproblem, dass der größte Teil der Bevölkerung sich nur emotional an politischen Fragen beteiligt, wird das aber überhaupt nichts ändern.

Sie haben 2010 im Focus einen Artikel über den Zustand der Meinungsfreiheit in Deutschland geschrieben. Die Bürger folgten nur noch dem Diktat der „politisch korrekten Besinnung“. Political correctness und Emotionalisierung – beides bringen die Massenmedien hervor. Der Normalkontakt mit politischen Themen findet nur noch auf der Gefühlsoberfläche statt. Dazu gehört, dass wir zunehmend komplexe politische Fragen durch Moralisieren platt schlagen. Das Moralisieren ist die Technik der großen Vereinfachung, die in den letzten Jahrzehnten einen strengen Sprachkodex bekommen hat, den man politische Korrektheit nennt. Zumal die Welt, je komplexer sie wird, umso mehr suggeriert: Wir brauchen die ganz einfache Lösung – „simplify your life“. Genau dasselbe empfiehlt man mittlerweile auch den Menschen im Umgang mit politischen Fragen. Diese Tendenz zur Moralisierung und zur Emotionalisierung in den Massenmedien macht es unwahrscheinlich, dass wir nochmal einen sachlichen Bürgerdiskurs über die großen politischen Fragen haben werden. Gerhard Schröder hat das Geheimnis der Gegenwartspolitik deutlicher ausgesprochen als es der politischen Klasse lieb war, als er sagte: „Zum Regieren brauche ich nur Bild, BamS und Glotze.“ Komplexe Probleme müssen vereinfacht werden, um sie diskussionsfähig zu machen. Ja, allerdings darf die Vereinfachung nicht enden in der berühmten TINA-Formel, die die Davos-Teilnehmer erfunden haben: There Is No Alternative. „Es gibt zu dieser Politik keine Alternative" ist der Inbegriff des Undemokratischen selbst. Es gibt leider Liebhaber dieses Denkens bis hinein ins Bundeskanzleramt. Hier müsste unsere Kritik ansetzen: Demokratie heißt prinzipiell, es gibt bei jeder Frage eine Alternative.

Wird Politik infolgedessen nur noch als Marke verkauft? Wo bleiben die Inhalte? Es gibt längst ein Branding der Politik, eine Schaufensterabteilung, die nur noch Marketing macht. Auf der anderen Seite gibt es die Leute mit den Aktenkoffern, die hinter verschlossenen Türen die realen Prozesse katalysieren. Das Ganze wird verkauft, als gäbe es so etwas wie Marken in der Politik. Das sind weniger die Parteien, die diffus sind in ihrem Erscheinungsbild, sondern vor allem die Spitzenpolitiker, die wie Markenartikel behandelt werden. Ist die parlamentarische Form im Umkehrschluss überhaupt noch angemessen?

werden müssen, dass das Parlament übergangen werden muss und dies ausgerechnet die allerwichtigsten Entscheidungen sind, dann haben diejenigen in der Exekutive dafür gesorgt, die diese Entscheidungen treffen. Wir haben es mit einer tiefen Strukturkrise der parlamentarischen Demokratie zu tun, aber uns fehlt es an politischer Imagination, um einen Gegenentwurf durchzuprobieren. Deshalb bin ich persönlich sehr viel näher an den Piraten als die meisten anderen, weil ich da wenigstens eine Idee sehe, die eben auch auf einer Medientechnik fußt, die neu ist. Da sage ich den anderen: Bringt erst mal eine andere Idee. Vielen Dank für das Gespräch.

Nein, eben nicht. Der wichtigste Punkt ist der, dass es keine politische Diskussion im Parlament mehr gibt. Wir haben uns längst mit Dingen abgefunden, die katastrophal sind wie Fraktionszwang oder die Beschränkung der Redefreiheit. Wenn wir jetzt überdies in einer Welt leben, in der die Entscheidungen so schnell getroffen

Das Interview führte Meike Naber. Das ausführliche Interview mit Professor Norbert Bolz, unter anderem auch zu Fragen des Brandings in der Politik, zu wirtschaftlichen Akteuren und zur Crux der Alternativlosigkeit, lesen Sie auch in der Dezember-Ausgabe (4/2012) von „liberal“.

Norbert Bolz ist Medien- und Kommunikationstheoretiker sowie Designwissenschaftler. Er lehrt als Professor für Medienwissenschaften an der TU Berlin.

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Johannes Ponader

Patrick Döring

Standpunkt

Standpunkt

Delegiertendemokratie versus Onlinedemokratie

„Eine rein virtuelle Politik wäre am Ende auch eine unmenschliche Politik.“

Theodor Heuss, der erste Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, nannte im Vorfeld der Verabschiedung unseres Grundgesetzes einst direktdemokratische Elemente „eine Prämie für jeden Demagogen und die dauernde Erschütterung des mühsamen Ansehens, worum sich die Gesetzgebungskörper, die vom Volk gewählt sind, noch werden bemühen müssen, um es zu gewinnen". Unter dem Eindruck und den Erfahrungen aus der Weimarer Republik und der Nazidiktatur gaben uns die Väter unseres Grundgesetzes deshalb die repräsentativ verfasste Demokratie mit auf den Weg. Nun haben sich die Zeiten verändert und auch Deutschland. Der technische Fortschritt eröffnet uns neue und schnelle Möglichkeiten direkter Partizipation. Wir müssen uns gemeinsam darüber klar werden, wie man den neuen Entwicklungen und dem stärker werdenden Wunsch der Menschen, sich mehr und direkter zu beteiligen, gerecht werden kann. Trotzdem ist es an der Zeit, einmal grundsätzlich für die repräsen-

tative Demokratie unserer Verfassungsväter eine Lanze zu brechen. Denn neben ihrer Lebenserfahrung mit dem dunkelsten Kapitel Deutscher Geschichte wussten sie vor allem um eines: die Komplexität einer pluralistischen Gesellschaft und damit einer pluralistischen Demokratie. Eine pluralistische Demokratie ist auf Kompromissfindung ausgelegt. Deshalb ist es nicht immer möglich, komplizierte Sachverhalte auf ein Ja oder ein Nein zu reduzieren. Politik ist mehr als ein binärer Code. Deshalb muss im großen Gespräch der Demokraten zwischen verschiedenen Positionen abgewogen und vermittelt werden. Ein solches Gespräch braucht faire Regeln und ein verlässliches und festes Verfahren, damit Vertrauen entstehen kann und ein Dialog über alle politischen und gesellschaftlichen Ebenen hinweg möglich wird. Unsere Verfassungsväter verpflichteten deshalb die deutschen Parteien darauf, diesem Gespräch der Demokraten einen Rahmen zu geben. Die Parteien wirken an der Willensbildung des Volkes mit.

Patrick Döring studierte Wirtschaftswissenschaften an der Universität Hannover. Im April 2012 wurde er auf dem Bundesparteitag der FDP in Karlsruhe zum Generalsekretär gewählt.

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Die Parteien haben im Geiste unserer Verfassung einen größeren Auftrag als die Formulierung politischer Programme. Sie sind mehr als ein bloßer Machtmechanismus. Sondern sie haben die Aufgabe, an der Willensbildung der Bürgerinnen und Bürger mitzuwirken. Und das bedeutet notwendigerweise auch: politische Ideen, Diskussionen und Programme für jedermann erfahrbar zu machen. Aus dem Verfassungsauftrag erwächst eine Bringschuld der Parteien zur politischen Beteiligung und Information. Deshalb sind moderne Beteiligungsinstrumente ohne Frage ein wertvolles Mittel, die den Auftrag der Parteien, an der Willensbildung des Volkes mitzuwirken, wesentlich bereichern. Aber man darf dabei nicht übersehen: Diese Beteiligungsinstrumente sind attraktiv für eine Informationsund Wissenselite. Sie sind kein Ersatz für eine öffentliche, gelebte und menschliche Demokratie, wie sie in Parlamenten und Parteitagen für jedermann sichtbar wird. Denn unabhängig von dem Inhalt, der Form, der Dauer und dem Ziel einer politischen Auseinandersetzung: Politik lebt von der Interaktion zwischen Menschen. Der Mensch ist ein politisches Wesen. Und umgekehrt ist die Politik ein sehr menschliches Geschäft. Eine rein virtuelle Politik wäre am Ende auch eine unmenschliche Politik. Aber vor allem würde eine rein virtuelle Demokratie sich weiter von den Bürgern entfernen. Denn Parlamente und Parteien sind im besten Sinne gleichzeitig Bühne und Rahmen für den öffentlichen Diskurs. Auf dieser politischen Bühne werden Ideen, Konflikte und Personen in einer Weise menschlich, öffentlich und greifbar, die es in der Anonymität des Internets so nicht geben kann. Deswegen gilt: Neue Beteiligungsformen können unsere repräsentative Demokratie bereichern. Aber sie können sie nicht ersetzen.

Delegiertendemokratie versus Onlinedemokratie

„Online-Demokratie eröffnet neue Möglichkeiten der Partizipation und Mitbestimmung.“

Die repräsentative oder parlamentarische Demokratie bringt eine lange – und dort, wo sie gegen Angriffe wirksam verteidigt wurde – grundsätzlich erfolgreiche Geschichte mit sich. Beliebig große Gruppen können demokratisch und gleichberechtigt ihre politische Entscheidungsgewalt an Repräsentanten delegieren, die die Interessen aller Beteiligten wahrnehmen und stellvertretend einen politischen Ausgleich herstellen. Damit das möglich wird, wird der Abgeordnete im Regelfall finanziell freigestellt und ist – ganz wichtig – nur seinem Gewissen verpflichtet. 600 Repräsentanten finden natürlich leichter gemeinsame politische Kompromisse als 80 Millionen Menschen – dies ist der große Vorteil der repräsentativen Demokratie. Die Reduzierung der Komplexität auf eine im Vergleich zur Wählerschaft überschaubare Zahl von Abgeordneten bringt jedoch auch Nachteile mit sich. Fraktionszwänge und die Gefahr der Beeinflussung durch Lobbyisten sind nur zwei Aspekte, die die freien und für das Gemeinwohl sinnvollen Entscheidungen der Abgeord-

Solch komplexe Delegations- und Entscheidungsprozesse lassen sich allerdings in größeren Gruppen mit herkömmlichen Mitteln nicht mehr abbilden. Mit Hilfe von Tools der Online-Demokratie, wie sie unter anderem die Piratenpartei einsetzt, können diese Prozesse jedoch realisiert werden.

neten einschränken können. Eine Antwort darauf ist die direkte Demokratie, die allerdings in größeren Gruppen aufwändig und daher für das politische Tagesgeschäft ungeeignet ist. Zudem führt eine permanente Beteiligung aller an tagespolitischen Entscheidungen dazu, dass Menschen, die die hierfür notwendige Zeit nicht aufbringen können, diskriminiert und im Extremfall vom demokratischen Prozess komplett ausgeschlossen werden.

Dabei werden die Vorteile beider Verfahren kombiniert. Online-Demokratie eröffnet neue Möglichkeiten der Partizipation und Mitbestimmung, die weder die repräsentative noch die direkte Demokratie für sich alleine anbieten können. Werden Tools der Online-Demokratie beispielsweise eingesetzt, um Parlamentariern Abstimmungsempfehlungen der Basis mitzuteilen, dann kann dadurch eine breite diskriminierungsfreie und kontinuierliche Beteiligung erreicht werden, ohne die grundsätzliche Freiheit des Mandats anzugreifen. Solche Prozesse sind in mehreren Landesverbänden, in denen die Piraten im Parlament vertreten sind, bereits in mehr oder weniger experimenteller Form implementiert und werden auf Grundlage der gemachten Erfahrungen stetig angepasst und verbessert.

Die so genannte „Flüssige Demokratie“ hebt diesen Widerspruch auf. Je nach persönlicher Situation oder Präferenz kann ich dabei meine politischen Entscheidungen selbst treffen oder an eine beliebige andere Person delegieren. Während der Delegierte meines Vertrauens mich im Tagesgeschäft vertritt, kann ich bei für mich besonders bedeutsamen Entscheidungen jederzeit eingreifen und selbst abstimmen. Ebenso kann ich meine Delegation stets auf einen anderen Repräsentanten umlenken oder auch, je nach Themengebiet, auf unterschiedliche Experten delegieren.

Wichtig ist zum Beispiel, dass die OnlineDemokratie immer durch analoge Prozesse begleitet wird, die sicherstellen, dass das, was im Computer stattfindet, nachvollziehbar bleibt. Durch eine Verifikation der beteiligten Personen im echten Leben und von allen Beteiligten nachvollziehbare Abstimmungen wird gewährleistet, dass aus dem Online-Tool kein manipulierbarer Wahlcomputer wird, der als undurchsichtige Black-Box zwar eine hohe Beteiligung vorspiegeln würde, möglicherweise jedoch unbemerkt undemokratische Ergebnisse ausspucken könnte.

Johannes Ponader ist freischaffender Schauspieler, Regisseur und Autor. Seit 2012 ist Johannes Ponader politischer Geschäftsführer der Piratenpartei Deutschland.

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Wolfram Sauer

Ein Update für die Demokratie – Soziale Medien im Wahljahr 2013 Ehemals Nischentheater, werden sich im Wahljahr 2013 das Internet und insbesondere die sozialen Netzwerke zu einer der Hauptbühnen des Politikbetriebs entfalten. Die Erfahrungen in den USA zeigen: Wer das erkennt und zu seinem Vorteil zu nutzen versteht, hat die Nase vorn. Das Internet und die sozialen Medien sind heute ein fester Bestandteil unseres Alltags. Die zunehmende Digitalisierung nimmt Einfluss auf Gesellschaft, Wirtschaft und nicht zuletzt die Politik. Das Internet ist nicht nur in der Demokratie angekommen, es gestaltet sie inzwischen mit und prägt inhaltliche Debatten. Dabei geht es längst nicht nur um netzpolitische Themen. Deshalb wird auch die Kommunikation über politische Themen in und über soziale Medien von entscheidender Bedeutung für die Parteien im Bundestagswahlkampf 2013 sein. Berufliche und private Netzwerke werden zu Plattformen für den direkten und ungefilterten Austausch mit dem Wähler und damit zu einem unverzichtbaren Instrument für die Wahlkämpfer.

„Demokratie ist mehr als ein Denken in Likes und Dislikes.“

Die modernen Formen der mobilen Kommunikation haben in den vergangenen Jahren in einem schleichenden Prozess die Politik verändert, aber auch die Art, wie sich Bürger an Politik und Demokratie beteiligen wollen. Die Wähler sind firmer geworden im Umgang mit dem Internet – wenngleich auf unterschiedlich hohem Niveau. Sie kennen die Tricks und Tücken, die Vorteile und die Gefahren. Sie abonnieren aus freien Stücken Nachrichten von Politikern in ihren Netzwerken, verbreiten Standpunkte in eigenem Namen und wirken damit als Multiplikatoren im politischen Kontext. XING- oder Facebook-Profile eines Politikers sind für viele Wahlberechtigte keine Sensation, sondern eine Selbstverständlichkeit.

Aus dieser Selbstverständlichkeit heraus entsteht ein Anspruch an die Politik. Wie früher erwartet wurde, dass ein örtlicher Bundestagskandidat sich persönlich beim Stammtisch oder auf dem Marktplatz den Fragen der Bürger stellt, ist es heute unerlässlich, eine gut gepflegte Präsenz im Internet und in sozialen Netzwerken zu haben. Es reicht kein sporadisch gefüllter Auftritt, in dem regelmäßig die neuesten Pressemitteilungen verlinkt werden. Der Internetnutzer möchte aktuelle und unterhaltende Informationen, er möchte fragen dürfen und individuelle Antworten bekommen, er möchte seine Meinung kundtun und kollaborieren. Wesentlich sind dabei Authentizität, Transparenz und Dialogbereitschaft. Es ist jedoch ein Trugschluss zu glauben, die Internetkommunikation ersetze das private Gespräch. Dem persönlichen Handschlag wird sie nicht den Rang ablaufen können. Der Dialog über das Internet ergänzt den klassischen Wahlkampf und reichert ihn an. Kommunikation wird mehrdimensional. „Surf global, connect and govern local“ könnte das Motto lauten.

Akzeptanz und Anwendung der neuen Medien dürfen allerdings nicht als Allheilmittel missverstanden werden. Die Hoffnung, direkte Demokratie, ständige Erreichbarkeit und totale Transparenz seien die Lösung für das Problem der Politikverdrossenheit, ist eine Illusion. Demokratie ist mehr als ein Denken in Likes und Dislikes. Der Mausklick zur Abstimmung ersetzt noch keine Inhalte. Die Einarbeitung ins Thema, die Erarbeitung von Sachthemen steht in der Politik im Mittelpunkt. Wer beides beherrscht, Pflicht und Kür, hat einen Standortvorteil. Auch und gerade im Netz. Die Demokratie braucht ein Update. Es gilt, das Social Web als Kommunikationsform anzuerkennen und zu verinnerlichen, ohne es überzubewerten. Das Gleiche trifft auch auf den Wähler zu, der einerseits über neue Möglichkeiten der Partizipation und Kommunikation mit politischen Entscheidern verfügt, ohne glauben zu dürfen, er säße nun selbst am Hebel der Macht. Die „technischen Voraussetzungen“, also die Bereitschaft der Volksvertreter und Bürger für eine digitale Runderneuerung, sind 2013 gegeben.

Wolfram Sauer wechselte im Februar des Jahres als neuer Public Policy Manager zum Betreiber des führenden professionellen Netzwerks im deutschsprachigen Raum XING.

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Prof. Dr. Michael Hüther

Das Spannungsverhältnis zwischen Politik und Kapitalmärkten hat tief sitzende Gründe. Zwischen beiden herrscht funktionsbedingt eine Zeitinkonsistenz. Politik denkt in Wahlzyklen, schnellen und einfachen Ergebnissen sowie positiven Einzelfällen. Kapitalmärkte transformieren die Erwartungen der Investoren auf nachhaltige Rendite, setzen auf schnelle Ergebnisse, wo schwierige Strukturentscheidungen gefordert sind, und lassen sich vom Einzelfall nicht blenden. Kapitalmärkte haben dabei stets eine Option mehr: Sie können den Standort ihres Engagements frei wählen, ihre Rechenschaftspflicht ist global fundiert. Die darin liegende Sanktionsandrohung für ein „falsches“ Handeln der Politik wird von dieser als ein Angriff auf ihr Primat verstanden.

Zwei, die sich nicht verstehen: Politik und Kapitalmarkt Politik mag Industrie. Zumindest im Grundsatz. Hier kann man zusehen, anfassen und anderen im wahrsten Wortsinne begreifbar machen, worum es geht, wenn man von Wohlstand und seinem Standort spricht. Wie anders ist dies mit den Kapitalmärkten. Weder greifbar, noch erfassbar, dafür intransparent in den Zusammenhängen, unkalkulierbar in den Wirkungen. Schon ihre Aufgabe erschließt sich nicht vollständig, während Politik die Finanzierungsleistung als Pflicht betrachtet, wird das zugleich unvermeidbare Risikomanagement

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als gefährlich und irregeleitet bewertet. Während die Finanzmarktkrise 2008/09 aus Sicht der Politik dazu passend wie ein reinigendes Gewitter Übertreibungen und Fehlsteuerungen dieser Problemzone der Volkswirtschaft zu bereinigen schien, stellt die Staatsschuldenkrise die Kapitalmärkte scheinbar über die Politik. Der Primat der Politik ist in Gefahr. Hilflos und grundlos – so die Politik – wird die Regierung zu Entscheidungen genötigt, die sie aus freien Stücken so oder zu diesem Zeitpunkt nicht getroffen hätte.

Die volkswirtschaftliche Funktion der Kapitalmärkte respektive des Finanzsystems begründet die Regulierungsaufgabe des Staates. Der Schutz der Sparer, mögliche Ausbeutungspotenziale durch unvollständige Einlagenverträge (moralisches Risiko) und die Gefahr von Systemstörungen (systemisches Risiko) begründen die Finanzaufsicht sowie die Regulierung der Bankbilanzen und der Finanzprodukte. Die Politik versucht damit, das öffentliche Gut der Finanzsystemstabilität zu gewährleisten.

„Die Wiedergewinnung von Glaubwürdigkeit der Budgetpolitik wird lange dauern und mühsam sein.“

Die Wiedergewinnung von Glaubwürdigkeit der Budgetpolitik wird lange dauern und mühsam sein. In dem Maße, wie die Schuldenbremse ihre Wirkung entfaltet, stellt sich die Frage, wie die Assetklassen aus Sicht der Kapitalmärkte neu zu gewichten sind.

Die Politik befreit sich mit der Reduzierung der laufenden Neuverschuldung aus jener Abhängigkeit von den Märkten, die aus der Rolle als Mitspieler resultiert. Die Rolle des Aufsehers und Regulierers tritt in den Vordergrund.

Nun hat die Staatsschuldenkrise auch dem Letzten offenbart, dass der Staat nicht nur als Regulierer und Aufseher der Kapitalmärkte fungiert, sondern zugleich als Mitspieler, und zwar als bislang unverzichtbarer. Denn die Staatsanleihen sind als traditionell kreditrisikofreie Liquidität, für deren Halten kein Eigenkapital erforderlich ist, zur Steuerung der Fristen- und Risikotransformation im Rahmen der Bankpolitik unverzichtbar. Dieser Vertrag auf Gegenseitigkeit hat nun keine Basis mehr.

Prof. Dr. Michael Hüther ist seit Juli 2004 Direktor und Mitglied des Präsidiums des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln. 2009 wurde Michael Hüther mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.

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LESETIPPS

Christoph Bieber

Politische Kommunikation und Markenpflege im digitalen Zeitalter

Zwei Effekte der so genannten „Neuen Medien“ verändern politische Kommunikation gerade besonders stark: die Entstehung von Formaten zur „Echtzeitkommunikation“, etwa durch die Kurzmitteilungen via Twitter, und die Ausbreitung sozialer Netzwerke, dessen prominentester Vertreter Facebook bald mehr als eine Milliarde Mitglieder haben wird. Während sich die Echtzeitkommunikation stärker auf Debatten im Vorfeld politischer Entscheidungen auswirken dürfte als auf die Entscheidungen selbst, haben die veränderten Öffentlichkeitsstrukturen in den sozialen Netzwerken Folgen für die interne Struktur politischer Akteure. Gerade die deutschen Mitgliederparteien sind durch die Möglichkeiten zur Gestaltung „persönlicher Öffentlichkeiten“ (Jan Schmidt) herausgefordert: Parteiführung und professionellem Parteimanagement fällt es immer schwerer, Leitlinien und Erscheinungsbild der eigenen politischen Marke zu kontrollieren und zu

koordinieren. Aufbau, Struktur und Nutzungspraktiken der sozialen Netzwerke begünstigen die individuelle Positionierung einzelner Politiker mittels persönlicher Profilseiten. Spitzenpolitiker erreichen über eigene Profil- oder Fanseiten inzwischen Reichweiten im fünfstelligen Bereich. Durch die Kombination mit Twitter-Kanälen erhöht sich diese Zahl und verzahnt die Profilseiten mit weiteren Präsenzen des politischen Spitzenpersonals wie der klassischen Homepage oder Abgeordneten- und Fraktionsseiten auf den Parlaments-Websites – personenzentrierte, nicht parteigekoppelte Öffentlichkeiten sind die Folge. Daraus resultiert ein Wildwuchs politischer Kommunikationsangebote, angesichts derer die großen Spin-Doctors und PR-Strategen der 1990er Jahre die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hätten. Es ist nahezu unmöglich geworden, einheitliche Botschaften zu formulieren und zu verbreiten.

Christoph Bieber ist Inhaber der Welker-Stiftungsprofessur Ethik in Politikmanagement und Gesellschaft an der NRW School of Governance, Universität Duisburg-Essen.

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Hatten politische Akteure das Aufkommen digitaler Medien zunächst als Chance zur Umgehung der Gatekeeper des klassischen Journalismus genutzt, so sehen sich insbesondere die Parteizentralen nun einem kommunikativen Durcheinander in den eigenen Reihen gegenüber. Spitzenpolitiker, aber auch die in den sozialen Netzwerken präsenten Newcomer sind zusehends in der Lage, ihre „persönlichen Öffentlichkeiten“ zu kleinen Aufmerksamkeits-Kraftwerken auszubauen – die besten Beispiele hierfür liefern die Piraten mit der am stärksten vernetzten Community. In der aktuellen Krise der Mitgliederparteien scheint aber genau diese Unübersichtlichkeit zu einem zentralen Aufgaben- und Problemfeld zu werden: Mit den Freunden, Fans und Followern entstehen neue Zielgruppen, die sich nicht immer gut mit der klassischen Klientel der Parteimitglieder vertragen. Dieses neue Zielgruppenmanagement stellt gerade die etablierten Parteien vor große Probleme, denn im Grunde sind auch die vorhandenen Strukturen nichts anderes als ein „soziales Netzwerk“ – aber eben eines der alten, analogen Sorte mit deutlichen Defiziten bei der Anschlussfähigkeit an die Kommunikationszyklen der digitalen Mediendemokratie. Das Kommunikations- und Markenmanagement alter und neuer Parteien muss daher in mehrere Richtungen zielen. Einerseits gilt es, Antworten auf die Vervielfältigung der Zielgruppen zu finden, andererseits steht mit der politischen Echtzeitkommunikation schon die nächste Herausforderung vor der Tür. Spannende Zeiten.

Die Stunde der Dilettanten Thomas Rietzschel Die Spekulationen der Banker, die Rettungsschirme oder die Reformen in der Bildungsund Gesundheitspolitik, die sich am laufenden Band ad absurdum führen – alles scheint das Werk ahnungsloser Selbstdarsteller zu sein. Gibt es sie überhaupt noch, die Experten, denen wir uns guten Gewissens anvertrauen dürfen, oder werden wir in Wahrheit von Dilettanten gelenkt? Niemand durchschaut mehr die Mechanismen, auf die wir uns Tag für Tag verlassen müssen. Schonungslos offen beschreibt der Autor in seinem großen Essay das dilettantische Hochamt und scheut sich dabei nicht, Ross und Reiter zu nennen. Zsolnay Verlag, Wien, 2012 17,90 €, ISBN 978-3-552-05554-4

Die Pleite-Republik – Wie der Schuldenstaat uns entmündigt und wie wir uns befreien können Rainer Hank Die Schuldenlast und die Abwertungen ganzer Volkswirtschaften, die die Märkte vornehmen, bringen es an den Tag: Der Staat hat sich übernommen, sein in den meisten westlichen Ländern auf fast 50 %

aufgeblähter Anteil am gesamten wirtschaftlichen Geschehen führt unweigerlich in die Krise. Rainer Hank zeichnet die historische Entwicklung nach, die vom Rechtsstaat zum Fürsorge- und schließlich zum paternalistischen Staat führte, der die Initiative des Bürgers, aber auch sein soziales Gewissen erstickt und ihn in immer mehr Lebensfragen reglementiert. Der Bürger reagiert auf die Entmündigung mit einer sich oftmals irrational entladenden Wut. Blessing Verlag, München, 2012 19,95 €, ISBN 978-3-89667-421-0

Impressum Herausgeber Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit Truman-Haus Karl-Marx-Straße 2 14482 Potsdam-Babelsberg Verantwortlich Kirstin Balke Leiterin Presse und Kommunikation Kontakt Pressestelle Telefon 03 31.70 19-2 76 Telefax 03 31.70 19-2 86 presse@freiheit.org Redaktion Mario Burow Klaus Füßmann Ruth Holzknecht Meike Naber

Die Unfehlbaren – Wie Banker und Politiker nach der Lehman-Pleite darum kämpften, das Finanzsystem zu retten – und sich selbst Andrew Ross Sorkin Mit den „Unfehlbaren“ hat Sorkin ein gut recherchiertes Buch über die Entstehung der Finanzkrise und vor allem das Handeln der leitenden Personen geschrieben. Vor allem gelingt es Sorkin, detailliert über den Ablauf der Finanzkrise zu berichten und die vielen politischen Ursachen (unverantwortliche Geldpolitik, fehlgeleitete Regulierung, Aufsichtsversagen, Hauseigentumsförderung in den USA etc.) zu benennen, die die bundesdeutsche Journaille gern ausblendet. Dieses Buch fesselt einen und informiert umfassend, im Gegensatz zum unsinnigen Vorwort, welches man besser überspringt. Deutsche Verlagsanstalt, München, 2010 24,99 €, ISBN 978-3421044884

Kreative Beratung Helmut Vandenberg Büro für Kommunikation und Werbung Gestaltung www.kopf-an-koepfe.de Gesamtherstellung COMDOK GmbH Büro Berlin Auflage 70.000 Erscheinungsweise halbjährlich Fotos picture-alliance / ZB (Titel) ddp images (S. 3) picture-alliance / dpa (S. 4/5) picture-alliance / dpa (S. 5) picture-alliance / dpa (S. 7) ddp images (S. 10/11) ddp images (S. 11) ddp images (S. 12) picture-alliance / dpa (S. 13) ddp images (S. 14) Alle übrigen Fotos: Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

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