Psychoscope Magazin

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psychoscope Die Anatomie des Bösen Ein Schnitt durch Körper / Moral / Geschichte

Die Hirnforschung befasst sich derzeit intensiv mit der Identifikation physiologischer Merkmale, die für die Entstehung von bösem Verhalten verantwortlich sein könnten. Bereits ist in den Medien von einer «Renaissance der Phrenologie» die Rede. Verlag Hans Huber


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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Susan Marti Entkleidet und verdreht Darstellungen von Teufeln, Verdammten und Bösewichten in der Kunst des späten Mittelalters

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Ulrike Enke

Teufelskind oder Wunderzeichen Gottes? Die Deutung der Fehlbildung in der Frühen Neuzeit

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Ulrike Enke

Delinquente Seelen – schöne Anatomie Von Anatomieleichen und ihrer Zergliederung im 18. Jahrhundert

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Sigrid Oehler-Klein Mordsinn und Diebsinn Franz Joseph Galls Erklärung des Verbrechens und die Anfänge der Neuropsychologie zu Beginn des 19. Jahrhunderts

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Hans-Georg von Arburg

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Der Fall Rüttgerodt Die Physiognomik des Bösen und ihre Medialisierung um 1800

Jutta Person Sind so spitze Ohren Wie Cesare Lombroso das Böse am kriminellen Körper entziffert: Die Kriminalanthropologie des 19. Jahrhunderts zwischen Physiognomik, Atavismustheorien und Zoologie

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Roger Fayet

Auf der Suche nach dem Bösen im Hirn Interview mit dem Hirnforscher Hans J. Markowitsch

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Philip G. Zimbardo

Wie gute Menschen zu Verbrechern werden Ein situationistischer Blick auf die Psychologie des Bösen

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Harald Welzer

Die soziale Situation Wie ganz normale Männer töten

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Editorial

Derzeit befassen sich die Neurowissenschaften intensiv – und mit einem gewissen Anspruch auf Meinungsführerschaft – mit der Frage, ob sich im Hirn des Menschen bestimmte physiologische Merkmale finden lassen, die für die Entstehung von bösem Verhalten verantwortlich sind. Der Hirnforscher Hans J. Markowitsch vermutet in einem Interview des deutschen Nachrichtenmagazins Der Spiegel, dass «sich alle Hirne von Mördern in mindestens einer Determinante von Hirnen aller Nicht-Mörder unterscheiden und dass genau diese biologischen Abweichungen bedingen, dass jemand mordet.» 1 Diese und ähnliche Hypothesen versucht die Neurowissenschaft in empirischen Studien und über die Anwendung bildgebender Verfahren zu überprüfen. Bereits ist in den Medien von einer «Renaissance der Phrenologie» 2 die Rede. Seit Jahrhunderten also äussert sich in vielfacher Weise der Wunsch, das Böse an einem bestimmten Ort des Körpers zu identifizieren und es damit diagnostizierbar zu machen – entweder mit Aussicht auf Behandlung oder im Hinblick auf die Ausgrenzung des bösen Individuums. Mit der vorliegenden Ausgabe von «psychoscope» möchten wir die gegenwärtige Diskussion um die neurowissenschaftliche Verortung des Bösen aufnehmen und sie in einen grösseren, insbesondere historischen Kontext stellen. Für das Zustandekommen dieser Ausgabe danke ich zuvorderst und sehr herzlich den Autorinnen und Autoren. Die Freude über die vorliegende Ausgabe wird so zur Vorfreude für weitere spannende Ausgaben von «psychoscope». Dr. Roger Fayet

1 «Neuronen sind nicht böse», in: Der Spiegel, Nr. 31, 30.7.2007, 120. 2 Der Begriff der «Phrenologie» bezieht sich auf die um 1800 von Franz Joseph Gall entwickelte Hirn- und Schädellehre, die einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Grösse bestimmter Hirnregionen und den Charaktereigenschaften der Menschen nachzuweisen versuchte; vgl. den Beitrag von Sigrid Oehler-Klein im vorliegenden Band.

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Prof. Dr. Hans J. Markowitsch, geboren 1949. Studium der Psychologie und Biologie an der Universität Konstanz. Promotion zum Dr. rer. nat., 1980 Habilitation, Heisenbergstipendiat, Professuren für Biopsychologie und Physiologische Psychologie in Konstanz, Bochum und Bielefeld. Forschungsaufenthalte in Dänemark, Grossbritannien, Kanada und den USA. Leiter der Gedächtnisambulanz der Universität Bielefeld. Direktor am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld. Autor oder Herausgeber von zahlreichen Büchern, Buch- und Zeitschriftenartikeln und verschiedenen Hör- und Bildmedien. Forschungsgebiete in den Bereichen Gedächtnis und Gedächtnisstörungen, Bewusstsein und Emotion.

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Tiefe Blicke in das Verbrechergehirn Ein Gespräch mit Hans J. Markowitsch

Der in Bielefeld tätige Neurowissenschaftler Hans J. Markowitsch ist einer der profilierten Vertreter dieser Forschungsrichtung. Im Gespräch erläutert er seine Untersuchungsmethoden und legt dar, wie sich durch eine Schädigung bestimmter Hirnregionen der Umgang mit Aggression verändert. Er bezieht Stellung in der Frage der Willensfreiheit und empfiehlt Veränderungen in der Rechtssprechung, im Strafvollzug und in der Prävention. Roger Fayet: Herr Markowitsch, soeben ist Ihr Buch Tatort Gehirn erschienen. Eines der Kapitel trägt die Überschrift Vom Fall des Bösen und dem Aufstieg des Psychischen. Gibt es das Böse für einen Neurowissenschaftler denn überhaupt?

on entsprechend spricht man dann von «bösen» Menschen. Aus der Perspektive der Hirnforschung sind sie aber durch ihre Vergangenheit und ihre biologischen Voraussetzungen determiniert. Die Neurowissenschaft untersucht die Hirntätigkeit des Menschen, indem sie unter anderem die physiologischen Aktivitäten des Hirns mit verschiedenen bildgebenden Verfahren festhält. Welche Verfahren finden Anwendung?

Hans J. Markowitsch: Das Böse ist eine Fiktion. Wenn jemand gegen gesellschaftliche Normen verstösst, sagt man von ihm, er sei «böse». Als Neurowissenschaftler bin ich jedoch der Ansicht: Wie ein Mensch sich verhält – ob sein Verhalten als «böse» betrachtet wird oder nicht –, hängt ab von seiner Genetik und seiner Entwicklung. So kann es sein, dass bestimmte Gene oder Hormone vorhanden sind, die ein aggressives Verhalten fördern. Ein simpler Beleg: Die überwiegende Mehrheit der Gefängnisinsassen sind Männer, was sowohl mit dem Testosteron als auch mit der stärkeren Muskelkraft der Männer korreliert.

Zur Analyse der Gehirnmorphologie und möglicher Veränderungen setzen wir einerseits traditionelle Verfahren wie die Computer-Tomografie und die Kernspintomografie ein. Andererseits wenden wir auch neuere Methoden wie die funktionelle Kernspintomografie an. Mit dieser Technik können Veränderungen des Blutflusses gemessen werden. Da der Blutfluss mit der Nervenzellaktivität übereinstimmt, zeigt er an, welche Netzwerke im Gehirn besonders aktiv sind. Dies kann beispielsweise ein Hinweis darauf sein, dass die Person emotional erregt ist oder nicht die Wahrheit sagt.

Es gibt also Determinanten, die bewirken, dass sich die Menschen so verhalten, wie sie es tun. Und das heisst natürlich auch, dass sich manche Personen nicht an die gesellschaftlichen Normen halten. Der Konventi-

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Ergänzend setzen wir die Positronen-Emissions-Tomografie ein. Sie ist mit einer geringen radioaktiven Belastung verbunden während die Kernspintomografie nebenwirkungsfrei ist. Des Weiteren erlaubt sie es, eine Vielzahl von Hirnaktivitäten, etwa den Zuckerstoffwechsel oder das Vorhandensein bestimmter Überträgerstoffe, zu messen. Damit lassen sich detaillierte Informationen darüber gewinnen, ob das Gehirn normal arbeitet oder ob Abweichungen vorliegen. Welche Erkenntnisse bezüglich des moralischen Verhaltens eines Menschen können aus solchen Bildern gewonnen werden? Was für den Laien nur bunte Bilder sind, ermöglicht dem Wissenschaftler – vereinfacht gesagt – zu sehen, wie eine Person denkt, wie sie handelt und was sie wahrnimmt. Der Spezialist bräuchte die Bilder allerdings gar nicht, denn ihm genügt auch die Angabe der Hirnkoordinaten. Die Messdaten im Bezug auf die Hirnkoordinaten bilden die eigentlichen Grundinformationen. Aus ihnen werden die Bilder ja erst generiert.

Hautbild aus, produziert also die Symptome einer dermatologischen Erkrankung. Rund 70 % der Patienten leiden jedoch zusätzlich an selektiven Hirnschäden; Betroffen sind die beiden Mandelkerne links und rechts im Gehirn. Dies hat zur Folge, dass die Patienten schlechter oder gar nicht abwägen können, was emotional bedeutend und was unbedeutend ist. In der Untersuchung zeigte sich das beispielsweise so: Den Patienten wird eine Geschichte vorgelesen, die davon handelt, wie eine Frau, die ein gelb-schwarz geblümtes Kleid trägt, von einem Mann erdolcht wird. Nachdem man mit den Patienten während einer halben Stunde andere Tests durchgeführt hat, fordert man sie auf, die Geschichte nachzuerzählen. Erstaunlicherweise sprechen sie dabei ausführlicher über das gelb-schwarz geblümte Kleid als über die Ermordung der Frau. Das zeigt, wie wichtig einzelne Hirnregionen sind, um Ereignisse in einen emotionalen Kontext zu setzen. Eine Veränderung in diesen Regionen hat demnach Konsequenzen für den Umgang mit gewalttätigen oder sexuellen Fantasien?

Durch die moderne Hirnbildgebung bestätigt sich Auffälligkeiten im Hirn, die sich auf diese Weise fest- zunehmend, dass Menschen mit einer antisozialen stellen lassen, können unter Umständen zu gravieren- Persönlichkeit eine Unteraktivierung im Bereich der den Verhaltensänderungen führen. Eindrücklich ist Amygdala zeigen. Selbst wenn man diesen Mender Fall eines Lehrers und Vaters von zwei Kindern, schen schockierende Bilder zeigt, passiert in der der plötzlich pädophile Neigungen entwickelte. Im Amygdala nichts. Sie reagieren also nicht emotional Gefängnis klagte er über schwere Kopfschmerzen. auf das Gesehene. Und wie es scheint, ist diese VerAls man daraufhin eine Kernspintomografie durch- anlagung auch nur schwer zu korrigieren. führte, entdeckte man einen Tumor im Stirnhirn. Nach dessen Entfernung normalisierte sich sein Verhalten Auch für einen Laien wie mich ist es nachvollziehwieder so weit, dass er keine pädophilen Tendenzen bar, dass Veränderungen im Hirn zu antisozialem Verhalten führen können. Nicht zwingend ist aber mehr zeigte und in die Familie zurückkehren konnte. der Umkehrschluss, dass ein solches Verhalten in jeEinzelne Regionen des Gehirns sind also für bestimm- dem Fall physiologische Ursachen haben muss. Es te Tätigkeiten zuständig, beispielsweise für die Affekt- weisen doch nicht alle Gewalttäter eine veränderte kontrolle oder das moralische Urteil. Hirnsubstanz auf? Ja und nein. Nein, weil das Gehirn immer als Ganzes, Da kann man unterschiedlicher Auffassung sein. Stuimmer integrativ arbeitet. Ja, weil eine Hierarchie be- dien aus den USA zeigen, dass Mörder oftmals Veränsteht, das heisst, weil einzelne Regionen für bestimm- derungen – vereinfacht gesagt: Hirnschrumpfungen te Funktionen besonders wichtig sind. Ein Beispiel: – im unteren Stirnhirn aufweisen. Es gibt aber durchDie Amygdala, zu Deutsch der Mandelkern, ist eine aus Ergebnisse, die im Bereich des Normalen liegen. Region, die für die Affektkontrolle mitverantwortlich Die Frage ist: Was bedeutet es, dass nicht bei allen ist. Patienten, die in diesem Bereich eine Überaktivie- Straftätern ein auffälliger Befund festgestellt wird? rung aufweisen, sind überdurchschnittlich aggressiv, Eine Schlussfolgerung könnte lauten, dass unsere bei einer Unteraktivierung hingegen wenig emotio- Messmethoden eben nicht fein genug sind, um die nal. Wir hatten die Möglichkeit, in Deutschland und ausschlaggebenden Veränderungen nachzuweisen. Südafrika eine Gruppe von Patienten zu untersuchen, Diese sind vermutlich dennoch vorhanden – denn die am so genannten Urbach-Wiethe-Syndrom leiden. die Umweltphänomene, die auf den Menschen und Es zeichnet sich zum einen durch Änderungen im sein Gehirn einwirken, verändern es zwangsläufig.

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Abb. 1: H irnbilder eines wegen Mehrfachvergewaltigung Angeklagten gegenüber Hirnbildern von Normalpersonen. Man sieht deutlich die Abnahme des Hirnstoffwechsels, die mit einem Rückgang der geistigen Fähigkeiten (nach Anklage) korreliert. Wenig plausibel ist doch aber die Rückführung auf physiologische Ursachen im Falle von Gewalttaten, die in einer bestimmten sozialen Gruppe oder in bestimmten sozialen Situationen begangen wurden. Ich denke an Gräueltaten, die Soldaten im Krieg verüben. Die Mitglieder einer Kompanie werden ja nicht aufgrund der spezifischen Beschaffenheit ihrer Gehirne ausgesucht.

Eleanore Maguire führte eine Studie mit Londoner Taxifahrern durch. Bevor diese als Taxifahrer arbeiten dürfen, haben sie eine dreijährige Lehre zu absolvieren. Je länger sie dann im Beruf sind, umso grösser ist jener Hirnbereich im Hippocampus-Gebiet entwickelt, der mit den Fähigkeiten des räumlichen Vorstellens und Erinnerns zu tun hat. Und das ist es ja, was ein Taxifahrer beherrschen muss. Es besteht tatsächlich eine lineare Korrelation zwischen der Berufstätigkeit in Jahren und der Zunahme der Gehirntätigkeit. Es ist ähnlich wie beim Bodybuilding: Wie ein Muskel durch Training vergrössert werden kann, lässt sich auch das Gehirn durch Training verändern. Und aus diesem Grund wird auch das Gehirn eines Mörders nicht so aussehen wie das Gehirn eines Nicht-Mörders.

In solchen Fällen kommt es zu temporären Veränderungen im Hirn. Man weiss ja von sich selbst, dass man anders reagiert, wenn man in Wut ist. Situative Umstände können zum Beispiel die vermehrte Freisetzung von Hormonen bewirken, welche die Kontrollinstanzen im Stirnhirn hemmen und damit ein aggressives Verhalten begünstigen. So können aus

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Abb. 4: Horizontalschnitt durch das Gehirn eines Mannes, der aufgrund eines Schockerlebnisses seine autobiographische Erinnerung komplett verlor (geringerer Stoffwechsel von Stirnhirn und vorderem Schläfenlappen).

Abb. 3: S toffwechselveränderungen bei einem 23-jährigen Mann nach psychischem Schockerlebnis. Die ersten zwei Studien zeigen den akuten Zustand, die nächsten beiden den nach Therapie.

Die Feststellung, dass hirnphysiologische Voraussetzungen für das Verhalten des Menschen eine wichtige Rolle spielen, zieht die Frage nach sich, inwiefern der Einzelne in seinen Handlungen frei oder determiniert ist. Wie frei vollzieht sich das menschliche Handeln?

hat John-Dylan Haynes Experimente durchgeführt, in denen er Testpersonen aufforderte, sich zu überlegen, ob sie vorgegebene Zahlen addieren oder subtrahieren wollen, und den Entscheid per Knopfdruck zu bestätigen. Mittels funktioneller Kernspintomografie zeigte sich, dass das Gehirn schon fünf bis sieben Sekunden vor dem mitgeteilten Entscheid auf die eine oder andere Variante eingestellt war.

Das ist eine besonders in Deutschland sehr intensiv und kontrovers geführte Diskussion. Der Physiologe Benjamin Libet hat in einem berühmt gewordenen Experiment gezeigt, dass das Gehirn schon Sekundenbruchteile früher agiert als die Person angibt zu wissen, wie sie sich entscheiden wird. Das so genannte Libet-Experiment ist häufig kritisiert worden, doch jetzt

Als Fazit würden wir Neurowissenschaftler formulieren: Grundsätzlich ist der Mensch determiniert – einerseits durch seine genetische Veranlagung, andererseits durch die lebenslang gemachten Erfahrungen. Dabei kommt den Erlebnissen der frühen Kindheit die grösste Bedeutung zu, da die «Fenster» dann besonders weit geöffnet sind.

dem Kontext heraus ganz normale Menschen zu Mördern werden.

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Die gibt es. Denn selbst wenn in der Kindheit die Entwicklung eher negativ verlief, besteht die Möglichkeit späterer Korrekturen. Diese können ausreichen, damit eine Person nicht straffällig wird. Aber auch hierfür sind bestimmte Determinanten verantwortlich. So kann die Genetik korrigierend einwirken. Es existieren Gen-Allele, die einen vorsichtig werden lassen, im Unterschied zu anderen Allelen, die aggressiv machen. Trotzdem ist die frühe Kindheit entscheidend. Eine neue Studie möchte ich anführen: Der Amerikaner Seth Pollak und andere haben ehemalige russische und rumänische Waisenkinder untersucht, die ihre ersten Lebensjahre in schlechten Verhältnissen verbracht hatten, dann von amerikanischen Eltern adoptiert wurden und zusammen mit den eigenen Kindern der Familie über mehrere Jahre interagierten. Obschon sie auf diese Weise ein gutes Sozialverhalten erlernAbb. 2: Stirnhirnschädigung bei einem fünffachen ten, fiel die Ausschüttung von Bindungs-Hormonen Mörder im Vergleich zu den eigenen Kindern der Adoptiveltern sehr viel geringer aus. Diese Hormone – Oxytocin, Vasopressin – können schon beim Baby nachgewiesen werden. Trinkt es an der Brust der Mutter, dann werden sowohl bei der Mutter wie auch beim Baby Oxytocine ausgeschüttet, welche die Bindung zwischen den Die amerikanische Neuropsychiaterin Dorothy Lewis beiden verstärken. Beim Erwachsenen kommt es zum hat hierzu eine Reihenstudie publiziert, in der sie Beispiel nach dem Geschlechtsverkehr zu einer Ausjunge Gefängnisinsassen untersuchte, die im Bun- schüttung von Oxytocin, um die Partnerbindung zu desstaat Texas zum Tod verurteilt worden waren. festigen. Die Studie zeigt sehr deutlich, dass eine Es zeigte sich, dass keiner von ihnen eine normale belastete Kindheit langfristige Auswirkungen haben Kindheit hatte, viele waren Voll- oder Halbwaisen. kann. Die Autoren wagen sogar den Vergleich mit eiBis auf eine Person hatten alle eine Hirnschädigung ner Pistolenkugel: Sobald sie den Lauf verlassen hat, erlitten, ein Schädel-Hirn-Trauma oder etwas ähnli- kann ihre Richtung nicht mehr geändert werden. Wolf ches. Und für sämtliche Untersuchten bestand eine Singer, der Direktor des Frankfurter Max-Planck-Instipsychiatrische Diagnose zwischen Borderline und tuts für Hirnforschung, hat einmal gesagt: Kinder erSchizophrenie. Lewis resümiert: Wer einen solchen ziehen ist vergleichbar mit mikrochirurgischen EingrifHintergrund hat, kann nicht so werden wie andere fen ins Gehirn. Wir manipulieren unsere Kinder, wenn Menschen. wir sie erziehen. Es gibt Menschen mit problematischer Kindheit, die sich als Erwachsene nicht antisozial verhalten.

Nochmals zurück zur Frage der Determiniertheit: Angenommen, eine Person befindet sich in einer Situati-

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on, die verschiedene Handlungsoptionen offen lässt. Hat sie keine Möglichkeit, ihr Handeln aufgrund rationaler Überlegungen zu steuern? Eine wichtige Frage: Hat der Mensch Handlungsalternativen? Unsere Antwort lautet nein. Denn wenn er diese hätte, würde er anders handeln. Nochmals: Seine bisherige Entwicklung ist prädikativ dafür, wie er sich in einer gegebenen Situation entscheidet. Es ist vorhersagbar, wie jemand handelt, wenn man die Determinanten kennt. Allerdings sind diese in der Praxis selten ausreichend bekannt. Kann unter diesen Voraussetzungen Ihre eigene Tätigkeit als Wissenschaftler überhaupt vorgestellt werden? Wie ist die Weiterentwicklung wissenschaftlicher Erkenntnis denkbar, wenn der Mensch in seinen Auffassungen bereits vorbestimmt ist? Es ist auch die andere Seite der Determiniertheit zu sehen. Jede neue, zusätzliche Erfahrung verändert das Gehirn und dadurch den Menschen. Wir haben keine fixe Persönlichkeit, die für alle Zeiten festgelegt ist. Auch die Umwelt modifiziert den Menschen und verändert seine Persönlichkeit. Aber da wir uns unserer Persönlichkeit nicht in jeder Sekunde bewusst sind, bemerken wir die Veränderungen, die sich an uns vollziehen, nicht sehr differenziert. Würden Sie denn tatsächlich sagen, dass Ihre wissenschaftlichen Ergebnisse das Resultat der Einflüsse sind, die auf Sie einwirken? Ja, das würde ich sagen. Nur das Resultat der Einflüsse? Nur das Resultat der Einflüsse. Denn das, was wir tun, ist von unserem Gehirn abhängig, und wie unser Gehirn funktioniert, ist wiederum determiniert von der Umwelt und der Genetik. Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie aus Ihrer Forschung für den Umgang mit Straftätern? Die Gesellschaft hat unbestritten ein Anrecht darauf, nicht tyrannisiert zu werden von Leuten, die ihr nicht wohl wollen. Daher kann man Straftäter nach schweren Vergehen nicht weiter frei herumlaufen lassen. Aber es ist zu überlegen, ob es nicht Besseres gibt, als den Verbrecher wegzuschliessen. Es ist doch eine Tatsache: Wer bereits einmal eingesperrt war, hat eine hohe Wahrscheinlichkeit, wieder hinter Gitter zu

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kommen. Den «Drehtür-Effekt» gibt es nicht nur in der Psychiatrie. Sinnvoll wäre die Verstärkung der Sozialisierungsmassnahmen. Leider scheitert dies in der Praxis häufig am Geld beziehungsweise an den Mitteln für gut ausgebildetes Personal. Doch es gibt gute Ansätze: In einigen Justizvollzugsanstalten Deutschlands bieten Therapeuten ein Antiaggressionstraining an. Ziel ist es, Handlungsalternativen mit den Straftätern einzuüben, damit sie in schwierigen Situationen nicht gleich wieder zuschlagen. Werden die persönlichen, hirnphysiologischen Voraussetzungen beim Entscheid über das Strafmass zu wenig berücksichtigt? Als Gerichtsgutachter erlebe ich immer wieder, dass die Persönlichkeit des Angeklagten zu wenig berücksichtigt wird und es zu pauschalen Einschätzungen kommt. Unser früherer Bundeskanzler hat über pädophile Straftäter gesagt, man solle sie einsperren und den Schlüssel wegwerfen. Als Ausdruck von Mitgefühl für die Opfer und ihre Angehörigen sind solche Äusserungen verständlich – vernünftig sind sie nicht. Schlussfolgerungen ziehen Sie aber nicht nur für die Rechtssprechung und den Umgang mit Delinquenten, sondern Sie sprechen sich auch für eine verstärkte Prävention aus. Wenn wir davon ausgehen, dass alles, was auf ein Individuum im Laufe seines Lebens einwirkt, Folgen für das spätere Verhalten hat, dann wären präventive Erziehungsstrategien, die sich gegen Gewalt richten, unbedingt in Angriff zu nehmen. Bei früh auffälligen Personen sollten wir versuchen, sie wieder in Bahnen zu lenken, die den gesellschaftlichen Normen entsprechen. Ein solches Vorgehen verlangt wegen der Bedenken, die in der Gesellschaft gegenüber verordneten Präventivmassnahmen bestehen, viel Fingerspitzengefühl. Und trotzdem: Selbst unbequeme Prävention ist allemal besser, als wenn Mordopfer zu beklagen sind. Herr Markowitsch, ich danke Ihnen für dieses Gespräch. Roger Fayet


Entkleidet und verdreht Darstellungen von Teufeln, Verdammten und Bösewichtenin der Kunst des späten Mittelalters Susan Marti untersucht, wie die christliche Kunst des 12. bis 15. Jahrhunderts das Böse als körperliches Phänomen zur Anschauung brachte. Hierzu richtet sie das Augenmerk auf die Darstellung des Teufels und der Dämonen, auf die bösen Figuren in der Passion Christi und auf die Körper der Verdammten in den Bildern vom Jüngsten Gericht. Die Erlösung vom Bösen ist das zentrale Anliegen der Christen im Mittelalter. Die Personifikation des Bösen schlechthin ist nach mittelalterlicher Vorstellung der Teufel; er und seine Gehilfen sind die Gegenspieler Gottes und kämpfen um die Macht über die Seelen der Gläubigen. Der Verräter Judas, die Peiniger Christi oder die beim Weltgericht verdammten Sünder – sie alle sind den Verführungen des Teufels erlegen und der Sünde verfallen. Die Auseinandersetzung mit dem Bösen spiegelt sich daher facettenreich in der christlichen Bilderwelt. Allein schon die zahlreichen Passionsdarstellungen mit den Peinigern bei der Geisselung und der Dornenkrönung Christi, den Spöttern und Verleumdern bei der Vorführung des gemarterten Schmerzensmannes vor dem Volk, den Henkern und ihren Knechten bei der Kreuzannagelung, dem Schwammträger, den Spielern, Wachen und Soldaten bei der Kreuzigung Christi oder die zahlreichen Weltgerichtsbilder mit ihrer endzeitlichen Scheidung der Guten und Bösen bieten vielfältiges Anschauungsmaterial für die Frage nach der Darstellungsweise böser Charaktere.

daher oft eine hohe didaktische Wirkung eigen. Manche wurden von kirchlichen Würdenträgern in Auftrag gegeben oder ihr Programm von gebildeten Theologen konzipiert. Ausführliche Passionszyklen und Weltgerichtsdarstellungen schmückten Innenseiten und Aussenwände von Kirchen und Kathedralen. Grossformatige Tafelbilder zierten Altäre in Pfarrkirchen und Familienkapellen, Gerechtigkeitsdarstellungen hingen in Rathäusern. Die Bilder sollten die Gläubigen zu einer tugendhaften christlichen Lebensführung motivieren und das Fehlverhalten entsprechend abschreckend darstellen. Eine klare Lesbarkeit der Darstellung steht im Dienste dieser moralisch-erzieherischen Funktion. Der Körper ist das Medium par excellence, um die Boshaftigkeit dieser Figuren den Gläubigen vor Augen zu führen. In der über tausendjährigen Epoche, die wir gemeinhin mit dem Begriff «Mittelalter» zusammenfassen, hat sich das Bild des Bösen und der «bösen» Menschen vielfach gewandelt. Verallgemeinernde Aussagen sind angesichts der so unterschiedlichen zeitlichen, räumlichen und kulturell-sozialen Gliederung des westlichen christlichen Europas nur unter Vorbehalten zu machen. Über-

Viele dieser Bilder waren öffentlich sichtbar und richteten ihre Botschaft an ein breites Publikum, ihnen war

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Abb. 1: S elbstmord des Judas, um 1130–1140, Kapitell aus dem Langhaus der Kathedrale Saint-Lazare Autun, Kapitelsaal greifende Entwicklungslinien lassen sich auf diesen wenigen Seiten nicht rekonstruieren. 1 Ich will daher im Folgenden schlaglichtartig einige Beispiele westlicher Kunst des 12. bis 15. Jahrhunderts herausgreifen, um repräsentative Aspekte des Themas darzustellen. Auf die spezifischen Wirkungsweisen der einzelnen Werke in ihrem ursprünglichen Kontext kann ich dabei nicht eingehen. Eine weitere Einschränkung sei vorweggenommen: Die meisten mittelalterlichen Personendarstellungen zeigen bekleidete Menschen; höchstens auf Weltgerichtsdarstellungen treten nackte Personen in grösserer Anzahl auf. Die Kleidung als äussere Hülle des Körpers ist auch auf Bildern ein wichtiges Medium, um

gesellschaftliche Konventionen, soziale Normen und moralische Einschätzungen zu transportieren. Für mittelalterliche Bilder trifft das in hohem Masse zu. Da man Nacktheit als Zeichen besonderer Sündhaftigkeit auffasste, wurde die Kleidung zur unabdingbaren Hülle des Körpers. Hinzu kommt die grosse Bedeutung visueller Zeichen überhaupt für die Kultur des Mittelalters. Bekleidungskonventionen und Kleidervorschriften waren ein wirksames und oft eingesetztes Mittel, die soziale Ausgrenzung und Markierung bestimmter Individuen und Personengruppen durchzusetzen. Die Kleidung ist daher auf Bildern häufig als Erweiterung des Körpers zu interpretieren, wie der Körper transportiert sie moralische Einschätzungen. Das Böse repräsentiert sich in der mittelalterlichen

1 Die ausführlichste Darstellung, die sich diesem Thema widmet, ist gegenwärtig: Ruth MELLINKOFF, Outcasts. Signs of Otherness in Northern European Art of the Late Middle Ages, 2 Bände, Berkeley u. a. 1996 (California Studies in the History of Art 32). Eine Auswahlbibliographie zum Körper im Mittelalter findet sich bei: Karina Kellermann (Hg.), Der Körper. Realpräsenz und symbolische Ordnung. Eine Einleitung, in: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung, Band 8, Heft 1, 2003, 9–12.

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Bilderwelt nicht nur am Körper, sondern ebenso in der Kleidung. 2 Aus Platzgründen müssen allerdings hier Kleider und bekleidete Körperteile weitestgehend ausgeschlossen bleiben, auch wenn dadurch Zusammengehöriges getrennt wird.

darunter die vielen Pilger, die das Grab des heiligen Lazarus in der Kirche verehrten. Eines der um 1130 bis 1140 entstandenen Kapitelle zeigt den Selbstmord des Judas, 4 des Apostels, der Christus verriet (Abb. 1). Judas hängt nackt am Baum, mit schlaffen Gliedern, mager und schief, den Kopf weit vornüber geneigt. Zwei Dämonen rechts und links ziehen beidseitig das über zwei Äste gelegte Seil hinunter, um ihm die Luft abzuschneiden. Die Dämonen sind kleine, drahtige Wesen mit menschenähnlichen Gliedern, ausgemergelten Körpern, auf denen sich die Rippen abzeichnen, und zwei spitzen, geschuppten Flügeln. Ihr Gesichtsausdruck wird dominiert vom aufgerissenen breiten Mund mit dicken Lippen und kräftigen Mundfalten. Die Lippen sind weit zurückgezogen, die Zahnreihen liegen entblösst, sogar die Zunge wird sichtbar. Einen zweiten markanten Akzent bilden die Augen: Mit scharfkantigen Schnitten heben die Augenlider die als dunkle Löcher in den Stein gebohrten Pupillen hervor. Die glotzenden Augen, die entblössten Zahnreihen und die fast bis zu den Ohren aufgerissenen Münder geben den Teufelsgesichtern ihren fratzenhaften, dämonischen Ausdruck. Das Gesicht des Verräters Judas ist den Dämonengesichtern auffällig ähnlich. Judas’ Mund gleicht den Mäulern der Teufel: im ähnlichen Winkel geöffnet, ebenfalls von breiten Lippen begleitet, tief hinterschnitten und verschattet. Die physiognomische Ähnlichkeit bringt die innere Wesenverwandtschaft der Figuren zum Ausdruck.

Der monströse Körper des Teufels Im Neuen Testament wird «der Böse» mit dem Teufel gleichgesetzt; der Teufel ist das Böse schlechthin. 3 Diese Auffassung prägte das ganze christliche Mittelalter, wobei der Teufel unter verschiedenen Formen und Namen auftrat: als Luzifer, Satan, Höllenfürst und anderes mehr. Ausserdem bevölkerten zahlreiche Unterteufel und Dämonen das Reich des Bösen. Bei den Teufelsdarstellungen lassen sich typologisch menschliche von tiergestaltigen Teufeln unterscheiden, doch häufig vermischen sich die beiden Grundschemen. Meistens liegt der Teufelsfigur eine menschliche Gestalt mit aufrechtem Gang zugrunde, oft hat sie tierische Attribute wie Hörner, Ziegenfüsse oder Vogelklauen, ein Schwanz oder Flügel. Wegen der Ähnlichkeit mit dem menschlichen Körper sind die mittelalterlichen Teufelsdarstellungen aufschlussreich im Hinblick auf die Repräsentationen des Bösen am Körper von Menschen. Die Teufel zeigen die extremste Deformierung des Körpers durch das Böse, den absolut bösen Körper. Aus dem Vergleich mit den Teufelskörpern lässt sich die zeitgenössische moralische Deutung deformierter menschlicher Körpermerkmale ableiten.

Die zahlreichen Teufel, die auf den Kapitellen von Autun ihr Unwesen treiben, kombinieren die menschliche Gestalt mit tierischen Attributen. Ihr Körperbau entspricht in Gliedmassen und Proportionen dem menschlichen Körper, als Füsse finden sich sowohl Menschenfüsse wie grosse Vogelkrallen. Die Körper sind teilweise nackt, teilweise behaart. Oft betonen wild aufstehende Haare den fratzenhaften Gesichtsausdruck. Längere und unnatürlich steil in die Höhe stehende Haarsträhnen sind in der mittelalterlichen

Dies sei an einem Beispiel verdeutlicht. In der romanischen Kapitellplastik der Kathedrale von Autun im Burgund sind Teufel und Dämonen allgegenwärtig. Die Kirche ist sowohl im Innern wie am Aussenbau reich mit Bauplastik geschmückt. Das Bildprogramm an der westlichen Vorhalle mit dem berühmten Weltgericht des Bildhauers Gislebertus und die zahlreichen figürlichen Kapitelle im Schiff der Kirche richteten sich mit ihren Botschaften an die Kirchenbesucher,

2 Zur Kleidung böser Figuren siehe MELLINKOFF, Outcasts, Band 1, 3–109. 3 So zum Beispiel im Rahmen des Gleichnisses vom Sämann bei Matthäus 13, 19: «Sooft jemand das Wort vom Reiche [Gottes] hört und es nicht versteht, kommt der Böse und raubt das, was in sein Herz gesät ist». (Omnis qui audit verbum regni et non intellegit, venit malus et rapit quod seminatum est). 4 Das Kapitell ist heute im Kapitelsaal ausgestellt und am originalen Standort, dem östlichsten der südlichen Mittelschiffspfeiler, durch eine Kopie ersetzt.

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Kunst ein über Jahrhunderte hinweg wiederkehrendes Merkmal von Teufeln und bösen Figuren. Im ungezügelten Wildwuchs der widerspenstigen Haare spiegelt sich die innere Widerspenstigkeit und Boshaftigkeit ihrer Träger, ihr ungezügeltes, von Trieben dominiertes Verhalten und ihre Auflehnung gegen die göttliche Ordnung. Bewusstes Gestalten und Pflegen des normalerweise lang getragenen Haares war nach mittelalterlicher Auffassung ein Zeichen von Würde und tugendhaftem Lebenswandel. 5 Die radikale Kürzung der Haare war ein Zeichen eingeschränkter persönlicher Freiheit: Gefangene schor man zur Strafe und äusserlichen Ächtung kahl, die Tonsur der Mönche hingegen war das Zeichen einer freiwilligen Unterwerfung unter das Gebot Gottes. Nonnen sowie verheiratete Frau-

Abb. 5: Giotto di Bondone, Die Hölle, 1303–1305, Fresko, Padua, Scrovegni-Kapelle, Ausschnitt aus der Weltgerichtsdarstellung an der Westwand

en trugen ihr Haar gänzlich verborgen unter einem Schleier beziehungsweise einer Haube. Nur Jungfrauen hatten es lang und offen – dann aber, so jedenfalls in der idealisierenden Wiedergabe auf Bildern, fiel es in sanften Wellen ordentlich über den Rücken hinunter. Auflehnung gegen die göttliche Ordnung und ungezügelte körperliche Kraft sind die Charaktereigenschaften, die Personen mit wilden, aufstehenden Haarsträhnen zugeschrieben wurden. Deutlich wird dies an den Teufeln von Autun und zahlreicher jüngerer Teufelsdarstellungen, aber auch in verschiedenen Bildern zur Passion Christi, wo die Gewalttätigkeit der Henkersknechte bei der Geisselung oft durch wild aufstehendes Haar ausgedrückt wird. Im 13. Jahrhundert erfährt die menschliche Teufelsgestalt mit tierischen Attributen eine Variation: Sie wandelt sich zum mehrgesichtigen Dämon. Der Teufel kann auf seinem Körper mehrere Gesichter tragen. So stellt es beispielsweise der anonyme Illustrator des Klosterneuburger Evangelienwerkes dar, der etwa um 1335 in Oberösterreich eine umfangreiche volkssprachliche Evangelienerzählung mit Randillustrationen versah (Abb. 2). Im Typus ähnelt die Figur des Teufels, der Christus in Versuchung führt, dem romanischen Schema aus der Kathedrale von Autun,

Abb. 3: D ie Versuchung des hl. Antonius, Oberrhein, um 1520, Köln, Wallraf-RichartzMuseum & Fondation Corboud

5 Helmut HUNDSBICHLER, Haartracht, in: Norbert Angermann u. a., Lexikon des Mittelalters, Band 4, München 2002, 1813.

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menschlicher Körper geworden, die in Einzelheiten aber wiederum auf die Wahrnehmung und die Darstellung «normaler» böser Menschen zurückwirkten: aufgerissene Münder mit entblössten Zahnreihen, grosse glotzende Augen mit starken Runzeln über den Lidern und Brauen, faltige, pustelnbesetzte Haut und knollige Nasen etwa (Abb. 3).

allerdings mit starken Überzeichnungen: Der ganze Körper ist grau-blau behaart, die Ohren wie spitze Tierohren geformt, der Mund durch breite Wülste betont. Grosse Eckzähne ragen ebenso aus dem Mund wie die unnatürlich lange, rote Zunge. Die Nase ist zu einem gebogenen Rüssel verlängert, die Augen durch buschige Augenbrauen, tief liegende Schatten und scharfkantige Augenlider an der Nasenwurzel betont. Solche Gesichtszüge trägt der Teufel nicht nur im Antlitz, sondern ebenso auf dem Rücken, der Brust, den Oberschenkeln beziehungsweise dem Gesäss und der Scham. Die dort lokalisierten Triebe unterstehen, so die Bildbotschaft, in besonderem Masse dem Teufel und führen ein Eigenleben, mit eigenem Gesicht. Die erschreckenden und monströsen Züge der Teufel kulminieren im ausgehenden 15. und frühen 16. Jahrhundert in den phantastischen Dämonenwesen eines Martin Schongauer, Grünewald, Hieronymus Bosch und anderen. Deren Dämonen haben sich von den Anregungen menschlicher Körper weitgehend gelöst. Ihre vielfältige, effektvolle und bizarre Gestaltungsweise verdeutlicht die Faszination, die für die Künstler von den unbezähmbar bösen Wesen ausging. Die dämonischen Körper sind zu Zerrbildern

Die nackten Körper der Verdammten Weltgerichtsdarstellungen veranschaulichen die endzeitliche Scheidung der Guten von den Bösen (s. Matthäus 25, 31ff.). Sie sind deshalb wichtig für die Frage nach den Repräsentationen des Bösen am menschlichen Körper. 6 Wie den Teufelsdarstellungen eignet ihnen ein explizit didaktisch-moralischer Zweck: Sie wollen die Gläubigen zur guten christlichen Lebensführung motivieren, indem sie die Schrecken der ewigen Qualen in der Hölle dem Einzug der Seligen ins Paradies und der göttlichen Ordnung gegenüberstellen. Diese Grundaufgabe erfüllt die grossformatige Wandmalerei auf der Innenwand einer Kirche, das skulptierte Tympanon über dem Eingang einer Kathedrale ebenso wie ein detailreiches Altarbild auf einem Altar im Kircheninnern oder eine winzige Buchmalerei in einem Gebetbuch für den persönli-

Abb. 4: Giotto di Bondone, Die Hölle, 1303–1305 Fresko, Padua, Scrovegni-Kapelle Ausschnitt aus der Weltgerichtsdarstellung an der Westwand

Abb. 7: B erswordt-Meister, Die Kreuzigung Christi, Ausschnitt aus Mitteltafel des BerswordtRetabels, um 1385, Tempera auf Holz, Dortmund, Marienkirche

6 Eine knappe Einführung zu den mittelalterlichen Weltgerichtsvorstellungen findet sich bei Peter JEZLER, Jenseitsmodelle und Jenseitsvorsorge. Eine Einführung, in: Peter Jezler (Hg.), Himmel, Hölle, Fegefeuer. Das Jenseits im Mittelalter, Ausstellungskatalog Zürich, Schweizerisches Landesmuseum und Köln, Schnütgen-Museum, Zürich 1994, 13–26. Zahlreiche Höllendarstellungen ebenda, Kat. 139–152, 350–368.

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chen meditativen Gebrauch. Eine dualistische Komposition prägt die untere Hälfte von Weltgerichtsbildern: Während Christus als Weltenrichter oben auf der Mittelachse angeordnet ist, oft begleitet von Engeln, Maria und Johannes dem Täufer als Fürbittern, den Aposteln oder Heiligen, steht in der unteren Bildhälfte die Hölle mit den Verdammten dem Einzug der Seligen in den Himmel gegenüber. So zeigen es auch die Fresken von Giotto di Bondone an der Westwand der Arenakapelle, die Giotto von 1303 bis 1305 im Auftrag von Enrico Scrovegni ausführte, einem reichen und mächtigen Bürger von Padua und Sohn eines Wucherers (Abb. 4). Dem ordentlichen Aufsteigen der Geretteten in massvollen Bewegungen antwortet der wenig gegliederte, von roten Feuerzungen eingefasste, blauschwarze Raum der Hölle. Die Geretteten sind alle in gleichartige, weich wallende Gewänder gekleidet. In einer einheitlichen Gruppe schreiten sie himmelwärts, ihre rechte Hand jeweils erhoben, den Blick staunend auf das Kreuz der Parousie gerichtet. Auf der gegenüberliegenden Seite heben sich die Verdammten deutlich vom dunklen Höllenhintergrund ab: Sie sind nackt, ihre hellen Körper springen ins Auge, ihre wilden, oft unnatürlich verdrehten Körperhaltungen geben dieser Bildhälfte einen hastigen, unruhigen Rhythmus. Nicht so sehr der unterschiedliche Körperbau bezüglich Umfang, Alter oder Unversehrtheit der einzelnen Verdammten ist ausschlaggebend. Da nach mittelalterlicher Vorstellung die Geretteten wie die Verdammten bei der Auferstehung das Alter haben, in dem Christus gestorben ist, wird der Auferstehungsleib weder durch Alter noch durch körperliche Defekte markiert. Merkmal des Bösen ist die Nacktheit, hinzu kommen Haltung und Gestik. Die Verdammten sind in unnatürlich bewegten, oft überdrehten Körperhaltungen dargestellt. Sie stürzen in den Abgrund, kopfüber und damit förmlich in verkehrter Ordnung, sie spreizen die Bei-

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ne, reissen die Arme empor, werfen die Köpfe zurück und überbiegen die Oberkörper. Geiz, Wucher und Wollust scheinen verbreitete Sünden in Giottos Hölle gewesen zu sein. Während auf erstere in der Regel ein Geldbeutel oder einzelne Geldstücke hinweisen, symbolisieren betonte Geschlechtsmerkmale die Sünde der geschlechtlichen Lust. Typisch ist die Bestrafung am «sündigen Glied”, denn sie macht die Logik der Höllenstrafen für die zeitgenössischen Betrachterinnen und Betrachter nachvollziehbar und fördert die belehrend-abschreckende Wirkung der Bilder. So hängen am rechten oberen Rand der Höllenhöhle, unterhalb der markanten hellroten Felsen, vier nackte Gestalten an einem dürren Ast: Der erste, dank seiner Tonsur als ein Mönch zu identifizieren, ist an der Zunge aufgehängt – er dürfte ein Lästerer sein. Die Frau neben ihm ist an ihren geflochtenen Zöpfen aufgeknöpft – sie wird wohl für eheliche Untreue bestraft, während das kopfüber an den Geschlechtsteilen hängende Paar offenbar gemeinsam Unzucht begangen hat. Bei Mann und Frau wird hier die sexuelle Begierde an den Geschlechtsteilen festgemacht. Häufiger sind, überblicken wir die gesamte Bildfläche, geschlechtsspezifische Unterschiede: Bei den Männern manifestiert sich in der Bildsprache von Giottos Hölle die sexuelle Lust an ihrem Glied, während sie bei den Frauen durch deren lange, offene Haare repräsentiert wird. Mehrfach jedenfalls sind Teufel dargestellt, die mit Zangen und anderen Marterwerkzeugen Männer am Penis bestrafen, während Frauen von den Dämonen grob an den Haaren gerissen werden. Auch bei dem eben erwähnten unkeuschen Paar wird der Mönch am Geschlechtsteil aufgehängt, die Frau aber zusätzlich von einem Teufel an ihren langen Haaren gezogen. Auch Judas begegnet uns auf Giottos Weltgerichtsdarstellung wieder: Er baumelt auf der Höhe der Schultern des Höllenfürsten am linken Rand der Höhle, den Kopf in der Schlinge, mit einem leichten, vorne offe-


Abb. 6: (vorhergehende Seite): Berswordt-Meister, Die Kreuzigung Christi, Mitteltafel des Berswordt-Retabels, um 1385, Tempera auf Holz, Dortmund, Marienkirche nen Hemd bekleidet. Sein Bauch ist aufgeschlitzt und die Gedärme quellen hervor. Das Motiv geht auf eine legendarische Überlieferung zurück, der gemäss die Seele des Verräters Judas bei seinem Tod nicht, wie üblich, durch den Mund, sondern durch eine gewaltsame Öffnung im Unterleib entwichen sei. Es wäre, so die Begründung des Verfassers der Legende, unziemlich gewesen, wenn der Mund, den einst Christi Lippen berührten, durch die entweichende verbrecherische Seele geschmäht worden wäre. 7

Geretteten im Himmel und der Verdammten in der Hölle nun den Körperdarstellungen «normaler» Bösewichte zu. Reiches Anschauungsmaterial bieten die Darstellungen moralisch verwerflicher biblischer Figuren: der Brudermörder Kain, der Verräter Judas, der böse Schächer, der mit Christus ans Kreuz geschlagen wurde, die Henker, Peiniger, Spieler und Spötter Christi. Vielen dieser Bilder liegt ein einfaches ästhetisches Konzept zu Grunde: Körperliche Unversehrtheit und Schönheit ist ein Zeichen für das moralisch Gute und die Reinheit, Hässlichkeit, Verletzungen und körperliche Defekte hingen deuten auf Unreinheit und Bosheit.

Rote Haare, knollige Nasen, dicke Lippen: die Spötter, Verräter und Henker Christi Wenden wir uns nach den dämonisch-fantastischen Körpern der Teufel, den Auferstehungsleibern der

Die christliche Deutung körperlicher Defekte konnte sich auf die biblische Textstelle zum Ausschluss vom

7 Die Legenda aurea des Jacobus von Voragine, aus dem Lateinischen übersetzt von Richard Bern, Heidelberg 41963, 234.

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Priesteramt wegen Unreinheit berufen (3. Moses 21, Kreuzigungsszene des so genannten Berswordt-Meis16–21): Nicht zum Priesterdienst zugelassen ist, wer ters aus der Marienkirche in Dortmund herausgegrifblind oder lahm ist, eine zu grosse, zu kleine oder ver- fen. Eine wohlhabende Bürgerfamilie gab es für die stümmelte Nase hat, einen gebrochenen Fuss oder südliche Kapelle der Stadtkirche wohl um 1385 in Aufeine gebrochene Hand, wer bucklig oder schwind- trag (Abb. 5). Das auf der Mittelachse hoch aufgerichsüchtig ist, einen Fleck im Auge hat, an Krätze leidet, tete Kreuz scheidet die Bildfläche in zwei Hälften: Zur mit Flechten behaftet ist oder einen Bruch hat. Diese Rechten Christi die Heiligen, die schon zu Lebzeiten alttestamentarischen Vorstellungen über die kultische Christus nachfolgten, und im Hintergrund der gekreuReinheit eines Priesters erwiesen sich als zählebig. Bis zigte gute Schächer, auf der linken Seite sind mehrin die Moderne hinein blieb etwa im Kirchenrecht des heitlich die negativen Personen dargestellt. Zwar steht lateinischen Westens die körperliche Unversehrtheit dort auch die Figur des guten Hauptmanns, der im die Voraussetzung für den Empfang höherer kirchli- sterbenden Christus den wahren Sohn Gottes erkennt cher Weihen. Umgekehrt machte sich die mittelalter- – er ist durch eine helle Gesichtsfarbe und regelmässiliche Bildsprache jene Konnotationen zu Nutze, um ge, feingliedrige Gesichtszüge gekennzeichnet – die Soldaten aber, die ihn umgeben, haben keinen Anteil moralische Wertungen anzuzeigen. an der erlösenden Erkenntnis ihres Hauptmanns. Die Passionsbilder des Spätmittelalters entfalten ein breites Spektrum an Körper- und Gesichtsdarstellun- Verschiedene körperliche Merkmale unterstreichen gen von den Verrätern, Peinigern und Henkern Christi. diese Charakterdifferenz: Die Gesichter der römiAls ein Beispiel unter vielen sei das Altarbild mit einer schen Soldaten, die den guten Hauptmann umgeben,

Abb. 8: J udas als Knabe und als junger Mann, Randillustrationen zur Judaslegende aus dem so genannten Klosterneuburger Evangelienwerk, wohl Oberösterreich, um 1335, Schaffhausen, Stadtbibliothek, Gen. 8, fol. 224r

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Abb. 1: Selbstmord des Judas, um 1130–1140, Kapitell aus dem Langhaus der Kathedrale SaintLazare Autun, Kapitelsaal


sind von dunklerer Hautfarbe. Besonders ins Auge fällt ten. Hinzu kommt hier die auffallend rötliche Haut, die das braune Gesicht der Figur rechts des Hauptmanns, Ausgrenzung und Verworfenheit markiert. Helle Haut bildnerisch effektvoll von einem orangeroten Hemd wird auf diesem Bild mit absoluter Reinheit assoziiert. und einer roten, turbanartigen Kopfbedeckung ge- Die beiden weissesten Stellen auf dem Gemälde sind rahmt. Ein ausgefranster dunkler Bart, ein Schnurrbart, der Körper Christi und der weisse Mantel der Gotteseine lang gezogene, markante Hakennase, tief liegen- mutter. Der böse Schächer hat nicht nur eine rötliche de Augenhöhlen und schwarze Pupillen, die sich vom Haut, sondern auch rotes Haar und einen schmalen, Weiss des Augapfels deutlich abheben, kennzeichnen roten Spitzbart. Rotes Haar ist, wie die materialreiche das Antlitz des Soldaten. Noch stärker überzeichnet Zusammenstellung von Ruth Mellinkoff zeigt, gerasind die Gesichtszüge der drei Knechte in der rechten de in der spätmittelalterlichen Kunst des deutschen unteren Ecke der Bildtafel: Sie kauern sich gekrümmt Sprachraums ein bewährtes Mittel, Diffamierung ausüber dem einst purpurfarbenen Gewand Christi zu- zudrücken. 9 Zur Kontrastierung des guten und des sammen und verlosen dieses im Würfelspiel unter bösen Schächers wird es hier, nach Mellinkoff, zum sich (Abb. 6). Insbesondere die beiden vordersten Fi- ersten Mal eingesetzt. guren haben markant deformierte Gesichtszüge und sind ausserdem im Profil dargestellt. Die Profilansicht Die negative Konnotation der roten Haarfarbe ist keiwurde im Mittelalter vorzugsweise für verwerfliche ne mittelalterliche Erfindung, Belege dafür reichen Personen verwendet, gibt sie doch das Gesicht nicht bis ins Alte Ägypten zurück. 10 Besonders häufig wird «ganz», sondern nur partiell wieder. Der gelb geklei- Judas rothaarig dargestellt – ein Beispiel hierfür ist dete Spieler hat eine kurze, knollige Nase, dicke rote das bereits oben erwähnte Klosterneuburger EvanWulstlippen und ein vorstehendes Kinn. Seine Stirn ist gelienwerk, in das eine ausführliche Fassung der Lestark gewölbt, die Nasenwurzel verdickt und die Brau- gende von Judas’ Kindheit, Jugend und Werdegang en wulstartig zusammengezogen. Sein Gegenüber, aufgenommen wurde (Abb. 7). Mit sicherer Hand geder Spieler im hellgrauen Hemd, hat ebenfalls eine zeichnete, farbig kolorierte Randillustrationen greimarkante Physiognomie: Das Gesicht wird dominiert fen die wichtigsten Ereignisse heraus. Die Szenen von der grossen spitzen Hakennase mit einem gebro- zeigen, rechts oben beginnend, wie Judas als Junchenen Nasenbein. Unter der wulstigen Lippe öffnet ge seinen Stiefbruder an den Haaren zieht und mit sich der Mund, über dem weit vorgeschobenen Kinn der Faust bedroht, wie er hierfür von seiner Mutter liegt die herausgestreckte Zunge. 8 Vom Ebenmass der auf den entblössten Hintern geschlagen wird, und in ovalen Gesichter mit geschlossenen Umrissen, klei- der dritten Szene wie er seinen Stiefbruder, der die nen Augen, schmalen feinen Nasen und kleinen, stets Bestrafung spöttisch mitverfolgt hatte, kurzerhand ergeschlossenen Mündern der Heiligen unterscheiden schlägt. Durchgängig wird (wie in den vorhergehenden und nachfolgenden Szenen der Handschrift) Judas mit sich diese Physiognomien deutlich. leuchtend roten, krausen Haaren dargestellt. Sie sind Zur Rechten Christi hängt der gute Schächer am Kreuz. Zeichen seiner impulsiven Gewalttätigkeit, die sich in Seine Seele entsteigt in Form eines kleinen mensch- der Tötung seines Stiefbruders und, auf derselben lichen Figürchens seinem Mund und wird von einem Buchseite am unteren Rand dargestellt, in der ErmorEngel empfangen. Dem bösen Schächer zur Linken dung seines (unerkannten) leiblichen Vaters manifesChristi zerrt ein Dämon die Seele aus dem Leib. Die tiert – Handlungen, die in der Legende den Verrat an unterschiedliche Gestaltung der beiden gekreuzigten Christus vorwegnehmen. Körper verdeutlicht die zeitgenössischen Konnotationen: Der Brustkorb und die Unterarme des bösen Schächers sind etwas breiter, die Abwinklung der «Narrenfreiheit» – Körperbilder in Randzonen Arme stärker und speziell der Kopf wird unnatürlich Nicht allen spätmittelalterlichen Körperdarstellungen weit nach rechts gedreht. Starke Körpertorsion, Ver- eignet die eindeutige moralische Auslegung der Kördrehung der Glieder und unnatürliche Kopfhaltungen perhaltungen und einzelner physiognomischer Merksind, wie bereits gezeigt wurde, auf Höllenbildern male wie den Weltgerichts- und Passionsdarstellungen. ein bewährtes Mittel zur Entwertung der Verdamm- Diese Bilder rekurrieren aufgrund ihres Öffentlich-

8 Zu negroiden Physiognomien MELLINKOFF, Outcasts, Band 1. 9 Ebenda, 155. 10 Ebenda, 147–150.

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keitscharakters und einer vorwiegend didaktisch-erzieherischen Funktion auf ein visuell eingängiges dualistisches Körperbild, das prinzipiell Schönheit mit dem moralisch Guten und Hässlichkeit mit dem Bösen verbindet. Allerdings gibt es auch hier Ausnahmen: Der Teufel als schöner, verführerischer höfischer Jüngling erscheint schon an Kathedralportalen des 13. Jahrhunderts. Erst wer diesen Fürst der Welt von hinten betrachtet, erkennt die Kröten, Würmer und das Ungeziefer, das seinen Rücken besetzt hält. Die Zwiespältigkeit von körperlicher Schönheit und ihrer potentiellen Gefahr für das Seelenheil der Gläubigen widerspiegelt sich auch in der mittelalterlichen Bilderwelt. Oft ist es erst der Kontext, der die Interpretation einer Darstellung eindeutig macht. Der Ort und die damit einhergehende Funktion eines Bildmotivs sind entscheidend für seine Auslegung. Nicht von ungefähr sind es die Blattränder von reich illuminierten

Abb. 10: Nackte Tänzerin, Randzeichnung zu De physiognomia von Pseudo-Aristoteles, Italien, letztes Drittel des 13. Jahrhunderts, Schlatt, Eisenbibliothek, Stiftung der Georg Fischer AG, Ms. 20, fol. 25r

spätmittelalterlichen Gebetbüchern, auf denen in ungewohnter Vielzahl nackte Körper oder Körperteile auftreten. Gebildete, oft adlige Personen brauchten solche Handschriften vorwiegend für ihre private religiöse Andacht. In diesen Randzonen, den Marginalien, wurden gegebene Hierarchien umgekehrt, und man erlaubte sich Widersinnigkeiten, Spässe, Witze, ironische Überzeichnungen, Persiflagen, humoristische Motivkombinationen oder gar Obszönitäten. 11 Auf dem schmalen Streifen Pergament am Blattrand, in unmittelbarer Gegenüberstellung und eindeutiger Unterordnung unter die heiligen Texte finden sich Bildmotive von schillernder Zwiespältigkeit: Ein jugendlich schöner Körper beispielsweise,der in der unteren Hälfte in ein Dämonenwesen übergeht (Abb. 8). Das Gesäss ziert ein Dämonengesicht, in der Afteröffnung steckt ein trompetenartiges Instrument, anstelle des Penis öffnet sich ein gebogener Trichter, aus dem eine Flüssigkeit spritzt. Die einzelnen Motive sind uns aus den Höllendarstellungen vertraut. Ob aber

Abb. 9: R andbordüre aus dem Gebetbuch Karls des Kühnen, Burgundische Niederlande, um 1470, Los Angeles, The J. Paul Getty Museum, Ms. 37, fol. 32v

11 Grundlegend dazu: Michael CAMILLE, Images on the Edge. The Margins of Medieval Art, London 1992.

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die Deutung des Mischwesens ausschliesslich negativ verstanden werden sollte, bleibt wohl absichtsvoll offen. Die feine zeichnerische Darstellung, die delikate Farbigkeit und die humorvolle Motivkombination mit dem papageienähnlichen Vogel über dem Kopf des Mischwesens deutet nicht nur auf die Freude und Faszination des Künstlers, sondern legt auch denBetrachtern und Betrachterinnen nahe, an dem hybriden Mischwesen aus Schönheit und Monstrosität Gefallen zu finden.

Zöpfe identifizieren sie als Frau, weniger ihr Körperbau und die kaum ausgeformten Geschlechtsmerkmale. Die vom Künstler oder seinem Auftraggeber intendierte inhaltliche Deutung der Aktdarstellung bleibt in der Schwebe. Ein direkter Bezug zum nebenstehenden Text, der mit allgemeinen methodologischen Überlegungen zur Physiognomie und den Körpermerkmalen von Mensch und Tier einsetzt, ist nicht auszumachen. Die wohl im 14. Jahrhundert in hellbraunen Lettern unter die Zeichnung gesetzte grobe lateinische Schimpftirade auf die Sündhaftigkeit der Frauen ist eine Rezeption aus dem Spätmittelalter, die eines empörten Mannes, vermutlich eines Geistlichen. Die durch rhetorische Mittel gesteigerte Emotionalität dieses späteren Spruches verweist hintergründig auf die dem Bild inhärente Doppeldeutigkeit. Sie wird viele Zeitgenossen angezogen und erschreckt haben: Die nackte Figur, deren ausgeprägte Gestik an das zwielichtige Treiben von Gauklern, Spielleuten und Tänzern erinnert, ist ein ebenso faszinierendes wie abstossendes Bild sinnlicher Schönheit. Nicht alle mittelalterlichen Bilder bestätigen die einfache ästhetische Gleichsetzung des Guten mit dem Schönen und des Hässlichen mit dem Bösen. Es gibt Gegenstimmen, Vieldeutigkeiten und Widersprüchliches: Auch schöne Körper konnten «böse» sein, und «Böses» war zuweilen abstossend und attraktiv zugleich. Susan Marti

Noch schwieriger zu deuten ist eine äusserst ungewöhnliche mittelalterliche Aktdarstellung, die im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts in Italien entstanden ist (Abb. 9). Sie findet sich auf dem äusseren Blattrand einer Sammelhandschrift mit naturkundlichen Texten von Aristoteles, Pseudo-Aristoteles, Albertus Magnus und Michael Scotus. Über den Auftrag, die Besitzgeschichte und die Entstehungsumstände der Handschrift ist wenig bekannt. 12 Die Abschrift der pseudo-aristotelischen Schrift De physiognomia wird eingeleitet von einer Initiale mit einer kleinen, nackten und etwas unbeholfen gezeichneten Männerfigur auf Goldgrund. Wie in den vorhergehenden Kapitelinitialen deutet das gewählte Bildmotiv in knapper Form das Thema der anschliessenden Abhandlung an. Den Rand aber ziert eine elegante, äusserst gekonnt gezeichnete und mit Weisshöhungen plastisch durchgebildete, gänzlich nackte Tänzerin. Die langen, über die emporgehobenen Arme geworfenen geflochtenen

12 GAMPER, MARTI, Handschriften, S. 50.

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