IG-02_Die_Erweiterung_der_europaeischen_Union_aus_gewerkschaftlicher_Sicht

Page 1

IG 2

)NTERNATIONALE 'EWERKSCHAFTSBEWEGUNG Walter Sauer / Manfred Anderle / Eszter TĂłth / Wolfgang Greif

Die Erweiterung der Europäischen Union aus gewerkschaftlicher Sicht INHALT

Die Gewerkschaftsbewegung in Mittel- und Osteuropa Die Transformation Osteuropas Veränderungen in der Gewerkschaftsbewegung Struktur und Selbstverständnis Gewerkschaftliche Interessenvertretung Die Zusammenarbeit mit dem Ă–GB Ăœberblick Europäischer Koordinierungsansatz fĂźr nationale Kollektivverhandlungen Aus der Tätigkeit des Interregionalen Gewerkschaftsrates EU-Erweiterung und Europäische Betriebsräte Beantwortung der Fragen Fernlehrgang

3 4 6 8 11 13 15

Inhaltliche Koordination: Karl Heinz Nachtnebel

21 25 30 41 43

Stand: Februar 2008

$IESESĂ&#x;3KRIPTUMĂ&#x;ISTĂ&#x;F~RĂ&#x;DIEĂ&#x;6ERWENDUNGĂ&#x;IMĂ&#x;2AHMENĂ&#x;DERĂ&#x;"ILDUNGSARBEIT DESĂ&#x;dSTERREICHISCHENĂ&#x;'EWERKSCHAFTSBUNDES Ă&#x;DERĂ&#x;'EWERKSCHAFTENĂ&#x;UND DERĂ&#x;+AMMERNĂ&#x;F~RĂ&#x;!RBEITERĂ&#x;UNDĂ&#x;!NGESTELLTEĂ&#x;BESTIMMT


Wie soll mit diesem Skriptum gearbeitet werden?

Anmerkungen

Zeichenerklärung Frage zum Lernstoff im vorigen Abschnitt (vergleichen Sie Ihre eigene Antwort mit der am Ende des Skriptums ange­ gebenen).

Anmerkungen: Die linke bzw. rechte Spalte jeder Seite dient zur Eintra­ gung persön­licher Anmerkungen zum Lernstoff. Diese eigenen Notizen sollen, gemeinsam mit den bereits vorge­ gebenen, dem Verständnis und der Wiederholung dienen. Schreibweise: Wenn im folgenden Text männliche Schreibweisen ver­ wendet werden, so ist bei Entsprechung auch die weibliche Form inkludiert. Auf eine durch­gehende geschlechts­neu­ trale Schreibweise wird zu Gunsten der Lesbarkeit des Tex­tes verzichtet.

Arbeitsanleitung – Lesen Sie zunächst den Text eines Abschnitts aufmerksam durch. – Wiederholen Sie den Inhalt des jeweiligen Abschnittes mit Hilfe der ge­ druckten und der eigenen Randbemerkungen. – Beantworten Sie die am Ende des Abschnitts gestellten Fragen (möglichst ohne nachzu­sehen). – Die Antworten auf die jeweiligen Fragen finden Sie am Ende des Skrip­ tums. – Ist Ihnen die Beantwortung der Fragen noch nicht möglich, ohne im Text nachzusehen, arbeiten Sie den Abschnitt nochmals durch. – Gehen Sie erst dann zum Studium des nächsten Abschnitts über. – Überprüfen Sie am Ende des Skriptums, ob Sie die hier angeführten Lernziele erreicht haben.

Lernziele Nachdem Sie dieses Skriptum durchgearbeitet haben, sollen Sie – wie sich die Gewerkschaften in den Mittel- und Osteuropäischen Län­ dern (MOEL-Staaten) seit 1989 entwickelt haben, – wie sie grob organisiert sind, – wie die Zusammenarbeit mit dem ÖGB aussieht – und welche Haltung die Gewerkschaften in den Beitrittsländern zur Er­ weiterung einnehmen!

Viel Erfolg beim Lernen! Dr. Walter Sauer, Sekretär im Internationalen Referat des ÖGB Manfred Anderle, Leitender Sekretär der Gewerkschaft Metall-Textil­Nahrung. Mag. Eszter Tóth, Leiterin des IGR-Projekts der ÖGB-Landesorganisation Burgenland. Mag. Wolfgang Greif, Internationaler Sekretär der Gewerkschaft der ­Privatangestellten.

Gefördert von der Europäischen Kommission, GD Bildung und Kultur

2


Walter Sauer

Anmerkungen

Die Gewerkschaftsbewegung in Mittel- und Osteuropa Einleitung Die politischen Umwälzungen, die seit 1989 in den Ländern Mittel- und Osteuropas stattgefunden haben (die so genannte „Ostöffnung“), haben auch für die gewerkschaftliche Zusammenarbeit erhebliche Veränderungen mit sich gebracht. Gute Kontakte zwischen dem ÖGB und den Gewerk­ schaftsbünden jenseits des „Eisernen Vorhangs“ hatte es zwar schon früher gegeben; über weite Strecken hinweg war dabei aber protokollarischer Delegationsaustausch oder die Anbahnung von Exportgeschäften an erster Stelle gestanden. Konkrete gewerkschaftliche Zusammenarbeit im engeren Sinn hatte praktisch nur mit dem Jugoslawischen Gewerkschaftsbund – und zwar hinsichtlich der Interessenvertretung und Integration der so ge­nann­ten Gastarbeiter – stattgefunden.

Frühe Kontakte

Im Vergleich dazu brachte das unvorhergesehene Ende des „realen Sozi­ alismus“ einen ganz anderen, dramatischen Handlungsbedarf mit sich: Praktisch ganz Ost­europa war nun für die Expansion der multinationalen Konzerne geöffnet, die starke und geachtete Stellung der Arbeiterbewegung in den betroffenen Ländern brach weit gehend zusammen bzw. wur­ de politisch als „Überbleibsel des Kommunismus“ verleumdet, grundlegende Arbeitnehmerrechte wurden in Frage gestellt, ein halber Kontinent drohte sich zu einem arbeits- und sozialrechtlichen Experimentierfeld, zu einer „gewerkschaftsfreien Zone“ zu entwickeln. Dass da­durch auch sozi­ ale Standards im Westen unter Druck geraten würden, war realistischer­ weise zu befürchten.

Ostöffnung 1989

Als neue Schwerpunkte der internationalen gewerkschaftlichen Zusam­ menarbeit mit Mittel- und Osteuropa kristallisierten sich daher folgende heraus: l organisatorische Stärkung und Festigung einer unabhängigen und de­ mokratischen Gewerkschaftsbewegung l Modernisierung und Absicherung von sozialen Standards auf möglichst hoher Ebene l Aufbau einer funktionierenden gewerkschaftlichen Gegenmacht gegen die Dominanz der multinationalen Konzerne und von sozial uninteres­ sierten, oft gewerkschaftsfeindlichen Regierungen

Schwerpunkte ­gewerk­schaftlicher Zusammenarbeit

Rückblickend muss heute gesagt werden, dass das ärgste Szenario – die Entstehung einer gewerkschaftsfreien Zone in Mittel- und Osteuropa – verhindert werden konnte. Die internationale Unterstützung der Gewerk­ schaftsbewegung in der Region hat dazu einen großen Beitrag geleistet. Auf der anderen Seite aber ist es im Zuge der politischen und wirtschaft­ lichen Umgestaltung in den einzelnen Staaten (ganz zu schweigen von den kriegerischen Ereignissen auf dem Balkan) zu einem teilweise starken Ab­sinken der sozialen Standards gekommen. Auch in Zukunft muss daher die Zusammenarbeit mit der Gewerkschafts­bewegung in Mittel- und Osteuropa ein wichtiges Element unserer inter­na­tionalen Aktivitäten bilden: Einsatz für ein „soziales Europa“ – konkret!

3


Die „Transformation“ Osteuropas als gewerkschaftliches Problem

Anmerkungen

Um die besonderen Herausforderungen, mit denen unsere gewerkschaft­ lichen Partner in Mittel- und Osteuropa konfrontiert sind, verstehen zu können, müssen nicht nur ihre besonderen Erfahrungen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Betracht gezogen werden, sondern auch der Verlauf des Systemwechsels, also des Übergangs vom Sozialismus (osteuropäischer Prägung) zum Kapitalismus (US-amerikanischer Prägung) und seine Fol­ gen für Politik und Wirtschaft, aber auch für die Mentalität. Diese tief greifende gesellschaftspolitische Entwicklung, die oft als „Transformation“ bezeichnet wird, ist nicht nur ungeplant, „schockartig“ und daher vielfach chaotisch vor sich gegangen, sondern auch zum großen Teil ohne oder so­ gar gegen die Arbeiterbewegung und ihre Interessen.

Aus gewerkschaftlicher Sicht kann über den Systemwechsel folgende Bilanz gezogen werden: Gesellschafts- und demokratiepolitisch bekennen sich die Verfassungen aller Reformländer zum Privateigentum an Produktionsmitteln (Grund und Boden, Industriekapital etc.), zu den grundlegenden bürgerlichen Grund- und Freiheitsrechten (gleiches und freies Wahlrecht, Meinungsund Organisationsfreiheit, Medienfreiheit etc.) sowie zur staatlichen Ge­ waltenteilung. In der Praxis freilich lässt die Umsetzung dieser Grundrechte für das Gros der Be­völkerung nach wie vor zu wünschen übrig; während sich einheimi­ sche Unternehmergruppen (oft mit zweifelhaftem Hintergrund) und multi­ nationale Konzerne aller Freiheiten erfreuen, ist das politische Engagement einzelner Staatsbürger/-innen oder von Nichtregierungsorganisationen ungern gesehen, die Freiheit der Medien steht vielfach nur auf dem Papier, staatliche Behörden haben sich weit­gehend aus sozialen und ökologischen Verantwortungsbereichen zurückgezogen, reaktionäre ideologische Ten­ denzen wie Antisemitismus, Rassismus oder Monarchismus feiern fröh­ liche Urstände.

Folgen des „Systemwechsels“

Für alle Staaten der Region gilt, dass der Abbau stalinistischer Strukturen und Verhaltensmuster in der Verwaltung sowie die Ausrottung der Korruption noch lange Zeit in Anspruch nehmen wird. All dies behindert auch Gewerkschaften in ihrer Tätigkeit. In einigen Ländern der Region sind zwar einigermaßen stabile staatliche und politische Rahmenbedingungen gegeben (vor allem in den neuen EUMitglieds­ländern wie z. B. Tschechien, Polen, Ungarn, Slowenien), andere jedoch sind noch weit davon entfernt (etwa Albanien oder Bulgarien, ganz abgesehen von den meisten Nachfolgestaaten Jugoslawiens). Bemerkens­ wert ist die Entwicklung im größten und bedeutendsten Staat der Region, in der Russischen Föderation, wo die politische Stabilisierung mit einer verstärkt autoritären Regierungspraxis Hand in Hand geht (schon 1995 hat­ ten Umfragen zufolge zwei Drittel der russischen Bevölkerung „Ordnung“ höher bewertet als „Demokratie“). Wirtschaftspolitisch haben die gezielte Zerstörung des osteuropäischen Wirtschaftsraums (COMECON), die teilweise ideologisch bedingte Öff­ nung der Märkte für westliche Produkte sowie die überhastet und vielfach korrupt durchgeführte Privatisierung der verstaatlichten Industrien in den meisten Ländern zu einer schweren Wirtschaftskrise geführt; hinzu kamen das plötzliche Fehlen einer staatlichen Wirtschaftslenkungspolitik sowie

Überhastete ­Privatisierung

4


die generell ungünstigen weltwirtschaft­lichen Rahmenbedingungen (etwa in Bezug auf die Auslandsverschuldung).

Anmerkungen

Kein Wunder, dass in den ersten Jahren nach 1990 die Industrieproduktion in Russland auf die Hälfte zurückging, in Bulgarien um ein Drittel, in den meisten anderen Staaten um bis zu 20 %. Generell kam es in allen Reform­ staaten zu einem mehr oder weniger starken Absinken des Bruttoinlandsprodukts und damit des Lebensstandards, wobei die Entwicklung je nach nationalen Rahmenbedingungen allerdings sehr unterschiedlich verlief und nicht zuletzt davon beeinflusst wurde, ob die wirtschaftlichen Strukturver­ änderungen eher gleitend und somit sozialverträglicher durchgeführt wur­ den oder ohne entsprechende Vorbereitung („Schocktherapie“).

„Schocktherapie“

Reales Pro-Kopf-Einkommen in Zentral- und Osteuropa EU-Durchschnitt = 100

Quelle: Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (Hg.), Countries in Transition 2000 (Wien 2000)

In sozialpolitischer Hinsicht war die Entwicklung während des Über­ gangsprozesses zur Marktwirtschaft nicht nur durch eine tief greifende Unsicherheit über die Zukunft der öffentlichen Leistungssysteme (z. B. Gesundheits- und Pensionswesen ), sondern auch durch einen markanten Sozialabbau gekennzeichnet, teils bedingt durch die wirtschaftliche Rezes­ sion, teils aber auch bewusst politisch gesteuert. Letzteres kam beispiels­ weise in der bis Mitte der 1990er Jahre üblichen, mit dem Internationalen Währungsfonds ausgehandelten „Lohnregulierung“ zum Ausdruck, wel­ che die Kollektivvertragsfreiheit auf betrieblicher Ebene außer Kraft setzte und dadurch das Lohnniveau künstlich niedrig hielt.

Folgen der „Lohnregulierung“

Faktisch sanken die Reallöhne in den ersten Jahren nach der „Wende“ überall, sogar in den erfolgreichsten Reformländern: in der Tschechischen Republik und in Ungarn zwischen 1990 und 1993 um jeweils 10–15 %, in Polen um etwa 30 %, in Bulgarien um 56 %, in Rumänien um 60 %. Eine Trendwen­ de, allerdings von niedrigem Niveau aus, konnte (zunächst in den heu­ tigen EU-Beitrittskandidaten der ersten Gruppe) erst wieder ab der Mitte der neunziger Jahre verzeichnet werden. Hinzu kommt in den Nachfolge­ staaten der Sowjetunion (GUS), in Südosteuropa und auf dem Balkan das häufige Phänomen der Lohnrückstände – Löhne und Gehälter werden oft über viele Monate hinweg nicht oder nur teilweise ausbezahlt (nicht immer deshalb, weil es den staatlichen Unternehmen an Geld fehlt, sondern weil es für Geschäftsführer oft vorteilhafter ist, das Geld im Ausland anzulegen oder es in Tochterunternehmen zu investieren). Bedingt durch wirtschaftliche Transformation und neue Technologien stieg auch die Arbeitslosigkeit sehr stark; ILO-Statistiken zufolge lag sie 1999 in 5


Anmerkungen

Tschechien bei 8,8 %, in Ungarn bei 7 %, in der Slowakei bei 16,2 %, in Slowe­ nien bei 7,6 % (wobei in allen Fällen von starken regionalen Unterschieden sowie von einer hohen Dunkel­ziffer auszugehen ist). Aus heutiger Sicht steht außer Zweifel, dass die Lohn- und Sozialstandards in den mitteleuropäischen Reformländern (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn und Slowe­nien) sowie teilweise auch im baltischen Raum in einer Aufwärtsentwicklung begriffen sind, dass jedoch die südost- und osteuro­ päische Region noch für lange Zeit ein Niedriglohngebiet bleiben wird. Fehlende Infrastruktur und Inlandsmärkte sowie politische Instabilität ­stehen einer Steigerung der Produktivität entgegen. Um diese zu erzielen, wäre vor allem die Schaffung einheimischer Märkte und ausreichender ­inländischer Kaufkraft vonnöten. Dies wiederum setzt eine funktionierende Arbeitsmarktstruktur sowie die Existenz von Arbeitnehmerorganisationen voraus, die in der Lage sind, für die unselbstständig Beschäftigten einen gerechten Anteil an den betrieb­lichen Erträgen bzw. am Wirtschaftswachstum durchzusetzen. Reform und Stärkung der Gewerkschaften zählen somit auch zu den Schlüsselelementen eines wirtschaftlichen Wiederaufbaus in Mittel- und Osteuropa.

Veränderungen in der Gewerkschaftsbewegung Nicht nur die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in den Reformstaaten, auch die Gewerkschaften selbst haben sich entscheidend verändert.

Durch Wandel zu neuer Stärke Die neuen tschechoslowakischen Gewerkschaften nahmen anfangs eine sehr entgegenkommende Haltung gegenüber dem Transformationsprozess der Gesellschaft ein. Im Einklang mit der Meinung der meisten Bürger und damit auch der meisten ihrer Mitglieder unterstützten sie zu Beginn die radikalen Schritte der liberalen Wirtschaftsreform und schufen durch Wahrung des sozialen Friedens günstige Voraussetzungen für deren Umsetzung. Ohne diese Haltung der Gewerkschaften wäre die Reform der Wirtschaft undenkbar gewesen. Auf der anderen Seite darf man jedoch nicht übersehen, dass die Gewerkschaften damals eine ziemlich schlechte Position in der Gesellschaft hatten. Ihr eventuelles negatives Auftreten gegenüber dem von der breiten Öffentlichkeit akzeptierten Szenarium der radikalen Wirtschaftsreform wäre für sie selbstmörderisch gewesen. Zur grundlegenden Änderung der Haltung der tschechischen Gewerkschaften gegenüber der ultraliberalen Regierung unter Václav Klaus und der Richtung der Wirt­schaftsreform kam es jedoch im April 1994. Die neuen Funktionäre an der Spitze verstärkten augenblicklich den Kampf gegen die vorbereiteten Sozialgesetze. Zur Unterstützung ihrer Forderungen veranstaltete die Gewerkschaftszentrale (CM KOS) im Dezember einen viertelstündigen Warnstreik, an dem 1,45 Millionen Mitglieder in 4.600 Gewerkschaftsorganisationen teilnahmen. Der Kampf gegen die beabsichtigte Änderung der Sozialgesetze gipfelte vor ihrer Beratung im Parlament Ende März 1995 in einer mächtigen Demonstration in Prag (90.000 Teilnehmer). Auch wenn es nicht gelungen ist, durch diese die Verabschiedung dieser Gesetze zu verhindern, wurde doch in der breiten Öffentlichkeit eine Diskussion in Gang gesetzt, und dank dem Bienenfleiß der Gewerkschaftsvertreter gelang es, in Verhandlungen mit den politischen Parteien diese Vorlagen wenigstens wesentlich abzuschwächen.

6


Anmerkungen

Die stufenweise Verschlechterung der Wirtschafts- und Soziallage führte zur erkennbaren Radikalisierung der Gewerkschaftsmitglieder und zur Abkehr von den Parteien der Regierungskoalition. Das beeinflusste die politischen Präferenzen und ohne Übertreibung auch die Ergebnisse der Parlamentswahlen von 1996 erheblich. Richard Falbr, Auf dem Weg zu einem europäischen Sozialmodell – die tschechische Perspektive (in: Monika Juch, Red., Europa 2000+. Auf dem Weg zu einem euro­ päischen Sozialmodell, Wien 2000)

Veränderungen in drei Bereichen sollen im Folgenden behandelt werden: die heutige Position der Gewerkschaften im gesellschaftlichen und poli­ tischen System der mittel- und osteuropäischen Länder, ihre organisato­ rischen Strukturen und ihr Selbstverständnis sowie schließlich ihre Arbeits­ weise und Aktivitäten.

Veränderung der gesellschaftlichen und politischen Funktion der Gewerkschaftsbewegung Im „realen Sozialismus“ der osteuropäischen Länder hatten die Gewerk­ schaften als die gesellschaftliche Organisation der Arbeiterklasse eine wichtige und staatstragende Stellung innegehabt. Die Zuerkennung eines bestimmten Kontingents an Parlamentsmandaten an den Gewerkschafts­ bund (wie auch an andere gesellschaftliche Organisationen) in der früheren Deutschen Demokratischen Republik war in dieser Hinsicht zwar ein Son­ derfall, doch hatte auch die Verfassung der Sowjetunion das Recht der Ge­ werkschaften vorgesehen, Kandidaten zur Wahl in die Sowjets aller Ebenen aufzustellen; in den übrigen osteuropäischen Ländern, etwa in Ungarn und der damaligen Tschechoslowakei, waren Gewerkschaftsfunktionäre von der jeweiligen Nationalen Front bei der Zusammenstellung der Kandida­ tenlisten berücksichtigt worden.

Rolle der Gewerkschaften im realen Sozialismus

Die führenden Repräsentanten der Gewerkschaftsverbände hatten zugleich wichtige staatliche Posten bekleidet und über beträchtlichen po­ litischen Einfluss verfügt. Auf betrieblicher und arbeitsrechtlicher Ebene hatten dieser privilegierten politischen Position weit gehende – wenn auch nicht in die Praxis umgesetzte – Mitsprache- und Mitbestimmungsrechte der lokalen Gewerk­schafts­organisationen entsprochen. Auch auf so­zial- und kulturpolitischem Gebiet war die Bedeutung der Gewerkschaften enorm gewesen, was etwa in der Verwaltung tausender Ferienheime, Sanatorien oder Kultureinrichtungen zum Ausdruck kam. Als Gegenleistung wurde von den Gewerkschaften erwartet, als „Transmissionsriemen“ für die jeweilige Kommunistische Partei zu funktionieren (der Begriff „Transmis­ sionsriemen“ wurde übrigens 1922 von Lenin geprägt). Die Partei vertrat ihren Absolutheitsanspruch als führende politischen Kraft der realsozia­ listischen Gesellschaft auch gegenüber der Gewerkschaftsbewegung. Demgegenüber haben sich heute die Rahmenbedingungen für die Position der Gewerkschaftsbewegung drastisch verändert. Die Gewerkschaften in den Reformstaaten haben ihren bisherigen quasi öffentlich-rechtlichen Sta­ tus ausnahmslos verloren und werden von Regierungen und Öffentlichkeit nur als private Interessenverbände betrachtet. Zwar ist eine offene Mißach­ tung der im Rahmen der ILO vereinbarten Gewerkschaftsrechte, wie etwa in Weißrußland, eher selten, ihren früheren politischen Einfluss jedoch, ihre Funktion als Karriereleiter sowie ihre Bedeutung für den Freizeit- und Kulturbereich haben die Gewerkschaften heute überall weit gehend verlo­ ren. Praktisch in allen Ländern sind die Arbeitnehmer­organisationen, nicht zuletzt aufgrund internationaler Einflussnahmen etwa der ILO oder inter­ nationaler Gewerkschaftsverbände, in „dreigliedrigen“ Beratungsgremien der Sozialpartner und der Regierungen vertreten, doch kommt diesen kei­ ne besondere praktische Bedeutung zu; von der konservativen Regierung

Neuer Status

7


Anmerkungen

Ungarns wurde der Soziale Dialog durch die Errichtung des „Nationalen Arbeitsrats“ 1998 sogar deutlich abgewertet. Gerade im Hinblick auf den Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder zur Europäischen Union, der gut vorbereitet sein und von einer breiten Willensbildung der Bevölkerung ­inklusive der Sozialpartner getragen werden sollte, forderte jedoch der Euro­ päische Gewerkschaftsbund zu Recht eine Intensivierung des ­Sozialen Dialogs; diese Forderung hat sich mittlerweile auch die EU-Kommission zu Eigen gemacht. Auch eine politisch abgesicherte Vertretung der Arbeiterbewegung in den Parlamenten besteht nicht mehr. In mehreren Ländern hat sich viel­ mehr eine weit gehende politische Abstinenz der Gewerkschaften durch­ gesetzt (Spitzenfunktionäre ­dürfen keiner politischen Partei angehören), so in Slowenien oder in der Tschechischen Republik (wenngleich die ursprünglich strikte Haltung von CM KOS durch die Wahl führender Gewerkschafter als parteiunabhängige Kandidaten in den Senat aufge­ lockert wurde). In anderen Ländern bzw. Organisationen gehören füh­ rende Funktionäre als Personen den jeweiligen Parlamenten an (meist als Abgeordnete sozialdemokratischer oder sozialistischer Parteien), etwa in Ungarn oder bei der polnischen OPZZ. In der russischen Duma haben den Gewerkschaften nahe stehende Abgeordnete eine „Gewerkschaftslobby“ gegründet. Sonderfall ist die Gewerkschaftszentrale Solidarno´sc´ in Polen, die traditionell auch als politische Partei auftritt bzw. eng mit konserva­ tiven Parteien verflochten ist.

Gewerkschaften und Parteien

Struktur und Selbstverständnis In Bezug auf die gewerkschaftlichen Organisationsformen ist die Entwick­ lung in den Ländern Mittel- und Osteuropas vor allem durch folgende vier Elemente gekennzeichnet: Zerfall der Strukturen

1. durch den Zerfall der früher bestehenden einheitlichen und straff zentralisierten Gewerkschaftsbünde in zahlreiche lokale, regionale, Bran­ chen- oder Richtungsgewerkschaften, die nun entweder vollkommen selbstständig agieren oder sich lose in neuen Dachorganisationen zusam­ mengeschlossen haben. Die Ursachen dafür sind im Wiederaufleben von oft traditionellen Betriebsoder Branchenidentitäten zu suchen, aber auch in politischen, nationalen und personellen Konflikten. Klassische Beispiele dafür sind etwa, verein­ facht dargestellt, das Auseinanderbrechen des früheren ungarischen Ge­ werkschaftsbundes SzOT in vier Nachfolgeverbände – MSzOSz, ASzSz, SzEF und ÉSzT –, der Zerfall des Bundes der Gewerkschaften Jugoslawiens in einzelne Republikverbände (die sich dann wiederum in mehrere Organi­ sationen aufspalteten).

Innere Reform

2. war die gewerkschaftliche Entwicklung während der Transformations­ periode durch die innere Reform der meisten traditionellen Gewerkschafts­ bünde gekennzeichnet. Oft unter erheblichen Konflikten wurden neue organisatorische Strukturen aufgebaut, eine politische und ideologische Neuorientierung vorgenommen. Ansätze zu solchen Reformbestrebungen hatte es natürlich schon früher gegeben, doch sollte ihnen der Durchbruch erst im Zusammenhang mit den gesellschaft­lichen Umwälzungen der Jahre 1989/90 gelingen; starke Eigeninteressen von Re­gional- oder Branchenverbänden, daraus resultie­ render Kompetenz- und Ressourcenmangel auf der zentralen Ebene sowie 8


Anmerkungen

Gewerkschaftsreform trotz Widerstand Unter den Bedingungen des totalitären Systems verliefen die Gewerkschaftskongresse nach wohlbekanntem Szenarium. Den Delegierten wurde ein Bericht vorgelegt, der zuvor den Segen der obersten Leitung der regierenden kommunistischen Partei erhalten hatte. So erfüllte auch das höchste Forum der Gewerkschaften die ihnen übertragene Rolle einer Transmission zwischen der kommunistischen Partei und den Werktätigen. Das Ergebnis kennen wir – eine schwere und für jeden sichtbare Krise im Vertrauen der Gewerkschaftsmitglieder zu ihrer eigenen Organisation. Die Menschen haben sich ihr entfremdet und den Glauben verloren, dass sie ihre Interessen verteidigen kann. Unmittelbar nach dem Sturz der despotischen Macht sahen sich die bulgarischen Gewerkschaften vor ein schicksalhaftes Dilemma gestellt: Entweder mussten sie sich nach einer grundlegenden inneren Reform umgestalten und sich den radikalen Veränderungen anschließen, oder sie würden als Organisation zerfallen. Auf ihrem fünften Plenum erklärten sich die bulgarischen Gewerkschaften für unabhängig. Was bedeutet, unabhängig zu sein, und was gewinnen wir dadurch? Die Unabhängigkeit deklariert als erstes die Bereitschaft zu selbstständigem Handeln. Hätten wir nicht auf unserer Selbstständigkeit bestanden, wären wir vom nationalen runden Tisch [an dem die entscheidenden Verhandlungen zur Schaffung eines neuen politischen Systems stattfanden] isoliert worden. Unsere Erklärung, dass wir zum Äußersten bereit seien, um nicht von der Erörterung der Fragen, die die Lebensinteressen der Werktätigen betreffen, ausgeschlossen zu werden, hatte Erfolg. Die gewerkschaftliche Unabhängigkeit erfordert eine Entpolitisierung unserer Tätigkeit. Doch dies bedeutet nicht, dass wir den politischen Kämpfen teilnahmslos zusehen werden, dass es uns gleich ist, wer was für eine Macht errichten wird. Die Geschichte lehrt, dass die Werktätigen und ihre Gewerkschaftsorganisationen stets verloren haben, wenn sie diese Frage unterschätzt haben. Wir werden die Wahlplattformen der Kandidaten [für das Parlament] prüfen und an unsere Mitglieder und Organisationen appellieren, jene zu unterstützen, deren sozialökonomische Plattform unseren Forderungen am nächsten kommt. Die Gewerkschaften sind eine große Kraft und werden es auch bleiben. Die Zeit der nomenklaturmäßigen Kongresse ist vorüber. Heute sind wir zusammengekommen, um in demokratischer Atmosphäre und nach breiter Diskussion die Zukunft der Unabhängigen Gewerkschaften in Bulgarien zu bestimmen. Nur die kollektive Meinung ist in der Lage, unsere Plattform auszuarbeiten und unsere neue Organisationsstruktur fest­zulegen. Vorsitzender Krastyo Petkov vor dem Gründungskongress des Bundes der Unabhän­ gigen Gewerkschaften Bulgariens, 17. Februar 1990

die Reformunwilligkeit von Funktionären auf der mittleren Ebene standen (und stehen) solchen Reformen häufig entgegen. Ideologisch kam es in den meisten Fällen zu einer Absage an die „Transmissionsriemen“-Theorie, zu einer Auflösung des Naheverhältnisses zur Kommunistischen Partei und zum Austritt aus dem Weltgewerkschaftsbund; programmatisch wer­ den der Übergang zur Marktwirtschaft, Privatisierungen etc. im Prinzip bejaht bzw. wurde in den meisten Fällen der Beitritt zur westeuropäischen Gewerkschaftsbewegung (vor allem IGB und EGB) sowie – auf Branchenebene – zu den Internationalen oder Europäischen Berufssekre­ tariaten vollzogen. Einhellig wurde von den meisten Gewerkschaftsbünden in Mittel- und Osteuropa der Beitritt ihrer Länder zur Europäischen Union, in vielen ­Fällen aber auch zur NATO befürwortet. Typische Beispiele für solche „Reformen von innen“ waren etwa die Entwicklungen im damaligen Tsche­ choslowakischen Gewerkschaftsbund (CS KOS), der im März 1990 den internen Reform­tendenzen durch einen kompletten Austausch der Füh­ rung sowie durch die Auflösung der regionalen Strukturen schlagartig zum Durchbruch verhelfen konnte, oder ebenfalls 1990 im Landesverband der ungarischen Gewerkschaften (MSzOSz), der Konföderation der Un­ abhängigen Syndikate ­Bulgariens (KNSB) oder der über Jahre gehende Prozess im Verband der ­unabhängigen Gewerkschaften Russlands (FNPR), der im Jahr 2000 im ­Beitritt zum damaligen IBFG (heute IGB) gipfelte. Als 9


Anmerkungen

noch nicht abgeschlossen hingegen müssen die Reformbestrebungen im All-­polnischen ­Gewerkschaftsverband OPZZ oder im Serbischen Gewerk­ schaftsbund (SSS) gelten.

Neue Organisationen

3. kam es zu einem oft spektakulären Entstehen neuer gewerkschaftlicher oder gewerkschafts­ähnlicher Organisationen. Im Unterschied zu den vor­ hin beschriebenen „traditionellen“ Bünden, die sich reformierten, nahmen die „neuen“ einen vollkommenen Bruch mit der Vergangenheit für sich in Anspruch, verfolgten teilweise deklariert (partei-)politische Zielsetzungen und verfügten häufig über bedeutende ausländische Unterstützung. Vielfach aus kleinen intellektuellen Dissidentenzirkeln entstanden, denen die Gründung einer „Gewerkschaftsorganisation“ manchmal die einzige legale oder halb­legale Möglichkeit einer politischen Tätigkeit eröffnete, lag der Erfolg dieser Verbände kurzfristig im Aufbau einer breiten, vielfach spontan agierenden Volks- oder Menschenrechtsbewegung antikommu­ nistischer Prägung, stieß bei der notwen­digen Institutionalisierung (z.B. der regelmäßigen Einhebung von Mitgliedsbei­trägen) und im Bereich der professionellen Vertretung von Arbeitnehmerinteressen jedoch rasch an seine Grenzen. Als Modellfall dieses Organisationstyps ist zweifellos die polnische Solidarno´sc´ zu nennen, der zum einen über lange Zeiträume hinweg die Mobilisierung großer Teile der Arbeiterschaft im Kampf gegen Kriegsrecht und Sozialismus in Polen gelungen ist, die zum anderen jedoch die notwen­ dige Abgabe politischer Funktionen an die neugewählte Staatsmacht, die Distanzierung von den Prozessen der Parteienbildung sowie Herausfor­ derungen einer gewerkschaftlichen Interessenvertretung nur mit Schwie­ rigkeiten meistert. Nach dem Vorbild von Solidarno´sc´ konnten in den An­ fangsjahren der Transformation allerdings nur Podkrepa in Bulgarien bzw. Frat.ia in Rumänien auf ähnliche Erfolge verweisen. In den (wohlhabenderen) mitteleuropäischen Reformländern setzte sich dieses Modell einer „Gewerkschaft“ genannten Protestbewegung von Ar­ beitnehmern auf Dauer nicht durch; hier sahen sich vielmehr auch die ­„neuen“ Gewerkschaften früher oder später gezwungen, zum klassischen Modell eines Dachverbands von Branchengewerkschaften mit Schwerpunkt professionelle Interessenvertretung auf Betriebs-, Branchen oder nationaler Ebene zurückzukehren (z. B. Demokratische Liga in Ungarn, Neo­dvisnost in Slowenien).

„Kommunistische“ Neugründungen

4. blieben in mehreren Ländern traditionelle kommunistische Gewerk­ schafts­organisationen bestehen bzw. wurden neu gegründet. So wurde etwa vom letzten Vorsitzenden der von den Reformern aufgelösten Revo­ lutionären Gewerkschaftsbewegung der ehemaligen CSSR (ROH) im April 1991 die Gründung eines Gewerkschaftsverbandes für Böhmen, Mähren und die Slowakei in Angriff genommen (welcher im Bereich der heutigen Tschechischen Republik nicht ohne Einfluss besteht). Analog ist für die Russische Föderation die Politik der Gewerkschaft Agroindustrie (eines Mitgliedsverbands des erwähnten russischen FNPR) einzuschätzen, die entgegen der Position ihrer eigenen Dachorganisation eine wichtige Rolle im Weltgewerkschaftsbund spielt und in einem Bündnis mit der Kommu­ nistischen Partei Russlands steht. Das Resultat all dieser komplizierten und sehr fluktuierend verlaufenden Entwicklungen ist bislang in allen mittel- und osteuropäischen Ländern ein mehr oder weniger vielfältiger „gewerkschaftlicher Pluralismus“ verschie­ denster, mit­ein­an­der in Konkurrenz stehender gewerkschaftlicher Organi­ sationen unterschiedlicher Struktur und Richtung.

10


Anmerkungen

Tipp aus der Praxis: Damit Betriebsräte bzw. Gewerkschaften ihre Partnerorganisationen in den Ländern Mittel- und Osteuropas von vornherein einschätzen können, ist die rechtzeitige Kontaktnahme mit dem Internationalen Sekretär der jeweiligen Branchengewerkschaft bzw. dem Internationalen Referat des ÖGB anzuraten.

1. Was ist der wichtigste Unterschied zwischen den alten und neuen Strukturen der MOEL-Gewerkschaften?

2. Welche Ursachen sehen Sie für den wirtschaftlichen Nieder­ gang der MOEL?

3. Beschreiben Sie die Vor- und Nachteile eines zentralistischen Gewerkschaftsaufbaus.

Gewerkschaftliche Interessenvertretung Die gewerkschaftliche Interessenvertretung in den Ländern Mittel- und Osteuropas steht vor ungeheuren Herausforderungen. Angesichts von Massenarbeitslosigkeit und gezielt durchgeführtem Sozialabbau (um die „Standortqualität“ für ausländische Investoren zu verbessern), wenig transparenten Privatisierungsprozessen, volkswirtschaftlicher Umstruktu­ rierungen auf breitester Ebene und vielen anderen Veränderungen ist die Notwendigkeit von wirksamen gewerkschaftlichen Aktivitäten umso grö­ ßer. Diese aber werden durch zersplitterte Strukturen, fehlende oder ungleichmäßig verteilte finanzielle Mittel, vielfach auch durch mangelnde Erfahrung mit der westlichen Marktwirtschaft behindert.

Schwierigkeiten des Systemwechsels

Gewerkschaftliche Aktivitäten zur Durchsetzung von Arbeitnehmer­inte­ res­sen hatte es zwar auch im früheren System gegeben, im Wesentlichen 11


Anmerkungen

aber waren sie eingebettet geblieben in eine politisch vorgegebene Über­ einstimmung zwischen der politischen Führung (zuständiges Ministerium oder Parteikomitee), dem betrieblichen Management und der Gewerkschaft (die einen Teil der Sozialleistungen verwaltete). Gemeinsam hatte man ver­ sucht, die Vorgaben des Wirtschaftsplans zu erfüllen. Dies änderte sich schlagartig durch den Systemwechsel: Plan und zentrale Wirtschaftslenkung fielen weg, arbeitsrechtliche Bestimmungen auf natio­ naler Ebene konnten kaum mehr durchgesetzt werden, die Betriebe blieben sich selbst über­lassen oder standen vielfach vor der Übernahme durch neue, unbekannte Eigen­tümer; vielfach mussten neue Produkte entwickelt, neue Exportmärkte erschlossen werden. Es war ein wichtiger Bestandteil dieses Veränderungsprozesses, zunächst auf betrieblicher Ebene die Rollenverteilung zwischen Eigentümern, Geschäftsführung und Arbeitnehmervertretern zu klären und ein funktio­ nierendes System der Auseinandersetzung über Löhne und Gehälter, Ar­ beitszeit, Arbeitsbedingungen etc. zu errichten. Da landes- oder branchen­ weite Regelungen ohnehin kaum funktionierten, musste der Schwerpunkt daher zunächst auf Betriebsebene liegen, d. h. auf dem Abschluss funk­tio­ nierender Betriebsvereinbarungen (in den Reformstaaten meist „Kollek­ tivverträge“ genannt). Dadurch verstärkte sich natürlich die Gefahr des Betriebssyndikalismus. Entscheidende Auseinandersetzungen auf betrieblicher Ebene wurden/ werden in Mittel- und Osteuropa häufig nicht in Bezug auf Löhne, son­ dern um den Erhalt traditioneller Sozialeinrichtungen bzw. -leistungen geführt. Von den neuen Eigentümern bzw. einem nunmehr rein betriebs­ wirtschaftlich denkenden Management werden betriebliche Kindergärten, Sportanlagen, Erholungsheime oder Kaufhäuser aus Kostengründen in der Regel nicht weitergeführt.

Sozialabbau

Da übergeordnete Sozialeinrichtungen für die Beschäftigten jedoch oft nicht mehr oder noch nicht bestehen, bricht dadurch ein großer Teil der sozialen Versorgung der Bevölkerung zusammen. Die Schließung betrieblicher Kin­ derversorgungseinrichtungen hat zudem zum Hinausdrängen zahlreicher Frauen aus dem Arbeitsmarkt geführt. Vor allem in den ärmeren Ländern der Region sehen viele Gewerkschaften ihre Hauptaufgabe daher in einem sehr traditionellen Sinn – in der Sicherung einer sozialen Grundversorgung; dabei bedient man sich nicht nur einer Verhandlungsstrategie, sondern in vielen Fällen auch des betrieblichen Streiks. Kollektivvertragsverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeit­ gebern auf Branchenebene sind, wenngleich sie in ihrer Wichtigkeit zuneh­ mend erkannt werden, immer noch relativ selten. Dies liegt zum einen an der schlechten Organisation und Zersplitterung der Arbeitgeberverbände, aber auch daran, dass Vereinbarungen auf dem Papier häufig ohnehin nicht eingehalten werden (siehe das Problem der ausständigen Lohnzahlungen in den GUS- und südosteuropäischen Ländern). Regierungen – nicht zu­ letzt aufgrund eines mangelhaften Demokratieverständnisses – fühlen sich vielfach nicht an Verträge oder Vereinbarungen mit den Sozialpartnern gebunden. Gewerkschaftliche Kampfmaßnahmen nehmen daher sehr oft einen politischen, gegen die Regierung gerichteten Charakter an. In einigen GUS-Mitgliedsländern ist es sogar üblich, Streikkomitees auf Initiative der Betriebsleitungen zu gründen, um öffentliche Unterstützung für wirtschaftliche Forderungen der Firma gegenüber den Behörden zu erhalten. Häufig werden Anliegen von Arbeitslosen, Pensionisten oder be­ sonders unter Druck stehenden Arbeitnehmer(innen)gruppen in Form von spektakulären Demonstrationen, unterstützt durch symbolische Streiks in den Betrieben, zum Ausdruck gebracht.

12


Anmerkungen

Kampfmaßnahmen gegen Sozialabbau Unsere Geduld war zu Ende. Der Lebensstandard der Bergleute sinkt von Tag zu Tag. Mit Rücksicht auf die verbitterte Stimmung unserer Mitglieder entschloss sich unser Gewerkschaftstag zu einem Warnstreik. Damit wollten wir die Regierung, aber auch die internationalen Bergbaukonzerne noch stärker als bisher darauf aufmerksam machen, dass die Lage der ungarischen Bergarbeiter ein für allemal geklärt werden muss. Wir haben diesen Streik nicht für die Regierung, sondern ausschließlich für die Bergleute, im Interesse des Kohlebergbaus ausgerufen. Ich bin davon überzeugt, dass unsere Aktion die bisher größte Arbeiteraktion im demokratischen Ungarn überhaupt war. Dem hundertpro­zentigen Streik der Bergleute im Kohlebergbau schlossen sich die Beschäftigen des Uran-, ­Erdöl-, Erdgas-, Erz- und Mineralienbergbaus sowie des Stein- und Kiesbergbaus zum größten Teil an. Solidaritätserklärungen im Namen von fast 3 Millionen Menschen wurden an uns gerichtet. Das ist eine unerhörte Kraft. Auch aus dem Ausland kann ich ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige aufzählen, die sich mit uns solidarisch erklärten, so die deutsche Industriegewerkschaft Bergbau, die österreichische Gewerkschaft Metall-Bergbau-Energie, der schwedische Verband für Bergbauenergetik und andere. Sie alle ließen der ungarischen Gewerkschaftsbewegung ihre Aufmerksamkeit zukommen, sie versichern unserer gesamten Gesellschaft, die sich in Richtung auf Europa bewegt, ihre Unterstützung. All das gibt uns Kraft dafür, dass wir auch in der Zukunft für die berechtigten Ansprüche der Beschäftigten der Bergbauindustrie, für die Verbesserung ihrer Lebens- und Arbeitsumstände tapfer und kämpferisch auftreten werden. Antal Schalkhammer Generalsekretär der ungarischen Bergbaugewerkschaft, 19. Oktober 1990

Angesichts fortschreitender Privatisierung und einer Zunahme der Aus­ lands­investitionen haben es die gewerkschaftlichen Interessenvertreter schließlich immer stärker auch mit ausländischen Partnern oder Eigen­ tümern zu tun. Im Wesentlichen wird diese Entwicklung von den Ge­ werkschaften der verschiedenen Länder positiv bewertet, auch wenn in unterschiedlicher Intensität sozial- und wirtschaftspolitische Rahmenbe­ dingungen eingefordert werden. Eine zusammenfassende Evaluierung der bislang gesammelten gewerkschaftlichen Erfahrungen mit dem Engage­ ment multinationaler Konzerne in Osteuropa steht leider noch aus.

Ausländische ­Eigentümer

Einzelbeispielen, die von verschlechterten Arbeitsbedingungen und einer Diskriminierung gewerkschaftlicher Aktivisten berichten, stehen minde­ stens ebenso viele positive Erfahrungen gegenüber, wobei hierbei von den Betriebsgewerkschaften in Osteuropa häufig die Unterstützung westeu­ ropäischer oder US-amerikanischer Betriebsräte bzw. Gewerkschaften in Anspruch genommen wird. Tipp aus der Praxis: Gerade aus der Sicht des ÖGB sollte die gewerkschaftliche bzw. betriebsrätliche Unter­stützung der Arbeitnehmervertretungen in den österreichischen oder von Österreich aus koordinierten Firmen in Mittel- und Osteuropa stärker wahrgenommen werden.

Die Zusammenarbeit des ÖGB mit der mittel- und osteuropäischen Gewerkschaftsbewegung Kontakte mit und Unterstützung der sich neu organisierenden Gewerk­ schaftsbewegung in den Nachbarländern kamen seitens sowohl verschie­ dener Orga­ni­sations­­bereiche des ÖGB als auch einzelner Kolleginnen und Kollegen auf Betriebsebene bereits unmittelbar nach dem Fall des Eisernen

Neue Kontakte

13


Anmerkungen

Vorhangs spontan und mit großem Engagement zustande. Von Anfang an beteiligte sich der ÖGB auch an den Programmen des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften, die drei Jahre lang von einem in WienNeuwaldegg angesiedelten IBFG-Büro koordiniert wurden, etwa durch die Entsendung von Referenten.

Alltägliches Überleben organisieren „Bring warme Kleidung mit“, sagte mir der IBFG-Koordinator für Rumänien, als ich ihn eine Woche vor meiner Reise nach Rumänien anrief. Ich habe diesen Rat befolgt, außerdem auch noch Proviant mitgenommen und beides nicht bereut. Wer in diesen Tagen des Umbruchs nach Rumänien entsendet wird, um dort über gewerkschaftliche Bildungs- und Organisationsarbeit zu referieren, denkt wohl zunächst unwillkürlich an die gespannte politische Lage, die unzureichende Lebensmittel-, Wasser- und Energieversorgung. Doch schließlich erwacht auch die Abenteuerlust: Wann hat man heutzutage als Mitteleuropäer schon die Möglichkeit, in ein Land zu fahren, in dem gewerkschaftliche Arbeit fast bei Null beginnt und daher in einem unmittelbaren täglichen Kampf besteht. Die freie Gewerkschaftsbewegung Rumäniens befindet sich derzeit in einem Selbstfindungsprozess, dessen Richtung noch nicht klar abzusehen ist. Zwischen Ablehnung der Regierung und dem Mangel an Alternativen; zwischen den hohen Erwartungen der Mitglieder auf materielle Besserstellung und dem doch sehr beschränkten Handlungsspielraum; zwischen Streik zur Durchsetzung von Forderungen und der katastrophalen Wirtschaftslage; zwischen dem Wunsch nach schnellem Übergang zu Marktwirtschaft und Demokratie und der Frage nach dem Wie – das sind die Pole, zwischen denen die Gewerkschaftsbewegung Rumäniens ihren Weg erst finden muss. Trotz dieser Unsicherheiten in der Position der Gewerkschaften zählen diese heute zu den wichtigsten demokratischen Organisationen. Die unabhängigen Gewerkschaften sind die einzigen Organisationen, die auf eine Massenbasis verweisen können. Gerade in der Zeit, als sich der Umsturz vom Dezember 1989 zum erstenmal jährte, waren die Gewerkschaften maßgeblich an den Protestaktionen gegen den mangelnden Reformwillen der Regierung beteiligt. Franz-Josef Lackinger, Bericht über die ersten Ausbildungsseminare für die rumä­ni­ sche Gewerkschaftsbewegung (Arbeit & Wirtschaft 3/91).

Einfach war all dies sicherlich nicht angesichts der organisatorischen Um­ wälzungen und Fluktuationen in Mittel- und Osteuropa selbst und ange­ sichts der sowohl international als auch in Österreich mit großen Unsicher­ heiten und Meinungsverschiedenheiten geführten strategischen Diskussion über den besten Weg eines gewerkschaftspolitischen Engagements in Mit­ tel- und Osteuropa. „Vom Gießkannenprinzip zur Strukturhilfe“ – dieser Grundsatz wurde als eine erste Konsequenz aus dieser Diskussion gezogen und im November 1992 im Rahmen eines Workshops des Referates für internationale Verbin­ dungen des ÖGB, an dem Vertreter aller im ÖGB und den Gewerkschaften mit Fragen der Ost-Zusammenarbeit beschäftigten Stellen teilnahmen, fest­ gelegt. Es müsse mehr Wert auf die Festigung selbsttragender gewerkschaftlicher Strukturen gelegt werden: So sei es etwa nicht die Aufgabe der österreichischen Gewerkschaftsbewegung, möglichst viele Betriebsgewerk­ schafter bzw. Betriebsräte in den Nachbarländern zu schulen, sondern es müßten die jeweiligen Partnerorganisationen in die Lage versetzt werden, derartige Schulungen selbst durchzuführen und dazu ensprechende Insti­ tutionen zu schaffen. Hilfe zur Selbsthilfe also!

Strukturhilfe

Eine weitere Schlussfolgerung aus den Erfahrungen der ersten Jahre ge­ werkschaftlicher „Osthilfe“ war die Festlegung von „Schwerpunktländern“, auf die sich gemeinsame Projekte und Programme nach Möglichkeit konzentrieren sollen. Nicht zuletzt im Hinblick auf die damals bereits abzu­ sehende Erweiterung der Europäischen Union (1994 traten die ersten Asso­ ziationsverträge mittel- und ost­europäischer Länder mit der Europäischen Gemeinschaft in Kraft) steht dabei die Konzentration auf „Nachbarschaftspolitik“ im Vordergrund. Schwerpunktländer sind daher die unmittelbaren Nachbarländer Österreichs: Tschechien, Slowakei, Ungarn und Slowenien. 14


Diese notwendige Konzentration schließt freilich ad hoc-Kooperationen mit Gewerkschaften in anderen Ländern, zu denen engere wirtschaftliche Be­ ziehungen bestehen, oder eine Beteiligung an multilateralen Programmen (etwa im Rahmen der Aktivitäten, die von dem neu errichteten Pan-Europä­ ischen Regionalrat des IGB bzw. EGB koordiniert werden), nicht aus.

Anmerkungen

Im Einzelnen eröffnen sich für den Bereich der unmittelbaren Nachbar­ schaft neben der Zusammenarbeit auf zentraler Ebene (also zwischen den Gewerk­schaftsbünden) auch weite Möglichkeiten für die Branchengewer­ kschaften und Landesexekutiven des ÖGB, aber auch für die Betriebsräte (vor allem jene, die Kontakte zu betrieb­lichen Arbeitnehmervertretungen in Osteuropa im Zusammenhang mit Europa-Betriebsräten pflegen). Partnerschaftliche Zusammenarbeit auf der jeweils kor­respondierenden Ebe­ ne (also zwischen Betrieb und Betrieb; Region und Region; ­Gewerk­schaft und Gewerkschaft; Zentrale und Zentrale) im Rahmen eines gemeinsamen Konzepts vermeidet Doppelgleisigkeiten und führt durch die gegebenen Möglichkeiten einer gemeinsamen Vorbereitung, Planung und Evaluierung auch zu besseren Ergebnissen. Gerade im Hinblick auf die Vorbereitung zur EU-Erweiterung stehen der­ zeit Aktivitäten wie die folgenden im Vordergrund: l Gezielte Förderung von Kontakten zwischen österreichischen Betriebsrä­ ten und Betriebsgewerkschaften in osteuropäischen Tochter-(oder Partner-) firmen; adäquate Einbeziehung in das Euro-Betriebsratskonzept (Betriebs­ räte, Gewerkschaften) l Gemeinsame Ausarbeitung von grenzüberschreitenden wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Entwicklungskonzepten (u. U. in sozial­ partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit den Unternehmerverbänden, Behörden und AMS auf beiden Seiten der Grenzen); hiefür liegt die organisatorische Basis in den Partnerschaftsvereinbarungen der ÖGBLandesexekutiven Oberösterreich und Niederösterreich für Südböhmen bzw. Südmähren, Burgenland für Westungarn sowie Steiermark und Kärnten für die grenznahen Gebiete in Slowenien l Ausbau der Rechtsschutzangebote für ausländische Arbeitnehmer. Ein diesbezügliches Pilotprojekt wurde vom ÖGB Burgenland gestartet – hier wurden innerhalb von zwei Jahren bereits über 3.000 ungarische Arbeitnehmer/innen im Burgenland in arbeits- und sozialrechtlichen Fragen beraten bzw. ihnen Rechtsschutz gewährt. Ende 2004 kam es darüber hinaus zwischen dem ÖGB und den sechs ungarischen Bünden zum Abschluß eines Rechtsschutzvertrags, demzufolge ungarische Ar­ beitnehmer/innen in ganz Österreich sowie umgekehrt österreichische Beschäftigte in Ungarn rechtliche Beratung und Unterstützung erhalten können. Beinhaltet ist dabei eine gegenseitige Anerkennung der Mit­ gliedschaft. Einige dieser Themen sind in den folgenden Beiträgen dieses Skriptums ausführlicher behandelt.

ÖGB-Aktivitäten

4. Nennen Sie die Grundzüge und Grundprinzipien der ge­ werkschaftlichen Zusammenarbeit zwischen den MOEL und Österreich, und beschreiben Sie die Notwendigkeit und die Möglichkeiten der Ost-Zusammenarbeit auf betrieb­ licher Ebene!

15


Das Organisationsspektrum – ein Überblick

Anmerkungen

Nachfolgend soll ein knapper Überblick über das manchmal komplizierte gewerkschaft­liche Organisationsspektrum in Mittel- und Osteuropa ge­ geben werden. Kontakt­adressen und -personen finden sich im Anhang verzeichnet. Weitere Unterlagen zu den einzelnen Ländern und Organi­ sationen sind auf Anfrage im Internationalen Referat des ÖGB (1010 Wien, Laurenzerberg 2) erhältlich; Internet-Benutzer/innen verweisen wir auch auf die Websites des Internationalen Gewerkschaftsbundes (http://www.ituc-csi.org) bzw. des Europäischen Gewerkschaftsbundes (http://www.etuc.org – „about us“ anklicken).

Zentraleuropa Tschechien

Enge Verbindungen des Österreichischen Gewerkschaftsbundes zu den Gewerk­schaften in den Nachbarländern bestehen zwar nicht erst seit dem Systemwechsel, Form und Inhalt aber haben sich seither wesentlich verändert und weiterentwickelt. In der Tschechischen Republik verfügt der ÖGB mit der Tschechisch-Mährischen Gewerk­schafts­konföderation (CM KOS) über einen starken Partner. CM KOS repräsentiert mit derzeit 33 Einzelgewerkschaften einen Großteil der tschechischen Wirtschaftsbran­ chen und verfügt in allen Bezirken Tschechiens über regionale Vertre­ tungen und Beratungsbüros. International ist CM KOS Mitglied von IGB und EGB, auf nationaler Ebene spielt die Konföderation die führende Rolle bei der Vertretung der Arbeitnehmerinteressen in der sog. Tripartität, dem Beratungsgremium der Regierung mit den Sozialpartnern. Organisations­ politisch einschrän­kend muss allerdings festgestellt werden, dass einige wichtige Industriegewerk­schaften CM KOS nicht (oder nicht mehr) angehö­ ren, etwa die Verbände Landwirtschaft und Eisenbahn, die einen eigenen, losen Dachverband (die Assoziation der selbständigen Gewerkschaften/ ASO) gegründet haben, sowie einige kleine Gewerkschaften der Kultur­ sphäre, die seit 1990 über einen eigenen Dachverband (KUK) verfügen. Weiters bestehen ein nicht einflußloser kommunistischer Gewerkschafts­ verband sowie eine kleine christdemokratisch orientierte Organisation. Die eindeutig größte Organisation ist mit über 900.000 zahlenden Mitgliedern CM KOS; insgesamt liegt der gewerkschaftliche Organisationsgrad bei un­ gefähr 30%.

Slowakei

Wie angesichts der bis 1993 gemeinsamen Geschichte nicht anders zu er­ warten, ist die Situation in der Slowakischen Republik ähnlich; die Domi­ nanz eines einheitlichen Gewerkschaftsbundes konnte sich hier sogar noch stärker erhalten als in Tschechien. Die Konföderation der slowakischen Gewerkschaftsverbände (KOZ SR) vereinigt heute 36 (ebenfalls sehr eigen­ ständige) Branchengewerkschaften mit insgesamt 700.000 zahlenden Mit­ gliedern. Außerhalb von KOZ SR bestehen mehrere kleine Organisationen, so die Kulturgewerk­schaft KUK sowie ein christdemo­kratisch orientierter Verband. Insgesamt sind in der Slowakei etwas mehr als ein Drittel der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert. Auch KOZ SR ist Mitglied von IGB und EGB.

Ungarn

Im Unterschied zu den beiden vorgenannten Ländern ist Ungarn durch eine starke Auffächerung der gewerkschaftlichen Strukturen gekennzeichnet. Derzeit bestehen sechs anerkannte Gewerkschaftskonföderationen (jeweils mit Mitglieds­verbänden in allen oder einigen Branchen). Der Landesver­ band der ungarischen Gewerkschaften (MSzOSz), der Verband der Auto­ nomen Gewerkschaften (ASzSz), die Demokratische Liga (VDSz) und der Verband der Arbeiterräte (MOSz) vereinigen in erster Linie Gewerkschaften aus der Industrie, während das Forum der gewerkschaft­lichen Zusammen­ 16


arbeit (SzEF) und der Gewerkschaftsverband der Intellektuellen (ÉSzT) den Öffentlichen Dienst repräsentieren. Alle sechs ungarischen Bünde gehören sowohl dem EGB als auch dem IGB an. Insgesamt wird die Zahl der Ge­ werkschaftsmitglieder in Ungarn auf etwa 700.000 Personen geschätzt, was einen Organisationsgrad der Beschäftigten von etwa 15% ergibt. Mit EU-Fra­ gen befaßt sich die gemeinsame Integrationskommission der ungarischen Gewerkschaften (http://business.matav.hu/uzlet/mszeib).

Anmerkungen

Auch im kleinen Slowenien haben organisations- und parteipolitische Differenzen zu einer teilweisen Aufsplitterung der Gewerkschaftsbewe­ gung geführt. Die mit Abstand bedeutendste Arbeitnehmerorganisation des Landes ist der Verband der unabhängigen Gewerkschaften Sloweni­ ens (ZSSS), welcher als einziger slowenischer Gewerkschaftsverband dem EGB angehört. ZSSS vereinigt 20 Branchengewerkschaften mit insgesamt 370.000 Mitglie­dern und verfügt als einziger auch über territoriale Orga­ nisationseinheiten in allen Bezirken. An den Sitzungen des dreigliedrigen Wirtschafts- und Sozialrats jedoch nehmen darüber hinaus noch einige weitere, von der Regierung als „repräsentativ“ angesehene Organisationen teil: Konfederacija 90 (eine vor allem an der adriatischen Küste sowie in einzelnen Branchen stark verankerte Organisation) sowie die kleinen Ge­ werkschaftsbünde Pergam und Neodvisnost. Darüber hinaus bestehen – vor allem im öffentlichen Dienst – zahlreiche Betriebs- oder Sektorgewerk­ schaften, die überhaupt keinem Dachverband angeschlossen sind. Ein An­ zeichen zunehmender Zusammenarbeit stellte die von den vier genannten Verbänden und elf keinem Dachverband angeschlossenen Organisationen gegen die von der slowenischen Regierung geplante Einführung der FlatTax am 26. November 2005 dar.

Slowenien

Ein schwerwiegendes Problem ist die trotz intensiver und fortgeschrittener Verhandlungen 1998 immer noch fehlende Einigung über eine gemeinsame Nutzung der Gewerkschaftsräumlichkeiten; wie ein Damok­les­schwert hängt über den Gewerkschaften daher die Drohung der rechtsgerichteten Parteien, eine Verstaatlichung des Gewerkschaftsvermögens durch das Parlament zu fordern. Umso bemerkenswerter ist der Umstand, dass der gewerkschaft­ liche Einflussß auf die Gestaltung arbeitnehmerrelevanter Bereiche der slo­ wenischen Politik relativ hoch ist und es gelungen ist, einen im europäischen Vergleich relativ hohen Organisationsgrad von etwa 40 % zu erhalten.

Betriebsratstätigkeit mit Hindernissen Die Regulierung der industriellen Beziehungen in den Betrieben oder Firmen Sloweniens betrifft auch die Mitbestimmung der Arbeitnehmer. Auf diesem Gebiet hat die Vereinigung der Unabhängigen Gewerkschaften Sloweniens in den letzten Jahren einen wichtigen Erfolg erzielt; die Einführung des Betriebsrätesystems (vorwiegend nach deutschem Vorbild) war ja von andauernden Konflikten mit den Unternehmerverbänden gekennzeichnet gewesen, welche sich überhaupt gegen Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer aussprachen bzw. die Umsetzung derselben verhindern wollten. Dessen ungeachtet war es den Arbeitern in den meisten Privatfirmen möglich, Vertreter für die Teilnahme an den Mitbestimmungsgremien zu wählen. Mit besonderen Schwierigkeiten dabei waren wir im Bereich der Dienstleistungen und in Kleinbetrieben konfrontiert, wo auch der Organisationsgrad niedrig ist. Häufig verursacht der Widerstand von Geschäftsleitungen gegen die Mitbestimmung Probleme für das Funktionieren der Betriebsräte; diese werden als unnötiger Vorteil für die Arbeitnehmer, ja geradezu als Hindernis für die Führung der Betriebe angesehen. Diese Haltung der Unternehmerorganisationen resultiert einerseits aus ihrer einseitigen Orientierung auf die Interessen des Kapitals bzw. ihrer Abwertung des Faktors Arbeitskraft, andererseits aber auch aus einem klassischen, autokratischen Verständnis von betrieblicher Führung, wie es für viele Manager immer noch typisch ist. Daher kommt es immer wieder zu Fällen, in denen Geschäftsführungen nicht bereit sind, mit Betriebsräten zusammenzuarbeiten, oder generell das System der Betriebsverfassung in Frage stellen. Dušan Semolic, Social dialogue in Slovenia (übers. aus: Monika Juch, Red., Europa 2000+. Auf dem Weg zu einem europäischen Sozialmodell, Wien 2000) v

17


In Polen ist die gewerkschaftliche Situation von der Existenz zweier großer, einander weitgehend konträr gegenüberstehender Gewerkschaftszentralen gekennzeichnet. Auf der einen Seite besteht die Nationale Gewerkschafts­ kommission NSZZ Solidarnos´c, entstanden aus der Protestbewegung der frühen 1980er Jahre gegen das damalige sozialistische Regierungssystem. NSZZ Solidarnos´c ist Mitglied im IGB sowie im EGB und verfügt durch ihre engen Verbind­ungen zur katholischen Kirche und zu den oppositionellen konservativen Parteien über einen gewissen politischen Einfluss. Trotz er­ heblicher Bemühungen, stärkere Branchenstrukturen aufzubauen, liegt der gewerkschaftliche Schwerpunkt von NSZZ Solidarnos´c allerdings nach wie vor auf der Betriebs- bzw. der Regionalebene. Als Gegenpol zu Solidarnos´c besteht andererseits der All-Polnische Gewerkschaftsverband OPZZ als Nachfolgeorganisation der früheren Einheitsgewerk­schaft. OPZZ steht in einem Naheverhältnis zur regierenden Sozialdemokratischen Partei und ist über diese ebenfalls im Parlament vertreten. Auch OPZZ ist Mitglied im IGB und im EGB. Neben ideologischen und parteipolitischen Differenzen bela­ stet vor allem das ungelöste Problem der Verteilung des Gewerkschaftsver­ mögens das Verhältnis zwischen den beiden großen Zentralen, neben denen noch zahllose unabhängige Betriebs- oder Sektorgewerk­schaften bestehen. Einige derselben haben sich 2002 zu einer dritten Dachorganisation, dem Forum, zusammengeschlossen. Laut groben, unbestätigten Schätzungen von wissenschaftlicher Seite dürfte der Organisationsgrad in Polen bei ca. 20 % der Industriebeschäftigten liegen.

Polen

Balkan und Südosteuropa Mit der Ausnahme Sloweniens ist die politische und gewerkschaftliche Situation in den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien von den Folgen des Krieges, der jeweiligen diktatorischen Regime sowie schwer zu überwindender nationalistischer Propaganda gekennzeichnet. „Normale“ Gewerkschaftsarbeit (nach unseren Begriffen) ist am ehesten in Kroatien möglich, wo die politische Liberalisierung nach dem Tod des autoritär re­ gierenden Staatschefs Tudjman auch den Gewerkschaften einen größeren Spielraum verschafft hat. Wichtigster Gewerkschaftsbund mit Organisati­ onseinheiten in praktisch allen Branchen und Regionen ist die Union der autonomen Gewerkschaften Kroatiens (SSSH), welche – ebenso wie der kleinere Verband der unabhängigen Gewerkschaften (NHS) – dem IGB beigetreten ist. Wesentlich verändert ist die gewerkschaftliche Situation auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien, wo in jedem heute unabhängigen Staat eigenständige Bünde entstanden sind: So etwa in Serbien der Bund der Unabhängigen Gewerkschaften Serbiens (SSSS) sowie die aus der Bür­ gerrechtsbewegung entstandene Organisation „Nezavisnost“ – beide Mit­ glieder im IGB. In Bosnien-Hercegovina ist es den Bemühungen des IGB gelungen, die zueinander distanzierten Gewerkschaftsbünde der beiden Landesteile (der Bosnisch-Kroatischen Föderation und der Republika Srps­ ka) in einem landesweiten Bund – der Gewerkschaftskonföderation von Bosnien und der Hercegovina – zu vereinigen. Mit Hilfe des Regionalrates PERC wird versucht, gewerkschaftliche Forderungen in die Programme zum wirtschaftlichen Wiederaufbau der Region – den von der Euro­päischen Union koordinierten Balkan-Stabilitätspakt – einfließen zu lassen.

Kroatien

Serbien

Bosnien-Hercegovina

Die ökonomischen Konsequenzen der Balkan-Kriege, ebenso aber auch mangelnde politische Stabilität und der bislang wenig erfolgreiche Verlauf des Systemwechsels stellen die Gewerkschaften in Bulgarien vor schwierige Herausforderungen. Beide repräsentativen Gewerkschaftszentralen wurden mittlerweile in den IGB aufge­nommen: zum einen die Konföderation der Unabhängigen Syndikate (KNSB), die mit über 40 Branchenverbänden und Strukturen in allen Regionen den größten Teil der Volkswirtschaft abdeckt, in ihrer Aktionsfähigkeit durch die staatliche Konfiszierung des Gewerk­

Bulgarien

18


schaftsvermögens 1991 jedoch stark beeinträchtigt wurde; zum anderen die Konföderation der Arbeit „Podkrepa“, eine zu Ende der kommunistischen Ära von Dissidenten gebildete Organisation, die sich zwischenzeitlich zu einer „klassischen“ Gewerkschaft entwickelte. Eine amtliche Feststellung ergab für die erste Jahreshälfte 1998 Mitgliederstände für KNSB von 608.000 und für Podkrepa 155.000. Trotz verschiedener Meinungsverschiedenheiten im einzelnen hat sich die Zusammenarbeit der beiden Verbände in den letz­ ten Jahren erheblich verbessert.

Anmerkungen

Auch in Rumänien ist die gewerkschaftliche Landschaft durch verschie­ denste politische und ideologische Tendenzen geprägt; hinzu kommen äu­ ßerst weitmaschige gesetzliche Repräsentativitätsbestimmungen, die vor allem auf regionaler und Branchenebene zu einer kaum überschaubaren Organisationsvielfalt geführt haben. Internationale Ansprechpartner sind die Konföderation der Freien Gewerkschaften (CNSLR-FRATIA), der Na­ tionale Gewerkschaftsblock (BNS) sowie Cartel Alfa, alles Mitgliedsorga­ nisationen von IGB und EGB.

Rumänien

Unter den Fahnen der Solidarität Etwa achttausend Menschen versammelten sich am 22. März, dem ersten Frühlingstag, unter den Fahnen des Bundes der Unabhängigen Gewerkschaften zu einer Protestkundgebung unter der Losung „Bulgarien braucht Arbeit“. Der Marsch startete vom Gewerkschaftsgebäude aus, für mehr als zwei Stunden wurde der Verkehr auf den zentralen Boulevards der Stadt blockiert. Die Demonstration wurde von KNSB-Vorsitzendem Jeliazko Hristov und der übrigen Führungsspitze des Bundes angeführt. Gewerkschaftsaktivisten aus allen Sektoren der Wirtschaft und aus allen Landesteilen bildeten eine menschliche Kette gegen das wohl grausamste Übel der Gesellschaft – die Arbeitslosigkeit. Auch die protestierenden Journalisten des nationalen Rundfunks schlossen sich der Demonstration an. Als der Zug das Hauptgebäude der Radio- und Fernsehverwaltung passierte, forderten die Menschen ein Ende der Zensur sowie der Entlassung prominenter bulgarischer Journalisten. Bei seiner Abschlussrede vor dem Gebäude des Ministerrats forderte Hristov die Regierung zu verstärkten Investitionen in moderne Industriesparten sowie zu einer verstärkten Wachstums- und Beschäftigungspolitik auf; Bulgarien müsse endlich den Weg zu einer sozialen Marktwirtschaft einschlagen. Im Anschluss daran brachten Vertreter/-innen von Frauen-, Jugend- und Roma-Organisationen ihre Forderungen für Solidarität und Gerechtigkeit vor. Grußbotschaften an die Demonstranten waren u. a. von den internationalen Verbänden sowie von polnischen, tschechischen, türkischen, österreichischen und französischen Gewerkschaftsbünden eingetroffen.

Gemeinschaft unabhängiger Staaten und Baltikum Der Zerfall der Sowjetunion hatte auch die Auflösung des früheren sowje­ tischen Gewerkschaftsverbandes zur Folge. Wichtigster gewerkschaftlicher Ansprechpartner in Russland ist die Föderation der Unabhängigen Ge­ werkschaften Russlands (FNPR) mit 43 Mitglieds- (und sechs assoziierten) Branchengewerkschaften, welche insgesamt etwa 34 Mio Menschen verei­ nigen; die Anzahl der beitragszahlenden Mitglieder wird allerdings nur auf ein Drittel geschätzt (was angesichts der oft monatelang nicht ausgezahlten Löhne kein Wunder ist); unter den regionalen Strukturen kommt jenen von Moskau und St. Petersburg besondere Bedeutung zu. FNPR ist – ebenso wie den zwei kleineren Gewerkschaftsverbänden VKT und KTR – seit dem Jahr 2000 Mitglied des IGB. Parlamentsabgeordnete aus allen russischen Gewerkschaften haben sich in der Duma zu einer Gewerkschaftslobby na­ mens „Solidarnost“ zusammen­geschlossen und versuchen, die Politik der Regierung (etwa hinsichtlich eines neuen Arbeitsgesetzes) in gewerkschaft­ lichem Sinn zu beeinflussen. Große Bedeutung besitzt die Entwicklung der russischen Gewerkschaftsbewegung zweifellos für jene in der Ukraine, wo

Russland

19


Anmerkungen

es im Zuge der „orangenen Revolution“ des Jahres 2004 auch zu einem Führungswechsel der Ukrainischen Gewerkschaftsföderation gekommen ist; daneben besteht ein kleinerer, dem IBFG angeschlossener Verband. Auch wenn in beiden Ländern der soziale Dialog zwischen Gewerkschaften und Regierung noch vieles zu wünschen übrig lässt und über die Verhält­ nisse in den Regionen nur wenig bekannt ist, muss jedoch der politische und organisatorische Spielraum der russischen wie auch der ukrainischen Gewerkschaftsbewegung als weit größer eingeschätzt werden als in be­ nachbarten Weissrußland. Gegen dessen Regierungen wurde in den letzten Jahren mehrfach Beschwerde im Rahmen der Internationalen Arbeitsorga­ nisation wegen Verletzung der in den ILO-Konventionen grundgelegten Assoziationsfreiheit eingelegt. In der Ukraine agieren zwei Dachverbände, die frühere offzielle Föderation der Gewerkschaften der Ukraine (FPU) so­ wie der Bund der Freien Gewrkschaften der Ukraine (KVPU), unter wenig stabilen politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. In allen übrigen GUS-Staaten können Gewerkschaften unter mehr oder weniger externen und internen Schwierigkeiten operieren.

Weißrussland

Die kleinen baltischen Staaten sind durch ein breites organisatorisches Spektrum gekennzeichnet. In Estland dominiert der Zentralverband der Estnischen Gewerkschaften (EAKL) mit etwa 50.000 Mitgliedern vor­ wiegend aus dem Industriebereich; die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes und der Lebensmittelindustrie und Landwirtschaft haben eigene Dachverbände gebildet. In Litauen gehören alle drei Bünde dem IGB an, an internationaler Unterstützung zum Zweck einer Verbesserung der Zusam­ menarbeit untereinander ist auch der ÖGB beteiligt.

Baltische Staaten

20


Manfred Anderle

Anmerkungen

Beispiel EMB:

Europäischer Koordinierungsansatz für nationale Kollektivverhandlungen Die Verbesserung der realen Lebens- und Arbeitsbedingungen von Ar­ beitnehmerInnen durch Kollektivverhandlungen ist Kern aller Gewerk­ schaftstätigkeiten. Um dieses Ziel zu erreichen, hat der Europäische Me­ tallgewerkschaftsbund als einer der ersten Branchenverbände seit den 1970er Jahren eine Koordinationspolitik entwickelt, die auf gemeinsamen Richtlinien und Mindeststandards für Kollektivverhandlungsrunden sei­ ner Mitgliedsorganisationen basiert.

Lohnkoordinierungsregel Wesentliches Element des Koordinierungsansatzes des EMB ist die Lohn­ koordinierungsregel, welche die Mitgliedsorganisationen verpflichtet, in ihren Kollektivvertragsverhandlungen die Abgeltung der Inflationsrate und gleichgewichtige Beteiligung an den Produktivitätszuwächsen zu be­ achten und damit zu einer positiven Entwicklung der Metallarbeiterein­ kommen beizutragen.

Inflationsrate plus ­Produktivitätszuwachs

Die Lohnkoordinierungsregel wurde 1998 auf der 3. Tarifpolitischen Kon­ ferenz des EMB in Frankfurt beschlossen, um unter den Bedingungen der Wirtschafts- und Währungsunion dem Absenkungswettbewerb bei Löhnen zu begegnen. „Zentraler Orientierungspunkt und Maßstab gewerkschaft­ licher Lohnpolitik muss Ausgleich der Inflationsrate und die gleichgewich­ tige Beteiligung der Arbeitnehmereinkommen an den Produktivitätsfort­ schritten sein“, heißt es in der Resolution über die Festsetzung der Lohnko­ ordinierungsregel auf der 3. Tarifpolitischen Konferenz in Frankfurt. Sie ist jedoch keine mathematische Formel zur Berechnung von Lohnforde­ rungen, sondern „ ein maßgebliches politisches Instrument, das in allen Kol­ lektivvertragsverhandlungen als klares Zeichen an alle Arbeitgeber in Europa Anwendung finden soll, dass wir koordiniert vorgehen und dass wir jegliche Bettelmann-Politik durch das Unterbieten der Standards unserer Freunde und Kollegen in anderen Ländern nicht akzeptieren werden und können.1

Erste gemeinsame Forderung Auf der 5. Tarifpolitischen Konferenz in Rom im Oktober 2005 erweiterte der EMB seine tarifpolitische Koordinierungsstrategie um einen zusätzlichen Schritt, als die TeilnehmerInnen voll Begeisterung die erste gemeinsame Forderung des EMB nach einem kollektivvertraglich garantierten individu­ ellen Recht auf Qualifizierung und Weiterbildung stellten. Damit übernah­ men die EMB-Mitgliedsverbände zum ersten Mal die Verpflichtung, in ihren anstehenden Tarifverhandlungsrunden diese gemeinsame Forderung auf­ zustellen, wobei die einzelnen Aspekte (wie nach einem individuellen Recht auf Weiterbildung, auf 5 Tage bezahlte Weiterbildungstage, jährliche Qua­ lifizierungspläne und kostenfreie berufliche Aus- und Weiterbildung) von den einzelnen Mitgliedsverbänden individuell eingebracht werden können.

Weiterbildungsrecht

1 Tätigkeitsbericht des EMB, Periode 2003-2007

21


Anmerkungen

Die Konferenz bildete auch den Auftakt zu einer Kampagne für die Umset­ zung der ersten gemeinsamen Forderung bis 2009 in Gestalt von nationalen „roadmaps“. Die Gewerkschaft Metall-Textil-Nahrung hat im Einklang mit diesem ge­ meinsamen Beschluss die Forderung nach bezahlter Bildungsfreistellung auch in ihre Forderungsprogramme für die Kollektivvertragsverhand­ lungen in der Elektro- und Elektronikindustrie im Frühjahr 2006 und in der Metallindustrie 2006 aufgenommen. In der Metallindustrie wurde die Forderung von den Arbeitgebern zurückgewiesen, und erst in der Herbst­ runde 2007 konnte mit der Einigung über eine einwöchige bezahlte Bil­ dungsfreistellung für die Ablegung der außerordentlichen Lehrabschlus­ sprüfung und Prüfungen auf Berufsbildenden höheren Schulen im zweiten Bildungsweg ein Durchbruch erzielt werden. Der Beschluss der ersten gemeinsamen Forderung ist ein wichtiger Wende­ punkt in der Koordinierungsstrategie des EMB hin zu einem pro-aktiven Ansatz in den Verhandlungen mit den Arbeitgebern; die Auswertung der übermittelten „roadmaps“ zeigt, dass die EMB-Mitgliedsverbände erste praktische Ergebnisse bei der Umsetzung dieses praxisbezogenen und im Hinblick auf die Ziele der Lissabonner Strategie hochaktuellen Themas erzielen konnten. Dies ermutigt den EMB, für die Zukunft seine tarifpolitische Koordinierung um zusätzliche gemeinsame Forderungen zu erweitern.

Eucob@n – Netzwerk Ein rascher und regelmäßiger Informationsaustausch ist unerlässlich für eine umfassende europäische Koordinierung und Zusammenarbeit im Be­ reich Kollektivvertragspolitik. Im November 1999 wurde daher im Rahmen eines Sonderprojektes des EMB der Grundstein für ein gemeinsames elek­ tronisches Informations- und Kommunikationsnetzwerk gelegt, um den Informationsfluss und die Datenerfassung zu verbessern. In kürzester Zeit gelang es, ein komplettes Korrespondentennetzwerk per e-mail in den einzelnen Mitgliedsorganisationen aufzubauen. Die Korre­ spondentInnen stellen über das Netz nicht nur eine aktualisierte Fassung des jährlichen Fragebogens über Kollektivvertragsverhandlungen zur Ver­ fügung, sondern liefern auch schnell aktuelle Informationen über laufen­ de Verhandlungen, anstehende Kollektivvertragsverhandlungsrunden, Streiks, etc. sowie Sonderauswertungen zu bestimmten Themen (Arbeits­ zeit), kurzum relevante Informationen für VerhandlungsführerInnen.

Informationsnetzwerk für KV-VerhandlerInnen

Das Netzwerk erhielt die einfache, aber treffende Bezeichnung EUCOBA (European Collective Bargaining= Europäische Kollektivvertragsverhand­ lungen). Die Tätigkeiten des Eucob@-Netzwerkes, die von einem wissenschaftlichen Projektmanager betreut werden, haben seit dem Kongress des EMB in Prag 2003 beständig zugenommen. Das Netzwerk wurde erfolgreich in die Arbeitsstrukturen des EMB integriert und damit gefördert und gestärkt, wodurch auch der Beteiligungsgrad an der tatsächlichen Berichterstattung sich verbessert hat. Der EMB konzentrierte sich auch zunehmend auf die Ausdehnung der Ko­ operation bei Eucoba auf weitere Branchenverbände. Seit 2000 arbeitete der EMB mit ETUF-TCL2 und in geringerem Maß mit EMCEF3 im Bereich von Eucob@ zusammen. Zum Ende des Jahres 2006 schließlich gelang es dem 2 ETUF-TCL: European Trade Union Federation –Textiles Clothing Leather (Europäischer Gewerkschaftsverband Textil, Bekleidung und Leder) 3 EMCEF-European Mine, Chemical and Energy Workers´ Federation (Europäische Föderati­ on der Bergbau-, Chemie- und Energiegewerkschaften

22


EMB, ein Kooperationsabkommen mit EMCEF und ETUF-TCL abzuschlie­ ßen, das vom Austausch und der Weitergabe von Informationen bis hin zur Verwendung eine gemeinsamen Namens für das Netzwerk sowie eines gemeinsamen Logos reicht: Eucob@n (European Collective Bargaining Net­ work= Europäisches Kollektivverhandlungsnetzwerk).

Anmerkungen

Regionale tarifpolitische Netzwerke – Wiener Memorandum Gruppe Seit 1998 ist die Möglichkeit, regionale Tarifnetzwerke zu schaffen, wichtiger Teil der Koordinierungsstrategie, vor allem im Zuge der Erweiterung der Europäischen Union. Ziel des EMB war die Unterstützung der nationalen Metallgewerkschaften bei der Umsetzung der Lohnkoordinierungsregel in die Praxis durch grenzüberschreitenden Informations- und Daten sowie auch Beobachteraustausch bei nationalen Kollektivvertragsverhandlungen. Die Erfahrungen der bisher eingerichteten Netzwerke sind unterschiedlich.

Wiener Memorandum Ein erfolgreiches Beispiel ist das „Wiener Memorandum“ zur Interregi­ onalen Tarifpolitik vom März 1999, wo sich Metallgewerkschaften von zwei EU- Mitgliedsstaaten (Österreich-GMTN und Deutschland-IG Metall Bayern) mit Partnerorganisationen aus damaligen vier Kandidatenländern (Tschechien, Slowakei, Ungarn und Slowenien) zusammenfanden, um sich gemeinsam den „neuen Herausforderungen des europäischen Integrations­ prozesses“ zu stellen. Aufbauend auf traditionell engen Beziehungen seit der politischen Wende 1989 ist es gelungen, nicht nur bessere Informationen über die einzelnen nationalen Lohnsysteme und Strukturen und damit tarifpolitische Abstim­ mung zu erreichen, sondern auch die Partnergewerkschaften in den mittelund osteuropäischen Nachbarländern beim Aufbau qualitativer tarifver­ traglicher Strukturen zu unterstützen. Die enge Kooperation ist auch ein deutliches Signal an die Arbeitgeber gegen Unterbietungskonkurrenz. Inzwischen sind aus den vier Kandidaten seit 1. Mai 2004 Mitglieder der EU geworden, was aber die notwendige enge Zusammenarbeit nicht in Frage gestellt hat. Immerhin ist es dem Netzwerk um das „Wiener Memo­ randum“ gelungen, die Spannungen und Konflikte, die es wegen der ein­ geschränkten Arbeitnehmerfreizügigkeit nach dem EU- Beitritt anfänglich auch unter den beteiligten Gewerkschaften gegeben hatte, zu keiner Bela­ stung der partnerschaftlichen Beziehungen werden zu lassen.

Keine Belastung der Beziehungen

In der Erklärung von Portorož vom September 2001 bekennen sich die Mitglieder des Netzwerks zu einem erweiterten Europa, das Frieden und Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Solidarität, Wohlstand und organisierte Interessensvertretung der Arbeitnehmer auf dem europäischen Kontinent dauerhaft verankern läßt. Trotz der positiven wirtschaftlichen Entwicklung durch die Öffnung, die ehemals tote Grenzen in lebendige Grenzregionen gewandelt hat, weisen die Mitglieder des Netzwerks auf die Besonderheit dieser Erweiterung hin, die sich aufgrund der Lage der wirtschaftlichen Ballungszentren, der Länge der Außengrenzen zu den mittel- und osteuropäischen Staaten von vorhergehenden unterscheidet und daher Übergangsbestimmungen , auch im Bereich der Personenfreizügigkeit, erforderlich macht, um krisenhafte Entwicklungen der Arbeitsmärkte in den Grenzregionen abzuwehren. Die Entwicklung der Löhne und der Sozialstandards ist für die Akzeptanz der Erweiterung der Europäischen Union entscheidend. Die Mitglieder des Netzwerks verpflichten sich daher, im Sinne einer effizienten Tarifpolitik ihre gegenseitige Informations- und Konsultationsarbeit zu verstärken. 23


Anmerkungen

Die Handlungsfelder des Interregionalen Tarifpolitischen Netzwerks Wie­ ner Memorandum Gruppe haben sich im Laufe des Bestehens um betrieb­ liche Kooperationen erweitert, um einen standortübergreifenden Informa­ tionsaustausch und die bessere Einbeziehung der Arbeitnehmervertrete­ rInnen in den neuen Mitgliedsländern in die Eurobetriebsräte zu ermögli­ chen. Aktuelle Themen wie prekäre Beschäftigung und Berufsausbildung wurden in grenzüberschreitenden Konferenzen der sechs Metallgewerk­ schaften behandelt.

Interregionale Leih-/ZeitarbeiterInnenkonferenz Mitte Juni 2007 befasste sich eine zweitägige Konferenz der Wiener Memo­ randum, zu der 80 GewerkschaftsvertreterInnen, BetriebsrätInnen und ­ExpertInnen aus Bayern, Österreich, Slowenien, Slowakei, der Tsche­ chischen Republik und Ungarn eingeladen waren, mit den Auswirkungen von Leih-/Zeitarbeit auf Löhne und Arbeitsbedingungen, die in allen sechs Ländern ein wachsendes Phänomen darstellt.

Leih- und Zeitarbeit

Die Zahl der Leih-/ZeitarbeitnehmerInnen hat sich in den letzten Jahren in der Slowakei und der Tschechischen Republik auf 30.000 (davon 15.000 in der Metallindustrie) verdreifacht. In Ungarn waren 2005 (letzte verfüg­ bare Daten) rund 76.000 Leih-/ZeitarbeitnehmerInnen beschäftigt, wobei in einem Jahr allein eine Zunahme von 45% festzustellen war. In Branchen wie in der Elektro- und Maschinenbauindustrie werden z. Z. bis zu 50 Prozent und in der Automobilindustrie bis zu 15 Prozent mit Leih-/Zeitarbeite­ rInnen besetzt. Obwohl in allen Ländern gesetzliche Regelungen über die Tätigkeit von Leih-/Zeitarbeitsfirmen existieren, die jedoch in den neuen Mitgliedslän­ dern nur unzureichende Garantie für gleiche Lohn- und Arbeitsbedin­ gungen bieten, werden nur in Österreich und Deutschland Tarif bzw. Kol­ lektivverträge abgeschlossen. Allein in Österreich wird von der GMTN ein branchenübergreifender Kollektivvertrag abgeschlossen, der Mindestlöhne und branchenübliche Überzahlungen sichert. Im Rahmen der Konferenz verabschiedeten die TeilnehmerInnen der Me­ tallgewerkschaften aus Bayern, der Slowakei, Slowenien, der Tschechischen Republik, Ungarn und Österreich eine gemeinsame Resolution, in der sie sich besorgt über die dramatisch zunehmende Verdrängung regulärer Be­ schäftigung durch Leih-/Zeitarbeit äußern. Die vertretenen Gewerkschaften wenden sich nicht prinzipiell gegen Leih-/Zeitarbeit wie z.B. zum Auffan­ gen von Produktionsspitzen, sondern gegen Strategien der Arbeitgeber, diese zu nutzen, um Löhne zu drücken, Mindeststandards zu unterlaufen und Beschäftigte gegeneinander auszuspielen.

Jugendkonferenz der sechs Metallgewerkschaften Auf einer gemeinsamen Jugendkonferenz der sechs in der Wiener Me­ morandum Gruppe vertretenen Metallgewerkschaften im September 2007 haben 55 VertreterInnen der Jugend der Metallgewerkschaften zwei Tage über Probleme und Qualität der Berufsausbildung diskutiert.

Jugend

Besorgt äußerten sie sich in einer einstimmig beschlossenen Resolution über die in allen Ländern wachsende Zahl von Jugendlichen, die keinen Ausbildungsplatz bekommen. Angesichts der Situation forderten sie daher die nationalen Regierungen und Europäische Kommission auf, gesetzliche Regelungen zu beschließen, die das Recht auf Ausbildung gewährleisten.

24


Eszter Tóth

Anmerkungen

Beispiel IGR:

Aus der Tätigkeit des Interregionalen Gewerkschaftsrates Burgenland / Westungarn Der Interregionale Gewerkschaftsrat (IGR) Burgenland – Westungarn wurde 1999 vom ÖGB-Burgenland und der Gewerkschaften in den be­ nachbarten ungarischen Komitaten gegründet. Zur Unterstützung solcher ­Aktivitäten wurde ein INTERREG-IIIA-Projekt mit einer Projektlaufzeit von Juli 2002 bis Dezember 2007 durchgeführt. Das Projekt wurde von der EU, dem Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit und dem Land Bur­ genland finanziert. Die Hauptaufgabe des Projektes bestand darin, gemein­ sam mit den westungarischen Gewerkschaften den Arbeitsmarkt in der Region Burgenland – Westungarn im Zuge des ungarischen EU-Beitrittes und der Übergangsfristen zu begleiten, zu beobachten und eventuelle nega­ tive Auswirkungen abzufedern. Das Projekt hat wesentlich zum Abbau von sozialen Ungleichheiten in der Grenzregion, wie z.B. zur Eindämmung der illegalen Beschäftigung, zum Abbau von bestehenden Vorurteilen gegen­ über ungarischen ArbeitnehmerInnen im Burgenland und zur ordnungs­ gemäßen Gestaltung der Arbeits- und Lohnbedingungen von ungarischen ArbeitnehmerInnen im Burgenland beigetragen. Es war die einzige Maßnahme, die im Burgenland gesetzt wurde, um al­ len Herausforderungen eines künftig geöffneten Arbeitsmarktes wirksam begegnen zu können. Neben dem ÖGB Burgenland waren die Gewerk­ schaften der ungarischen Komitate Györ-Moson-Sopron, Vas und Zala am Projekt beteiligt.

Partnerschaft mit ungarischen ­Gewerkschaften

Die Grenzregion Burgenland – Westungarn ist dreieinhalb Jahre nach dem EU-Beitritt Ungarns nach wie vor geprägt von wirtschaftlichen und sozialen Disparitäten sowie von unterschiedlichen soziodemographischen Kenn­ zahlen. Dem burgenländischen Arbeitsmarkt von ca. 90.000 Arbeitneh­ merInnen steht der westungarische Arbeitsmarkt mit ca. 460.000 Arbeitneh­ merInnen gegenüber. Bedingt durch immer noch massive Lohndifferenzen (1:3 bis 1:5) und geringen Distanzen zum österreichischen Arbeitsmarkt ist die Bereitschaft einer Arbeitsaufnahme von ungarischen Arbeitskräften in Österreich weiter steigend. Einer Studie der Paul-Lazarsfeld-Gesellschaft zufolge ist im Drei-Länder-Vergleich Tschechien, Slowakei und Ungarn nur in Ungarn seit 2004 die Bereitschaft zu einer Beschäftigungsaufnahme in Österreich massiv von 8 auf 13% gestiegen, während in der Slowakei und Tschechien diese Bereitschaft stagniert bzw. deutlich gesunken ist. Aufgrund der massiven Herausforderungen, die sich im Zuge der schritt­ weisen Öffnung des Arbeitsmarktes ergeben werden, hat der ÖGB Burgen­ land nach dem Auslaufen der Projektlaufzeit des EU-Projektes „Interre­ gionaler Gewerkschaftsrat (IGR)“ mit 1.1.2008 ein neues EU-Projekt unter dem Titel „IGR- Zukunft im Grenzraum“ gestartet, das die erfolgreichen Aktivitäten des ausgelaufenen Projektes fortsetzen soll. Die nachfolgende Beschreibung von Aktivitäten bezieht sich somit auf das abgelaufene IGRProjekt und beschreibt gleichzeitig die geplanten Projektaktivitäten für das neu gestartete Projekt „IGR - Zukunft im Grenzraum“. Derzeit gehen im Jahresdurchschnitt etwa 9.000 ungarische Arbeitneh­ merInnen im Burgenland einer Beschäftigung nach. Bei diesen Arbeitneh­ 25


merInnen handelt es sich zum überwiegenden Teil um Grenzgänger; sie sind hauptsächlich in der Landwirtschaft, der Gastronomie, im Bauwesen und Verkehr beschäftigt. Der IGR hat im Laufe seiner Projekttätigkeit die Erfahrung gemacht, dass die Mehrheit der ungarischen ArbeitnehmerInnen aufgrund von Sprachschwierigkeiten und aufgrund der Unkenntnis über die österreichischen Rechtsbestimmungen sehr marginal über die mit ihrer Arbeitstätigkeit verbundenen Rechte und Pflichten informiert ist. Dies führt nicht selten dazu, dass gerade bei ungarischen ArbeitnehmerInnen arbeitsund sozialrechtliche Standards untergraben und sie nicht zu denselben Ar­ beits- und Lohnbedingungen wie burgenländische ArbeitnehmerInnen be­ schäftigt werden. Dieser missbräuchliche Umgang mit sozial- und arbeits­ rechtlichen Standards hat jedoch nicht nur Konsequenzen für den einzelnen Arbeitnehmer, sondern führt auf dem burgenländischen Arbeitsmarkt in weiterer Folge zu einem massiven Lohn- und Sozialdumping und Verdrän­ gungswettbewerb. Um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, sieht der IGR den Hauptschwerpunkt seiner Tätigkeit in der umfassenden Informati­ on und Beratung der ungarischen ArbeitnehmerInnen über ihre Rechte und Pflichten bzw. in der Unterstützung bei der Durchsetzung dieser Rechte. Die Brisanz dieses Themas wird auch durch eine vor kurzem fertig gestellte Studie, die im Auftrag des IGR durch das IFES-Institut zum Thema „Ent­ wicklung des Arbeitsmarktes in der Grenzregion Burgenland – Westungarn während der Übergangsfristen“ erarbeitet wurde, belegt. Im Rahmen der Studie wurden insgesamt 520 im Burgenland beschäftigte ungarische Arbeit­ nehmerInnen über ihre Arbeitsbedingungen, Lohnbedingungen, Probleme und Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Arbeitstätigkeit befragt. Insgesamt 80 % der Befragten haben auf die Frage „Glauben Sie, dass Sie von Ihrem Dienstgeber korrekt behandelt werden und alles bekommen, was Ihnen zusteht?“ mit „Ja, sicher“ bzw. „eher schon“ geantwortet. Demgegen­ über ergab ein Vergleich mit den Löhnen von burgenländischen Arbeitern einen Lohnunterschied von 20 bis 40% für dieselbe Tätigkeit. Dieses Ergeb­ nis zeigt sehr deutlich, dass ungarische ArbeitnehmerInnen im Vergleich zu burgenländischen ArbeitnehmerInnen in der Entlohnung massiv benach­ teiligt werden und dies oftmals von den Betroffenen nicht erkannt bzw. wahrgenommen wird. Trotz des Umstandes, dass ungarische Beschäftigte im Burgenland bei gleichen Voraussetzung wie z. B. Arbeitszeit nur rund 80 % des burgenländischen Einkommensniveaus erreichen, liegt das erzielte Einkommen immer noch erheblich über jenem, das sie für eine vergleichbare Stelle in Ungarn bekommen würden. Im Durchschnitt könnte man in Un­ garn etwa ein Drittel des burgenländischen Einkommens verdienen. Dem angesprochenen Informationsdefizit versucht der IGR durch verschie­ denste Informationsmaßnahmen entgegenzuwirken. Einerseits betreibt der IGR seit März 2004 eine regelmäßige ungarischsprachige Rechtsberatung, die nicht nur in Eisenstadt, sondern auch in den restlichen Bezirken des Bur­ genlandes abgehalten wird. Im Rahmen der ungarischsprachigen Rechtsbe­ ratung können ungarische ArbeitnehmerInnen in Fragen zur Ausländerbeschäftigung, Arbeits-, Sozial- und Steuerrecht in ihrer Muttersprache Beratung in Anspruch nehmen bzw. werden bei Bedarf auch bei der Durch­ setzung dieser Rechte unterstützt. Die ungarischsprachige Rechtsberatung hat drei primäre Funktionen: Sie dient erstens dazu, ungarische Arbeit­ nehmerInnen über ihre Rechte aufzuklären, so zu gleichen Lohn- und Ar­ beitsbedingung bei österreichischen und ungarischen ArbeitnehmerInnen beizutragen und auf diese Art einem Verdrängungswettbewerb entgegen­ zuwirken. Den Handlungsbedarf belegen die Beratungszahlen: von März 2004 bis Dezember 2007 wurde dieses Beratungsservice von nahezu 12.000 ungarischen ArbeitnehmerInnen in Anspruch genommen. Die ungarisch­ sprachige Rechtsberatung erstreckt sich von der reinen Erstberatung bis zur Intervention beim Arbeitgeber und der Vertretung vor Gericht.

Rechtsberatung gegen Lohndumping

Zweitens leistet die Verbreitung der Notwendigkeit diese Maßnahme in 26


der Öffentlichkeit einen Beitrag dazu, bei den österreichischen Arbeitneh­ merInnen ein Bewusstsein für tatsächliche Wirkungszusammenhänge am Arbeitsmarkt zu schaffen und zu erkennen, welche Positionen die mut­ maßlichen KonkurentInnen am burgenländischen Arbeitsmarkt tatsächlich einnehmen. Drittens ist die Rechtsberatung ein Instrument zur Identifizierung von Pro­ blemen und Schwachstellen im Arbeitsmarktgefüge. Die so gewonnenen Informationen und Erfahrungen dienen nicht nur dem Projekt zur bedarfs­ gerechten Maßnahmenentwicklung. Sie werden darüber hinaus in Koope­ ration mit den arbeitsmarktrelevanten Behörden dazu genützt, Missstände zu orten und schließlich zu beseitigen. Begleitend zur individuellen Beratung organisiert der Interregionale Ge­ werkschaftsrat regelmäßig unterschiedlichste Informationsveranstaltungen, um über aktuelle Themen und Problemstellungen eine breite Mas­ se an Interessierten zu erreichen. Diese Informationsveranstaltung werden einerseits branchenspezifisch für die Beschäftigten einer bestimmten Bran­ che wie z.Bsp. Berufskraftfahrer, Beschäftigte in der Landwirtschaft oder Gastronomie, andererseits aber auch branchenunabhängig über für alle Branchen rechtsgültigen Themenstellungen angeboten. Um eine reibungs­ lose und lückenlose Verständigung sicherzustellen, werden sämtliche Ver­ anstaltungen simultan gedolmetscht. Branchenunabhängige Informations­ veranstaltungen wurden z. Bsp. abgehalten zu Themen wie Familienlei­ stungen, Krankenversicherung, Pensionsversicherung und Steuerrecht. Bei diesen Themenbereichen stellt sich den ungarischen ArbeitnehmerInnen zusätzlich die Schwierigkeit, dass sie aufgrund ihres Grenzgängerstatus zwischenstaatliche Regelungen beachten müssen. Die Besonderheit dieser Veranstaltungen besteht darin, dass zu den jeweiligen Themen die betrof­ fenen Behörden beider Länder eingeladen werden (wie z. Bsp. Pensions­ versicherungsanstalt aus Österreich und Ungarn) und die Teilnehmer nach einleitenden Referaten im Rahmen von eigens eingerichteten Infopoints mit Unterstützung eines Dolmetschers von den jeweiligen Behördenvertretern individuelle Beratung in Anspruch nehmen können. Dies soll zum Abbau von Hemmschwellen beitragen und so die Möglichkeit bieten, erste Schritte in Richtung Eigenverantwortung und Selbstbewusstsein zu gehen. Ziel ist es, die betroffenen Personen soweit zu mobilisieren, zu motivieren und zu enthemmen, bei Dringlichkeit entweder den IGR oder die zuständigen Behörden zu kontaktieren. Durch den direkten Kontakt mit Vertretern der betroffenen Behörden werden einerseits dringliche Fragen sofort vor Ort beantwortet und andererseits Hemmschwellen abgebaut, diese bei Bedarf in Zukunft zu kontaktieren.Diese Veranstaltungen erfreuen sich unter den ungarischen ArbeitnehmerInnen großer Beliebtheit und werden jeweils von 150 bis 400 Interessierten frequentiert. Ein Großteil der Ratsuchenden, die sich an das IGR-Büro wenden, sind in der Landwirtschaft beschäftigt. Die Beratungstätigkeit hat gezeigt, dass vor allem in dieser Branche sehr große Missstände vorherrschen. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass es sich hierbei um Arbeitnehmer han­ delt, die kaum bis gar keine Deutschkenntnisse haben. Diese Arbeitnehmer scheuen sich aufgrund der Sprachbarrieren, eine deutschsprachige Bera­ tung in Anspruch zu nehmen. Vorwiegend werden die Beschäftigten ledig­ lich mit einem Stundenlohn von ca. € 3,30/3,60 entlohnt. Darüber hinaus wird ihnen weder Urlaubs- oder Weihnachtsgeld ausbezahlt noch bezahlter Urlaub oder Krankenstand gewährt. Die ArbeitnehmerInnen sind oftmals – wenn überhaupt - lediglich für 20 Stunden angemeldet, obwohl sie in der Regel bis zu 10 oder in Spitzenzeiten sogar 12 Stunden am Tag und oftmals 6 Tage die Woche beschäftigt sind. Um auf diese Missstände zu reagieren, hat der IGR Infoaktionen an der Grenze gestartet. Vor allem während der Hochsaison, in der die ArbeitnehmerInnen aufgrund des zeitintensiven Arbeitseinsatzes keine Rechtsberatung aufsuchen können, werden an den

Problemzone ­Landwirtschaft

27


Anmerkungen

meist frequentiertesten Grenzübergängen zu den Stoßzeiten in der Früh und am Abend Informationsbroschüren verteilt und bei Bedarf vor Ort in­ dividuelle Rechtsberatung angeboten. Der IGR hat im Laufe seiner Projekttätigkeit bereits zahlreiche Publikationen herausgebracht, die entweder zweisprachig bzw. ungarischsprachig eine schriftliche Information und Hilfestellung bieten. Exemplarisch ge­ nannt sei hier der „Ratgeber für ungarische ArbeitnehmerInnen im Bur­ genland“, der auf über 80 Seiten wertvolle Information über Arbeits-, So­ zial-, Steuer- und Ausländerbeschäftigungsrecht sowie zahlreiche Kontakt­ adressen und ein Glossar der wichtigsten Fachbegriffe auf Ungarisch und Deutsch enthält. Weiters wurde ein Wörterbuch für Fachbegriffe aus der Arbeitswelt, ein Handbuch für Berufskraftfahrer, Kollektivvertragsinfobro­ schüre für den Bereich Landwirtschaft, Informationsbroschüren zum The­ ma „Die Betriebsratswahl“ und „Rechte und Pflichten des Betriebsrates“ usw. herausgebracht. Nicht zuletzt bietet die zweisprachige IGR-Homepage (www.igr.at) um­ fassende Informationen zum Projekt, zu laufenden Veranstaltungen und zu verschiedenen Rechtsthemen an. Die bereits angesprochene IGR-Studie zeigt weiters auf, dass die unga­ rischen ArbeitnehmerInnen im Vergleich zu den burgenländischen Arbeit­ nehmerInnen über ein durchwegs höheres Ausbildungsniveau verfügen (ein Drittel der im Arbeiterstatus beschäftigten Ungarn verfügt über Matura bzw. über einen Hochschul- oder Universitätsabschluss). Die derzeitige Be­ schäftigung im Burgenland ist daher überwiegend mit einer Dequalifizie­ rung verbunden; vier von zehn ungarischen ArbeitnehmerInnen arbeiten nicht in ihrem erlernten Beruf. Vor allem diese ArbeitnehmerInnen sehen in dem Auslaufen der Übergangsfristen eine Chance, im Burgenland eine ihrer Ausbildung entsprechende Beschäftigung zu erlangen. Es ist also an­ zunehmen, dass nach der gänzlichen Öffnung des Arbeitsmarktes eine stär­ kere Arbeitsmarktkonkurrenz auch in qualifizierteren Arbeiterbereichen, aber auch verstärkt in Angestelltensegmenten auftreten könnte.

Fortsetzung der Arbeitsmarkt­ konkurrenz

Zwar ist in den allermeisten Fällen keine dauerhafte Migration, sondern vielmehr längerfristig eine erneute Berufstätigkeit in Ungarn das Ziel, aller­ dings erwarten sich die wenigsten eine so rasche Entwicklung der Arbeits­ marktlage in Ungarn und der Einkommensdifferenzen zum Burgenland, als dass man in absehbarer Zeit mit einer Rückkehr ins Heimatland rechnen könnte (43% wollen „solange wie möglich“, 35% bis zur Pensionierung ei­ ner Beschäftigung im Burgenland nachgehen). Insgesamt ist aufgrund der Ergebnisse der Studie damit zu rechnen, dass es sowohl während der Übergangsfristen als auch danach einen weiteren Zuzug ungarischer ArbeitnehmerInnen auf den burgenländischen Arbeits­ markt geben wird. Dieser verstärkte Zuzug ungarischer ArbeitnehmerInnen wird den schon jetzt spürbaren Facharbeitermangel in Westungarn aller Voraussicht nach weiter vergrößern. Aufgrund der angesprochenen Szenarien ergibt sich für die Interessensver­ tretungen in Zukunft noch verstärkter die Hauptaufgabe, den betroffenen ungarischen ArbeitnehmerInnen eine intensive Information und Aufklä­ rung bzw. die Unterstützung bei der Durchsetzung dieser Rechte zu bieten, um einer Verstärkung des Lohndumpings und des Verdrängungswettbe­ werbes Einhalt zu gebieten. Aufgrund der Möglichkeiten des IGR-Projektes, auf aktuelle Problemstel­ lungen mit umfassenden Maßnahmen zu reagieren, und der Tatsache, dass es sich bei diesem Informations- und Beratungsangebot in ungarischer Spra­ che um ein einzigartiges Angebot handelt, hat sich der Bekanntheitswert und die Akzeptanz des IGR in kurzer Zeit massiv verbreitet. Nahezu die Hälfte der im Rahmen der erwähnten IFES-Studie befragten ungarischen 28


ArbeitnehmerInnen haben bereits in irgendeiner Form Leistungen des IGR in Anspruch genommen. Diese Zahlen sind ständig im Steigen begriffen und werden erwartungsgemäß aufgrund der beschriebenen Szenarien in Hinblick auf das Auslaufen der Übergangsfristen einen neuerlichen Höhe­ punkt erreichen. Die Aktivitäten des IGR können somit auf verschiedensten Ebenen den Arbeitsmarkt in der Grenzregion positiv beeinflussen.

Anmerkungen

Bei diesen Aktivitäten, die alle den übergeordneten Zielen der Schaffung eines integrierten Arbeitsmarktes, der Vermeidung eines Verdrängungs­ wettbewerbs zwischen ungarischen und österreichischen Arbeitneh­ merInnen und dem Abbau von Ängsten, Unsicherheiten und Vorbehalten entsprechen, können zwei Schwerpunkte unterschieden werden: Erstens Aktivitäten, die in erster Linie darauf ausgerichtet sind, die Bedingungen für ArbeitnehmerInnen in der Grenzregion auf einen EU-Standard zu brin­ gen. Dazu dienen die Stärkung nicht nur der österreichischen, sondern auch der ungarischen Interessensvertretungsstrukturen und der Ausbau der Be­ ratung und Unterstützung von in Österreich arbeitenden UngarInnen in den Bereichen Rechtsinformation und branchenrelevante Fachinformation. Zweitens jedoch bewusstseinsbildende Aktivitäten, die dazu beitragen, bei ArbeitnehmerInnen und innerhalb der Interessensvertretung beiderseits der Grenze ein Gemeinschaftsgefühl zu schaffen sowie Vorurteile und Äng­ ste abzubauen. Dazu dienen in erster Linie Aktivitäten, die über die reale Arbeitsmarktsituation in den unterschiedlichen Branchen informieren und einen Erfahrungsaustausch zwischen österreichischen und ungarischen Ar­ beitnehmerInnen fördern.

Zwei Zielgruppen

29


Anmerkungen

Wolfgang Greif

Beispiel EBR:

EU-Erweiterung und Europäische Betriebsräte Für die Gewerkschaften geht es im Zuge der EU-Erweiterung auch darum, den gewerkschaftspolitischen Dialog über die Grenzen hinweg auszubau­ en. Wo es schon Kontakte zu Partnergewerkschaften in den mittel- und ost­ europäischen Ländern gibt, müssen sie verstärkt, wo es sie noch nicht gibt, müssen sie aufgebaut werden. Es geht um eine Verstärkung der bi- und multilateralen Kontakte zwischen Arbeitnehmervertretungen aus Öster­ reich und den Nachbarländern, auch auf Unternehmensebene.

Grenzüberschrei­tende gewerkschaft­ liche ­Organisation – auch auf Unternehmens­ebene

Hinsichtlich der gewerkschaftlichen Zusammenarbeit muss es dabei das vordringlichste Ziel sein, in allen von der EU-Erweiterung betroffenen Regionen die Gewerkschaften zu unterstützen, jene Stärke zu erreichen bzw. zu erhalten, die notwendig ist, um auch auf betrieblicher Ebene gewerkschaftliche und betriebliche Vertretungen möglichst breit zu eta­ blieren und zu stärken. Dabei kommt auch der Beteiligung von Betriebs­ räten und Gewerkschaftsvertretern aus den Beitrittsländern im Rahmen bestehender bzw. neu zu gründender Europäischer Betriebsräte, große Bedeutung zu. In zahlreichen Branchen, vom Industriebereich über klassische Dienstlei­ stungssektoren wie etwa den Finanzdienstleistungen, dem Telekombereich sowie Handel, Verkehr und Bau bis hin zum Grundstoff- und Energiebe­ reich kam es bereits in den Neunzigerjahre zu umfassenden Direktinvesti­ tionen im Hinblick auf die Erweiterung. Das hat auch eine deutliche Zu­ nahme der Anzahl international tätiger österreichischer Unternehmen mit sich gebracht. In diesem Zusammenhang gewinnt auch die EU-Richtlinie zum Europäischen Betriebsrat eine für den ÖGB und die Gewerkschaften wachsende Bedeutung. Bis zur Erweiterung gab es knapp 40 Unternehmensgruppen mit zentralem Sitz in Österreich, in denen ein europäischer Betriebsrat eingerichtet wer­ den konnte. Die Bedeutung „Europäischer Betriebsräte“ lag für Österreich damit bislang weniger in der Errichtung von Europäischen Betriebsräten in österreichischen Konzernen als vielmehr in der so genannten „passiven Be­ troffenheit“, einer ungleich höheren Anzahl von österreichischen Betriebs­ räten in internationalen Konzernen, deren Stammsitz außerhalb Österreichs liegt und die zunehmend mit Unternehmensentscheidungen konfrontiert sind, die jenseits der nationalen Mitwirkungs- und Informationsrechte lie­ gen. In knapp 500 der bislang in der EU eingerichteten Euro-Betriebsräten (das sind knapp 2/3) gibt es heute eine Beteiligung von Betriebsräten aus österreichischen Tochtergesellschaften bzw. -betrieben. Dieses Bild hat sich durch die Erweiterung in großem Umfang geändert. Als Folge der starken Verflechtung der österreichischen Wirtschaft mit den neuen Mitgliedstaaten kam es zu einer Zunahme an in Österreich sitzenden Konzernzentralen (vorsichtige Schätzungen gehen heute über alle Bran­ chen hinweg von mindestens 200 aus), die im Falle der Ingangsetzung eines Verfahrens zur Etablierung eines Europäischen Betriebsraten, für diesen Prozess verantwortlich zeichnen werden. Zum einen gibt es bereits heute eine bemerkenswerte Anzahl von inter­ national agierenden Unternehmen mit zentraler Leitung oder mit ihrer Osteuropazentrale in Österreich, die in den Beitrittsländern in wachsendem 30


Ausmaß operativ tätig sind und die Schwellenwerte zur Errichtung eines Europäischen Betriebsrates klar überschreiten.

Anmerkungen

Für andere in österreichischer Eigentümerschaft stehender, teilweise mittel­ betrieblich strukturierter Unternehmen wurden grenzübergreifende Fragen der Unternehmensorganisation erst über ihr wirtschaftliches Engagement in den neuen Wachstumszonen aktuell. Hinsichtlich anderer österreichischer Investoren nehmen die Reformstaaten Mittel- und Osteuropas eine zunehmend bedeutendere Rolle ein. So gibt es kaum ein namhaftes österreichisches Industrie- und Dienstleistungsunterneh­ men, das keine Standorte bzw. Vertriebsstätten in den Reformstaaten hat. So erfüllen etwa eine ganze Anzahl österreichische Banken- und Versiche­ rungskonzerne durch ihre Direktinvestitionen in den mittel- und osteuro­ päischen Staaten die formellen Voraussetzungen für die Konstituierung von Euro-Betriebsräten. In einigen österreichischen Schlüsselkonzernen des Banken- und Versicherungssektors befinden sich im EBR-Vorbereitungs­ stadium. Insgesamt zeichnet sich für Österreich mit der EU-Erweiterung ein Para­ digmenwechsel in der „Euro-Betriebsrats-Betroffenheit“ ab: von der vor­ nehmlich „passiven Betroffenheit“ österreichischer Unternehmen und Be­ triebe als Töchter überwiegend nichtösterreichischer Konzernzentralen hin zu einem „aktiven Player“ in Sachen Euro-Betriebsrats-Gründungen mit zahlreichen Konzernzentralen in Österreich selbst.

Österreichische Firmen – aktive „Player“

Auf dem Feld des Europäischen Betriebsrates wird somit ein neues ­Kapitel aufgeschlagen, gilt es doch gewissermaßen die österreichischen Investitionen um einen Export mitbestimmungsförderlicher Unternehmenskulturen in die Länder Mittel- und Osteuropas zu begleiten. Ziel muss es sein, in den mittel- und osteuropäischen Ländern über das Instrument des Europäischen Betriebsrates in Sektoren mit hohem Anteil an ausländischer Eigentümerschaft eine nachhaltige Beförderung funktio­ nierender Strukturen industrieller Arbeitsbeziehungen zu befördern. Die Gewerkschaften müssen in diesem Zusammenhang an möglichst raschen und zahlreichen Initiativen zur Etablierung Europäischer Betriebsräte in Unternehmen mit österreichischem Stammsitz interessiert sein. Die Initiative für die Aufnahme von Verhandlungen zur Einrichtung eines Europäischen Betriebsrates geht oft von Betriebsräten der zentralen Lei­ tung in Österreich aus, nachdem Arbeitnehmervertreter aus Standorten der Unternehmens in einem anderen EU-Land Kontakt aufgenommen haben. Betriebsräte sollten unmittelbar Kontakt mit der zuständigen Gewerkschaft aufnehmen, die über europäische Gewerkschaftsverbände auf Branchene­ bene über ein Netzwerk gewerkschaftlicher Kontakte verfügt, das es für die schwierigen Prozesse beim Aufbau eines grenzübergreifenden Vertre­ tungsorgans im Konzern zu nutzen gilt. Ein solcher Gewerkschaftssupport scheint dringend geboten, kommen doch auf die Betriebsräte in den betroffenen Unternehmen bei der Etablierung grenzübergreifender Strukturen zur Information und Konsultation in „Eu­ ropäischen Betriebsräten“ enorme Herausforderungen zu. Diese gilt es of­ fensiv anzunehmen und seitens der Gewerkschaften durch entsprechende Maßnahmen im Bereich der Grundlagenarbeit, der Expertise und der Pro­ zessbegleitung ebenso wie hinsichtlich der Sensibilisierung der beteiligten Akteure und dem zeitgerechten Aufbau von Strukturen zur Unterstützung zu begegnen. Die Gründung eines Europäischen Betriebsrates war stets eine hochkom­ plexe Herausforderung und bisweilen auch ein langwieriger komplizierter Prozess. Die Lage erleichtert sich überall dort nicht, wo Unternehmen vor allem in den neuen Mitgliedsstaaten operativ tätig sind. Allzu deutlich ist 31


Anmerkungen

zu erkennen, dass die Entwicklung der Arbeitsbeziehungen auf betrieb­ licher und sektoraler Ebene in vielen neuen Mitgliedstaaten ein für die Gewerkschaften wenig erfreuliches Bild ausweist. Und das, obgleich im Zuge der Beitrittsprozesse in den meisten Ländern - teilweise unter Schirm­ herrschaft der EU-Kommission - auf gesamtstaatlicher Ebene ein Klima des Sozialen Dialoges befördert wurde:

Mitbestimmungskultur auch in neuen Mit­ gliedsländern fordern

So ist etwa auf sektoraler überbetrieblicher Ebene das weitgehende Fehlen funktionierender kollektivvertraglicher Verhandlungsstrukturen zu kon­ statieren. Kollektivvertragsstrukturen existieren in weiten Bereichen nur in rudimentärer und relativ ineffizienter Weise. Verhandlungsebene ist in erster Linie das Unternehmen bzw. der Betrieb. Branchenverträge sind v.a. in der Privatwirtschaft überall dort die absolute Ausnahme, wo v.a. die Arbeitgeber keine Notwendigkeit sehen, sich in Verbänden zu organisieren und verbindliche unternehmensübergreifende Verhandlungen zu führen. Auch auf betrieblicher Ebene sind die Vertretungsstrukturen – mit Ausnah­ me Sloweniens – heute insgesamt ebenfalls als labil und lückenhaft zu be­ zeichnen. Betriebliche Interessenvertretungen gibt es zwar in verschiedenen MOEL. Ihre rechtliche, vielmehr noch ihre faktische Position ist jedoch – im Vergleich zum (kontinental)europäischen Standard – relativ schwach aus­ gebildet. Und nicht selten kommt eine veritable Konkurrenzsituation zwi­ schen den institutionalisierten (z. B. Betriebsräte) und gewerkschaftlichen Interessenvertretungen hinzu. In beiden Fällen ist eine Förderung effizienter Vertretungs- und nachhaltiger Verhandlungsstrukturen gefordert. In diesem Sinn sind auch die Gewerk­ schaften in Österreich gefordert, über grenzübergreifende Kooperationen die Etablierung betrieblicher Arbeitnehmervertretungen auf allen Ebenen – vom Betrieb über das Unternehmen bis hin zum Konzern und in den Aufsichts- oder Verwaltungsorganen von Kapitalgesellschaften ebenso – zu befördern, wie den sektoralen sozialen Dialog in allen Beitrittsländern. Auch die Europäische Kommission ist gefordert, weitere Anstrengungen zur Intensivierung des sozialen Dialoges auf nationaler Ebene in den Bei­ trittsländern voranzutreiben. Doch der entscheidenden Knackpunkt in dieser gewerkschaftspolitisch essentiellen Entwicklung ist mit Sicherheit die Stärkung der Gewerkschaften in den Beitrittsländern selbst. Hier gilt es den Trend umzukehren, der mit dem Auf- und Ausbau des privatwirt­ schaftlichen Sektors in vielen MOEL einherging und zu einer weitgehenden Erosion gewerkschaftlicher Vertretung, zumindest einer deutlichen organi­ satorischen und mitgliedermäßigen Schwächung einherging. Nicht zuletzt davon wird es abhängen, ob im Zuge der EU-Erweiterung auch einer Erweiterung (kontinental)europäischer Mitbestimmungsmodel­ le und nicht etwa mitbestimmungsfeindlichen Unternehmenskulturen der Weg bereitet wird.

32


Beantwortung der Fragen F1:

Die früher einheitlich und straff geführten Gewerkschaftsbünde zer­ fielen in zahlreiche lokale und regionale Branchen- und Richtungsge­ werkschaften.

F2:

–  Zerfall des politischen Systems –  Veraltete Industriestrukturen, wenig moderne Technologie –  Überhastete Marktöffnung für Westprodukte –  Ideologisch begründete Privatisierungen

F3:

–  Kann sehr effizient sein, gute Koordinationsmöglichkeit –  Hierarchisierung, innere Demokratie kann leiden

F4:

–  Strukturhilfe statt Gießkannenprinzip –  Festlegung von Schwerpunktländern –  Gezielte Förderung von Kontakten auf Betriebsratsebene –  Gemeinsame Entwicklungskonzepte ausarbeiten –  Ausbau der Rechtsschutzangebote (gemeinsam mit AK)

Anmerkungen

33


SKRIPTEN ÜBERSICHT SOZIALRECHT

ARBEITSRECHT

SR-1

Grundbegriffe des Sozialrechts

SR-2

Geschichte der sozialen Sicherung

SR-3

Sozialversicherung – Beitragsrecht

SR-4

Pensionsversicherung I: Allgemeiner Teil

SR-5

Pensionsversicherung II: Leistungsrecht

SR-6

Pensionsversicherung III: Pensionshöhe

AR-1 AR-2A AR-2B AR-2C AR-3 AR-4 AR-5 AR-6 AR-7 AR-8A

SR-7

Krankenversicherung I: Allgemeiner Teil

SR-8

Krankenversicherung II: Leistungsrecht

SR-9

Unfallversicherung

SR-10

Arbeitslosenversicherung I: Allgemeiner Teil

SR-11

Arbeitslosenversicherung II: Leistungsrecht

SR-12

Insolvenz-Entgeltsicherung

SR-13

Finanzierung des Sozialstaates

SR-14

Pflegesicherung

SR-15

Sozialhilfe

Diese Reihe ist in Fertigstellung: die einzelnen Skripten werden laufend aktualisiert.

Kollektive Rechtsgestaltung Betriebliche Interessenvertretung Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates Rechtstellung des Betriebsrates Arbeitsvertrag Arbeitszeit Urlaubsrecht und Pflegefreistellung Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall Gleichbehandlung im Arbeitsrecht Arbeitnehmerschutz I: Überbetrieblicher Arbeitnehmerschutz AR-8B Arbeitnehmerschutz II: Innerbetrieblicher Arbeitnehmerschutz AR-9 Beendigung des Arbeitsverhältnisses AR-10 Arbeitskräfteüberlassung AR-11 Betriebsvereinbarung AR-12 Lohn(Gehalts)exekution AR-13 Berufsausbildung AR-14 Wichtiges aus dem Angestelltenrecht AR-15 Betriebspensionsrecht I AR-16 Betriebspensionsrecht II AR-17 Betriebspensionsrecht III AR-18 Abfertigung neu AR-19 Betriebsrat – Personalvertretung Rechte und Pflichten AR-20 Arbeitsrecht in den Erweiterungsländern AR-21 Atypische Beschäftigung AR-22 Die Behindertenvertrauenspersonen

GEWERKSCHAFTSKUNDE

GK-1

Was sind Gewerkschaften? Struktur und Aufbau der österreichischen Gewerkschaftsbewegung GK-2 Geschichte der österreichischen Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1945 GK-3A Geschichte der österreichischen Gewerkschaftsbewegung in der Zweiten Republik, Teil 1: ÖGB 1945 bis 1955

GK-3B Geschichte der österreichischen Gewerkschaftsbewegung in der Zweiten Republik, Teil 2: ÖGB 1956 bis 1982 GK-3C Vom 1. bis zum 16. ÖGB-Bundeskongress GK-4

ÖGB-Statuten, Geschäftsordnung des ÖGB

GK-7

Die Kammern für Arbeiter und Angestellte

Anmeldungen zum Fernlehrgang des ÖGB:

ÖGB-Referat für Bildung, Freizeit, Kultur 1010 Wien, Laurenzerberg 2 • Telefonische Auskunft 01 / 534 44 / 444 Dw.


Name und Adresse:

Anmerkungen

Fragen zu Internationale Gewerkschaftsbewegung 2 Wir ersuchen Sie, die folgenden Fragen zu beantworten: * 1. Welche Auswirkungen hatte der Umbruch in den MOEL-Staaten auf die Gewerkschaftsbewegung?

2. Was sind die wichtigsten Schwerpunkte der Zusammenarbeit des Ă–GB mit den MOEL-Gewerkschaften?

35


Anmerkungen

3. Inwiefern hat die EU-Erweiterung die Betroffenheit Österreichs zu ­Europäischen Betriebsräten verändert?

4. Inwiefern kann Rechtsberatung für MigrantInnen Sozialdumping ver­ hindern?

* Fernlehrgangsteilnehmer/-innen bitten wir, nach Abschluss der Fragen­ beant­wortung die Seite(n) mit den Fragen abzutrennen und an folgende Adresse zu senden: Fernlehrgang des Österreichischen Gewerkschaftsbundes 1010 Wien, Laurenzerberg 2. 36


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.