VISIONS #195

Page 1



o b e c a l p

l a m n i e h c o N sein

= 0 2


-Album an, springt einem auf Hört man sich das sechste Placebo ins Gesicht: Der Band gelingt Anhieb nur eine echte Neuerung h fröhliche Songs zu schreiben. es erstmals in ihrer Karriere, auc gut, spannend und vielschichtig, Ansonsten ist vieles wie immer – Doch dass es „Battle For The Sun“ aber eben: nicht neu. Denkt man. dass für Placebo selbst fast alles überhaupt gibt, liegt allein daran, el, ihre internationalen Verträge neu ist: ihr Schlagzeuger, ihr Lab l. Das nämlich ist bei Brian – und vor allem ihr Selbstwertgefüh sen, dass man sich glatt Sorgen Molko inzwischen so ausgewach sten roman text: sascha krüger | fotos: tor machen muss.


storys

28 / 29

Vier Jahre sind eine lange Zeit für eine junge aufstrebende Rockband, die den vollen Durchbruch noch nicht geschafft hat. Doch statt schnell ein neues Album nachzulegen, wollten Dredg sich nicht mehr beugen. Sie lebten lieber ihre Leben, kämpften ihre Kämpfe und arbeiteten unentwegt an einer Platte, die auf wundersame Weise alles vereint, was Gavin, Mark, Drew und Dino binnen der letzten Jahre geprägt hat. Wir haben Dredg auf ihrem mühsamen Weg zu „The Pariah, The Parrot, The Delusion“ begleitet. text: jochen schliemann | fotos: rainer rosenow


November 2007, Los Gatos/Kalifornien Die Tür springt auf, Tobias hebt den Kopf. Die übergewichtige Katze von Dredg-Bassist Drew Roulette liegt, wo sie tagsüber immer liegt: wo das Licht hinfällt, wenn es von außen durch die großen Fenster dieses kleinen Hauses scheint. Es ist November in Kalifornien. Klares Blau am Himmel, goldene Blätter taumeln auf den Rasen, und wo die Sonne hinscheint, ist es warm. Tobias weiß das am besten und räumt nur äußerst ungern seinen Platz für Dino Campanella, der eben den Raum betreten hat. Der Schlagzeuger ist das andere Viertel von Dredg, das momentan in der Kleinstadt Los Gatos wohnt, an deren Highschool – etwa eineinhalb Kilometer von hier – sich vor rund 15 Jahren Dredg gegründet haben. Dino ist, wie immer, unter Strom. Vor eineinhalb Stunden wollte er hier sein, in zehn Minuten muss er wieder weg. Er hat ein Sandwich dabei, das er

in diesem Moment auspackt, als er sich auf das Fensterbrett lehnt. „Hast du neue Songs gehört? Welche? Sind viele, oder? Wir müssen ein Ende finden.“ Nach ein paar hastigen Bissen legt Dino das Sandwich beiseite, setzt sich ans Klavier, auf dessen Notenhalter ein von Drew gemaltes Bild lehnt (Drew ist für den Großteil der Optik von Dredg verantwortlich), und spielt die Titelmelodie von „Charlie Brown“. Allerdings nur für ein paar Sekunden. Dann spielt er etwas anders – und dreht sich um. „Wie fandest du die Songs?“ Er spielt weiter, bleibt auf einer Taste hängen und drückt sie immer wieder herunter. „Verstimmt!“ Er steht auf, geht zum Schlagzeug, das in der offenen Küche steht, vertreibt den gerade wieder zur Ruhe gekommenen Tobias von der Snare-Drum, setzt sich und spielt einen leichten Jazz-Rhythmus. Er verstellt ein paar Schrauben, spielt weiter, redet

die ganze Zeit. Er steht auf, setzt sich neben mich, legt den Arm um mich und grinst: „Schön, dass sie dir gefallen! Wir vermissen Deutschland. Da kennen uns prozentual mehr Menschen als hier.“ Dino steht auf, setzt sich zurück ans Fenster, wo sich auch Tobias niedergelassen hat. Dino streichelt den Zeitgenossen. „Du bist echt fett geworden“, lacht er und isst weiter. Er erzählt noch ein bisschen von Soundtracks, an denen er gerade arbeitet – und verschwindet.

Juni 2006, Bochum Dino schaut auf sein Bierglas. Die Party nach der Show – eine der letzten zu Dredgs damals aktuellem Album „Catch Without Arms“ – führte ihn hierher in die Bochumer Bar Freibeuter. Hinter ihm an der Wand hängt das riesige Gemälde eines Segelschiffs auf offener See, um ihn herum begießen nette Ruhrpott-Menschen den


storys

34 / 35

Silversun Pickups

Süße Ohnmachten Ihre Musik wäre eigentlich ideal dafür, vom Wachzustand in einen siamesischen Traum eskortiert zu werden – wenn da nicht diese Lautstärke wäre. Vier Los Angelenos suchen den inneren Horrorsoundtrack, den zarten Kern im Grunge-Bonbon und eine Steckdose für ihre Ukulele. von markus hockenbrink

I

m Nachhinein hört sich die Geschichte ziemlich fantastisch an, wie eine Episode aus einem David-Lynch-Film oder einer dieser Halbschlafträume, bei denen man nie weiß, ob sie nicht doch wirklich passiert sind. Die Silversun Pickups waren gerade im Studio, um ihr neues Album einzuspielen, als Martin Gore die Tür aufmachte und eine Kaffeepause vorschlug. Ein paar Minuten später fand sich die Band in einer Bar in Santa Barbara wieder, gegenüber einem Bestattungsinstitut mit spezialangefertigten

Särgen im Schaufenster. „Verrückt, dass sie da diese Särge im Fenster stehen haben!“, soll Gore gesagt haben. Danach kam von dem Depeche-Mode-Mann nicht mehr viel, der Tod ist schließlich ein einsames Geschäft, und der Kaffee wurde langsam kalt. „Irgendwann ist er dann wieder gegangen“, sagt Brian Aubert, „und Keyboard-Tipps hat er uns auch keine gegeben. Es hat sich ein bisschen angefühlt wie ein Kidnapping. Mit uns als Entführten.“ Vielleicht war die unheimliche Begegnung aber auch der kleine schwarzmagische

Fingerzeig, der noch fehlte, um das zweite Silversun-Pickups-Album auf den richtigen Weg zu bringen. „Diesmal haben wir den Studioaufenthalt sehr genossen“, sagt Aubert, „das Problem war eher die Zeit davor.“ Der Sänger erzählt, er habe „ein paar Verluste hinnehmen müssen“, während er an den neuen Songs geschrieben hat, und klingt dabei wie jemand, der in letzter Zeit ein bisschen zuviel von der Bitterschokolade der Liebe abgebissen hat. Jetzt ist er gerade in der Phase, in der man durch knirschende Zähne Gleichgültigkeit übt und Sachen sagt wie:


„Manchmal ist es deine Schuld, manchmal nicht. Aber insgesamt gleicht sich alles aus. Ist das nicht gut zu wissen?“ Der Tonfall zwischen Selbstironie, die keinem gut tut, und romantischer Verklärung der eigenen Befindlichkeit wird auch auf der Platte immer wieder eingeübt; Brian Aubert scheint jemand zu sein, der sich gut selber quälen kann und dafür auch noch immer ein paar originelle Worte findet. „Do you see how the wind in your hair now feels differently?“, ruft er der Geliebten in „Catch And Release“ hinterher, einem Stück, das er abwechselnd „diesen schmutzigen kleinen Song“ und „mein momentanes Lieblingslied“ nennt. Weil aber Liebeskummer-Lyrics selbst in ihrer gehässigen Variante spätestens seit der Emoschwemme so allgegenwärtig geworden sind wie McDonald’s-Filialen an Autobahnauffahrten, bringt Aubert auch noch einen Sound mit, der klingt wie sonst nichts auf dieser Seite des Millenniums. Schon das Silversun-Pickups-Debüt „Carnavas“ fiel durch beharrliches Ignorieren aktueller Trends auf und träumte sich lieber in eine Zeit zurück, in der Billy Corgan noch Haare hatte. Mit den Smashing Pumpkins teilte sich die Band dabei nicht nur die

Initialen, sondern auch den Appetit auf eine Produktion mit Speckrand und ein bisschen Bombast. Nach der Devise „Viel bringt viel“ türmten Aubert und Konsorten munter Gitarrenspuren und Effekte aufeinander, bis man hinter den vier Musikern eine Geisterarmee zu hören vermeinte, die über mondbeschienene Landschaften hinweg galoppiert. Überhaupt beschwört die Musik der Silversun Pickups rasch Vergleiche herauf, die entweder aus dem Fantasy-Bereich kommen oder mit unberechenbaren Naturgewalten zu tun haben. Das Wort „unberechenbar“ gefällt Brian Aubert besonders. „Normalerweise assoziieren die Leute große Produktionen mit Heaviness“, findet er, „aber das traf eher auf unser erstes Album zu. Bevor wir wieder live aufgetreten sind, habe ich mir das noch mal angehört, denn man vergisst ja schnell, wie das auf Platte klang. Im Nachhinein hatte ich dann das Gefühl, wir hätten auf unseren Konzerten zu sehr auf die bloße Lautstärke gesetzt, während auf LP doch eher dynamische Passagen zu hören waren. Mit ‚Swoon‘ wollen wir wieder dahin zurück und dabei die Songs von ‚Carnavas‘ gleich mitnehmen.“ Joe Lester, der Tastenmann der Gruppe, sagt, dass er den Vorteil der neuen

Platte vor allem in einer gewissen emotionalen Bandbreite sehe, auf die der Vorgänger noch verzichten musste. „Wir spielen immer noch gerne mit superatmosphärischen Delays herum, aber diesmal wollten wir obendrauf noch die komplette Orchesterbegleitung. Das, was ich gruselige Streicher nenne. Viele alte Soundtracks wie die zu den John-CarpenterFilmen sind sehr gut darin, eine Stimmung von Bedrohung und Traurigkeit zu vermitteln, und für mich geht es bei diesem Album eigentlich auch darum. Wir wollen natürlich nicht, dass unsere Hörer jetzt traurig in der Ecke sitzen und nie wieder das Haus verlassen wollen, aber dazu sind die Songs dann auch wieder zu energetisch.“ Und zu gut. Was sich auf Platte noch ziemlich ausproduziert anhört, funktioniert zu Brian Auberts Erstaunen offenbar auch in der Lagerfeuervariante. Für einen akustischen Auftritt bei der wiederbelebten „MTV Unplugged“-Reihe ließ das Label erst kürzlich ein Streichquartett springen, das half, Überbordendes in Ätherisches zu verwandeln. Ein echter Heavy-MetalTraum eigentlich. „Anfangs haben wir uns das auch nicht vorstellen können, aber es ist eigentlich mal ganz interessant, den ganzen Klangberg wieder abzutragen und zu


storys

42 / 43

Sonic Youth

Ein Fall fürs Museum

Sollte sie je so etwas wie künstlerischer Stillstand ereilen, könnten Sonic Youth in Rente gehen. Sehr wahrscheinlich ist das aber nicht: Eben erst haben die New Yorker Noise- und AvantgardeAltvorderen voll Tatendrang das Label gewechselt. Gebracht hat es ihnen „neue Selbst­sicherheit“ – und dem größten Running Gag Indie-Amerkas das Ende. Dazu sind sie Kuratoren der Wanderschau „Sensational Fix“. Und apropos sensationell: Hört euch ihr neues Album an! text: dennis plauk fotos: Lisa Meinen und michael schmelling


allem wie auf der Durchreise. Was es gewissermaßen auch trifft: „Seit Januar haben wir unsere Ausstellung in der Düsseldorfer Kunsthalle. Jetzt sind wir endlich mal hier und haben trotzdem keine Zeit, sie uns anzuschauen. Gleich beginnt ja schon die Show, und danach reisen wir sofort wieder ab.“ Gitarrist Lee Ranaldo, fürs Erste von allen Interviewpflichten befreit, ergreift die wohl letzte Chance und verabschiedet sich von Moore und Gordon mit einem schwer zu definierenden Blick zwischen Mitleid und Schadenfreude: „Wir fahren jetzt noch schnell rüber. Jetzt oder nie, Thurston!“ Moore zögert ein letztes Mal, winkt dann aber ab – um sich plötzlich, von schier buddhistischer Gelassenheit erfüllt, uns zuzuwenden: „Es nützt ja alles nichts. Du hast sicher ein paar Fragen.“ Die Ausstellung, das neue Album, die Rückkehr auf ein Indielabel nach fast 20 Jahren – ja, man könnte das so sagen. „Kommt die Platte gut bei euch an?“ Auch das: könnte man so sagen.

Blut im Abfluss

T

hurston Moore würde jetzt lieber aufstehen und gehen. Er sagt es zwar nicht, aber man sieht es ihm an. Nervös trommeln seine Finger auf den kleinen Holztisch zwischen ihm und Gattin Kim Gordon ein, während es auch den Rest seines schlaksigen Körpers keine fünf Sekunden regungslos auf der Bank hält. Letzteres kann natürlich auch daran liegen, dass es sich bei der Bank in Wahrheit um einen sagenhaft unbequemen, der Länge nach halbierten Baumstamm handelt. Der Baumstamm erweist sich als essenzieller Bestandteil der Backstage-Möblierung des Düsseldorfer Clubs 3001, der sich das selbstbewusste Ziel gesetzt hat, etwas Waikiki-Flair an den Rhein zu holen – der fließt nämlich keine hundert Meter von hier. Deshalb also: Kunstpalmen, Schummerlicht, wohndienlich zurechtgesägte Restbestände des Regenwalds. Fehlt eigentlich nur noch, dass irgendwer auf die Idee kommt, Kim Gordon mit einer Blumenkette zu behängen, auf dass sie im knappen Kleidchen ausschwärme und vor der Halle Cocktails an die Wartenden verteile. Ihre Beine gäben es immerhin her. Und das mit 56. Ehemann Thurston ist kaum jünger, wirkt auf guten Fotos aber immer noch wie Mitte 20. Im Augenblick wirkt er allerdings vor

Während also Lee Ranaldo, Bassist Mark Ibold und Schlagzeuger Steve Shelley im Foyer der Düsseldorfer Kunsthalle drei Karten für „Sonic Youth etc.: Sensational Fix“ zu je 5,50 Euro kaufen (oder geschenkt bekommen, falls man sie erkennt), obliegt es dem Ehepaar Gordon-Moore, über Anlass und Anspruch der Ausstellung zu informieren. Die ist aus Platzgründen übrigens geteilt und zur Hälfte in die Außenstelle KIT ans Rheinufer verlegt worden – leider ohne das Wissen, geschweige denn Einverständnis der Band. Die nimmt es trotzdem gelassen. Kunst sei schließlich nicht ortsgebunden – und es stecke zu viel Arbeit in „Sensational Fix“, um sich nun über die Nebensächlichkeit zu ärgern, dass man einen Fußweg von anderthalb Kilometern zurücklegen muss, um von einem Teil der Ausstellung zum anderen zu gelangen. Zumal so ein Spaziergang an der frischen Luft vielleicht genau das Richtige ist zwischen zwei vollen Ladungen zeitgenössischer abstrakter Kunst. „Dem einen oder anderen Besucher ist es sicher zu viel auf einmal“, sagt Kim Gordon und hat wahrscheinlich Recht. Auf der anderen Seite dürfte auch niemand angenommen haben, Sonic Youth würden sich mit einer Handvoll Exponate abspeisen lassen, um anderen Menschen ihr Kunstverständnis näher zu bringen. Man sieht es allein an ihrer Musik: 15 Studioalben sowie Dutzende weitere, teils in die entlegensten Außenbezirke der Avantgarde reichende Veröffentlichungen – und doch zeichnet sich nach bald 30 Jahren Bandbestehen noch immer nicht das ganze Ausmaß ihrer Ausdrucksmöglichkeiten ab. „Wir bleiben wohl so lange auf der Suche, wie es uns gibt“, sagt Thurston Moore. Zum Finden berufen, zum Suchen verdammt. So zieht „Sensational Fix“ höchstens vorübergehend Fazit: anhand von Ausstellungsstücken wie Plattencovern, Videos, Konzertplakaten und Gitarren, die gelittenen haben. „Es ist nicht einmal so“, betont Kim Gordon, „dass wir die aktuelle Etappe unserer Karriere als besonders ge-

eignet erachten für eine solche Ausstellung. Fünf oder 15 Jahre früher wäre ein ebenso guter – oder schlechter – Zeitpunkt gewesen. Es hat einfach verdammt lange gedauert, alles zusammenzutragen.“ Denn nicht nur sich selbst porträtiert die Band mit „Sensational Fix“. Die Schau geht einen entscheidenden Schritt weiter und stellt den Kreis all jener Künstler vor, von denen sich Sonic Youth inspiriert sehen. Einige von ihnen, etwa die Regisseurin Sofia Coppola oder Punkrock-Ikone Patti Smith, haben sich direkt als Co-Kuratoren eingebracht – anderen, wie den Beat-Poeten Jack Kerouac und William S. Burroughs, war ein aktives Mitwirken naturgemäß nicht mehr möglich. „Im Grunde handelt es sich um einen willkürlichen Streifzug durch 50 Jahren Underground- und Popkultur“, sagt Moore, „so subjektiv zusammengestellt, dass er keinerlei Allgemeingültigkeit besitzt.“ Muss er aber auch nicht. Auch so ist es beeindruckend genug zu sehen, welche Schätze Sonic Youth aus dem Bandarchiv gehoben haben: Raymond Pettibons Zeichnung für das „Goo“-Cover etwa, die im Original aushängt – anders als Gerhard Richters „Kerze“. Das „Daydream Nation“-Gemälde wechselte vergangenes Jahr für 10,5 Millionen Euro den Besitzer – und hat leider weder davor noch danach der Band gehört. Größere Aufmerksamkeit sollte dieser Tage aber ohnehin einem anderen Bild der Ausstellung zukommen. Darauf zu sehen: ein Strudel in Rot und Weiß. Splatterfilm-erprobte Betrachter denken da womöglich an die Art von Szene, in der sich jemand vor dem Badezimmerspiegel massakriert (mit oder ohne Fremdeinwirkung) und bald eine bedenkliche Menge Blut dem Waschbeckenabfluss entgegensickert. „Nicht die schönste Assoziation“, findet auch Thurston Moore, „aber eine wirkungsvolle.“ Seine eigene Interpretation behält er lieber für sich, wohl auch, weil ihm das Gemälde persönlich viel bedeutet. Moore erhielt es als ein Geschenk des amerikanischen Folk-Pioniers John Fahey, der 2001 starb. Einige Jahre zuvor war Moore mit ihm auf eine gemeinsame Tour entlang der Ostküste gegangen. „Wir kurvten also in meinem alten Volvo durch Neuengland. John lag dabei permanent auf der Rückbank, weil er nicht wusste, wo er seine langen Beine sonst parken sollte. In einem dieser Momente erzählt er mir von seinen Gemälden. Dass er malte, wusste nicht mal ich. Ich musste sie sehen!“

Ode an Uschi

Er sollte sie nicht nur sehen, sondern auch haben. Unter anderem das besagte StrudelBild ließ Fahey seinem Bewunderer und Langzeitlobbyisten Moore zukommen. Und der sah nun, acht Jahre nach des Malers Ableben, den Moment gekommen, es mit der Öffentlichkeit zu teilen – als Exponat und vor allem Covermotiv des neuen Sonic-Youth-Albums „The Eternal“. „Das Gemälde wartete nicht gerade darauf, endlich als Artwork verwendet zu werden“, so Moore. „Aber als feststand, dass wir das Album ‚The Eternal‘ nennen würden, konnte ich mir kein besseres Cover vorstel-


Phoenix

Scary Flamingo Thomas Mars hat einen immer wiederkehrenden Albtraum. Er kommt auf die Bühne, seine Band spielt einen prima Beat. Der Saal kocht, die Mädchen tanzen, die Jungs machen große Augen. Gerade will er die erste Zeile eines neuen, tollen Phoenix-Songs singen, da bemerkt er: Das Mikrofon ist weg.

S

storys

48 / 49

oweit deckt sich das mit dem klassischen Albtraum eines Sängers“, sagt Mars, „doch was dann kommt, gibt mir zu denken. Ich gerate in Panik, drehe mich um – und hinter mir steht ein Flamingo und starrt mich an.“ Mars schüttelt mit dem Kopf, blickt auf den Boden. „Jedes Mal dieser Flamingo. Ich weiß ehrlich nicht mehr weiter.“ Gitarrist Laurent Brancowitz, genannt Branco, prustet über seiner Cola. Von diesen Albträumen wusste er auch nach vielen gemeinsamen Bandjahren noch nichts – und so beginnt in einem Hotelzimmer in Berlin eine kurzes Brainstorming über mögliche Traumdeutungen. „Deine Mutter! Durch den Flamingo schleicht sie sich in deine Träume“, schlägt Branco vor und fragt vorsichtshalber nach: „Träumst du das auch so, wenn du nüchtern einschläfst?“ Man erinnert sich an die irgendwo aufgeschnappte Tatsache, dass das Auge des Flamingos größer ist als sein Ge-

hirn – was, wie Thomas Mars meint, „meine Mutter irgendwie ausschließt“. Schließlich glaubt Branco irgendwo gelesen zu haben, dass die Zunge des Flamingos mancherorts als Delikatesse gilt. Und tatsächlich: Die alten Römer verputzten bei besonders dekadenten Orgien unzählige Flamingo-Zungen, die, so steht es geschrieben, saftig und schmackhaft sein sollen. „Ich weiß, was du jetzt denkst“, sagt Branco zum deutschen Journalisten, „wir Franzosen essen so einiges, aber keine Flamingo-Zungen.“ Bleiben wir aber im Alten Rom, denn das Thema führt über das Lied „Rome“ mit allerhand Imperator-Assoziationen zum Schwerpunktthema von „Wolfgang Amadeus Phoenix“, dem vierten Album der Band. Es geht viel um Geschichte auf dieser Platte. Um Erinnerungen an die Weltausstellung in Paris im Jahr „1901“ zum Beispiel, oder um den Klavier-Virtuosen Franz Liszt („Listzomania“, die erste Single, die sich auch auf den überdrehten 70er-Jahre-Musikfilm gleichen Namens mit Roger Daltrey bezieht), der Mitte des 19. Jahrhunderts so etwas wie der Prototyp eines Popstars war. „Einer, bei dem die Mädchen durchdrehten“, sagt Thomas Mars und ergänzt: „Es ist ziemlicher Unsinn, nach der Geburtsstunde dessen, was wir Pop nennen, erst in den 50ern zu suchen.“ Zur Vertiefung dieses Aspekts sei das vorzügliche Buch „Teenage“ von Jon Savage empfohlen, in dem der englische Musikjournalist – sonst Experte für britischen Punkrock und seine Folgen – Teenager-Geschichten aus den Jahren 1875 bis 1945 erzählt. Welt-

schmerz, Eskapismus, Rebellion, die magische Anziehungskraft schillernder Lichtgestalten: alles auch schon zu entdecken, als es noch keine Radios, Kinos oder Klatsch-Magazine gab. Thomas Mars vergleicht die kopflose Euphorie eines ausverkauften Gigs mit der Resonanz der Damen vom Hof auf die Auftritte eines Franz Liszt: „Lisztomia entsteht, wenn das, was man zu Hause erfunden und im Proberaum geübt hat, auf der Bühne einen ganz neuen Raum bildet, in dem alles möglich erscheint: komplette Vereinnahmung von der Gemeinschaft, aber auch das Gefühl totaler Isolation.“ Mit den vielen historischen Bezügen starten Phoenix einen Kampf gegen die Arroganz der Gegenwart. „Wir haben nach Gemeinsamkeiten gesucht zwischen dem, was als modern gilt, und dem, was einmal war. Es ist doch offensichtlich, dass wir Menschen sehr gut darin sind, uns vorzugaukeln, die jeweilige Gegenwart produziere in jedem Moment Phänomene, die es so noch nie gab“, sagt


Mars und verweist darauf, dass jeder Futurologe aus den 50er Jahren sehr enttäuscht darüber wäre, was wir Menschen, schon neun Jahre jenseits der Jahrtausendwende, auf die Beine gestellt haben. Mars: „Wo sind sie denn, die fliegenden Autos, die keinen Krach und keinen Dreck machen?“ Da sei die Autoindustrie selber schuld an ihrem Verfall, denn: „Wer etwas produziert, benötigt eine Vision.“ Hat denn die Band Phoenix eine? Branco nickt und fasst das Credo zusammen: „Nimm akustische Instrumente und spiele sie so me-

gleichsam rumpelnde und rollende „Rome“ war eine schwierige Geburt. Die Rolle des begleitenden Pfadfinders zum Gipfel spielte der Paris Klangmeister Philippe Zdar (Cassius), der Phoenix den typisch französischen Indie-Sound verpasste: discotauglich, atmosphärisch und mit kitschigen Verzierungen. Nicht zwingend steht das große Ganze im Fokus; es ist gewünscht, dass immer wieder Elemente wie der Bass, eine Rockgitarre oder der Sänger mit seinen Wortwiederholungen in den Vordergrund treten. „Wann wer was

»Was uns mit ‚Funky Squaredance‘ gelang, ist bis heute unser Ziel: eine Roboterband mit Cowboyhüten; Formationstänzer, die mit den Hüften wackeln.« Laurent Brancowitz chanisch wie möglich. Nimm digitale Instrumente und hauche der Elektronik Leben ein.“ Ein frühes Stück gilt noch immer als Wegweiser der Bandphilosophie: „Funky Squaredance“ vom Debüt „United“. Branco: „Was uns damals gelang, ist bis heute unser Ziel: eine Roboterband mit Cowboyhüten; Formationstänzer, die mit den Hüften wackeln.“ Das klingt einfacher, als es ist. „Es stellt sich immer wieder heraus, dass wir nur mit einer umständlichen Arbeitsweise ans Ziel kommen. Wir stehen vor einem Weg, der direkt auf den Gipfel eines Berges führt. Doch statt ihn einzuschlagen, gehen wir um den Berg herum, wo ein anderer, meistens schattiger und schwer begehbarer Weg auf uns wartet. Keine Ahnung, warum wir diese Regel nicht brechen können, aber wenn wir es tun, dann geht es schief.“ So kam es auch bei den Aufnahmen zur vierten Platte zu kniffligen Situationen. Vor allem das

macht, entscheiden wir nicht aus pragmatischen Gründen“, sagt Thomas Mars, der nicht viel von Genregrenzen hält. „Wir waren schon in den 80ern im einzigen Plattenladen unserer Heimatstadt Versailles die Sorte von Kundschaft, die Platten aus allen Regalen gekauft hat.“ In Versailles aufgewachsen zu sein, wo nicht der Rock regiert, sondern die Bedürfnisse der vielen Touristen, die das Schloss sehen wollen, sei nicht die schlechteste Voraussetzung, als Band eine eigene Identität zu finden. Mars, der als Ehemann von Sofia Coppola regelmäßig ein paar Wochen in LA verbringt, sagt: „Ich mag es zwar, wenn Städte einen Soundtrack besitzen. Wenn sie, wie Los Angeles, nach Hitze klingen. Oder wie Berlin nach Baustelle. Aber wenn deine Stadt keinen Soundtrack hat, wenn Musik dort einfach keine Rolle spielt, bleibt dir nichts anderes übrig, als dir aus den anderen Orten, die du besuchst, etwas Klang mitzunehmen.“ Geografischer Eklektizismus! Mal abwarten, welchen Klang Phoenix aus Bayreuth mitgenommen haben. Dort hat die Band im April das Video zu „Lisztomania“ gedreht, Regie führte ein ortskundiger Jungregisseur: Antoine Wagner, Sohn der Festspiel-Leiterin Eva Wagner-Pasquier und damit Ur-Urenkel von Richard Wagner und Ur-Ur-Urenkel von eben jenem Franz Liszt, dessen Tochter Cosima 1870 Richard Wagner heiratete. Die Band posierte auf dem Grünen Hügel und im Festspielhaus. „Wenn ein Ort in der Welt einen Klang hat, dann dieser“, sagt Thomas Mars. Sein Schlaf am Abend war tief und fest. Die Träume waren gut. Vom Flamingo keine Spur. andré bosse Mehr im Online-Archiv auf visions.de: 3 Storys / 4 Reviews Phoenix auf Tour – Termine ab Seite 138


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.