IG-01_Internationale Gewerkschaftsarbeit

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Walter Sauer

Internationale Gewerkschaftsarbeit

IG 1

Internationale Gewerkschaftsarbeit

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Internationale Gewerkschaftsbewegung


Internationale Gewerkschaftsbewegung 1

Internationale Gewerkschaftsarbeit


Walter Sauer

Internationale Gewerkschaftsarbeit

Dieses Skriptum ist für die Verwendung im Rahmen der Bildungsarbeit des Österreichischen G ­ ewerkschaftsbundes, der Gewerkschaften und der Kammern für Arbeiter und Angestellte bestimmt.


Inhaltliche Koordination: Marcus Strohmeier

Zeichenerklärung

Hinweise Beispiele Zitate

Stand: September 2014 Impressum: Layout/Grafik: Walter Schauer, Dietmar Kreutzberger Layoutentwurf/Umschlaggestaltung: Kurt Schmidt Medieninhaber: Verlag des ÖGB GmbH, Wien © 2014 by Verlag des Österreichischen Gewerkschaftsbundes GmbH, Wien Herstellung: Verlag des ÖGB GmbH, Wien Verlags- und Herstellungsort: Wien Printed in Austria

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Inhalt Einleitung 6 Weltweite Vernetzung oder: Der Weg zu einer Gegenmacht

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Gewerkschaften und internationale Organisationen

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Die multilaterale Ebene

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Der Kampf um soziale Grundrechte

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Organisierung und Mobilisationsskraft

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Grenzüberschreitender Rechtsschutz

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Gewerkschaftliche MigrantInnenorganisationen

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Die Interregionalen Gewerkschaftsräte (IGRs)

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Umgang mit der internationalen Vernetzung des Kapitals?

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Solidaritätsaktionen für die KollegInnen in Konzernbetrieben

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Globale Rahmenabkommen

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OECD – Leitlinien für multinationale Konzerne

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Europäische Betriebsräte

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Abschließende Bemerkungen

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Einleitung In Gewerkschaftskreisen wird viel über die sogenannte Globalisierung geklagt – aber gleichzeitig ist das Interesse an internationaler (Wirtschafts-)Politik und internationaler Zusammenarbeit eher gering. Manchmal wird gar die Meinung vertreten, es komme nur auf die Betriebsarbeit an, alles andere sei weniger wichtig. Ist internationales Engagement also zweitrangig? Vielleicht gar nur „Herumreisen“ – eine Art von „gewerkschaftlichem Tourismus“? Ich sehe das natürlich anders. Zwar wird niemand bestreiten, dass betriebliche Arbeit einen unverzichtbaren Teil der gewerkschaftlichen Interessensvertretung darstellt und dass jede Gewerkschaftsbewegung ein starkes Fundament in den Betrieben haben muss. Genauso aber trifft es zu – das zeigt nicht zuletzt die Geschichte der Arbeiterbewegung sehr deutlich –, dass für Gewerkschaf­ten auch die Gestaltung der überbetrieblichen Rahmen­bedingungen ein ­Anliegen sein muss, wenn sie im Betrieb erfolgreich sein wollen – und zwar auf nationaler ebenso wie auf internationaler Ebene. Im eigenen Land ist z. B. die Mitgestaltung von Arbeitsgesetzgebung, Sozial- und Wirt­schaftspolitik, Gesundheitsschutz usw. genauso eine unverzichtbare Voraussetzung für die betriebliche Interessensvertretung wie die Sicherung von Demokratie und Menschen­rechten (sind wir übrigens sicher, dass diese bei uns nie mehr gefährdet sein könnten?). Gleiches gilt aber auch international: Als Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen treten wir für weltweite soziale Gerechtigkeit ein (also dafür, die antisoziale Globalisierung der heutigen Zeit zu stoppen) oder für die Sicherung des Friedens, der in Zeiten einer Wirt­schaftskrise immer gefährdet ist. Und daher müssten angesichts des stärkeren Zusammen­wachsens von Volkswirtschaften und Kulturen – sowohl auf EU-europäischer als auch auf globaler Ebene – internationale Fragen immer mehr an Bedeutung für das gewerkschaftli­che Handeln gewinnen. Dass dies manchen Kollegen und Kolleginnen so nicht bewusst ist, hat verschiedene Grün­de. Einer davon ist das generelle Desinteresse eines Teils der österreichischen Bevöl­kerung an Außenpolitik – Ergebnis der jahrzehntelangen Informationsverhinderung durch einige große Medien. Auch mangelnde Sprachkenntnisse sind ein Faktor, also das Resultat der traditionellen Benachteiligung der ArbeitnehmerInnenschaft im Bereich Bildung.

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1 Die Folge dieses Desinteresses jedenfalls ist, dass viele ArbeitnehmerInnen sich als Opfer von an­geblich undurchschaubaren und unbeeinflussbaren internationalen Zwängen (z. B. der „Globalisierung“) erleben und nicht als AkteurInnen zur Gestaltung einer anderen Ordnung. Auch dadurch wird der Boden für Fremdenfeindlichkeit und Provinzialismus bereitet. Das vorliegende Skriptum will dazu beitragen, diese Situation durch eine umfassende Information über gewerkschaftliche Handlungsmöglichkeiten auf internationaler Ebene zu verbessern. Daher geht es hier weniger um unsere politischen Ziele, sondern eher um die Instrumente, die uns zur Verfügung stehen, um diese Ziele zu erreichen. Natürlich ist die Gewerkschaftsbewegung heute in vieler Hinsicht mit neuen Herausforderungen konfrontiert und oft hinken wir den Strategien der Unternehmerseite nur hinterher. Anders, als dies in früheren Zeiten der Fall war, steht unsere internationale Arbeit heute vor einer weltwirtschaftlichen Situation, „in der das Kapital die technischen und politischen Möglichkeiten hat, sich grenzenlos frei zu bewegen“, wie es Dan Gallin, früherer Generalsekretär der Gewerkschaften im Lebensmittel-, Landwirtschafts- und Tourismusbereich (IUL), formulierte.

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Einleitung Dan Gallin

Wie hat sich die Globalisierung auf die Gewerkschafts­ bewegung international ausgewirkt? Für die Gewerkschaftsbewegung sind die Merkmale der Globalisierung, die uns direkt betreffen: Erstens der enorme Machtzuwachs der transnationalen Konzerne, die gleichzeitig die treibende Kraft und die wichtigsten Nutznießer des Globalisierungsprozesses sind: Das Kapital wird zunehmend international, die Gewerkschaften bleiben national und ihre internationalen Verbände bestehen aus Mitgliedsorganisationen, die in ihrem Denken und Handeln weiterhin national beschränkt bleiben. Zweitens die Schwächung des Staates in seiner Rolle des Verwalters eines sozialen Kompromisses, den das Kapital nicht mehr braucht, weil es nunmehr auf internationaler Ebene operiert und sich somit der politischen Kontrolle der Gesellschaft entziehen kann, einschließlich der Kontrolle ihrer demokratischen Institutionen: Parlamente, Parteien, Gewerkschaften. Weil diese Institutionen immer weniger die Wirtschaftspolitik des Nationalstaates beeinflussen können, entsteht Politikverdrossenheit und eine Krise der Demokratie. Drittens die Entstehung eines globalen Arbeitsmarktes, wo alle arbeitenden Menschen der Erpressung des Kapitals ausgesetzt sind, indem sich Nationalstaaten gegenseitig unterbieten um Investitionen zu erhalten oder anzuziehen. Die Einschränkung oder Aufhebung der Gewerkschaftsrechte gehört zunehmend zum Angebot der Staaten in der Standortkonkurrenz. … Der „globale Arbeitsmarkt“ ist gar kein Markt im herkömmlichen Sinn: es handelt sich hier nicht um Angebot und Nachfrage, sondern um Eingriff des Staates in seiner brutalsten Form. Viertens die Struktur der Unternehmen verändert sich. Es entstehen Riesenkonzerne durch Fusionen, die in der Regel von Massenentlassungen begleitet werden. Im typischen modernen Unternehmen schrumpft die festangestellte Belegschaft auf einen Kern von Technikern und hochqualifizierten Arbeitern; der größte Teil der Produktion wird an Zulieferungsbetriebe ausgelagert; diese lagern weiter aus, bis man zum Kleinstbetrieb und zu der Heimarbeit kommt. Während somit die traditionelle Mitgliedschaft

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1 der Gewerkschaften schwindet, wächst der sogenannte „informelle Sektor“, jetzt auch in entwickelten Industriestaaten: es sind Millionen von Arbeitern, mehrheitlich Frauen, die meistens keine gewerkschaftliche Erfahrung haben: Es entsteht eine neue Arbeiter­ klasse, die mit neuen Methoden organisiert werden muss … Das sind, in groben Zügen, die negativen Folgen der Globlisierung. Es gibt aber auch positive Folgen. Die wichtigste Entwicklung ist, dass sich eine organisierte „Zivilgesellschaft“ formiert, in dem gesellschaftlichen Leerraum, der früher hegemonisch von der Arbeiterbewegung und ihren Nebenorganisationen besetzt war. Die NGOs (Nichtregierungsorganisationen – NROs) sind Ausdruck dieser neuen Zivilgesellschaft. Viele von ihnen – nicht alle, aber wahrscheinlich der größte Teil – haben sich teilweise die alten politischen Ziele der Arbeiterbewegung angeeignet: die Menschenrechtsorganisationen verteidigen die Forderung nach Freiheit und Gerechtigkeit, einschließlich Gewerkschaftsrechte; die „Frauenfrage“ wird zur „Männerfrage“, und die Forderung nach Gleichheit wird durch den Druck der Frauenorganisationen überall in der Gesellschaft durchgesetzt, auch in den Gewerkschaften; die Umweltkrise erzeugt Diskussion über den Sinn der Produktion und das Wesen einer auf die Dauer lebensfähigen Gesellschaft. Auch im „informellen Sektor“ entstehen spontan gewerkschaftliche, oder gewerkschafts­ ähnliche, Organisationen. Das sollte keine Überraschung sein: Es sind die arbeitenden Menschen, die sich organisieren, wo immer sie es können, um aufrecht zu gehen statt sich zu unterwerfen. Ein Beispiel: die „Self Employed Women‘s Association“ (SEWA) in Indien, die Frauen in unregulierten Arbeitsverhältnissen (Heimarbeiterinnen, Marktverkäuferinnen usw.) organisiert: sie ist zugleich Gewerkschaft, Frauenbewegung und Genossenschaftsbewegung. Sie hat inzwischen über vierhunderttausend Mitglieder … Die neuen Kommunikationstechnologien, die dem Kapital ermöglicht haben, sich zu globalisieren, stehen auch uns zur Verfügung. Sie sind schon für viele Millionen zugänglich. Die technischen Voraussetzungen einer schlagkräftigen internationalen Bewegung sind kein Problem mehr; es gilt nun, die politischen Voraussetzungen zu schaffen. [Aus: Globalisierung, Globalisierungskritik und die Arbeiterbewegung, Vortrag von Dan Gallin (Global Labour Institute, Genf), 29. Januar 2002]

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Einleitung Es besteht aus unserer Sicht daher die Notwendigkeit, diese Form der Globalisierung in ihre Schranken zu weisen – d. h. sie an sozialverträgliche Spielregeln zu binden, sie im Interesse des Gemeinwohls wieder zu begrenzen. Das erfordert politische Maßnahmen wie beispielsweise die Einführung einer ­Finanztransaktionssteuer zur Eindämmung der Spekulation, die Wiedererrichtung von Zollschranken zum Schutz der Volkswirtschaften ärmerer Länder, die Beschlussfassung von Vorschriften für das Investitionsverhalten multina­ tionaler Konzerne u. a. m. Viele dieser Forderungen erheben nicht nur wir, sondern auch globalisierungs­ kritische Nichtregierungsorganisationen, z. B. ATTAC, die bewiesen haben, dass sie große Teile der Öffentlichkeit mobilisieren können. Unser spezifischer Beitrag als Gewerkschaften kann aber z. B. darin liegen, dass wir nicht nur von außen, sondern auch von innen (etwa als Arbeit­nehmerInnen­ vertretungen in Konzernen und Firmen) agieren können. Und diesen Vorteil sollten wir nutzen. Ansatzpunkte für internationale Gewerkschaftspolitik ergeben sich also in folgender Hin­sicht: erstens durch die globale Wirtschaftsentwicklung, deren Regulierung eine intensive globale Vernetzung und Präsenz (auch) der Gewerkschaften erfordert (erstes Kapi­tel); zweitens durch den Umstand, dass Sozialabbau und Deregulierung von sozialen Schutzbestimmungen nur unter Zurückdrängung der Gewerkschaften durchgesetzt werden können, sich im Gleichklang mit dieser Form der Globalisierung also die Frage der Gewerkschaftsfreiheit immer dringlicher stellt (zweites Kapitel); weiters durch die zunehmende Mobilität der Arbeitskraft und die damit verbundene Zunahme prekärer (informeller) Arbeitsverhältnisse (drittes Kapitel); und schließlich durch die Macht­ position multinationaler Konzerne als zentraler Akteure der Globalisierung, die aus unserer Sicht mehr denn je gewerkschaftlich kontrolliert werden müssen (viertes Kapitel).

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1 Es wäre wünschenswert, internationale Gewerkschaftsarbeit von diesen An­ satzpunkten her zu verstärken, damit letztendlich die Spielregeln des wirtschaft­ l­ichen und politischen Systems nicht nur von PolitikerInnen und Wirtschafts­ kapitänen gestaltet werden, sondern auch von der Gewerkschaftsbewegung als ­einer – vielfach noch in Aufbau befindlichen – Gegenmacht.1

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I ch möchte mich an dieser Stelle bei allen Kolleginnen und Kollegen bedanken, die durch ihre Erfahrungen und Ratschläge zur Entstehung dieses Skriptums beigetragen, aber auch meine Tätigkeit als Internationaler Sekretär des ÖGB wesentlich bereichert haben. Aus dem internationalen Bereich seien stellvertretend für viele (in alphabetischer Reihenfolge) genannt: Jaroslava Bauerova, Jürgen Buxbaum, Plamen Dimitrov, John Evans, Susanna Florio, Dan Gallin, Rainer Girndt, Paul Gruselin, Károly György, Grigor Gradev, Frank Hantke, Erika Koller, Alan Leather, Zdenek Malek, Erik Mazak, Leo Mesmans, Eva Meštanova, Anna Oulatar, Cinzia del Rio, Clemens Rode, Guy Ryder, Roland Schneider, Dana Stechova, Kari Tapiola, Pavle Vrhovec, Jerry Zellhoefer; aus Österreich: Elisabeth Beer, Neda Bei, Éva Dessewffy, Andreas Gjecaj, Wolfgang Greif, Thomas Kattnig, Erich Klarer, Gernot Mitter, Eva Müller, Karl-Heinz Nachtnebel, Richard Ondraschek, Gerhard Riess, Oliver Röpke, Martina Schneller, Marcus Strohmeier, Harald Voitl, Sepp Wall-Strasser, Valentin Wedl. Ich gedenke auch jener, die nicht mehr unter unserer „internationalen Community“ weilen: Vlastimil Beran, Jeliazko Hristov, Igor Lensky, Heribert Maier, ­Evgeny Sidorov.

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Weltweite Vernetzung oder: Der Weg zu einer Gegenmacht Das derzeitige Globalisierungsmodell verteilt die Vorteile der Globalisierung nicht gerecht. Es sorgt nicht dafür, dass alle Länder die Möglichkeit einer ausgewogenen Entwicklung haben, und es hat bisher keine nennenswerten Fortschritte bei der Beseitigung der weltweiten Armut und tief verwurzelter Ungleichheiten erzielt. Die globale Krise ist eine direkte Folge des Versäumnisses der internationalen Gemeinschaft, den allein von der Dynamik der Deregulierung, der Liberalisierung und der Privatisierung angetriebenen Globalisierungsprozess in angemessener Weise zu regulieren und zu steuern. Der derzeitige Marktfundamentalismus muss daher durch eine kohärente Politik zugunsten einer sozialen Dimension der Globalisierung ersetzt werden, mit menschenwürdiger Arbeit als vorrangigem Ziel und auf der Grundlage der Ratifizierung und uneingeschränkten Umsetzung internationaler Arbeitsnormen. IGB-Generalsekretärin Sharan Burrow (2010) Die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise hat es deutlich gemacht: Selten zuvor in der Geschichte war die Notwendigkeit eines globalen Systemwechsels in Sachen Wirtschafts-, Umwelt- und Sozialpolitik so deutlich wie heute, selten aber auch das Unvermögen, alternative Vorstellungen politisch zu realisieren, so groß. Welche Rolle spielen die Gewerkschaften in diesem weltweiten Ringen um eine nachhaltige, sozial gerechte und demokratische Zukunft? ­ ­Welche Aktionsmöglichkeiten haben sie, um sozial- und umweltverträgliche Spielregeln der Globalisierung (wieder) einzuführen? Und wie kann internationale Gewerkschaftspolitik dazu beitragen, Position und Einfluss der Gewerkschaften weltweit zu stärken?

Gewerkschaften und internationale Organisationen Wer regiert die Welt eigentlich? Sicher jedenfalls nicht die Arbeiterbewegung, und ebenso nicht die Milliarden von Menschen, die in absoluter oder relativer Armut leben, in prekären Arbeitsverhältnissen, in oft katastrophalen Wohn- und Gesundheitsverhältnissen, unter Vorenthaltung der elementarsten Menschenrechte. Aber auch nicht die Vereinten Nationen, die ja oft als eine „Weltregie-

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Gewerkschaften und internationale Organisationen

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rung“ angesprochen werden (http://www.un.org). Nicht nur ist die UNO weit davon entfernt, die „Völker der Vereinten Nationen“ zu repräsentieren, wie es ihre Gründungscharta wollte, selbst als Dachverband der Regierungen hat sie in den letzten zwei Jahrzehnten wesentlich an politischem Gewicht verloren und genießt gerade in Fragen der globalen Wirtschafts­entwicklung kaum noch Einfluss. Diejenigen internationalen Institutionen, die heute die Spielregeln setzen (und die dadurch die gegenwärtige Form der Globalisierung erst möglich gemacht haben), sind andere: die sogenannten internationalen Finanzinstitutionen – Internationaler Währungsfonds (http://www.imf.org) und Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (fälschlich Weltbank genannt: http://www.worldbank.org) –, die Welthandelsorganisation (http://www.wto. org) sowie als Netzwerke der acht bzw. zwanzig wirtschaftlich wichtigsten Staaten die „G8“ und die „G20“. Sind die Gewerkschaften in diesen Foren repräsentiert oder haben sie auf diese Einfluss? Na ja, kommt darauf an. Im UN-Bereich genießen die beiden Welt­ verbände (IGB und WGB – siehe unten), mehrere Global Unions sowie einige nationale Bünde den sogenannten „Konsultativstatus“ im Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen – zusammen mit etwa 3.500 weiteren Nichtregierungs­organisationen; der Einfluss ist also minimal. In Bezug auf Internationalen Währungsfonds und Weltbank finden wenigstens regelmäßige Gespräche mit dem Internationalen Gewerkschaftsbund statt, die es ermöglichen, unsere Positionen an EntscheidungsträgerInnen heranzutragen. Auch hier ist der Einfluss gering, außer immer dann, wenn in einzelnen Regionen (zum Beispiel in Osteuropa) politische Instabilität droht und Gewerkschaften daher als Stabilitätsfaktor interessant werden (so viel zur Wichtigkeit einer starken nationalen Basis und von gewerkschaftlichen Kampfmaßnahmen!). Stärker jedoch ist die Position der Gewerkschaften in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung verankert: Der Gewerkschaftliche Beratungsausschuss bei der OECD (TUAC); Die OECD mit Sitz in Paris geht auf die von den USA finanzierten Aktivitäten zum Wiederaufbau (West-)Europas nach dem Zweiten Weltkrieg zurück; dieser MarshallPlan wurde unter Beratung der Sozialpartner durchgeführt. Als 1961 die heutige OECD gegründet wurde, wurde deren Beratungsfunktion in Form zweier Aus-

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Weltweite Vernetzung oder: Der Weg zu einer Gegenmacht schüsse institutionalisiert, des Business and Industry Advisory Committee (BIAC) für die ArbeitgeberInnen und des Trade Union Advisory Committee (TUAC) für die ArbeitnehmerInnen. Mitglieder von TUAC (www.tuac.org) sind derzeit 58 Gewerkschaftsbünde aus den 34 Mitgliedsländern der OECD. Da Österreich der OECD angehört (sogar als Gründungsmitglied), ist auch der ÖGB im TUAC vertreten. Die Bedeutung der OECD heute geht über den ursprünglichen Tätigkeitsbereich Europa bei weitem hinaus, sie ist zu einem weltweiten politischen Thinktank und einer wichtigen Koordinationsinstanz der Industrie- und zum Teil auch Schwellenländer geworden. Neben ökonomischen Fragen im engeren Sinn zählen gesellschaftspolitische Themenbereiche jeder Art zu den Schwerpunkten der OECD – etwa Gesundheit, Bildung („Pisa-Studie“), Arbeitsmarktentwicklung, aber auch Korruptionsbekämpfung, multinationale Konzerne etc. Die Organisation ist über weite Strecken von der Ideologie des Neoliberalismus geprägt und versucht, entsprechende Maßnahmen in den Mitgliedsstaaten durchzusetzen oder zu fördern – beispielsweise Privatisierungen, Abschwächungen sozialstaatlicher Leistungen unter dem Titel „Finanzierbarkeit“ etc. Umso wichtiger ist daher die statutarisch abgesicherte gewerkschaftliche Repräsentanz, durch welche die Mitgliedsorganisationen von TUAC nicht nur Zugang zu Informationen erhalten, sondern auch einen moderaten inhaltlichen Einfluss ausüben können (so geschehen etwa bei der Überarbeitung der Leitlinien für multinationale Konzerne). So wie die Vereinten Nationen, der Internationale Währungsfonds und die Weltbank ist die OECD seit 2008 aktiv an den Treffen der G20 beteiligt – und somit am internationalen Management der Finanz- und Wirtschaftskrise. Die G20 repräsen­tieren etwa 90% des weltweiten Bruttosozial­produkts und 80% des ­Welthandels (aber nur zwei Drittel der Weltbevölkerung). Koordiniert durch TUAC, hat sich in den letzten Jahren die Anwesenheit von Gewerkschafts­ vertreterInnen bei den G20-Treffen zu einem intensiven Lobbying-Event entwickelt. Durch Gespräche mit den Regierungs­teilnehmerInnen bzw. ihren persönlichen VertreterInnen (den sogenannten Sherpas) wird versucht, gewerkschaftliche Vorstellungen zur Bewältigung der Krise und vor allem zur Beseitigung ihrer Ursachen in die jeweiligen Abschlussdokumente einfließen zu lassen. Als

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Gewerkschaften und internationale Organisationen

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ein Erfolg kann inzwischen verbucht werden, dass sich mittlerweile nicht mehr nur die Regierungschefs/-chefinnen und die FinanzministerInnen treffen, sondern auch die ArbeitsministerInnen, wodurch in der G20 Fragen wie Arbeitslosigkeit u. ä. stärker thematisiert werden. Die Internationale Arbeitsorganisation: Wohl am stärksten institutionalisiert ist die Präsenz der Gewerkschaften in der Internationalen Arbeitsorganisation mit Sitz in Genf (www.ilo.org). Die Besonderheit der 1919 gegründeten ILO liegt darin, dass jeder Mitgliedsstaat bei der jährlichen „Internationalen Arbeitskonferenz“ laut Statut durch gleichberechtigte RepräsentantInnen sowohl der Regierung als auch der Sozialpartner („ArbeitgeberInnen“ und „ArbeitnehmerInnen“) vertreten wird. Diese Struktur der ILO wird „dreigliedrig“ („tripartit“) genannt und bedeutet, dass alle (wichtigen) Vorbereitungen und Beschlüsse der ILO in Form eines „sozialen Dialoges“ zwischen Regierungen und Sozialpartnern erfolgen, die Gewerkschaften (ebenso wie die UnternehmerInnen) also über einen hohen Einfluss verfügen. Die Koordination der Gewerkschaften gegenüber dem Internationalen Arbeitsamt, dem Sekretariat der ILO, obliegt dem Internationalen Gewerkschaftsbund, jene der ArbeitgeberInnenorganisation erfolgt durch die International Organisation of Employers (IOE). In beiden Organisationen dürfen nur freiwillige Interessensverbände Mitglied sein, sodass im Fall Österreichs nur der ÖGB bzw. die Industriellenvereinigung (IV) in der ILO vertreten sind, nicht aber die Kammern. Die IAO unterhält ein großes Bildungszentrum in Turin, mit dem der ÖGB seit über fünfzig Jahren zusammenarbeitet (Studienprogramme für afrikanische GewerkschafterInnen). Ihre Ziele versucht die ILO teils durch sogenannte Konventionen, teils durch Erklärungen, Programme technischer Hilfe für die Mitgliedsstaaten oder durch Zusammenarbeit mit anderen internationalen Organisationen oder Staatengruppen (z. B. mit der G20) zu erreichen. Konventionen sind für jene Staaten, die sie ratifiziert haben, völkerrechtlich verbindlich. Verstößt ein Staat gegen eines dieser Übereinkommen, kann Klage gegen ihn erhoben werden (von ArbeitnehmerInnen ebenso wie von ArbeitgeberInnen), was zu einer ausführlichen Diskussion im Normenausschuss der Internationalen Arbeitskonferenz führt. Strafmöglichkeiten besitzt die ILO zwar kaum (nur in besonderen Fällen, so 1999/2000 gegen Burma/Myanmar wegen Zwangsarbeit, wurden die Mitglieder zu wirt-

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Weltweite Vernetzung oder: Der Weg zu einer Gegenmacht schaftlichen und politischen Sanktionen aufgefordert), sie bietet den Sozialpartnern aber eine Plattform, um Regierungen – etwa solche, welche die Gewerkschaftsrechte verletzen – vor einem Forum der Weltöffentlichkeit anzuprangern. Neben der Durchsetzung der Konventionen zählen die weltweite Verbreitung sozialstaatlicher Elemente (z. B. in Form der „social protection floor“, der ein Mindestmaß an sozialem Schutz auch in den ärmsten Ländern ermöglichen soll) und das Eintreten für eine „faire Globalisierung“ zu den Schwerpunkten der ILO, etwa im Bereich der Handelspolitik. Immerhin die meisten in den letzten Jahren abgeschlossenen Handelsverträge sehen mehr oder weniger deutlich die Respektierung der Kernarbeitsnormen vor – zweifellos ein Erfolg der ILO. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (http://www.eesc.europa. eu/?i=portal.de.home): Während die bislang genannten Organisationen von globaler Bedeutung sind, bietet der EWSA für Gewerkschaften eine institutionelle Verankerung im Bereich der Europäischen Union. In diesem Gremium sind (in drei getrennten Gremien) Arbeitgeber­verbände, Gewerkschaften und andere Interessengruppen (etwa Bauern/Bäuerinnen und KonsumentInnen) vertreten; der Ausschuss soll im politischen System der EU also die „organisierte BürgerInnengesellschaft“ repräsentieren. Dem EWSA gehören 344 Mitglieder aus allen Mitgliedsstaaten der EU an (davon 12 aus Österreich), sie werden vom EU-Rat auf Vorschlag der Regierungen ernannt. Sechs der österreichischen Mitglieder kommen aus dem ÖGB bzw. der AK, fünf davon gehören der ArbeitnehmerInnengruppe, eines der Gruppe „Verschiedene Interessen“ an. Der EWSA ist kein Entscheidungsorgan der EU, bietet aber als ein im EU-Vertrag grundgelegtes Beratungsorgan neben dem noch in seinen Anfängen stehenden Sozialen Dialog eine der wenigen Plattformen, auf denen die Gewerkschaften institutionalisiert Lobbying in Brüssel betreiben können. Da der EWSA von der Kommission in der Regel in weiten Bereichen der Binnenmarktpolitik, und zwar in einem sehr frühen Stadium, zur Stellungnahme angerufen wird, sind die Mitglieder im Prinzip umfassend in einen Informationsfluss zur EU-Politikgestaltung eingebunden. Dabei ist es wichtig, soweit möglich in den für die Organisation wichtigen Studiengruppen mitzuarbeiten und dabei unter Ausnutzung der Expertisen des jeweiligen nationalen oder europäischen Gewerkschaftsbundes inhaltlich Positionen zu besetzen.

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Die multilaterale Ebene: Internationale Dachverbände

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Nutzen lässt sich die „Informations- und Kommunikations­dreh­scheibe“ des EWSA auch zur Knüpfung und Pflege internationaler Kontakte zu Sozialpartnerorganisationen in Brüssel und anderen Ländern Europas sowie zu anderen EUOrganen (v. a. den Dienststellen der Kommission). Im ÖGB wurden in letzter Zeit Initiativen gesetzt, die Tätigkeit der EWSA-Mitglieder stärker zu begleiten und den Informationsfluss zwischen Brüssel und Wien auch in diesem Bereich zu verbessern. Die Einflussmöglichkeiten auf die Institutionen der globalen „Regierung“ sind also gering, können aber genutzt werden, um Arbeitnehmerinteressen voranzubringen, wenn und in dem Ausmaß, in dem sich Gewerkschaften offensiv einbringen. Darüber hinaus gilt: Die Durchsetzungskraft in den Gremien in Brüssel, Genf, Paris oder anderswo ist umso größer, je mehr Mobilisierungsfähigkeit auf nationaler Ebene gegeben ist. Als ein typisches Beispiel nenne ich unsere StoppGATS-Kampagne 2002-04, mit der die drohende Privatisierung grundlegender sozialer Dienstleistungen wirksam thematisiert und mindestens ein Teilerfolg auf EU-Ebene erzielt werden konnte. Nur wer im eigenen Land Bevölke­rung und Regierung überzeugen und zu politischer Aktion motivieren kann, wird letztlich auch auf internationaler Ebene Gehör finden.

Die multilaterale Ebene: Internationale Dachverbände Die Entstehung eines weltweiten, durch staatliche Grenzen oder politische Regeln kaum mehr eingeschränkten Wirtschaftssystems erfordert auch – zumindest aus unserer Sicht – eine weltweite Vernetzung der Gegenkräfte. Als positiv ist hier zu vermerken, dass die internationale Zusammenarbeit der Gewerkschaften schon vor Jahrzehnten zur Gründung von internationalen Verbänden geführt hat und dass durch die neuen Kommunikationsmög­lichkeiten, die Wir müssen also feststellen: Gewerkschaften üben zwar in keinem einzigen Fall einen bestimmenden Einfluss auf internationale Organisationen aus, in einigen Fällen kommt ihnen jedoch eine beratende, bei der ILO sogar eine Mitentscheidungsrolle zu.

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Weltweite Vernetzung oder: Der Weg zu einer Gegenmacht auch ArbeitnehmerInnen zur Verfügung stehen (E-Mail, Internet), weltweite Kontakte heute leichter möglich sind als früher. Aber auch das ist richtig: Selbst wenn die Vernetzung global ist, ist der Kontakt deshalb nicht notwendigerweise intensiv. Auch wenn sich die internationale Gewerkschaftslandschaft in den letzten Jahren wesentlich verändert und modernisiert hat, unterliegt sie deshalb weiterhin einem großen Optimierungsdruck. Die (unsere) VertreterInnen in diesen Verbänden sind daher aufgerufen, sich immer wieder für die Reform der internationalen Verbände einzusetzen. Der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB, http://www.ituc-csi.org): Ein wichtiger solcher Reformschritt war zum Beispiel die Gründung des IGB Anfang November 2006 in Wien. Er trat an die Stelle zweier bisheriger Weltverbände – des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften (IBFG, gegründet 1949) und des Weltverbandes der Arbeit (WVA, gegründet als Internationaler Bund Christlicher Gewerkschafter 1929). Der IGB ist die wichtigste internationale ­Gewerk­­schaftsorganisation und vertritt die Interessen von insgesamt 175 Millionen Mitgliedern in 308 regierungs- und arbeitgeberunabhängigen Organisationen in 153 Ländern und Hoheitsgebieten. Vorsitzender ist seit dem letzten Kongress in Berlin 2014 der brasilianische Spitzengewerkschafter Joao Antonio Felicio, Generalsekretärin die Australierin Sharan Burrow. Sitz des IGB ist Brüssel. Es bestehen Regionalorganisationen für Gesamtamerika, Afrika und Asien/Pazifik (nicht aber für Europa) sowie Verbindungsbüros in Amman, Genf, Hongkong, Kairo, Moskau, Sarajevo und Washington. Der ÖGB ist als o­ rdentliches Mitglied im Vorstand (General Council) sowie in mehreren Arbeitsgruppen vertreten. Die Bedeutung des IGB liegt zum einen in seinem weltumspannenden Informationsnetz, an dem die Mitgliedsorganisationen teilhaben, und zum anderen darin, dass er die Forderungen der Gewerkschaften gegenüber den Vereinten Nationen und den internationalen Finanzinstitutionen (Währungsfonds und Weltbank) artikuliert (wenngleich mit wechselndem Erfolg). Eine enge Zu­ sammen­­arbeit besteht mit den Global Unions, den internationalen Branchen­ verbänden (s. u.). Der IGB koordiniert weiters die Tätigkeit der Arbeitnehmer­seite in der I­nternationalen Arbeitsorganisation. Sein jährlich erscheinender Bericht zur Lage der ArbeitnehmerInnenrechte weltweit findet in den Medien große Beachtung und stellt eine wichtige Unterstützung des gewerkschaftlichen En-

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Die multilaterale Ebene: Internationale Dachverbände

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gagements in vielen Ländern dar. Jährlich am 7. Oktober wird ein weltweiter gewerkschaftlicher Aktionstag abgehalten – der erste Versuch einer welt­weiten Mobilisierung. Der Weltgewerkschaftsbund (WGB, http://www.wftucentral.org) ist neben dem IGB die zweite (und ältere: 1945 gegründete) internationale Gewerkschaftsvereinigung. In ihr sind vor allem linksorientierte und kommunistische Gewerkschaftsorganisationen zusammengeschlossen (aus dem ÖGB ist der Gewerkschaftliche Linksblock Mitglied). Sitz des WGB ist seit 2005 Athen, Mitglieder sind Gewerkschaftsbünde und Branchenorganisationen aus 101 Ländern. Regionalorganisationen bestehen in allen fünf Kontinenten, Verbindungsbüros in New York, Genf, Rom und Paris. Generalsekretär ist der griechische Gewerkschafter Georgios Mavrikos. Zwischen IGB und WGB bestehen wesentliche Differenzen, vor allem in der politischen Einschätzung verschiedener Staaten (z. B. Weißrussland) sowie im strategischen Herangehen an bestimmte Probleme; der WGB lehnt zum Beispiel das Lobbying des IGB bei den Internationalen Finanz­institutionen als „Ausverkauf“ ab. Andererseits gibt es aber auch Gemeinsamkeiten in programmatischer Hinsicht, etwa bei der Kritik der Finanzspekulation. Der ÖGB setzt sich daher für die Intensivierung des Dialogs zwischen dem IGB und einerseits nationalen und regionalen Gewerkschafts­ verbänden, die ihm noch nicht angehören, sowie andererseits mit dem WGB ein und ist auch selbst zur Führung eines solchen Dialogs bereit. Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB, www.etuc.org) wurde 1973 als Zusammenschluss westeuropäischer Gewerkschaftsbünde unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung (also – wie der ÖGB – als Einheitsgewerkschaftsbund) gegründet. Heute gehören ihm 85 Gewerkschafts­ dachverbände aus 36 Staaten Europas sowie zehn europäische Branchenverbände an. Der EGB vertritt rund 60 Millionen Mitglieder. Ging die Mitgliedschaft ursprünglich über den Kreis der EWG-Staaten hinaus, so versteht sich der EGB heute vor allem als Gewerkschaftsvertretung gegenüber der Europäischen Kommission und beschränkt die Mitgliedschaft daher (mit wenigen Ausnahmen) auf den Kreis der EU-Mitgliedsstaaten. Der ÖGB ist eines der Gründungsmitglieder des EGB und sowohl im Präsidium (Steering Committee) als auch im Vorstand ­(Executive Committee) sowie in allen Arbeitsgruppen vertreten. Er beteiligt sich

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Weltweite Vernetzung oder: Der Weg zu einer Gegenmacht auch an den Aktivitäten des Europäischen Gewerkschaftsinstituts (ETUI) sowie des Europäischen Verbands der Rentner und älteren Menschen (FERPA). Beim letzten Kongress in Athen 2011 wurde der Spanier Ignacio Fernández Toxo zum EGB-Präsidenten, die Französin Bernadette Ségol zur Generalsekretärin gewählt. Ziel des EGB ist die Durchsetzung von Arbeitnehmerinteressen in der Euro­ päischen Union. Der EGB begleitet daher die verschiedenen Foren des Sozialen Dialogs in der EU sowie die Tätigkeit des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses. Vor allem aber wird versucht, gewerkschaftliche Konzepte und Forderungen über Briefe und Petitionen, Vorsprachen oder Pressearbeit (also durch Methoden des Lobbying) der Europäischen Kommission näherzubringen – mit wechselndem Erfolg. So gelingt es zwar immer wieder, antigewerkschaftliche Vorstöße der Kommission abzuwehren – wie zuletzt im September 2012 die sogenannte Monti-II-Verordnung, die das Streikrecht mit Blick auf die „wirtschaftlichen Marktfreiheiten“ einschränken wollte –, in zentralen Fragen der „wirtschaftlichen Governance“ aber, welche die Aktionsfreiheit der Gewerkschaften lang­fristig schwächen, was mit der notwendigen Rettung des Euro gerechtfertigt wird, zeigte die gewerkschaftliche Kritik bisher keinerlei Wirkung. Über die letzten Jahre ist daher eine interessante politische Entwicklung auch im EGB feststellbar. Überwog ursprünglich der Glaube an die baldige Realisierbarkeit eines „Sozialen Europa“ (und an die Absicht der Kommission, ein solches zu realisieren), so ist nun eher Skepsis angesagt – immerhin ist die Europäische Union zu einem radikalen Akteur der neoliberalen Globalisierung geworden, und im Rahmen der Troika, welche die europäischen Schuldnerstaaten beurteilt (Europäische Union, Europäische Zentralbank, Internationaler Währungsfonds), sogar oft zum radikalsten. Seit einiger Zeit wird das Lobbying bei den Institutionen in Brüssel daher zunehmend durch Straßenaktionen ergänzt (z. B. durch zentrale oder dezentrale Demonstrationen), um EGB-Forderungen zu popularisieren und Druck auf die Kommission auszuüben. Die Erfolge dieser Strategie waren bisher freilich auch begrenzt. Vor allem in den südeuropäischen Ländern wächst daher die Kritik an einem „zu moderaten“ EGB, und in den Gremien werden Forderungen nach einer massiveren Mobilisierung erhoben, also nach konzertierten gewerkschaftlichen Maßnahmen auf nationaler Ebene, um unsere Anliegen auf

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Die multilaterale Ebene: Internationale Dachverbände

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der Ebene der EU durchzusetzen (eine wichtige Rolle könnte dabei den Interregionalen Gewerkschaftsräten zukommen, auf die wir später unter arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten eingehen). Der Pan-Europäische Regionalrat (PERR, http://perc.ituc-csi.org) wurde im März 2007 in Rom gegründet. Er erfüllt zum einen die Funktion der europäischen Regionalorganisation des IGB (die 1969 aufgelöst worden war, um die Errichtung des EGB zu ermöglichen) und bietet zum anderen auch europäischen Gewerkschaftsbünden in Ländern außerhalb der EU die Möglichkeit einer europäischen Vertretung (mehr als 85 Millionen Mitglieder „von Lissabon bis Wladiwostok“). Derzeitiger Präsident ist der russische Gewerkschaftsvorsitzende Mikhail Shmakov (wiedergewählt 2012), Exekutivsekretär der bulgarische Gewerkschafter Grigor Gradev, das Generalsekretariat führt laut Statut der/die jeweilige GeneralsekretärIn des EGB. Der ÖGB ist Gründungsmitglied des PERR und stellt mit Erich Foglar einen der drei VizepräsidentInnen. Regional liegt die Priorität der Tätigkeit auf dem Balkan und im Kaukasus, thematisch stehen konkrete Fragen wie Mitgliederwerbung und -service, Migration, Gewerkschaftsrechte u. Ä. im Vordergrund. Es bestehen aktive Netzwerke für junge GewerkschafterInnen und Frauen. Im September 2010 war der ÖGB in Wien Gastgeber einer vielbeachteten „Sommerschule“, in der aus gewerkschaftlicher Perspektive eine (sehr ambivalente) Bilanz des Systemwandels in Mittelund Osteuropa gezogen wurde. Fassen wir diesen Abschnitt also zusammen: An internationalen Verbänden und Netzwerken mangelt es nicht, aber sind sie auch effizient genug, um die Herausforderungen der aktuellen Situation zu bewältigen? Funktionieren Informationsaustausch, Kommunikation und Entscheidungsfindung rasch genug? Wie kommen wir vom Erfahrungsaustausch zur gemeinsamen Aktion? Wie kann ein Ausgleich zwischen nationalen Interessen und internationalen Notwendigkeiten geschaffen werden? Wie ist die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Verbänden zu verbessern? Und all diese Fragen haben letztlich auch ihre Rückwirkungen auf nationaler Ebene, z. B. auch im ÖGB: Verfügen wir über genügend sprachkundige FunktionärInnen, die die österreichische Gewerkschaftsbewegung international repräsentieren und ihre Positionen in die Debatte einbringen können? Wie können wir

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Der Kampf um soziale Grundrechte internationale und nationale gewerkschaftspolitische Diskussionen (und Aktionen!) besser miteinander verzahnen? Wie ist internationales Engagement zu finanzieren, und welche handfesten Vorteile können wir daraus ziehen? Halten wir zunächst fest: Weltweit zählt die organisierte ArbeitnehmerInnenschaft zu den breitesten sozialen Bewegungen unserer Zeit. Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen finden sich in allen Ländern – eben überall dort, wo Produktion, Dienstleistungen und Verwaltung auf Basis von Lohnarbeit organisiert sind und somit die Notwendigkeit besteht, Arbeitnehmer­interessen in Bezug auf Löhne, Arbeitszeit, Arbeitsbedingungen etc. zur Geltung zu bringen (die Rede ist hier in erster Linie von „formeller“ Wirtschaft, wir dürfen aber nicht übersehen, dass Arbeitnehmerinteressen auch in der „informellen“ oder „Schatten“-Wirtschaft verteidigt werden müssen, dass es also auch hier gewerkschaftliches oder gewerkschaftsähnliches Engagement braucht – und auch gibt!). Hunderte Millionen Menschen – vom kleinen pazifischen Königreich Tonga bis zur Supermacht der Vereinigten Staaten, von der Südspitze Afrikas bis zum Nordkap, Angehörige der verschiedensten politischen, weltanschaulichen und reli­ giösen Lager – bekennen sich als Mitglieder zur gewerkschaftlichen Idee und tragen je nach Möglichkeit zu ihrer Verwirklichung bei. „Die Gewerkschaften sind das Stärkste, was die Schwachen haben“, wie es der ehemalige Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Michael Sommer, einmal formulierte. Realistisch betrachtet kann diese globale Bewegung ihr vorhandenes Potenzial aber nur zum Teil entfalten – teils infolge innerer Schwächen (auf die wir im nächsten Abschnitt eingehen), teils aus äußeren Gründen. Wenn es nämlich politisch darum geht, eine neoliberale Wirtschaftsordnung durchzusetzen und soziale Errungenschaften abzubauen, sind Gewerkschaften ein Hindernis und müssen aus Sicht ihrer Gegner geschwächt werden. Viele Regierungen, ArbeitgeberInnenorganisationen und Konzerne stellen daher die Gewerkschaftsfreiheit offen in Frage. In vielen Ländern ist es heute (lebens-)gefährlich, sich aktiv für die Rechte der Kolleginnen und Kollegen zu engagieren. Das Recht zu politischem Engagement, um eigene Interessen durchzusetzen, ist für ArbeitnehmerInnen in den Menschenrechten grundgelegt. Dabei geht es nicht nur um Meinungs-, Ver­sammlungs- oder Religionsfreiheit, sondern

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3 auch um das Recht auf eine gesellschaftliche Ordnung, welche die Verwirk­­li­chung der individuel­len Grundrechte erst möglich macht (Allgemeine Erklärung der Menschen­rechte, Art. 28). Wenn soziale Ungleichheit also in einem Ausmaß zunimmt, wie dies heute weltweit der Fall ist, dann signalisiert dies das Fehlen einer solchen Ordnung und ist daher klar menschenrechtswidrig. Die Rechte der Gewerk­schaften im Speziellen sind in den Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation ausformuliert. Nun, in der Theorie gut und schön. Die jährlich erscheinende Übersicht des Internationalen Gewerkschaftsbundes über „Weltweite Verletzungen der Gewerkschaftsrechte“ zum Beispiel zeichnet jedoch ein erschreckendes Bild von der Wirklichkeit. Gewerk­schafterInnen werden aufgrund ihres Engagements schikaniert, entlassen oder sogar ermordet (immer noch am ärgsten: Kolumbien), Schutzbestimmungen des Arbeits- oder Sozialrechts willkürlich außer Kraft gesetzt, Kollektivvertragsfreiheit und sozialer Dialog eingeschränkt. Und das sind keineswegs nur Probleme in der Dritten Welt: Gerade die aktuelle Finanzkrise zeigt, wie sehr wirtschaftliche Schwierigkeiten auch im angeblich so demokratischen Europa als Vorwand dafür herhalten müssen, gewerkschaftliche Errungenschaften einzuschränken, die Position der Gewerkschaften auf Dauer zu schwächen und den Druck auf den Arbeitsmarkt durch Senkungen der Massenkaufkraft zu steigern. Die Eurokrise reduziere den Einfluss der Gewerkschaften in Lohnfragen und rücke das „europäische Modell“ näher an das US-amerikanische heran, stellte das Wall Street Journal am 8. August 2012 nicht ohne Schadenfreude fest. Eine Untersuchung der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung kommt beispielsweise für Griechenland zu folgendem Schluss: Als Resultat des unerbittlichen Drucks der Troika seit Mai 2010 sind Hunderte auf mehrere Gesetze verteilte Rechtsvorschriften erlassen worden, mit denen wichtige arbeitsrechtliche Institutionen abgeschafft werden. Hauptstoßrichtung dieser Gesetze ist die Einschränkung oder Abschaffung von Tarifverträgen in bestimmten Sektoren sowie die Verhinderung von freien Tarifverhandlungen. … Weitere Vorschriften (Gesetz 4024/2011) stehen im of­fenen Widerspruch zur Struktur und Ar-

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Der Kampf um soziale Grundrechte beitsweise von Gewerkschaften sowie dem Recht der Arbeitnehmer auf kollektive Repräsentation durch frei und demokratisch gewählte Personen. Diese essenziell anti-gewerkschaftli­che Gesetzgebung erweitert das Recht der Aushandlung und des Abschlusses von Vereinbarungen auf Unterneh­mensebene durch obskure, nicht gewählte »Assoziati­onen von Personen«, was eine absolute Untergrabung der kollektiven Repräsentation darstellt. Arbeitgeber mit zehn bis 40 Beschäftigten haben fortan das Recht, eine »Assoziation von Personen« einzurichten und ein ver­bindliches Arbeitsabkommen zu unterzeichnen. Zoë Lanara, Griechische Gewerkschaften und die Krise (März 2012) Ähnliche Berichte liegen aus vielen europäischen Ländern vor. Eine Untersuchung des Europäischen Gewerkschaftsinstituts vom Sommer 2012 mit Schwerpunkt Arbeitsrecht spricht von teils „dramatischen Eingriffen in das europäische Sozialmodell“ in sage und schreibe 22 von 27 EU-Mitgliedsstaaten (http://www.etui.org/Publications2/Working-Papers/The-crisis-andnational-labour-law-reforms-a-mapping-exercise)! Auch in der Europäischen Union werden also gewerkschaftliche Rechte, die Tarifautonomie und Jobsicherheit wesentlich geschwächt. Auch hier tragen Regierungen dazu bei, dass gerade jene, welche die Finanzkrise zum geringsten Teil verursacht haben, dafür zahlen müssen, während die Profite spekulativer FinanzanlegerInnen und multinationaler Konzerne weiterhin steigen. Dass wir hier nicht zuschauen können, ist klar: „An injury to one is an injury to all“ („Das Unrecht gegen einen ist ein Unrecht gegen alle“) ist ein traditioneller Grundsatz der Arbeiterbewegung. Wenn also Gewerkschaften in einem Land unterdrückt oder geschwächt werden, dann ist es nicht nur die Pflicht, sondern auch das Eigeninteresse ihrer Partnerorganisationen in anderen Ländern, ihnen zur Seite zu stehen und sie zu unterstützen. Und der gemeinsame Kampf für Gewerk­schafts­freiheit und Gewerkschaftsrechte ist ein Beispiel dafür, dass es neben der „multilatera­len Dimension“ internationaler Gewerkschaftsarbeit (also der Stärkung der Dachverbände oder der Präsenz in den globalen Institutionen) auch eine Zusammenarbeit der nationalen Verbände untereinander (die bilaterale Dimension“) geben muss.

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3 Die gegenseitige Unterstützung in politisch oder wirtschaftlich schwierigen Zeiten kann wichtig, ja sogar elementar sein. Der zimbabwesche Gewerkschafter Wellington Chibebe, als ein Kämpfer für eine demokratischere Verfassung in seinem Land oft verhaftet und schwer gefoltert, schilderte bei einem Referat in Wien seine eigene diesbezügliche Erfahrung: Als sie mich verhaftet hatten, dauerte es nur eine halbe Stunde, bis die ersten Proteste eingingen – der IGB in Brüssel hatte schnell reagiert und sein Solidaritätsnetzwerk in Gang gesetzt. Ich merkte es daran, daß die Polizisten kamen, mich beschimpften und mir drohten: „Du mit Deinen feinen Freunden in Europa… Das nächste Mal verhaften wir Dich so, dass keiner es mitbekommt, dann hast Du ausgespielt.“ Ich bin überzeugt, dass die rasche internationale Solidarität mein Leben ge­ rettet hat. Dass internationale Solidarität nötig ist, gilt übrigens nicht nur im Fall von politischer Unterdrückung, sondern auch in Phasen politischer und wirtschaftlicher Transformation, in denen die gesellschaftliche Rolle der Gewerkschafts­ bewegung neu bestimmt, diese selbst vielleicht grundlegend reformiert werden muss. Auch hier ist – bilaterale und multilaterale – Unterstützung erforderlich. Der ÖGB beispielsweise hat es 1989/90 („Fall des Eisernen Vorhangs“) als seine Aufgabe definiert, das Entstehen einer gewerkschaftsfreien Zone in Mittel- und Osteuropa zu verhindern – zweifellos mit Recht und im Einklang mit seinen Dachverbänden. Die sogenannte alte Gewerkschaftsbewegung in diesen Ländern war durch ihre Verschränkung mit den kommunistischen Regimen in weiten Kreisen der Bevölkerung diskreditiert, und die neu installierten konservativ-neoliberalen Regierungen waren nicht nur extrem gewerkschaftsfeindlich eingestellt, sondern sahen Privatisierungen bzw. den Abbau der umfassenden sozialen Schutzsysteme der Vergangenheit als einen notwendigen Beitrag zur Etablierung einer Marktwirtschaft an. Hier mussten sich der ÖGB und viele andere europäische Gewerkschafts­bünde (koordiniert vom damaligen Internationalen Bund Freier Gewerk­

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Der Kampf um soziale Grundrechte schaften/IBFG) naturgemäß engagieren, was aber auch Unterstützung bei der Reform in Selbstverständnis und Arbeitsweise der mittel- und osteuro­päi­schen Gewerkschaften erforderte. Das war auch für uns im ÖGB ein Lernprozess, in dem so manche Fehler gemacht wurden und in dem es viele ­Erfahrungen zu sammeln galt. Eine erste Konsequenz daraus wurde von den international Verantwortlichen des ÖGB und der Gewerkschaften bereits 1992 gezogen: „Vom Gießkannenprinzip zur Strukturhilfe“. Es müsse mehr Wert auf die Festigung selbsttragender gewerkschaftlicher Strukturen gelegt werden: So sei es etwa nicht die Aufgabe österreichischer Referentinnen und Referenten, möglichst viele Betriebs­gewerkschafter/innen bzw. Betriebsräte in den Nachbarländern zu schulen, sondern es müßten die jeweiligen Partnerorganisationen in die Lage versetzt werden, derartige Schulungen selbst durchzuführen und dazu entsprechende Institutionen zu schaffen. ... Auch sei die Einhaltung einer gewissen Arbeitsteilung wichtig: Zusammenarbeit auf jeweils korrespondierenden Ebenen (also zwischen Betrieb und Betrieb; Region und Region; Gewerkschaft und Gewerkschaft; Zentrale und Zentrale) im Rahmen eines gemeinsam verfolgten Konzepts wird dabei ebenso zu unterstützen sein wie verstärkte gemeinsame Angebote der Vorbereitung, Planung und Evaluierung. ÖGB-Jahrbuch 2005 Es wäre zu diskutieren, inwieweit heute nicht eine ähnlich breite Solidaritätsaktion des ÖGB (und anderer europäischer Bünde) für die unter massivem Druck stehenden Partnerverbände in Südeuropa (und wiederum Osteuropa) sinnvoll wäre. Und ebenso ist daran zu erinnern, dass „bilaterale“ Zusammenarbeit nicht an den Grenzen Europas endet, sondern auch jenseits derselben wichtig ist – für die betroffenen Organisationen, aber auch zur Förderung von mehr internationalem Bewusstsein in Österreich. Einen Beitrag dazu leistet der 1996 gegründete Verein „weltumspannend ­arbeiten“ (http://www.weltum­spannend-arbeiten.at), der das „globale Be­wusst­ sein innerhalb der österreichischen Gewerkschaftsbewegung stärken“ will und

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3 neben entwicklungspolitischer Informations- und Bildungsarbeit in Österreich sowie Begegnungsreisen (z. B. nach China) auch Projekte in verschiedenen Ländern, aktuell z. B. in Moldawien, durchführt. Auch der ÖGB selbst hat sich immer wieder in internationaler Solidarität profiliert, politisch beispielsweise durch Aktivitäten gegen die Militärdiktaturen in Chile oder der Türkei oder durch die Unterstützung von Solidaritätsaktivitäten zu Nicaragua oder Südafrika bzw. aktuell zu Kolumbien. Ein im engeren Sinn gewerkschaftliches Solidaritätsprojekt gegen Kinderarbeit führt der ÖGB in Zusammenarbeit mit dem Bangladesh Free Trade Union Congress (BFTUC) in zwei Städten in Bangladesh durch. Die Kinder werden im Rahmen des Programms von ihren Arbeitsplätzen in ein außerschulisches Bildungssystem geholt, wo sie in nur wenigen Monaten Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Um die finanzielle Situation der jeweiligen Familien der Kinder nicht zu gefährden, werden diese vom BFTUC unterstützt. Oder, wie es Christoph Höllriegl formuliert hat: Die Kinder werden für die Zeit ihrer Ausbildung von ihren Eltern „freigekauft“. 1960 – als ein großer Teil Afrikas seine staatliche Unabhängigkeit erhielt, hatte der ÖGB die Mitglieder zu Spenden für einen „Hilfsfonds für Entwicklungsgebiete“ aufgerufen, der heute noch als „Internationaler Solidaritätsfonds“ besteht und aus dem gezielt gewerkschaftliche Aktivitäten im Ausland, vor allem in Ländern der Dritten Welt, gefördert werden.

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Organisierung und Mobili­sationskraft Schweden. Schamlos werden Saisonarbeiter in den Weiten der Provinz Hälsingland ausgepresst. Seit Pflücker aus Asien Mindestlöhne erhalten müssen, gehören Osteuropäer zu den Opfern des Menschenhandels. Von gewissenlosen Menschenhändlern wurden sie mit lukrativen Versprechen zum Beerenpflücken in den Norden gelockt. Doch dort stehen sie trotz harter Arbeit ohne Geld da. Das Schicksal der Beerensammler erregt die Schweden seit Jahren, nur dass die Opfer bisher aus Thailand und Vietnam kamen: Hunderte ­Asiaten hatten in ihrer Heimat große Schulden gemacht, um sich die Tickets leisten zu können – in der sicheren Erwartung, in ein paar Wochen in den schwedischen Wäldern mehr zu verdienen als daheim im ganzen Jahr. Dann arbeiteten sie sich mit gebücktem Rücken durch die Stauden und pflückten und pflückten. Doch wenn es ans Abrechnen ging, bekamen sie weniger, als sie den Aufkäufern für Verpflegung und Unterkunft zahlen mussten. Und wenn sie heimreisten, waren sie ärmer als zuvor. So setzten die Gewerkschaften im Vorjahr durch, dass den überseeischen Pflückern ein schwedischer Mindestlohn garantiert werden müsse. Das wäre für diese ein Traumeinkommen gewesen. Doch der Beerenbranche ist das zu teuer. So heuert sie diesmal statt der Asiaten Arbeitskräfte aus Osteuropa an, denn das Abkommen gilt nur für Pflücker von „außerhalb der EU“. (Die Presse, 5. September 2011). Freilich: Nicht nur äußere Maßnahmen begrenzen die Wirksamkeit der Gewerkschaftsbewegung, sondern auch innere Schwächen. So ist es zwar richtig, dass die Gewerkschafts­bewegung heute eine weltweite Kraft ist und es kaum mehr „gewerkschaftsfreie Zonen“ im geographischen Sinn gibt, doch sind andererseits Stärke und Mobilisierungsfähigkeit der Gewerkschaften auf nationaler Ebene sehr unterschiedlich ausgeprägt. Eine (von mehreren) Ursachen dafür ist, dass viele Organisationen durch eine Auswirkung der neoliberalen Globalisierung, nämlich die zunehmende Migration und die damit meist verbundene Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, überfordert sind. Ein Indikator für die Stärke einer nationalen Basis ist der Organisationsgrad, d. h. der Anteil der gewerkschaftlich Organisierten an der Gesamtzahl der Arbeitneh-

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4 merInnenschaft. In den Mitgliedsländern der OECD (www.oecd.org) variierte der Organisationsgrad 2005/07 zwischen 7,8 % (Frankreich), 10 % (Südkorea) oder 11,6 % (USA) einerseits und etwa 70 % (Schweden, Finnland, Dänemark, Spitzenwert Island mit über 80 %) andererseits. Dabei sind die Extremwerte an beiden Enden der Skala wenig aussagekräftig: In Frankreich steht dem geringen Organisations­grad eine hohe Mobilisierungsbereitschaft auch der unorganisierten ArbeitnehmerInnen gegenüber und in Skandinavien sind die hohen Mitgliederwerte wesentlich durch die Bindung gewisser Leistungen der Arbeitslosenversicherung an eine Mitgliedschaft bestimmt. Wichtiger dürfte sein, dass der Organisationsgrad in 25 der 31 erfassten Staaten (darunter auch in Österreich) unter 50 % liegt und in 21 Staaten sogar schon unter 30 %, d. h. dass hier weniger als die Hälfte bzw. ein Drittel der Arbeitneh­ merInnen gewerkschaftlich organisiert ist. Weiters ist in Rechnung zu stellen, dass in vielen Ländern (nicht in Österreich) mehrere Gewerkschaftsbünde aus poli­tisch/ideo­logischen oder persönlichen Gründen gegeneinander konkurrieren (Fallbeispiel Ungarn mit sechs Verbänden bei einem Organisationsgrad von insgesamt unter 20 % und einem traditionell niedrigen politischen Interesse der Bevölkerung) oder dass die Gewerkschafts­bewe­gung in eigenwillig agierende Branchen- oder Betriebsorganisationen zersplittert ist. Daraus wird verständlich, warum die Rekrutierung von Mitgliedern und Serviceleistungen an dieselben zu einem der wichtigsten Themenkomplexe der internationalen Gewerkschafts­diskussion geworden sind. Nicht zuletzt geht es dabei auch um die Frage, wie die wachsen­de Zahl von atypisch Beschäftigten – oder gar von Beschäftigten in „informellen Wirt­schaftszweigen“, vielfach also von WanderarbeiterInnen – in Gewerkschaften integriert werden kann (und wie sich dabei deren Selbstverständnis und Organisationsleben verändern muss). Eine weitere Herausforderung für internationale Gewerkschaftsarbeit resultiert also aus der zwischenstaatlichen Mobilität der Beschäftigten. Migration in größerem oder kleinerem Umfang, freiwillig oder erzwungen, hat ja seit jeher zur Geschichte der Arbeiterbewegung gehört. In früheren Jahrhunderten war es zum Beispiel üblich, dass Handwerks­gesellen durch halb Europa wanderten, um dabei berufliche und persönliche Erfahrungen zu sammeln. Vor allem aber gaben

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Organisierung und Mobili­sationskraft wirtschaftliche und politische Krisen (wie z. B. Hungersnöte oder militärische Konflikte) immer wieder Anlass zu Flucht- oder Auswanderungsbewegungen – viele Menschen versuchten, in friedlicheren oder wohlhabenderen Regionen Fuß zu fassen und hier ein neues Leben und eben auch eine neue Beschäftigung zu beginnen. Auch für die heutigen globalen Migrationsströme sind Kriege und wirtschaftliche Krisen sowie die ständig steigenden Wohlstandsunterschiede zwischen den einzelnen Regionen der Welt die Hauptursachen. Internationale Zusammenarbeit in Bezug auf Migration ist daher ein traditionelles gewerk­schaftliches Thema. Auf der einen Seite ist das Recht auf freie Wahl des Wohnorts und somit auch auf Migration ein wichtiger Bestandteil der grundlegenden Menschen- und ArbeitnehmerInnenrechte. Auf der anderen Seite besteht ein gesellschaftliches Interesse daran, Wanderungsbewegungen zu regulieren, d. h. für die Betroffenen Rechtssicherheit zu schaffen und gleichzeitig sozial destabilisierende Auswirkungen zu vermeiden. Aus gewerkschaftlicher Sicht bedeutet das, dass es nicht möglich sein darf, WanderarbeiterInnen zur Unterminierung von erreichten Sozial- und Lohnstandards in den Zielländern zu missbrauchen. Das heißt, dass dieselben Standards und Arbeitsbedingungen, die für einheimische Beschäftigte gelten, auch für Migranten und Migrantinnen gelten müssen. Das 2011 vom österreichischen Parlament verabschiedete „Lohn- und Sozialdumping-Bekämpfungsgesetz“ ist diesbezüglich ein Schritt in die richtige Richtung.

Grenzüberschreitender Rechtsschutz Die Notwendigkeit, die Rechte ausländischer Beschäftigter zu schützen und zu ihrer Integration in die Gesellschaft ihres jeweiligen Ziellandes beizutragen, ist Sollte es den Gewerkschaften aber nicht gelingen, sich effizienter zu organisieren und ihre Massenbasis zu erhalten bzw. wieder zu erringen, dann wird ihre Repräsentativität in vielen Ländern in Frage gestellt sein und werden positive KV-Abschlüs­se, geschweige denn Mobilisierungen und Kampfmaßnahmen nur mehr schwer möglich sein.

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Grenzüberschreitender Rechtsschutz

4.1

natürlich im Wesentlichen eine Angelegenheit der nationalen gewerkschaftlichen Tätigkeit. Aber sie hat auch internationale Komponenten. So ergab sich aus der Tradition der Handwerkswanderungen schon frühzeitig die Idee, Beschäftigung und Aufnahmebedingungen von ArbeitsmigrantInnen durch bilaterale oder multilaterale Verträge zu regeln. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde dies von den internationalen Branchengewerkschaften (den Vorläufern der bereits erwähnten Global Unions) als Strategie umgesetzt – es wurden also internationale Abkommen geschlossen, die Rechtsschutz, aber auch andere Serviceleistungen für ArbeitsmigrantInnen eines bestimmten Sektors (soweit sie Mitglieder von Gewerkschaften waren, die sich diesen Abkommen angeschlossen hatten) regelten, und zwar auf der Basis der Gegenseitigkeit. Auch heute existieren derartige Abkommen auf Branchenebene, und sie gelten für alle Mitglieder jener Gewerkschaften, die Mitglied in einem europäischen oder internationalen Dachverband sind. Darüber hinaus wurden Rechtsschutz­verträge bilateral zwischen Branchengewerkschaften verschiedener Länder oder zwischen nationalen Gewerkschaftsbünden geschlossen. Auf dieser Basis befasste sich 1999 der Kongress des Europäischen Gewerkschaftsbundes in Helsinki mit dem Vorschlag einer „gesamteuropäischen Gewerkschaftsmitgliedschaft“. Beschlossen wurde eine feierliche Erklärung, welche die gegenseitige Anerkennung von Mitgliedschaften zwischen allen Mitgliedsorganisationen des EGB vorsah. Dies wäre eine Grundvoraussetzung für ein europäisches System industrieller Beziehungen, welches auch den Rechtsschutz – von Beratung über Intervention bis hin zu gerichtlicher Vertretung – ein­schließen würde. Als Endstufe wäre zum Beispiel ein gesamteuropäischer (oder zumindest EUweiter) Mitgliedsausweis für GewerkschafterInnen denkbar, aufgrund dessen überall in Europa (oder zumindest in der EU) bestimmte Leistungen erfolgen würden. Eine endgültige und praktikable Umsetzungsregelung dieses Beschlusse, welche ja auch eine Finanzierungs­vereinbarung enthalten müsste, ist allerdings noch nicht erfolgt. In Österreich haben fremdsprachige Beratungsaktivitäten für Arbeits­mi­gran­ tInnen – und darauf aufbauender Rechtsschutz – im Bereich der Gewerkschaften, des ÖGB und der Arbeiterkammern eine lange Tradition. Fanden als Spra-

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Organisierung und Mobili­sationskraft chen ursprünglich Serbisch/Bosnisch/Kroatisch bzw. Türkisch und Kurdisch Verwendung, so wurden mit der Ostöffnung 1989/90 und als Vorbereitung für das Auslaufen der Übergangsfristen bei der Arbeitnehmermobilität für die neuen EU-Mitgliedsstaaten aus Ostmitteleuropa auch Tschechisch/Slowakisch und vor allem Ungarisch aktuell. Eine Zeitlang bestand im ÖGB sogar eine spezifische Rechtsberatung für ArbeitnehmerInnen aus ­Afrika, die von einem ehemaligen Gewerkschaftskollegen aus Äthiopien, der in Österreich Asyl gefunden hatte, durchgeführt wurde. Nach längeren Verhandlungen, die vom Internationalen Referat des ÖGB mit Einbeziehung der Rechtsschutzsekretäre aller Gewerkschaften geführt wurden, konnte Ende November 2004 zwischen dem ÖGB und den sechs anerkannten Gewerkschafts­bünden Ungarns ein bilaterales Rechtsschutzabkommen abgeschlossen werden. Es bietet einen Rahmen für Beratungs-, Interventions- und Vertretungsleistungen für in Österreich arbeitende ungarische Gewerkschaftsmitglieder bzw. umgekehrt. Die damit verbundene gegenseitige Anerkennung der Mitgliedschaften sollte zugleich einen Beitrag für das beab­sichtigte neue System gesamteuropäischer Arbeitsbeziehungen unter dem Dach des EGB leisten. Wie die seitherige Erfahrung zeigt, besteht vor allem im Burgenland die Notwendigkeit von Rechtsschutzleistungen in ungarischer Sprache – angesichts des hohen Anteils von ungarischen Wanderarbeitskräften am burgenländischen Arbeitsmarkt kein Wunder. Auf Initiative des ÖGB Burgenland führt daher der Interregionale Gewerkschaftsrat Burgenland–Westungarn das großangelegte Projekt „Zukunft im Grenzraum“ durch, das der Stärkung der Rolle der ungarischen Beschäftigten auf dem burgenländischen Arbeitsmarkt dienen soll. Über dieses Projekt, das von der Europäischen Union, dem österreichischen Wirtschaftsministerium, dem Land Burgenland und der ungarischen Regierung finanziert wird, schreibt Eszter Tóth vom ÖGB Burgenland Folgendes: Derzeit gehen im Jahresdurchschnitt etwa 9000 ungarische ArbeitnehmerInnen im Burgenland einer Beschäftigung nach. Bei diesen ArbeitnehmerInnen handelt es sich zum überwiegenden Teil um Grenzgänger/ innen, die in der Landwirtschaft, der Gastronomie, im Bauwesen und Verkehr beschäftigt sind. Wir haben im Laufe der Jahre die Erfahrung

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Gewerkschaftliche MigrantInnenorganisationen

4.2

gemacht, dass die Mehrheit der ungarischen ArbeitnehmerInnen aufgrund von Sprachschwierigkeiten und aufgrund der Unkenntnis über die österreichischen Rechtsbestimmungen nur marginal über ihre Rechte und Pflichten informiert ist. Dies führt nicht selten dazu, dass arbeits- und sozialrechtliche Standards untergraben und sie nicht zu denselben Arbeits- und Lohnbedingungen wie burgenländische ArbeitnehmerInnen beschäftigt werden. Dies führt auf dem burgenländischen Arbeitsmarkt zu einem massiven Lohn- und Sozialdumping und Verdrängungswettbewerb. Dieser Situation versucht der IGR durch verschiedenste Informationsmaßnahmen entgegenzuwirken: zum einen durch die regelmäßige ungarischsprachige Rechtsberatung in Sachen Ausländerbeschäftigung, Arbeits-, Sozial- und Steuerrecht, die derzeit an insgesamt 11 Standorten im Burgenland und in Westungarn abgehalten wird und seit 2004 von über 31.000 Personen in Anspruch genommen wurde; zum anderen durch Informationsveranstaltungen zu den verschiedensten Themen, viele davon spezifisch für bestimmte Branchen. Diese Aktivitäten tragen wesentlich zum Abbau von sozialen Ungleichheiten in der Grenzregion, zur Eindämmung der illegalen Beschäftigung, zum Abbau von Vorurteilen und zur ordnungsgemäßen Gestaltung der Arbeits- und Lohnbedingungen von ungarischen ArbeitnehmerInnen im Burgenland bei (www.igr.at).

Gewerkschaftliche MigrantInnenorganisationen Mobile Berufsgruppen – beispielsweise LKW-Fahrer, Matrosen u. a. Beschäftigte der Binnen- und Hochseeschiffahrt, aber auch Bau- und ErntearbeiterInnen usw. sind nicht nur mit besonderen beruflichen Herausforderungen, sondern meist auch mit prekären Arbeitsverhältnissen konfrontiert. Welches Arbeits- und Sozialrecht kommt zur Anwendung? Welche Zuständigkeit herrscht im Fall eines Arbeitskonflikts? Wer kümmert sich um den Gesundheitsschutz? usw. Gerade solche Gruppen von ArbeitnehmerInnen sind aufgrund der Tatsache ihres ständigen Unterwegsseins aber besonders schwer gewerkschaftlich organisierbar, es stellen sich dabei zahlreiche logistische, juristische wie auch politische Fragen.

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Organisierung und Mobili­sationskraft Als eine erste Strategie liegt die Organisation bestimmter Gruppen von Wanderarbeitskräften im Rahmen bestehender nationaler Branchen- oder Sektorgewerkschaften nahe. Diesbezüglich liegen zahlreiche Erfahrungen aus anderen Ländern vor. Willkürlich herausgegriffen erwähne ich hier die Aktivitäten der Schweizer Baugewerkschaft betreffend die Untertagebauspezialisten aus Lesotho, die Anfang 2000 bei der Errichtung des St.-Gotthard-Tunnels zum Einsatz kamen; oder die Versuche der früheren österreichischen Gewerkschaft Druck und Papier zur Organisation der Zeitungskolporteure aus Ägypten bzw. aus Südasien; oder die Bemühungen der spanischen Gewerkschaften, die undokumentierten MigrantInnen auf den Gemüseplantagen von Almería zu organisieren. Noch viele Beispiele könnten hier angeführt werden. Die Erfahrungen, die aus diesen Aktivitäten gezogen werden können, sind allerdings gemischt; nicht immer konnten – aus den verschiedensten Gründen – ­Erfolge erzielt werden. Unter anderem dürfte dies auf unterschiedliche Organisationskulturen einerseits von konventionellen, traditionell von Hauptamtlichen getragenen Gewerkschaftsverbänden, wie wir sie kennen, und einer migrantischen, definitionsgemäß instabilen und vielfach in der Schattenwirtschaft angesiedelten Lebenswelt von Migranten und MigrantInnen zurückzuführen sein (dazu vgl. unten). Auch ArbeitnehmerInnen in besonders mobilen Arbeitsumständen werden durch die im Wesentlichen auf eine stationäre Organisation bzw. Betreuung abzielende Organisation bzw. Betreuung nur unzureichend erfasst. Eine zweite Strategie ist daher auf die gewerkschaftliche Organisation bzw. Interessensvertretung von Migranten und MigrantInnen durch einen internationalen bzw. übernationalen Verband hin ausgerichtet. Eine der ältesten und mittlerweile bereits legendär gewordenen Aktivitäten in dieser Hinsicht ist die „Flags of Convenience“-Kampagne der Internationalen Transportarbeiter-Föderation (ITF). Dabei geht es um die Verbesserung der ­Löhne und Arbeitsbedingungen der Matrosen auf Schiffen mit sogenannten Billigflaggen – also auf Schiffen im Eigentum von Firmen, die auf einschlägig bekannten Inseln oder in irgendwelchen Briefkästen registriert sind und dadurch versuchen, n ­ ationale arbeitsrechtliche Regelungen zu umgehen.

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Gewerkschaftliche MigrantInnenorganisationen

4.2

Niedriglöhne, überlange Arbeitszeiten und niedrige Sicherheitsstandards sind auf diesen Schiffen die Regel. „Flags of Convenience“-Schiffe weisen keine wirkliche Nationalität auf und sind daher jenseits der Reichweite von nationalen Verkehrsgewerkschaften. Die ITF als ein internationaler Verband hat in dieser Kampagne daher jene Rolle übernommen, die traditionellerweise den nationalen Organisationen zufällt – nämlich die Schiffsbesatzungen zu organisieren und sie bei Verhandlungen zu vertreten. Es wurde ein Standardkollektivvertrag entwickelt, der Mindeststandards für Matrosen auf „Flags of Convenience“-Schiffen beinhaltet, egal welcher Nationalität. Derzeit hat zirka ein Viertel dieser Schiffe bzw. Unternehmen diesen Standardvertrag unterzeichnet, d. h. dass etwa 123.000 Matrosen und andere Beschäftigte der Hochseeschifffahrt davon erfasst sind. Die Einhaltung der Bestimmungen wird von mehr als 130 „ITF-Inspektoren“ in Häfen rund um den Erdball kontrolliert. Eine Ausdehnung dieser Kampagne auf die Binnenschifffahrt auf der Donau ist geplant und könnte möglicherweise im Rahmen der Donauraumstrategie der Europäischen Union umgesetzt werden. „Unsere Kampagne hat zwar das Anwachsen der Zahl von Billigflaggen nicht verhindert, aber immerhin doch ordentliche Mindestlöhne und Arbeitsbedingungen an Bord von fast 5.000 Schiffen durchsetzen können“, so Silvia Reiss von der Gewerkschaft VIDA zusammenfassend. „Die ITF ist dadurch zum Symbol der Hoffnung für ausgebeutete und schlecht behandelte Beschäftigte in der Seefahrt geworden, ungeachtet ihrer Nationalität und gewerkschaftlichen Zugehörigkeit. Jedes Jahr werden von der ITF und ihren Mitgliedsorganisationen Millionen Dollar an ausständigen Lohnzahlungen oder als Kompensation für Unfälle oder Todesfälle auf Schiffen erfolgreich reklamiert und kommen den Matrosen oder ihren Familien zugute.“ In anderen Bereichen, etwa bei der europäischen Bauwirtschaft, für deren mobile Beschäftigte von der deutschen IG Bau ein „Europäischer Verband der Wanderarbeiter“ initiiert wurde, blieben die Erfolge bisher hinter den Erwartungen zurück.

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Organisierung und Mobili­sationskraft Arbeitsmigration ist freilich nicht nur ein Phänomen im Arbeiter-, sondern auch im Angestelltenbereich. Auch die hoch qualifizierten Arbeitskräfte in neuen Berufssparten, die kaum gewerkschaftlich organisiert sind, bilden für die Gewerkschaftsbewegung eine nicht unwichtige migrantische Zielgruppe. Als ein interessantes Organisationsmodell für dieselbe zumindest im europäischen Raum wurde 1993 EUROCADRES ins Leben gerufen, eine dem Europäischen Gewerkschaftsbund assoziierte Organisation für Fach- und Führungskräfte mit heute ca. 6 Mio. Mitgliedern (http://www.eurocadres.org/mobilnet/ deutsch/­index.htm). Die Mitgliedsorganisationen von EUROCADRES unterzeichnen eine Charta, in der sie sich im Sinne der Mobilitätsförderung in Europa zur wechselseitigen Information und Unterstützung ihrer Mitglieder verpflichten, die vorübergehend oder auf Dauer in einem anderen Land arbeiten wollen oder müssen. Dies erfolgt durch ein BeraterInnen-Netzwerk in fast allen EU- und einigen anderen europäischen Staaten. Wie das in der Praxis funktioniert, beschreibt Gerald Musger von der GPA-djp, einer der Vizepräsidenten von EUROCADRES, folgendermaßen: Ein österreichisches GPA-djp-Mitglied bewirbt sich auf eine Stelle als Diplomingenieur in einem holländischen Unternehmen. Nach einer Erstberatung in Wien sende ich als Mobilitätsberater den vorliegen­den holländischen Dienstvertragsentwurf an meinen Kollegen in den Niederlanden. Dieser prüft auf Rechtmäßigkeit, Fairness und Marktüblichkeit, gibt Tipps für Verbesserungen, nennt die zuständige ­niederländische Partnergewerkschaft und stellt gegebenenfalls auch den Kon­takt dorthin her – damit durch Mobilität die Laufbahn ungebrochen fortgesetzt wird und kein Gewerkschaftsmitglied in Europa verlorengeht. Freilich: Das größere Problem liegt nicht im hochqualifizierten Berufsspektrum (vielfach „Schlüsselkräfte“), sondern im Niedriglohn­bereich, wo Migration vielfach mit Schattenwirtschaft bzw. mit prekären Beschäftigungs­verhältnissen verbunden ist. Während die Gewerkschaften in Asien, Afrika und Lateinamerika

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– wo die sogenannte „informelle Wirtschaft“ einen sehr großen, wenn nicht sogar überwiegenden Anteil am Bruttosozialprodukt umfasst – ihre Aktivitäten frühzeitig dieser Situation angepasst haben, ist es für die europäischen Gewerkschaftsbewegungen traditionell schwierig, den Zugang zu ArbeitnehmerIn­ nen in prekären Umständen zu finden. „Lernen von der Dritten Welt“ ist somit auch in diesem Bereich angesagt. 2010 erhob der Zweite Kongress des Internationalen Gewerkschaftsbundes in Vancouver (einstimmig) daher die Forderung nach einer Veränderung gewerkschaftlicher Arbeitsformen, um einen besseren Zugang zu Menschen in atypischen Arbeitsverhältnissen – global gesehen, also zur Mehrheit der arbeitenden Menschen – zu finden. Der Kongress fordert die Gewerkschaften auf, sich der Herausforderung der Organisierung aller Beschäftigten in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich zu stellen, • ungeachtet deren Beschäftigungsstatus, Bildungsstandes oder Qualifikation und • einschließlich Frauen, Jugendlicher und Migranten sowie • derjenigen in atypischen oder prekären Arbeitsverhältnissen • oder derjenigen, die in der informellen Wirtschaft arbeiten, die nicht gemeldet, nicht anerkannt und ausgeschlossen oder in verschleierten Beschäftigungsverhältnissen tätig sind und eventuell fälschlicherweise als ‚Selbständige‘ definiert werden. Der Kongress stellt fest, dass sich die Gewerkschaften verändern müssen, um sich neuen Situationen anzupassen, und dass eine solche Veränderung unvermeidlich und notwendig ist. ... Eine attraktive Gewerkschaftsbewegung muss Beteiligung, Repräsentation, Diversity Management und Gender Mainstreaming sicherstellen. Die Gewerkschaften müssen ihre Arbeitsmethoden und -verfahren analysieren und entscheiden, ob sie ihre Strukturen anpassen oder neue einführen sollen, um alle Gruppen von Beschäftigten zu vertreten, einschließlich der am wenigsten privilegierten und derjenigen in informellen Arbeitsverhältnissen.

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Organisierung und Mobili­sationskraft In einigen europäischen Ländern ist zu bemerken, dass dieser und ähnliche internationale Impulse auf die nationale Organisationsentwicklung zurückwirken. Auch in Österreich, wo man sich bisher vor allem auf rechtliche Schutzbestimmungen für den nationalen Arbeitsmarkt konzentriert hat, sollte dies verstärkt der Fall sein.

Die Interregionalen Gewerkschaftsräte (IGRs) Sinnvollerweise werden sich u. a. die regionalen gewerkschaftlichen Strukturen mit den konkreten arbeitsmarktpolitischen Auswirkungen vor Ort befassen. An den staatlichen Grenzen – also überall dort, wo unterschiedliche arbeits- und sozialgesetzliche Rahmenbedingungen aufeinanderstoßen – besteht die Notwendigkeit einer grenzüberschreitenden gewerkschaftlichen Kooperation, sofern auch eine entsprechende Arbeitskräftemobilität gegeben ist (daher gab es in Ostösterreich kaum regionale Gewerkschaftszusammenarbeit zu Zeiten des „Eisernen Vorhangs“, umso stärker dann aber in den Jahren nach 1989). Arbeitsmarktfragen bildeten daher einen der wesentlichen – freilich nicht einzigen – Punkte auf den Tagesordnungen der regionalen Gewerkschaftsstrukturen in den Grenzgebieten, aus denen sich im Lauf der Zeit die sogenannten Interregionalen Gewerkschaftsräte formierten. Heute sind die IGRs regionale zwischenstaatliche Gremien unter dem Statut des Europäischen Gewerkschaftsbundes – insgesamt gibt es 44 von Nordschweden bis Ostungarn. Alle Landesorganisationen des ÖGB sind an Interregionalen Gewerkschaftsräten mit Organisationseinheiten jenseits der (durchlässig gewordenen) Grenzen beteiligt. Internetseiten mit einem Vergleich des Arbeits- und Sozialversicherungssystems in den verschiedenen Ländern, Bildungs- und Kulturveranstaltungen, aber auch gemeinsame Demonstrationen gegen antigewerkschaftliche Regierungsmaßnahmen u. v. m. sind das Ergebnis.

Zusammenfassung In diesem Abschnitt haben wir uns mit den Herausforderungen der Migration von ArbeitnehmerInnen für die internationale Gewerkschaftsarbeit beschäftigt.

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Die Interregionalen Gewerkschaftsräte (IGRs)

4.3

Ein für die Gewerkschaften traditionell schwieriges Thema: Auf der einen Seite steht hier die historisch fundierte Sorge vor dem Entstehen einer „industriellen Reservearmee“, die zur Unterlaufung errungener Arbeits- und Sozialstandards benützt werden kann, auf der anderen Seite schlagen die legitimen Interessen der Arbeitsmigranten und Arbeitsmigrantinnen zu Buche – ­Mobilitätsfreiheit als ein Menschenrecht, Schutz ihrer sozialen Interessen, Recht auf Integration in die Gesellschaft des Ziellandes. Transparente und rechtsstaatliche gesetzliche Regelungen müssen beiden Gesichtspunkten Rechnung tragen, und die leider naheliegende Tendenz, in Fremdenfeindlichkeit und Entsolidarisierung zu verfallen, muss vermieden werden. Der ÖGB lehnt daher, im Unterschied von so manchen rechtsgerichteten politischen Kräften, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus grundsätzlich ab. Gleichzeitig lehren uns internationale und nationale Erfahrungen, dass rechtliche Rahmenbedingungen alleine nicht ausreichen, um eine zufriedenstellende Lösung zu erzielen, sondern dass vor allem die Stellung der Arbeitsmigranten und Arbeitsmigrantinnen auf dem ­Arbeitsmarkt gestärkt werden muss, sodass sie ihre Interessen selbst zur Geltung bringen können – auch dort, wo das gewerkschaftliche „Betreuungssystem“ vielleicht nicht hinreicht.

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Umgang mit der internationa­ len Vernetzung des Kapitals? Im Frühjahr 2011 machte der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB) in Zusammenarbeit mit dem internationalen Verband der Gewerkschaften im Dienstleistungssektor (UNI Global Union) die gewerkschaftsfeindliche Politik der Deutschen Telekom in den Vereinigten Staaten zum Thema. Die Geschäftsführung von T-Mobile USA hatte mit Unterstützung des deutschen Stammunternehmens Rechtsanwaltsfirmen eingeschaltet, die auf die Zerschlagung von Gewerkschaften spezialisiert sind, um eine gewerkschaftliche Vertretung seiner Beschäftigten zu verhindern. Auf der Internetseite einer dieser Firmen hieß es unverhohlen, dass die „Vermeidung von Gewerkschaften“ eine ihrer Spezialitäten wäre, wobei T-Mobile als „regelmäßiger Kunde“ erwähnt wurde. Abgesehen von Interventionen bei den Behörden, um die Anerkennung von gegründeten Betriebsgewerkschaften zu hintertreiben, wurde eine brutale Einschüchterungskampagne gegen Aktivistinnen und Aktivisten durchgeführt. Auf Ersuchen seines US-amerikanischen Mitglieds­ verbandes, des AfL-CIO, rief daraufhin der IGB zu weltweiter Unterstützung der Kolleginnen und Kollegen in den USA auf sowie zu Protesten bei der deutschen Bundesregierung – die BRD ist nämlich der größte www.weexpectbetter.org einzelne Aktionär der Deutschen Telekom. Der Fall „Deutsche Telekom“ ist nur einer von vielen. International tätige („transnationale“) Konzerne – die meisten davon im Eigentum von privaten AktionärInnen und mit Sitz in den USA oder in der Europäischen Union – zählen zu den mächtigsten Akteuren der globalen Wirtschaftspolitik. Transnationale Konzerne bestreiten etwa zwei Drittel des Welthandels und stellen eine der Triebkräfte der Globalisierung dar. Ganze Wirtschaftssektoren werden von einer Handvoll solcher Unternehmen beherrscht. So zum Beispiel dominieren zwei Firmen ­(Boeing und Airbus) den weltweiten Flugzeugbau oder drei Unternehmen ­(Philips, General Electric und Siemens) den medizintechnischen Sektor. In vielen Ländern organisieren transnationale Konzerne ihre Produktion in so­ genannten „freien Exportzonen“, in denen das lokale Arbeits-, Sozial- und Steuerrecht nicht gilt und wo Gewerkschaften häufig verboten sind. Nach Schät-

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5 zungen der internationalen Arbeitsorganisation (ILO) sind ca. 45 Mio. Menschen, teilweise unter widrigsten Bedingungen, in diesen Sonderwirt­schaftszonen beschäftigt. „Multis verletzen Menschenrechte“, bestätigte auch der UN-Experte Manfred Nowak (Wiener Zeitung, 7. September 2012). Kürzungen von Sozial­ leistungen und niedrige Löhne werden von vielen Regierungen nach wie vor als Argumente zur Anwerbung von Investoren verwendet (siehe Bild unten). ­Angesichts „offener Grenzen“ können Standorte vom Management leicht gegeneinander aus­ge­spielt, Produktionen in billiger produzierende Tochterbetriebe verlagert werden usw. Solange kaum internationale Beschränkungen dieser „Freiheit

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Umgang mit der internationa­ len Vernetzung des Kapitals? des Kapitals“ existieren, müssen zumindest konzernweit möglichst hohe Arbeitsstandards durchgesetzt werden.

Solidaritätsaktionen für die KollegInnen in Konzernbetrieben Über Strategien, multinationalen Konzernen eine gewerkschaftliche Position entgegen­zusetzen, wird in Österreich seit den 1970er-Jahren diskutiert. Eine der ältesten praktischen Initiativen setzte Ende der 1980er-Jahre das sogenannte K­ akaoprojekt der Gewerkschaft Agrar-Nahrung-Genuss (das im Rahmen der PRO-GE bis heute erfolgreich weitergeführt wird: http://www.proge.at/servlet/ ContentSer­ver?pagename=P01/Page/Index&n=P01_7.2). Gerhard Riess schrieb damals: Schokolade. Die alltäglichste Versuchung, die es auf der Erde gibt. Aber der Weg von der Kakaobohne bis zur fertigen Schokolade ist lang und für die Beschäftigten nicht immer süß. Gewerkschaften von Kakaound Schokoladearbeitern aus vielen Teilen der Welt werden sich immer stärker der Tatsache bewusst, dass es einer internationalen Strategie bedarf, um die Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten. Der hier gewählte Weg war der einer Organisation der Beschäftigten entlang der Produktionskette (von westafrikanischen Kleinbauern über die Verarbeitung in brasilianischen, österreichischen, litauischen etc. Fabriken bis zur KonsumentInnenschaft). Ähnliche Modelle sind etwa für die Papier- oder Textilindustrie denkbar und werden auch (zumindest ansatzweise) praktiziert. Eines der entscheidenden Elemente, um verbesserte Produktionsbedingungen durchzusetzen, ist in jedem Fall die Existenz handlungs­fähiger, vom Management unabhängiger betrieblicher Gewerkschaften (oder – je nach Arbeitsrecht – Betriebsräte) an allen Standorten trans­nationaler Konzerne (BetriebsrätInnen, die die verschiedenen Standorte ihres grenzüberschreitend tätigen Unternehmens nicht als miteinander verbundene „kommunizierende Gefäße“ sehen, sind kurzsichtig und werden früher oder später in der „Globalisierungsfalle“ landen). Wo es solche Gewerkschaften gibt, sollten sie angemessene internationale Unterstützung finden, wo nicht, wird man nach Möglichkeit mit den zuständigen

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Solidaritätsaktionen für die ­KollegInnen in Konzernbetrieben

5.1

Branchengewerkschaften oder Bünden des jeweiligen Landes zusammenar­ beiten, um Mitglieder zu werben und die Gründung von Betriebsgewerkschaften (oder Betriebsräten) zu fördern. Wichtig sind in jedem Fall Wachsamkeit und erforderlichenfalls auch politischer Druck auf die Regierungen, um arbeitnehmer­freundliche wirtschaftsund sozialpolitische Rahmenbedingun­gen in den jeweiligen Ländern durch­ zusetzen. Dass es trotz erheblicher Schwierigkeiten immer wieder möglich ist, Erfolge zu erzielen, zeigen viele Beispiele internationaler ­Aktionen der letzten Jahre. Große Aufmerksamkeit in ganz Europa erregten etwa 1997 die Kampfmaßnahmen der belgischen Automobilarbeiter gegen die Schließung des Renault-Werks in Vilvoorde bei Brüssel, die von Solidaritätsstreiks an Standorten des Konzerns in mehreren Ländern unterstützt wurden und zu einem Teilerfolg führten. Ebenso erfolgreich war die Kampagne der Internationalen Transportarbeiter Föderation (ITF) zur gewerkschaftlichen Organisierung der weltweit fünf größten Paketdienstleister, in welchem Zusammenhang es im April 2010 in der Türkei zum Beginn einer heftigen Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Konzern UPS kam. Ein Jahr später konnte die internationale Gewerkschaftsbewegung einen großen Erfolg feiern (z. B. Wiedereinstellung fast aller im Zug des Arbeitskonflikts gekündigter Kollegen und Kolleginnen), über den Harald Voitl von VIDA berichtet: UPS hat sich durch diesen Erfolg nicht verändert. Verändert hat sich aber das Machtverhältnis zwischen den Beschäftigten, ihrer Gewerkschaften und der zentralen Leitung von UPS. Der Erfolg in der Türkei hat auch etwas mit unseren Anstrengungen zum Aufbau einer gewerkschaftlichen Organisierung bei UPS-Österreich zu tun. Gerade das Eingeständnis von UPS, dass sie auch Verantwortung für die Beschäftigten bei Subunternehmern und für die LeiharbeitnehmerInnen tragen, kann gewerkschaftspolitisch nutzbar gemacht werden. Denn auch in Österreich sind der überwiegende Teil der Sortierung und das gesamte Fahrersegment an Subunternehmer ausgegliedert oder erfolgen durch den Einsatz von LeiharbeitnehmerInnen.

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Umgang mit der internationa­ len Vernetzung des Kapitals? Auch andere Gewerkschaften des ÖGB waren an derartigen Solidaritätsaktionen beteiligt, etwa die Produktions­gewerkschaft (PRO-GE), wie Martina SchnellerBouchnak berichtet: Der weltweit agierende Automobilzulieferkonzern Kromberg & Schubert verfügt u. a. über Niederlassungen an seinem Hauptsitz in Deutschland, in Österreich und in der Slowakei. Hier hielt sich der Arbeitgeber nicht an den Kollektivvertrag und weigerte sich, die Betriebsgewerkschaft, die mit der Geschäftsleitung wegen einer Anhebung der Löhne, der Flexibilisierung der Arbeitszeit und der insgesamt schlechten Behandlung der rund 3.000 ArbeitnehmerInnen im Kabelwerk Kolarovo verhandeln wollte, als legitimen Tarifpartner anzuerkennen. Als noch psychischer Druck auf die lokalen Gewerkschaftsvertreter ausgeübt wurde, sah sich die slowakische Metallgewerkschaft OZ KOVO zu Kampfmaßnahmen veranlasst und meldete für den 21. April einen Streik an. Daraufhin wurden alle Mitglieder des Streikausschusses mit Hausverbot belegt. Dank österreichischer Intervention konnte schließlich eine Vereinbarung mit der Geschäftsleitung erzielt werden, die unter anderem eine Sonderzahlung für die ArbeitnehmerInnen, eine Zeitkontoregelung sowie eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen vorsah. Ein anderes Beispiel (Mai 2012) aus dem Bereich der Gewerkschaft der Privat­ angestellten: Internationale Gewerkschaftsproteste gegen die Schließung des MayrMelnhof-Werks in Liverpool, an denen sich auch die GPA-djp beteiligt hat, haben nach harten Auseinandersetzungen mit dem Management zu einem Teilerfolg geführt. Zwar wird das Werk geschlossen, für die 161 Beschäftigten wurde aber ein akzeptabler Sozialplan verhandelt. Dieser kann sich sehen lassen, die Abfertigungs­zahlungen gehen weit über das von Gewerkschaftsseite lange Zeit nicht akzeptierte Minimal­ angebot des Konzerns hinaus. Die Beschäftigten erhalten über die gesetzlich vorgesehenen Gehaltsfortzahlungen hinaus Abfertigungszahlungen, gestaffelt nach Betriebszugehörigkeit bis zu einem Maximum

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Globale Rahmenabkommen

5.2

von 80 Wochen­löhnen. Bei langer Beschäftigungsdauer gibt es eine Extraprämie. Alle während des Arbeitskampfes ausgesprochenen Entlassungen wurden zurückgenommen. „Damit hat sich gezeigt, dass die gewerkschaftliche Zusammenarbeit über Grenzen hinweg sehr erfolgreich sein kann“, so GPA-djp-Vorsitzender Wolfgang Katzian. http://www.gpa-djp.at Was heißt also in solchen Fällen internationale Gewerkschaftsarbeit konkret? Die BetriebsrätInnen und ihre betreuenden Gewerkschaften müssen zunächst über Vorgänge an Standorten ihres Unternehmens in anderen Ländern informiert sein – und zwar aus der Sicht der ArbeitnehmerInnenschaft! Von BetriebsrätInnen, die Mitglieder in Aufsichtsräten sind, ist oft zu hören, man habe sich die ausländischen Betriebe im Zug von Dienstreisen ohnehin „angeschaut“. Dies reicht sicher nicht aus, und man darf sich außerdem nicht wundern, wenn der/die österreichische Betriebsrat/-rätin von den Kollegen und Kolleginnen in anderen Ländern als Teil des ausländischen Managements gesehen wird und die notwendige Vertrauensbasis fehlt. Wie man zu Informationen kommt? Durch regelmäßigen (z. B. wöchentlichen) Kontakt über E-Mail und Telefon einerseits und durch aktuelle Nachrichten auf den Websites der Gewerkschaften und der Global Unions (siehe unten). Auch Informationen, die von Nichtregierungs­organisationen (NGOs) herausgegeben werden, können eine wertvolle Quelle sein. Arbeitstechnisch wird es sich möglicherweise anbieten, in der Betriebsrats­körperschaft einen Kollegen bzw. eine Kollegin mit der Beobachtung internationaler Entwicklungen zu betrauen und „Internationales“ zum regelmäßigen Tagesordnungspunkt einer Betriebsratssitzung zu machen.

Globale Rahmenabkommen Abgesehen von solchen direkten Aktionen stehen uns Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern aber auch internationale rechtliche und politische Instrumente zur Verfügung, welche transnationale Konzerne dazu bringen sollen, grundlegende Sozial- und Umweltstandards zu respektieren. Diese Instrumente sind

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Umgang mit der internationa­ len Vernetzung des Kapitals? kein Allheilmittel und können das oben dargestellte eigene Engagement nicht ersetzen. In vielen Fällen aber bieten sie eine gewisse Ergänzung und ermöglichen es, politische oder rechtliche Vereinbarungen, die auf übergeordneter Ebene getroffen wurden, in den Betrieben in Anspruch zu nehmen. Eines dieser Instrumente sind die sogenannten Globalen Rahmenabkommen („global framework agreements“), die zwischen den internationalen Branchengewerkschaften (den schon erwähnten Global Unions – siehe Kasten) und einzelnen Konzernen abgeschlossen werden.

Global Unions Der Internationale Gewerkschaftsbund und acht weltweite Branchenverbände bilden zusammen mit dem Gewerkschaftlichen Beratungsausschuss bei der OECD (TUAC) das Netzwerk der „Global Unions“: International Trade Union Confederation (ITUC) / Internationaler Gewerkschaftsbund (IGB) 5 Boulevard du Roi Albert II, Bte 1 B-1210 Brussels, Belgien www.ituc-csi.org Generalsekretärin: Sharan Burrow (Australien) Building and Wood Worker‘s International (BWI) / Bau- und Holzarbeiter Internationale (BHI) 54, Route des Acacias CH-1227 Genf, Schweiz http://www.bwint.org Generalsekretär: Ambet Yuson (Philippinen) Education International (EI) / Bildungsinternationale 5 Boulevard du Roi Albert II, B-1210 Brussels, Belgien http://www.ei-ie.org Generalsekretär: Fred von Leeuwen (Niederlande)

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Globale Rahmenabkommen

5.2

IndustriALL Route des Acacias 54 bis Case Postale 1516 CH-1227 Genf, Schweiz http://www.industriall-union.org/ Generalsekretär: Jyrki Raina (Finnland) International Federation of Journalists (IFJ) / Internationale Journalistenföderation (IJF) International Press Center, Résidence Palace, Block C 155 Rue de la Loi B-1040 Brüssel, Belgien www.ifj.org Generalsekretärin: Elisabeth Costa (Brasilien) International Transport Workers Federation (ITF) / Internationale Transportarbeiterföderation (ITF) 49-60 Borough Road London SE1 1DR, Vereinigtes Königreich http://www.itfglobal.org Generalsekretär: Stephen Cotton (Vereinigtes Königreich) International Union of Food, Agricultural, Hotel, Restaurant, Catering, Tobacco and Allied Workers’ Associations (IUF) / Internationale der Lebensmittel-, Landwirtschafts- und HotelarbeitnehmerInnen (IUL) 8 Rampe du Pont Rouge CH-1213 Petit Lancy www.iuf.org Generalsekretär: Ron Oswald (Vereinigtes Königreich)

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Umgang mit der internationa­ len Vernetzung des Kapitals? Public Services International (PSI) / Internationale der Öffentlichen Dienste (IÖD) 45, avenue Voltaire BP 9 F-01211, Ferney-Voltaire Cedex, Frankreich www.world-psi.org Generalsekretär: Rosa Pavanelli (Italien) UNI Global Union (UNI) / Globale Gewerkschaft für Fach- und Dienst­ leistungsberufe Avenue Reverdil 8-10 CH-1260 Nyon, Schweiz www.uniglobalunion.org Generalsekretär: Philip Jennings (Vereinigtes Königreich) Trade Union Advisory Committee to the OECD (TUAC) 15, rue La Pérouse – 75016 Paris www.tuac.org Generalsekretär: John Evans (Vereinigtes Königreich) Dabei handelt es sich um weltweit verbindliche Verträge, die zwischen einer internationalen Branchengewerkschaft und einem multinationalen Konzern vereinbart werden. Derzeit bestehen solche Verträge mit etwa 60 Unternehmungen, darunter mit den Handels­konzernen Carrefour und H&M (UNI), dem Möbelhaus IKEA (IFBWW, UNI), dem Lebensmittelhersteller Danone (IUF), mit Volkswagen und Daimler Chrysler (IMF, jetzt IndustriALL) oder mit dem Elektronikkonzern Endesa (ICEM, jetzt IndustriALL). Die vollständige Liste findet sich im Internet unter http://www.global-unions.org/framework-agreements, 70.html?lang=en. „Wenn Firmen national tätig sind, schließen Gewerkschaften nationale Übereinkommen. Aber für die globale Wirtschaft brauchen wir auch globale Abkommen“, sagt Philipp Jennings, einer der Architekten der Strategie. „Aus der Sicht der Beschäftigten wird dadurch die Errich-

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OECD-Leitlinien für multinationale Konzerne

5.3

tung von Gewerkschaften an den verschiedenen Standorten erleichtert, es wird leichter, Kollektivverträge abzuschließen und angemessene Arbeitsbedingungen einzufordern. Und der Vorteil für die Konzerne ist es, dass sie die Einhaltung von Sozial- und Umweltstandards damit glaubwürdiger unter Beweis stellen können, als wenn dies nur von ihren PRAgenturen behauptet wird.“ Globale Rahmenabkommen ersetzen die lokale Gewerkschaftstätigkeit nicht, können aber die Spielräume für Gründung oder Aktivitäten von Gewerkschaften vor Ort erweitern. Die Konzerne wissen, dass ihr Verhalten einer internationalen Kontrolle unterliegt und im Konfliktfall auch international angeprangert werden kann. Der Unterschied zwischen Rahmenabkommen und den heute vielfach populären „Corporate Social Responsibility-Maßnahmen“ verschiedener Konzerne liegt darin, dass die Kontrolle über die Verbesserung von Arbeitsbedingungen bzw. die Verwirklichung von ArbeitnehmerInnenrechten nicht den Unternehmen selbst und auch nicht ihnen nahestehenden NGOs oder Instituten überlassen wird, sondern dass es eine vertragliche Verpflichtung gegenüber den Gewerkschaften ebenso wie eine gewerkschaftliche Kontrolle über die ­Einhaltung derselben gibt. Für das Funktionieren eines globalen Rahmenabkommens ist wichtig, dass die Branchen­gewerkschaften in den jeweiligen Ländern – die normalerweise ihre Mitglieder auf internationaler Ebene vertreten – eingebunden sind. An ihnen ist es, die Betriebsräte bzw. Gewerkschaften in den jeweiligen Unternehmen über die ihnen im Rahmen eines Abkommens zustehenden Rechte zu informieren. BetriebsrätInnen und GewerkschafterInnen können sich wiederum über ihre Gewerkschaft an den zuständigen internationalen Branchenverband wenden, um die betriebliche Situation durch Bezugnahme auf das Rahmenabkommen zu verbessern.

OECD-Leitlinien für multinationale Konzerne Ein zweites internationales Rechtsinstrument, das von Gewerkschaften (oder auch von NGOs) für die Auseinandersetzung mit Konzernen genützt werden

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Umgang mit der internationa­ len Vernetzung des Kapitals? kann, sind die sogenannten „Leitlinien für multinationale Konzerne“ der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in Paris (www.oecd.org). Die ersten „Leitlinien“ wurden 1978 herausgegeben. Am 25. Mai 2011 verabschiedete der OECD-Ministerrat anlässlich des 50-jährigen Bestehens der Organisation eine neue, etwas verschärfte Version, die von den Gewerkschaften und nahestehenden Regierungen in kontroversen Verhandlungen mit den ArbeitgeberInnenorganisationen durchgesetzt worden war. Auch der ÖGB war über seine Mitgliedschaft im Gewerkschaftlichen Beratungsausschuss der OECD (TUAC) dabei eingebunden. „Die aktualisierten Leitlinien enthalten mehrere neue positive Elemente“, so John Evans, als TUAC-Generalsekretär Verhandlungsführer der ArbeitnehmerInnen im Rahmen der OECD. „So zum Beispiel einen eigenen Abschnitt über Menschenrechte, die Einigung auf Anwendung der Leitlinien auch auf Zulieferfirmen und praktisch die gesamte Wertschöpfungskette, beginnend mit den Herstellern eines Produkts bis zu den Konsumenten, oder die Verstärkung der Rolle der Nationalen Kontaktstellen. Dadurch bieten sich für die ArbeitnehmerInnenorganisationen wirksamere Möglichkeiten, Verletzungen von Sozial- oder Umweltstandards durch global tätige Konzerne aufzuzeigen und in das von der OECD vorgesehene Beschwerdeverfahren einzubringen.“ Die OECD-Leitsätze für Multinationale Unternehmen sind eine gemeinsame Empfehlung der Unterzeichnerstaaten für ein verantwortungsvolles unternehmerisches Handeln. Sie sind für die Multis zwar nicht bindend, stellen aber durch das vorgesehene Beschwerde­verfahren bei den nationalen Kontaktstellen (in Österreich im Wirtschaftsministerium angesiedelt) und die damit verbundene öffentliche Aufmerksamkeit ein nicht unwirksames Instrument zur Einflussnahme auf weltweit tätige Firmen dar. Die Leitsätze umfassen eine breite Palette von Themen in Bezug auf die Unternehmensführung wie Beschäftigung und Beziehungen zwischen den Sozialpartnern, Umweltschutz, Wettbewerb, Offenlegung von Informationen, Bekämpfung von Korruption, Besteuerung etc. Sie decken rund 85% der globalen Direktinvestitionen ab. Im letzten Jahrzehnt

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OECD-Leitlinien für multinationale Konzerne

5.3

wurden seitens der Gewerkschaften 120, von Nichtregierungsorganisationen 96 Beschwerdefälle eingebracht, einige davon positiv erledigt. Wiederum ein Beispiel aus Österreich: Im März 2006 führte die GMTN namens der Internationalen Textil-, Bekleidungsund Lederarbeiter-Vereinigung (ITBLAV) beim Österreichischen Nationalen Kontaktpunkt schriftlich Beschwerde gegen die österreichische Firma Global Sports Lanka bzw. gegen die GST Beteiligungsgesellschaft wegen Verstößen gegen das Kapitel „Beschäftigung und Beziehungen zwischen den Sozialpartnern“ der OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen; dies im Zusammenhang mit einem betrieblichen Arbeitskonflikt, welcher im Jahre 2002 in Sri Lanka bei Global Sports Lanka (damals: North Sails Lanka) im Gefolge von Änderungen im Entlohnungssystem stattfand. Das Verfahren zog sich jahrelang hin, endete im September 2008 erfreulicherweise aber doch mit einem Vergleich zwischen Global Sports Lanka und 19 ehemaligen Beschäftigten. Ein anderes Beispiel aus dem südostafrikanischen Staat Malawi: Mit insgesamt 106.000 Beschäftigten ist die Bewachungsgesellschaft Group 4 einer der größten multinationalen Arbeitgeber auf dem afrikanischen Kontinent. Wie in anderen Weltregionen häuften sich auch hier die Berichte über schlechte Arbeitsbedingungen – Verletzungen der nationalen Arbeitsgesetzgebungen, niedrige Löhne und lange Arbeitszeiten, Nichtanerkennung von Gewerkschaften, rassistische Behandlung von DienstnehmerInnen usw. In Malawi zum Beispiel betrug die übliche Arbeitszeit des Wachpersonals 12 Stunden täglich, wobei die vier Überstunden nur mit dem halben Satz bezahlt wurden. Viele der Beschäftigten wussten nicht über die Einzelheiten ihres Arbeitsverhältnisses Bescheid (z. B. über ihre Pensionsberechtigung). In den meisten Fällen wurde der gesetzlich vorgesehene Jahresurlaub verweigert bzw. kein Urlaubsgeld ausbezahlt. Da sich keine Verbesserung dieser Situation abzeichnete, beschloss die Internationale der Dienstleistungsgewerkschaften im Jahr 2007, Beschwerde gegen G4 auf Basis der OECD-Guidelines zu erheben. Eineinhalb Jahre später führte die

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5

Umgang mit der internationa­ len Vernetzung des Kapitals? Beschwerde zum Erfolg – seither werden in Malawi Überstunden­zuschläge korrekt ausbezahlt, Krankenstand und bezahlter Urlaub gewährt, alle Beschäftigten in den Sprachen Englisch und ChiChewa über ihre Rechte informiert. Die Verabschiedung der neuen Version der OECD-Guidelines im Mai 2011 brachte auch die Notwendigkeit einer Reform der Nationalen Kontaktstellen, die in jedem OECD-Mitgliedsstaat existieren, mit sich. ÖGB und Arbeiterkammer haben dazu Vorschläge erarbeitet, welche die Tätigkeit der Kontaktstelle in Wien effizienter (und vor allem unabhängiger von politischer Einflussnahme) gestalten sollen. Es besteht jedenfalls die Absicht, in Fällen von Konflikten mit transnationalen Konzernen die Guidelines und den damit verbundenen Beschwerdemechanismus verstärkt zu nutzen.

Europäische Betriebsräte

päischen Betriebsrat ermöglicht allen utionalisierten Arbeitnehmerbeteiligung hen Unternehmen. Darüber hinaus dient kschaftern/innen, die mit der Etablierung en in Unternehmen zu tun haben, als

chtlichen Grundlagen zum Europäischen schätzungen und bietet wertvolle InforTipps zur Etablierung und zum Ausbau rvertretung. Die relevanten europäischen bgedruckt.

Der Europäische Betriebsrat

ung und Einschätzung der im Jahr 2009 htlinie zum Europäischen Betriebsrat.

Betriebsratsarbeit kompakt

Nach jahrzehntelangen politischen Auseinandersetzungen beschloss der Minis­ terrat der Europäischen Union am 22. September 1994 die Richtlinie 94/45/EG, welche die rechtliche Basis zur Gründung eines Europäischen Betriebsrates (EBR) darstellt.

bk

Wolfgang Greif

2. Auflage

Der Europäische Betriebsrat inklusive Ausführungen zur neu gefassten EBR-Richtlinie

Gewerkschaftliches

Handbuch

15.12.2011 13:27:57

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Das aktuelle Buch zum EBR: Mag. Wolfgang Greif Der Europäische Betriebsrat 2. Auflage 2013, ISBN: 978-3-7035-1538-5, ca. € 29,90


Europäische Betriebsräte

5.4

1996 wurde die Richtlinie auch ins österreichische Recht übernommen. „Mit der Richtlinie zum EBR wurde 1994 ein Meilenstein zur Beteiligung der ArbeitnehmerInnen in Europa gesetzt und damit eine vehemente Forderung der ­europäischen Gewerkschaftsbewegung zum Schutz der Arbeitnehmerinteressen in multinationalen Konzernen eingelöst“, sagt dazu Wolfgang Greif, Internationaler Sekretär der Gewerkschaft der Privatangestellten – Druck, Journalismus, Papier. „Erstmals wurden bindende europäische Rechtsgrundlagen für konkrete Mitwirkungsrechte der Beschäftigten in multinationalen Konzernen festgelegt und die Limitierung nationalstaatlicher Arbeitsrechtsordnungen durchbrochen.“ Mittlerweile verfügen europaweit mehr als 950 multinationale Unternehmen mit insgesamt mehr als 14 Millionen Beschäftigten über einen EBR. Die Richt­ linie wurde darüber hinaus zum Ausgangspunkt für eine breitere Basis der europäischen Rechtsetzung für die ArbeitnehmerInnenmitwirkung in der Europäischen Union. So hat sich das Prinzip der ArbeitnehmerInnenbeteiligung bis heute in nicht weniger als 15 EU-Richtlinien niedergeschlagen. Neben der materiellen rechtlichen Substanz kommt der mittlerweile 18-jährigen EBR-Praxis auch entscheidende Bedeutung bei der Europäisierung der Gewerkschaften zu: Ohne die bisherige europaweite Vernetzung von BetriebsrätInnen und GewerkschafterInnen in internationalen Konzernen wären wir als europäische Gewerkschaftsbewegung nicht dort, wo wir heute stehen. War die Anzahl der in Österreich ansässigen „europäischen Konzerne“, in denen laut dieser Regelung Europäische Betriebsräte eingerichtet werden konnten, ursprünglich limitiert, so erweiterte sich der Kreis der betroffenen Unter­ nehmen durch die Erweiterung der EU im Jahr 2004 wesentlich. So zeigt sich etwa am Beispiel der Erste Bank, dass der Europäische Betriebsrat ein geeignetes Instrument zur Einbeziehung der Belegschaften in den neuen Beitritts­ländern der EU darstellt. 2007 existierten EBRs in einem Drittel aller rechtlich in Frage kommenden Betriebe innerhalb der EU, mehr als 15.000 BetriebsrätInnen sind EU-weit in EBRs tätig, um die Interessen der Beschäftigten gegenüber dem Management zu vertreten. Als ein Best-practice-Beispiel gilt etwa die Mitwirkung des Euro­ päischen Betriebsrates bei der Umstrukturierung von General Motors/Opel 2009/10.

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Umgang mit der internationa­ len Vernetzung des Kapitals? 2009 wurde in Brüssel eine Revision der EBR-Richtlinie beschlossen – wiederum nach einem zähen Ringen mit den VertreterInnen der Industrie- und ArbeitgeberInnenverbände (Business Europe). Kernanliegen des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) waren die Steigerung der Rechtssicherheit, der Wirksamkeit von Informations- und Konsultationsrechten sowie die Anwendbarkeit und Kohärenz des Rechtsbestandes. Zwar wurden nicht alle Forderungen des EGB umgesetzt, doch stellte die Revision einen wichtigen Schritt in Sachen Effizienzsteigerung des EBR dar. Durch eine Novellierung des Arbeitsverfassungsgesetzes wurden die neuen Bestimmungen per 1. Jänner 2011 auch für Österreich gültig. Sicher ist auch hier nicht alles Gold, was glänzt. Noch einmal Wolfgang Greif: Weiterhin warten noch mehr als 1.000 Unternehmen in der EU darauf, dass ein EBR eingerichtet wird. Und viele errichtete EBRs stehen noch in den ‚Lehrjahren‘ und durchlaufen einen bisweilen mühsamen Prozess, um zu einem handlungs­fähigen und effizienten Player im Unternehmen zu werden. In zahlreichen Konzernen ist der EBR in der Tat zu einem wichtigen Element guter Unternehmens­führung geworden. In anderen Konzernen wird auf die Einbeziehung der Arbeit­ nehmervertretungen weniger Wert gelegt und den etablierten Informations- und Anhörungsrechten wenig Spielraum gegeben. Es liegen viele Erfahrungen vor, die zeigen, dass zahlreiche Unternehmen in der Praxis nicht bereit sind, eingegangene EBR-Verpflichtungen zu erfüllen. Es bleibt zu hoffen, dass die neu gefasste EBR-Richtlinie auf beiden Feldern Fortschritte bringt: bei der Umsetzung der Richtlinie (die zu vermehrten EBRGründungen führen sollte) ebenso wie bei der substanziellen Verstärkung der EBR-Arbeit in der Praxis. Auch wenn viele Forderungen der Gewerkschaften zur Nachbesserung der EBR-Richtlinie unerfüllt geblieben sind – die neuen Regelungen stellen jedenfalls einen verbesserten Werkzeugkasten zur Interessensvertretung auf transnationaler Ebene dar, den es nun aktiv zu nutzen gilt.

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Zusammenfassung Die hier dargestellten Spielarten internationaler Gewerkschaftsarbeit gehen von der Unternehmensebene aus und beziehen sich auf international bzw. EU-weit tätige Firmen (Konzerne) bzw. Produktionsketten. Die zentralen Akteure sind daher in erster Linie nicht die nationalen Dachverbände (im Fall Österreichs also der ÖGB), sondern die Branchen­ gewerkschaften bzw. betrieblichen Arbeitnehmervertretungen (alle Erfahrung zeigt im Übrigen, dass der Erfolg solcher Aktivitäten umso größer ist, je besser Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen den AkteurInnen auf den verschiedenen Ebenen funktionieren). In diesem Zusammenhang wird von international interessierten BetriebsrätInnen immer wieder die Frage nach einer allfälligen Finanzierung aus dem Betriebsratsfonds gestellt – zumal eine Mitwirkung der Geschäftsleitung in vielen Fällen nicht wünschenswert oder möglich ist. Die Antwort darauf ist: Ja, der Betriebsratsfonds kann auch für internationale Aktivitäten herangezogen werden, soferne ein statutengemäß zustandegekommener Beschluss vorliegt und die Verwendung der Mittel in transparenter und nachvollziehbarer Weise erfolgt. Im Zweifelsfall ist es geraten, sich an die für die Revision des Betriebsratsfonds zuständigen KollegInnen der Arbeiterkammer zu wenden.

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Abschließende Bemerkungen „Internationale Gewerkschaftsarbeit“ – viele Auflagen hat dieses Skriptum in den letzten Jahrzehnten erlebt, und es hat sich während dieses Zeitraums inhaltlich und grafisch ebenso stark verändert wie die internationale Zusammenarbeit selbst. Abgesehen von den politischen Inhalten (die Gegenstand eines eigenen Skriptums sind) stelle ich rückblickend v. a. zwei wesentliche Änderungen in Arbeitsweise und Methode fest: Vom Delegationstourismus zu effizienter Zusammenarbeit. Die Aufweichung der nationalen Grenzen in den vergangenen Jahrzehnten – die Entstehung eines einheitlichen Wirtschaftsraums im Rahmen der Europäischen Union, der Fall des Eisernen Vorhangs, der Übergang zu einem weltweiten Freihandelssystem – hat zu einem verstärkten gewerkschaftlichen Handlungsbedarf geführt. Es geht darum, dass Gewerkschaften bei der Sicherung von ArbeitnehmerInnenrechten, bei der Gestaltung von Arbeitsbedingungen und der dafür notwendigen politischen Rahmenbedingungen, kurz: bei der Vertretung der Interessen der Beschäftigten grenzüberschreitend zusammenarbeiten (!). Daher ist internationale Gewerkschaftskooperation heutzutage in erster Linie keine protokollarische Angelegenheit mehr (Deklarationen unterschreiben, Zeremonien und Preisverleihungen organisieren, Delegationen von SpitzenfunktionärInnen austauschen etc.), sondern hat einen enormen Praxisbezug. Verstärkt stehen z. B. Informations- und ExpertInnenaustausch oder grenzüberschreitende Rechtsberatung, zunehmend aber auch das Organisieren von gemeinsamen Protest- und Kampfmaßnahmen im Vordergrund. Von der Rhetorik zur Praxis. Nach wie vor ist der Gedanke der Solidarität für die internationale Zusammenarbeit unverzichtbar. Aber das darf nicht nur Lippenbekenntnis sein. Internationale Solidarität ist für GewerkschafterInnen ein gleichberechtigtes Zusammenarbeiten über nationale Grenzen hinweg, um der ArbeitnehmerInnenschaft und überhaupt sozial schwachen und benachteiligten Gruppen ihr Recht auf Teilhabe an einer gerechteren sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung zu sichern. Diese Solidarität darf nicht zur hohlen Phrase verkümmern, die immer nur bei Festtagsreden und am 1. Mai bemüht wird. Sie muss sich konkret in der alltäglichen Praxis beweisen. Das kann auch schwierig werden, v. a. in jenen Fällen, in denen es einen Konflikt zwischen nationalen und internationalen Arbeits­

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platzinteressen, zwischen einheimischen oder ausländischen Beschäftigten, ­zwischen Mutter- und Tochterfirmen o. Ä. zu geben scheint. Diese Diskussion, ob und inwieweit die Internationalität der Gewerkschaftsbewegung in der Praxis durch nationale Interessen gespalten ist, reicht viele Jahre zurück. In letzter Zeit hat sie etwa durch den Vorwurf, die deutschen und österreichischen Gewerkschaften hätten durch Lohnzurückhaltung (sogenannte maßvolle KV-Abschlüsse) ihrer nationalen Export­wirtschaft Konkurrenzvorteile verschafft und damit indirekt auch die wirtschaftliche Krise in Südeuropa verstärkt, neue Nahrung erhalten. In früheren Jahren hatte sich die Debatte stärker um die Praxis transnationaler Konzerne gedreht, Betriebsstandorte in verschiede­nen Staaten gegeneinander auszuspielen (die schrittweise Schließung der Produktion in Semperit Trais­ kirchen wäre ein österreichisches Fallbeispiel dafür). Solidarität zwischen den ArbeitnehmerInnen der „Gewinner-“ und denen der „Verlierer-“Standorte war in diesen Fällen immer schwer herzustellen, insbesondere dann, wenn es wenig oder gar keine Kommunikation zwischen den Gewerkschaften/Betriebsräten der einzelnen Betriebe gab und daher den Strategien des Managements keine gemeinsame Alternativkonzeption der ArbeitnehmerInnenschaft gegenübergestellt werden konnte (vgl. deshalb oben zur internatio­nalen Kooperation von betrieblichen ArbeitnehmerInnenvertretungen). So ist es auf der einen Seite verständlich, dass im Einzelfall regionale oder nationale Eigeninteressen der Beleg­schaften zueinander in Widerspruch stehen, auf der anderen Seite jedoch wird dadurch länger­fristig die Verhandlungsposition der ArbeitgeberInnen gestärkt. Um noch einmal Dan Gallin zu zitieren: In der Krise reagieren viele gegensätzlich zum eigenen Interesse und der Logik der Situation: statt ihre internationalen Verbindungen zu verstärken und auszubauen, da es ja auf der Hand liegt, dass nunmehr jede Art Gewerkschaftspolitik nur international sein kann, kapseln sie sich national ab mit Sprüchen wie dass das Hemd näher liegt als der Rock und Ähnliches. Diese Reaktion ist menschlich verständlich, aber trotzdem falsch, genau wie Bremsen auf Glatteis eine natürliche, aber falsche Reaktion ist.

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Abschließende Bemerkungen

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Notwendig ist daher die Förderung eines internationalen ArbeitnehmerInnenbewusstseins und einer entsprechenden solidarischen Politik. Und notabene: Dieses Bewusstsein muss global sein und darf nicht auf Europa beschränkt bleiben. Eine nur „europäische Arbeitnehmeridentität“ wäre im Zeitalter des eskalierenden Wirtschaftskrieges zwischen den drei Blöcken der Weltwirtschaft (USA/ NAFTA2, EU/AKP3, China/BRICS4) leicht von einer „europäischen“ Großmachtpolitik zu vereinnahmen und würde zum Instrument von Handelsprotektionismus und Standortwettbewerb (also einer Abgrenzung gegenüber den ArbeitnehmerInnen anderer Kontinente) verkommen. Insgesamt muss hier gelten: Wie die Menschenrechte insgesamt, so sind auch die Arbeitnehmerrechte unteilbar!   NAFTA = North American Free Trade Agreement (Kanada, USA, Mexiko)   AKP = Afrika, Karibik, Pazifik 4   BRICS = Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika 2 3

Internationale Solidarität heißt auch, gemeinsam einen gerechten und praktikablen Ausgleich zwischen den berechtigten Interessen aller beteiligten ArbeitnehmerInnengruppen zu finden.

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SKRIPTEN ÜBERSICHT SOZIALRECHT

SR-1

Grundbegriffe des Sozialrechts

SR-2

Sozialpolitik im internationalen Vergleich

SR-3

Sozialversicherung – Beitragsrecht

SR-4

Pensionsversicherung I: Allgemeiner Teil

SR-5

Pensionsversicherung II: Leistungsrecht

SR-6

Pensionsversicherung III: Pensionshöhe

SR-7

Krankenversicherung I: Allgemeiner Teil

SR-8

Krankenversicherung II: Leistungsrecht

SR-9

Unfallversicherung

SR-10

Arbeitslosenversicherung I: Allgemeiner Teil

SR-11

Arbeitslosenversicherung II: Leistungsrecht

SR-12

Insolvenz-Entgeltsicherung

SR-13

Finanzierung des Sozialstaates

SR-14

Pflege und Betreuung

SR-15

Bedarfsorientierte Mindestsicherung

Die einzelnen Skripten werden laufend aktualisiert.

ARBEITSRECHT

AR-1 AR-2A AR-2B AR-2C AR-3 AR-4 AR-5 AR-6 AR-7 AR-8A AR-8B AR-9 AR-10 AR-11 AR-12 AR-13 AR-14 AR-15 AR-16 AR-18 AR-19 AR-21 AR-22

Kollektive Rechtsgestaltung Betriebliche Interessenvertretung Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates Rechtstellung des Betriebsrates Arbeitsvertrag Arbeitszeit Urlaubsrecht Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall Gleichbehandlung im Arbeitsrecht ArbeitnehmerInnenschutz I: Überbetrieblicher ArbeitnehmerInnenschutz ArbeitnehmerInnenschutz II: Innerbetrieblicher ArbeitnehmerInnenschutz Beendigung des Arbeitsverhältnisses Arbeitskräfteüberlassung Betriebsvereinbarung Lohn(Gehalts)exekution Berufsausbildung Wichtiges aus dem Angestelltenrecht Betriebspensionsrecht I Betriebspensionsrecht II Abfertigung neu Betriebsrat – Personalvertretung Rechte und Pflichten Atypische Beschäftigung Die Behindertenvertrauenspersonen

GEWERKSCHAFTSKUNDE

GK-1 GK-2 GK-3

Was sind Gewerkschaften? Struktur und Aufbau der österreichischen Gewerkschaftsbewegung Geschichte der österreichischen Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1945 Die Geschichte der österreichischen Gewerkschaftsbewegung von 1945 bis heute

GK-4

Statuten und Geschäftsordnung des ÖGB

GK-5

Vom 1. bis zum 18. Bundeskongress

GK-7

Die Kammern für Arbeiter und Angestellte

Die VÖGB-Skripten online lesen oder als Gewerkschaftsmitglied gratis bestellen: www.voegb.at/skripten



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