IG-05_Die_europaeische_Union

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Elisabeth Beer/Karin Hinteregger/Sabine Letz/Lukas Oberndorfer/Marcus Strohmeier/Norbert Templ/Valentin Wedl

Internationale Gewerkschaftsbewegung

IG 5

Die Europ채ische Union

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Internationale Gewerkschaftsbewegung


Internationale Gewerkschaftsbewegung 5

Die Europ채ische Union


Elisabeth Beer/Wolfgang Greif/ Karin Hinteregger/Sabine Letz/ Lukas Oberndorfer/Marcus Strohmeier/ Norbert Templ/Valentin Wedl

Die Europäische Union

Dieses Skriptum ist für die Verwendung im Rahmen der Bildungsarbeit des Österreichischen G ­ ewerkschaftsbundes, der Gewerkschaften und der Kammern für Arbeiter und Angestellte bestimmt.


Inhaltliche Koordination: Valentin Wedl

Zeichenerklärung

Hinweise Beispiele Zitate

Stand: November 2014 Impressum: Layout/Grafik: Dietmar Kreutzberger, Walter Schauer Layoutentwurf/Umschlaggestaltung: Kurt Schmidt Medieninhaber: Verlag des ÖGB GmbH, Wien © 2014 by Verlag des Österreichischen Gewerkschaftsbundes GmbH, Wien Herstellung: Verlag des ÖGB GmbH, Wien Verlags- und Herstellungsort: Wien Printed in Austria

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Inhalt Geschichte der Europäischen Integration

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Die Gründungsverträge

8

Erweiterung und Vertiefung der Gemeinschaft

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1989: Das Jahr der großen Veränderungen

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Vier Vertragsreformen seit 1990

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Exkurs: Charta der Grundrechte der Europäischen Union

24

Erweiterung der Europäischen Union – der Beitrittsprozess

26

Die Kopenhagen-Kriterien

26

Übergangsbestimmungen am Arbeitsmarkt

27

In der Warteschlange

29

Organe und Einrichtungen der Europäischen Union

30

Die Europäische Kommission

31

Der Rat

34

Das Europäische Parlament

45

Der Europäische Bürgerbeauftragte

52

Rechtsetzung in der EU

53

Der Europäische Gerichtshof

61

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss

63

Der Ausschuss der Regionen

65

Der Europäische Rechnungshof

65

Die Europäische Zentralbank

66

Die Europäische Investionsbank

67

Europäische Agenturen

68

Exkurs: Die Finanzen der EU

68

Soziales Europa

72

5


Inhalt

6

Akteure eines sozialen Europas

74

Der Europäische Gewerkschaftsbund

74

Der Europäische Betriebsrat

79

Soziale Errungenschaften der EU

82

82

Die Freizügigkeit der ArbeitnehmerInnen

EU-Gleichbehandlungspolitik

83

EU-Sozialpolitik

84

Beschäftigungspolitik

86

Der Europäische Sozialfonds (ESF)

87

Bedingungen für ein soziales Europa schaffen

88

Anhang:

98

Europa-2020-Strategie/Rückblick Lissabon-Strategie und Ausblick ­Wirtschaftspolitische Steuerung in der EU

98


SKRIPTEN ÜBERSICHT SOZIALRECHT

SR-1

Grundbegriffe des Sozialrechts

SR-2

Sozialpolitik im internationalen Vergleich

SR-3

Sozialversicherung – Beitragsrecht

SR-4

Pensionsversicherung I: Allgemeiner Teil

SR-5

Pensionsversicherung II: Leistungsrecht

SR-6

Pensionsversicherung III: Pensionshöhe

SR-7

Krankenversicherung I: Allgemeiner Teil

SR-8

Krankenversicherung II: Leistungsrecht

SR-9

Unfallversicherung

SR-10

Arbeitslosenversicherung I: Allgemeiner Teil

SR-11

Arbeitslosenversicherung II: Leistungsrecht

SR-12

Insolvenz-Entgeltsicherung

SR-13

Finanzierung des Sozialstaates

SR-14

Pflege und Betreuung

SR-15

Bedarfsorientierte Mindestsicherung

Die einzelnen Skripten werden laufend aktualisiert.

ARBEITSRECHT

AR-1 AR-2A AR-2B AR-2C AR-3 AR-4 AR-5 AR-6 AR-7 AR-8A AR-8B AR-9 AR-10 AR-11 AR-12 AR-13 AR-14 AR-15 AR-16 AR-18 AR-19 AR-21 AR-22

Kollektive Rechtsgestaltung Betriebliche Interessenvertretung Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates Rechtstellung des Betriebsrates Arbeitsvertrag Arbeitszeit Urlaubsrecht Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall Gleichbehandlung im Arbeitsrecht ArbeitnehmerInnenschutz I: Überbetrieblicher ArbeitnehmerInnenschutz ArbeitnehmerInnenschutz II: Innerbetrieblicher ArbeitnehmerInnenschutz Beendigung des Arbeitsverhältnisses Arbeitskräfteüberlassung Betriebsvereinbarung Lohn(Gehalts)exekution Berufsausbildung Wichtiges aus dem Angestelltenrecht Betriebspensionsrecht I Betriebspensionsrecht II Abfertigung neu Betriebsrat – Personalvertretung Rechte und Pflichten Atypische Beschäftigung Die Behindertenvertrauenspersonen

GEWERKSCHAFTSKUNDE

GK-1 GK-2 GK-3

Was sind Gewerkschaften? Struktur und Aufbau der österreichischen Gewerkschaftsbewegung Geschichte der österreichischen Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1945 Die Geschichte der österreichischen Gewerkschaftsbewegung von 1945 bis heute

GK-4

Statuten und Geschäftsordnung des ÖGB

GK-5

Vom 1. bis zum 18. Bundeskongress

GK-7

Die Kammern für Arbeiter und Angestellte

Die VÖGB-Skripten online lesen oder als Gewerkschaftsmitglied gratis bestellen: www.voegb.at/skripten


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Geschichte der Europäischen Integration Nach zwei für unseren Kontinent so verlustreichen Weltkriegen suchten die Menschen Europas nach einer Lösung, um solche Konflikte in Hinkunft zu vermeiden. Friede sollte endlich zwischen den Nationen herrschen, die sich zuvor über Jahrhunderte hinweg bekriegt hatten. Doch noch während IdealistInnen an solch einer Friedenslösung arbeiteten, wuchs mit der Teilung E ­ uropas in zwei gesellschaftspoli­tische Systeme bereits ein neuer ­Konflikt heran. Nach nur kurzer Zeit des friedlichen Zusammenlebens hatte der „Kalte Krieg“ begonnen. Auf die Gründung der Sowjetunion reagierten die Westmächte 1949 mit der Gründung der NATO.

Die Gründungsverträge

© Bildarchiv ÖGB

Um den Einigungsprozess der westeuropäischen Staaten weiter voranzubringen, galt es zunächst, die einstigen Kriegsgegner Frankreich und Deutschland näher aneinanderzubinden. Frankreichs Außenminister Robert Schuman macht im Mai 1950 einen Auf­sehen erregenden Vorschlag („Schuman-Plan“), indem er die Auslöschung der Gegensätze zwischen Frankreich und Deutschland durch eine wirtschaftliche Verflechtung beider Staaten fordert. Eine gemeinsame „Hohe Behörde“ sollte von nun an die Entwicklung der Stahlindustrie beider Länder lenken und überwachen.

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Nach dem Zweiten Weltkrieg lag Europa in Schutt und Asche.


Die Gründungsverträge

1.1

© ullstein bild/Ullstein Bild/picturedesk.com

Schuman legt damit den Grundstein für die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), die auch anderen Ländern offen steht, die an einer gemeinsamen Zukunft interessiert sind. Am 18. April 1951 unterzeichnen in Paris neben Deutschland und Frankreich auch Italien, Belgien, Luxemburg und die Niederlande den Gründungsvertrag der EGKS. Schon ein Jahr nach Unterzeichnung des EGKS-Vertrages beschließen die Mitgliedstaaten die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG). Die Übereinkunft kann jedoch aufgrund der Ablehnung durch das französische Parlament nicht realisiert werden. Um dennoch eine engere Zusammenarbeit im Verteidigungs- und Sicherheitsbereich zu erlangen, wird in London 1954 die Westeuropäische Union (WEU) gegründet. Die Einigungsbestrebungen der Mitgliedstaaten sind groß und 1955 wird von den Außenministern beschlossen, die europäische Integration durch die Schaffung eines gemeinsamen Marktes zu vertiefen. Einen wichtigen Markstein dieser Entwicklung stellt das Treffen im März 1957 in Rom dar; hier erfolgt auf Grundlage der sogenannten Römischen Verträge die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG). Diese weit reichenden Abkommen münden auch in der Installierung des Europäischen Parlaments, wenngleich vorerst nur mit beratenden Funktionen. Brüssel wird zum Sitz der zentralen Kommissionen gewählt.

Unterzeichnung Gründungsvertrag 1957 (Adenauer mit Hallstein)

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Geschichte der Europäischen Integration Die Bestrebungen nach weit reichender Harmonisierung in möglichst vielen Bereichen führen 1962 zu einer gemeinsamen Agrarpolitik der EWG. Die Erweiterung der EWG stößt jedoch manchmal auf überwunden geglaubte Probleme: So verkündet 1963 der französische Präsident General de Gaulle, dass sein Land den Beitritt des Vereinigten Königreichs (Großbritanniens) zur Gemeinschaft ablehnen werde. Erst zehn Jahre später kann es der EWG ­beitreten. Im April 1965 wird die Fusion der Exekutivorgane der drei europäischen Gemeinschaften EWG, EGKS und EAG beschlossen (sog. Fusionsvertrag). Weitere Entwicklungen werden stark durch die ablehnende Haltung Frankreichs beeinträchtigt. Wegen der Pläne der Kommission zur Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik nehmen die französischen VertreterInnen von Juli 1965 bis Jänner 1966 nicht an den Ratssitzungen teil (sogenannte „Politik des leeren Stuhls“), um Beschlüsse zu verhindern. In diesem Zusammenhang wird erstmals das Veto eines Landes in Frage gestellt. Beim Kompromiss von Luxemburg im Jänner 1966 beschließt Frankreich, wieder an den Sitzungen teilzunehmen, wenn das Einstimmigkeitsprinzip der EG gewahrt bleibt. Die Realisierung des gemeinsamen Marktes schreitet voran, und mit 1. Juli 1968 tritt die Zollunion der bisherigen Mitgliedstaaten in Kraft. Damit kommt es zum Entfall sämtlicher Binnenzölle und zur Abschaffung von Kontingentierungen beim Warenaustausch. Gegenüber Drittstaaten wird ein gemeinsamer Zolltarif eingeführt.

Erweiterung und Vertiefung der Gemeinschaft Beim Gipfel von Den Haag im Jahr 1969 beschließen die sechs Mitgliedstaaten, der EG eigene Finanzmittel zur Verfügung zu stellen. Ebenso werden die Grundsteine für eine Wirtschafts- und Währungsunion und die Vollendung des Gemeinsamen Marktes sowie die Erweiterung der EG um das Vereinigte Königreich, Irland und Dänemark gelegt. Im darauf folgenden Jahr werden eine gemeinsame Handelspolitik und die Übergabe der Außenhandelspolitik aus den Händen der Nationalstaaten an die EG beschlossen.

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Erweiterung und Vertiefung der Gemeinschaft

1.2

© Bildarchiv ÖGB

In Hinblick auf eine gemeinsame Währungsunion wird bereits 1972 die „Europäische Währungsschlange“ eingeführt. Sie sieht eine maximale Schwankungsbreite der Wechselkurse von +/–2,25 % vor. Mit 1. Jänner 1973 treten bei der sogenannten „Norderweiterung“ der EG das Vereinigte Königreich, Irland und Dänemark der Staatengemeinschaft bei. Norwegen hatte zuvor bei einer Volksabstimmung eine Mitgliedschaft des Landes abgelehnt. Am Gipfeltreffen in Paris 1974 wird die Schaffung des Europäischen Rates als ständiges Treffen der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer festgelegt. Neben zahlreichen Assoziierungsabkommen, welche die EG bereits mit einer Vielzahl europäischer Staaten schließt (u.a. 1973 mit Österreich), ist das Lomé-IAbkommen zu erwähnen (mittlerweile durch das Cotonou-Abkommen aus dem Jahr 2000 abgelöst). Es regelt die Handelsbeziehungen der EG mit fast allen Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifischen Ozeans (sog. AKP-Staaten). So sehr dieses Abkommen einen Meilenstein in der Beziehung Europas zu den ärmeren Staaten gebildet hat, zeigt es auch die Grenzen europäischer Entwicklungspolitik auf: So wird bis heute der Zugang zum europäischen Markt von landwirtschaftlichen Erzeugnissen (den wichtigsten Exportgütern der AKP-­ Länder) erheblich beschränkt. Bei einem Treffen in Bremen wird 1978 ein weiterer Anlauf in Hinblick auf ein Europäisches Währungssystem (EWS) gewagt: Eine einheitliche Währungseinheit, der ECU, wird geschaffen.

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Geschichte der Europäischen Integration

© ullstein-Schiche/Ullstein Bild/picturedesk.com

Ein wichtiger Meilenstein in der demokratischen Entwicklung eines geeinten Europas sind die ersten allgemeinen Wahlen zum Europäischen Parlament am 7. und 10. Juni 1979. „Süderweiterung“: Zur weiteren Stärkung der Demokratie am Kontinent wird am 1. Jänner 1981 Griechenland Vollmitglied der EG. In den Jahren seit dem Zweiten Weltkrieg war das Land innenpolitisch höchst instabil. Bürgerkrieg und Militärdiktaturen prägten es bis in die 70er-Jahre. Damit wird auch erstmals ein Beitrittskandidat primär wegen seiner politischen anstatt seiner ökonomischen Wichtigkeit in die Gemeinschaft aufgenommen. Mit der gleichen Motivation führt die EG auch Verhandlungen mit den erst jungen Demokratien Spanien und Portugal, deren Beitritt 1986 erfolgt. Trotz dieser Neumitglieder verläuft der Einigungsprozess bis Mitte der 80erJahre nur sehr schleppend. Einen inhaltlich entscheidenden Vorstoß macht der italienische Europaparlamentsabgeordnete und Begründer der Europäischen Föderalen Bewegung Altiero Spinelli mit seinem 1984 vorgelegten Verfassungsentwurf. Der Vorschlag konzentriert sich vor allem auf einen einheitlichen Rechtsrah­men sowie die Schaffung zentraler politischer Strukturen (vor allem durch ­Aufwertung des Parlaments). Obwohl der Antrag mehrheitlich vom Europäischen Parlament angenommen wird , verwerfen ihn die Mitgliedstaaten. Dennoch wird die „Spinelli-Verfassung“ zu einem wichtigen Impuls für die Errichtung der Europäischen Union, zahlreiche Punkte daraus sind heute bereits ­Realität geworden. Zur Beschleunigung der Einheit schlägt die Kommission unter ihrem tatkräftigen Präsidenten Jaques Delors im Juni 1985 die endgültige Verwirklichung des Binnenmarktes bis 1992 vor. Bestehende Hürden wie Kontrollen an Grenzen

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Jaques Delors (geb. 1925), Präsident der EG-Kommission 1985–1994


Erweiterung und Vertiefung der Gemeinschaft

1.2

sollen rasch beseitigt werden. 1986 wird dieser Vorschlag von den Mitgliedstaaten in Luxemburg und Den Haag mit der Unterzeichnung der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) angenommen.

Die vier Marktfreiheiten des Binnenmarktes, auch Grundfreiheiten genannt, (mit einigen praktischen Auswirkungen) Freier Personenverkehr

( ArbeitnehmerInnenfreizügigkeit für unselb­ ständig Erwerbstätige, Niederlassungsfreiheit für Unternehmen, Abschaffung der Personenkontrollen an der Grenze, Deregulierung des Gesellschaftsrechts ...)

Freier Dienstleistungsverkehr

( Liberalisierung der Transport- und Telekom­ munikationsmärkte, Öffnung für handwerkliche Berufe, Recht der Unternehmen, eigenes Personal zu entsenden, wechselseitige Anerkennung der Diplome ...)

Freier Warenverkehr

( Keine Grenzkontrollen, keine Einfuhrbeschränkungen, Produktregelungen nur ausnahmsweise zulässig ...)

Freier Kapitalverkehr

( Freie Geld- und Kapitalbewegungen, keine Investitionsbeschränkungen, keine Inlände­ rInnenvorbehalte beim Immobilienerwerb ...)

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Geschichte der Europäischen Integration 1989: Jahr der großen Veränderungen

© Joern Wolter/vario images/picturedesk.com

1989 beantragt Österreich die Mitgliedschaft in die EG (17. Juli). Aber nicht nur für Österreich wird dieses Jahr entscheidend: Ganz Europa verändert sein Gesicht. Die bisherige politische Teilung des Kontinents wurde symbolisch durch den Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 überwunden. In diesem ­Bewusstsein beginnen bald Beratungen der EG-Mitgliedstaaten über die Zukunft der neuen Partnerländer in Mittel- und Osteuropa (MOEL-Staaten). Als einer der ersten grundsätzlichen Schritte zur Vereinigung Europas wird die Marktintegration der postkommunistischen Staaten vorangebracht. Im Mai 1990 werden die Verträge zur Gründung der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) unterzeichnet. Damit sollte vor allem den MOEL-Ländern finanzielle Unterstützung zur marktwirtschaftlichen Umstrukturierung angeboten werden, um die demokratische Entwicklung auch ökonomisch zu stützen. Am 19. Juni 1990 wird im luxemburgischen Schengen das gleichnamige Abkommen unterfertigt. Damit sollte für die BürgerInnen der EG die Einheit der Mitgliedstaaten noch spürbarer werden, indem nach und nach die Personenkontrollen an den Grenzen wegfallen (daher der Name „Schengen-Raum“). Der Europäische Wirtschaftsraum (EWR) wird 1994 realisiert. Ihm gehören die EG-Mitgliedstaaten und ihre westeuropäischen Nachbarn an (Österreich, Norwegen, Island, Liechtenstein, Schweden, Finnland – also alle EFTA-Mitglieder mit Ausnahme der Schweiz).

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Im Schengenraum entfallen Personenkontrollen zwischen den Grenzen der Mitgliedstaaten.


1989: Jahr der großen Veränderungen

1.3

Schon im Jahr 1994 ergehen die ersten Beitrittsansuchen von MOEL-Ländern (Ungarn und Polen) zur mittlerweile gegründeten Europäischen Union (zum Vertrag von Maastricht). Am 12. Juni 1994 entscheidet die österreichische Bevölkerung mit der eindeutigen Mehrheit von 66,6 % positiv über den Beitritt zur Europäischen Union. Auch in Schweden und Finnland stimmt die Bevölkerung für den EU-Beitritt, einzig in Norwegen lehnt die Bevölkerung bereits zum zweiten Mal einen solchen Schritt ab. Mit 1. Jänner 1995 werden somit die beiden nord­europäischen Staaten und Österreich Mitglieder der Europäischen Union. Im selben Jahr tritt das zuvor erwähnte Schengen-Abkommen in Kraft, das die Kontrollen zwischen den Grenzen der Mitgliedstaaten abschafft. Mit Beendigung des Kalten Krieges und dem Zerfall der UdSSR hat sich für Europa insgesamt eine neue politische Dimension aufgemacht. Den Transformationsländern wird eine europäische Perspek­ tive aus sicherheits- und geopolitischen Motiven, aber auch aufgrund von starken wirtschaftlichen Interessen gegeben. Die Beitrittsverhandlungen werden 1998 vorerst mit Tschechien, Ungarn, Zypern, Polen, Slowenien und Estland und bald darauf auch mit der Slowakei, Malta, Litauen und Lettland eröffnet. Bulgarien und Rumänien, die sich um vieles schwerer mit der Transformation in eine marktwirtschaftlich orientierte Demokratie getan haben, folgen erst 2000. Mit der feierlichen Unterzeichnung der Beitrittsverträge am 16. April 2003 in Athen werden die Verhandlungen mit der ersten Gruppe abgeschlossen. Die „EU-Osterweiterung“ am 1. Mai 2004 (bzw. hinsichtlich Rumänien und Bulgarien am 1.1.2007) ist die bislang größte und bedeutsamste Erweiterungsrunde gewesen – zugleich aber auch wegen des großen Wohlstandsgefälles zwischen Ost und West die schwierigste (zu den erforderlichen Übergangsbestimmungen siehe Kapitel 2 Erweiterung). Die Architektur Europas dürfte auch mit der größten Erweiterungsrunde noch keinesfalls ihren Endpunkt erreicht haben. Seit Oktober 2005 werden Beitrittsverhandlungen mit Kroatien und der Türkei geführt (der Beitritt Kroatiens geschah am 1. Juli 2013). Weitere Beitrittskandidaten sind Mazedonien, Montenegro, Serbien und Island. Potenzielle Bewerber sind die Westbalkanländer, mit denen sogenannte Stabilisierungs- und Assoziationsabkommen (SAA) abgeschlossen worden sind (Albanien, Bosnien und Herzegowina).

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Geschichte der Europäischen Integration In diesem Zusammenhang ist auch die intensiv geführte Diskussion über die Zukunft der Europäischen Union zu sehen: Wo sind die integrationspolitischen Grenzen der Europäischen Union? Ist die EU fähig und bereit, zusätzliche Mitglieder aufzunehmen?

Eckdaten wichtiger Reformen der Grundlagenverträge und Jahr des Inkrafttretens 1951/52 EGKS

1957/58 EWG EAG 1965/67 Fusionsvertrag

1986/87 Einheitliche Europäische Akte (EEA) 1992 Europäische Union (Vertrag von Maastricht) Verträge von 1997/99 Amsterdam 2000/2003 Nizza 2007/2009 Lissabon

Vier Vertragsreformen seit 1990 Das Ende des Ost-West-Konfliktes Ende der 80er-Jahre führte zu einer Beschleunigung des europäischen Integrationsprozesses. Dies findet auch Ausdruck in weit reichenden Reformen der Grundlagenverträge der EU. Der „Vertrag von Maastricht“ kann primär als Antwort auf die deutsche Wiedervereinigung verstanden werden: Durch eine Vertiefung der europäischen Integration (insbesondere durch Schaffung einer gemeinsamen Währung) sollten die exis­tierenden

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Vier Vertragsreformen seit 1990

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Vorbehalte gegen das größere Deutschland abgebaut werden. Bei den weiteren Vertragsreformen geht es im Wesentlichen darum, die Union institutionell auf die Erweiterung vorzubereiten. Allgemein ist anzumerken, dass die Reformen nicht gänzlich neue, nebeneinanderstehende Verträge schufen, sondern jeweils Neufassungen der bestehenden Verträge waren. Wenn man nach der aktuellen Fassung einer Bestimmung sucht, muss man daher nicht die Reformverträge (Vertrag von Maastricht, von Amsterdam …) konsultieren, sondern es reicht, einfach die revidierten Verträge heranzuziehen. Diese Grundlagenverträge (auch europäisches Primärrecht genannt) heißen „Vertrag über die Europäische Union“ (EUV) und „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (AEUV). Der Vertrag von Maastricht – Gründung „der EU“ Nach jahrelangen Vorbereitungen wird am 7. Februar 1992 der Vertrag von Maastricht zur Gründung der Europäischen Union abgeschlossen. Das Vertragswerk ergänzt die schon bestehende enge wirtschaftliche Verbundenheit der Mitgliedstaaten mit einer weiter gehenden politischen Union. Die EU wird oft als Tempel symbolisiert, der von folgenden drei Säulen getragen wird: 1. Säule: Die EG (als Sammelbegriff für die ursprünglichen Europäischen Gemeinschaften EWG, EGKS – dieser Vertrag lief 2002 aus – und EAG); 2. Säule: Die Zusammenarbeit im Bereich der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP); 3. Säule: Die Zusammenarbeit im Bereich der Justiz- und Innenpolitik, nunmehr polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) genannt. Der Vertrag enthält überdies konkrete Festlegungen für die Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion. Er führt die Unionsbürgerschaft ein und schafft mit dem „Ausschuss der Regionen“ ein neues EU-Organ. Das Europäische Parlament wird durch die Einführung des Mitentscheidungsverfahrens aufgewertet (siehe S. 57). Des Weiteren legt der Vertrag eine vertiefte Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres sowie in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) fest.

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Geschichte der Europäischen Integration Ziele der GASP sind xx die gemeinsamen Werte, grundlegenden Interessen sowie die Unabhängigkeit und Unversehrtheit der EU zu wahren, xx die Sicherheit der Union zu stärken, xx den Frieden zu wahren und die internationale Sicherheit zu stärken, xx die internationale Zusammenarbeit zu fördern, xx die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu entwickeln und zu stärken sowie die Menschenrechte und Grundfreiheiten zu achten. Die Mitgliedstaaten der EU verpflichten sich, die Außen- und Sicherheitspolitik der Union „aktiv und vorbehaltlos im Geist der Loyalität und gegenseitigen Solidarität“ zu unterstützen und Handlungen, die den Interessen der Union zuwiderlaufen oder die EU als internationale Kraft schwächen, zu unterlassen. Trotz der eindeutig erscheinenden Vorgaben einer gemeinsamen Politik lassen sich die Mitgliedstaaten von Alleingängen bis dato nicht abhalten (z. B. Beteiligung am Irak-Krieg der USA). Aus ArbeitnehmerInnensicht ist im Zusammenhang des Maastricht-Vertrages aber vor allem das Sozialprotokoll hervorzuheben. Es schafft neue Rechtsetzungskompetenzen im Gebiet des Arbeitsrechts und stärkt die Position der Sozialpartner, insbesondere durch ein neues Rechtsetzungsverfahren, den sogenannten „sozialen Dialog“ (siehe S. 60). Das Sozialprotokoll war aufgrund des britischen Widerstandes gegenüber europäischen Kompetenzen auf dem Gebiet der Sozialpolitik zunächst nicht für das Vereinigte Königreich anwendbar. Erst unter der Labour-Regierung von Tony Blair sollte es mit dem Vertrag von Amsterdam als eigenes Kapitel (und für alle Mitgliedstaaten in gleicher W ­ eise verbindlich) im EG-Vertrag aufgenommen werden. Vertrag von Amsterdam Einen weiteren Meilenstein in der Entwicklung der Europäischen Union stellt der am 2. Oktober 1997 unterzeichnete Vertrag von Amsterdam dar (Inkrafttreten am 1. Mai 1999). Stand zuvor immer die wirtschaftliche, später die politische Entwicklung im Vordergrund, so sind es in Amsterdam vor allem die

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Vier Vertragsreformen seit 1990

1.4

Rechte der europäischen BürgerInnen, die zum Schwerpunkt werden. Daneben gibt es auch Neuerungen im Bereich des VerbraucherInnen- und Gesundheitsschutzes. Vermehrte Anstrengungen bei der Gleichstellung zwischen Männern und Frauen werden anvisiert, ferner sollen Diskriminierungen aufgrund von Behinderungen, der ethnischen Herkunft, der Religion, Weltanschauung und des Alters in Hinkunft stärker bekämpft werden. Wichtig aus ArbeitnehmerInnensicht ist darüber hinaus das klare Bekenntnis der Mitgliedsländer zu einer gemeinsamen Beschäftigungspolitik. Mit dem Vertrag von Amsterdam wird in den Grundlagenverträgen (auch als Antwort auf die primär an der Geldwertstabilität orientierten Wirtschafts- und Währungspolitik) ein eigenes Beschäftigungskapitel vorgesehen. Dabei sollen insbesondere Maßnahmen gegen Arbeitslosigkeit zwischen den Mitgliedstaaten abgestimmt werden (siehe Kapitel Soziales Europa). Ausdrücklich wird festgehalten, dass das Ziel eines hohen Beschäftigungsniveaus bei der Gestaltung aller Gemeinschafts­ politiken zu berücksichtigen ist. Rückblickend betrachtet ist der Vertrag von Amsterdam auch als Ausdruck eines sozialpolitischen Bewusstseins zu verstehen, das die EU vor allem in den 90erJahren gekennzeichnet hat. Sowohl aus ökonomischen Gründen (der reine Markt- bzw. Neoliberalismus war damals auch in Brüssel nicht derart tonangebend wie heute), aus sozialen Gründen (es gab in den 90ern zwar weniger entwickelte Staaten inmitten reicherer, jedoch keine massiven Wohlstandsunterschiede wie seit der Osterweiterung) und nicht zuletzt aus politischen Gründen (viele Regierungen der Mitgliedstaaten, ebenso die Mehrheit des Europäischen Parlaments waren den ArbeitnehmerInnenanliegen verbundener als heute) war es damals möglich, „soziale Interessen“ europäisch durchzusetzen. Argumentiert wurde gleichwohl binnenmarktpolitisch! Um nämlich Unternehmen auch die Orientierung am Binnenmarkt zu erleichtern, ging man z. B. daran, die Rückgabefristen für fehlerhafte Produkte (Gewährleistungsfristen) EU-weit zu vereinheitlichen und legte sie auf solide zwei Jahre fest (in Österreich bis dahin auf sechs Monate beschränkt). Abgesehen vom europäischen VerbraucherInnenschutzbewusstsein erfuhr aber vor allem die Harmonisierung (Rechtsan­gleichung) arbeitsrechtlicher und arbeitnehmerschutzrechtlicher Schutzstandards in diesem Zeitraum bedeutende Fortschritte: Als wichtige Richtlinien aus dieser Zeit

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Geschichte der Europäischen Integration zu nennen sind die Richtlinie über den europäischen Betriebsrat (siehe Kapitel Soziales Europa), die Entsenderichtlinie oder die Teilzeitarbeitsrichtlinie. Ein weiterer großer Schritt zur Fortsetzung der währungspolitischen Zusammenarbeit wird schließlich mit der Einführung des Euro als Buchgeld ab dem 1. Jänner 1999 gesetzt. An diesem Tag nimmt auch die Europäische Zentralbank (EZB) ihre Arbeit auf und ersetzt das zuvor bestehende Europäische Währungsinstitut. Vertrag von Nizza Der Vertrag von Nizza wurde am 26.2.2001 unterzeichnet und ist am 1.2.2003 in Kraft getreten. In dieser Etappe des vertraglichen Ausbaus der Union werden Regelungen für drei wichtige institutionelle Fragen am Vorabend der „Osterweiterung“ gesetzt: die Größe und Zusammensetzung der Kommission, eine Neuverteilung der Stimmengewichtung im Rat und eine Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen (siehe Kapitel Organe und Institutionen der Europäischen Union). Diese institutionellen Änderungen waren notwendig, um die Entscheidungsfähigkeit in einer größeren Union zu erhalten. Da die Ergebnisse nur einen Minimalkompromiss darstellen, wurde eine Erklärung zur Zukunft der Union verabschiedet, in der bereits der Weg zu einer weiteren Überarbeitung der Verträge vorgezeichnet wurde. Demokratiepolitisch von besonderer Bedeutung war in Nizza aber die Proklamation der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, in der die Grundrechte europäischer BürgerInnen erstmals umfassend schriftlich niedergelegt worden sind. Erst mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon sind sie rechtsverbindlich geworden. Vertrag von Lissabon Der Europäische Rat hat sich am 18. Oktober 2007 in Lissabon auf einen n­ euen Reformvertrag (auch „Vertrag von Lissabon“ genannt) geeinigt, der am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten ist. Im Vorfeld zur Beschlussfassung gab es jahrelange, zum Teil kontroversielle politische Auseinandersetzungen. Auch um die Ratifizierung des Vertrags wurde fast zwei Jahre lang gerungen, als letztes Land der EU-27 hatte Tschechien seine Ratifizierungsurkunde hinterlegt und damit einen fast neunjährigen Prozess zu Ende gebracht. Der Vertrag von Lissabon ist nach Maas-

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Vier Vertragsreformen seit 1990

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tricht, Amsterdam und Nizza die vierte Vertragsreform seit dem Ende des Kalten Krieges. Der Reformvertrag basiert auf dem Verfassungsentwurf, den ein vom Europäischen Rat eingerichteter Konvent 2003 vorgelegt hatte und der in etwas abgeänderter Form von den Staats- und Regierungschefs im Oktober 2004 unterzeichnet wurde. Nach den negativen Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden im Jahr 2005 wurde zunächst eine Nachdenkpause ausgerufen. Erst während der deutschen EU-Präsidentschaft im 1. Halbjahr 2007 gelingt ein neuerlicher Durchbruch: Das Konzept eines „Verfassungsvertrags“ wird zu Gunsten der Änderung der bestehenden Verträge fallengelassen. Die Substanz (der Inhalt) des Verfassungsvertrages wird indessen in die bestehende Vertrags­ architektur eingebaut. Mit dem Vertrag von Lissabon treten Änderungen im Primärrecht der EU zum bisherigen Vertrag von Nizza in Kraft, um das Funktionieren einer von 15 auf 27 Mitgliedsländer gewachsenen Union sicherzustellen. Ziel des Reformvertrags war es auch, das soziale Profil der EU weiter zu stärken, und die Gewerkschaften in Europa hatten große Hoffnungen in den Lissabonner Vertrag gesetzt. Trotz wichtiger Verbesserungen wurden die Erwartungen in wesentlichen Punkten nicht erfüllt. Nach wie vor fehlt ein soziales Fortschrittsprotokoll, um den Vorrang sozialer Grundrechte vor den wirtschaft­ lichen Grundfreiheiten zu gewährleisten. Weiterhin verpflichtet der Vertrag die europäische Wirtschaftspolitik auf neoliberale Dogmen („unverfälschter Wettbewerb“, „monetäre Rahmenbedingungen“, Vorrang der Preisstabilität gegenüber sozialen Zielen, Deregulierung). Im Lissabonner Vertrag sind dennoch Fortschritte in wichtigen Bereichen enthalten, wie ein umfassender Katalog an sozialen Werten und Zielen: Vollbeschäftigung, soziale Marktwirtschaft, sozialer Fortschritt, Förderung sozialer Gerechtigkeit, Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung, Gleichstellung von Frauen und Männern, Solidarität zwischen den Generationen und Schutz der Rechte des Kindes. Mit der Aufnahme der Grundrechtecharta ins Primärrecht werden auch einzelne soziale Grundrechte rechtsverbindlich verankert. Eine Neuerung ist auch die „soziale Querschnittsklausel“. Sie besagt, dass die EU in allen Politikbereichen sozialen und beschäftigungspolitischen Zielen der Union Rechnung zu tragen hat. Positiv ist zudem die ausdrückliche Anerkennung der Rolle der Sozialpartner und des sozialen Dialogs. Der zunehmenden Kritik an der Liberalisierungspolitik der EU in beson-

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Geschichte der Europäischen Integration ders sensiblen Bereichen (insbesondere bei öffentlichen Dienstleistungen) wurde durch einen eigenen Artikel und ein Protokoll zum Schutz der öffentlichen Dienstleistungen ansatzweise Rechnung getragen. Etliche Bestimmungen des Vertrages sollen die demokratische Dimension der Union stärken: xx Die Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlaments sind erweitert worden und nationale Parlamente erhalten mehr Mitsprache und werden stärker in die Entscheidungsprozesse der Union einbezogen, indem sie Einwendungen gegen EU-Gesetzgebungsentwürfe machen können, wenn sie das Subsidiaritätsprinzip verletzt sehen (Mechanismus der Subsidiaritätskontrolle); xx Rat und Europäisches Parlament üben gemeinsam die Gesetzgebungs- und Haushaltsbefugnisse aus. Das Mitentscheidungsverfahren wird mit der neuen Bezeichnung „ordentliches Gesetzgebungsver­fahren“ zur allgemeinen Regel in der Rechtsetzung; xx Verankerung und Einklagbarkeit der Grundrechtecharta; xx das Europäische Parlament (EP) wählt den Kommissionspräsidenten; xx Einführung einer Europäischen BürgerInneninitiative: Mindestens eine Million BürgerInnen aus mindestens sieben Mitgliedstaaten können die Kommission auffordern, Vorschläge für Rechtsakte vorzulegen; xx der Rat tagt öffentlich, wenn er Gesetzgebungsvorschläge berät oder beschließt; xx soweit in der Verfassung nichts anderes festgelegt ist, beschließt der Minis­ terrat mit qualifizierter Mehrheit, die ab 1.11.2014 als „doppelte Mehrheit“ gilt. Bis 2014 gilt weiterhin die qualifizierte Mehrheit im Sinne des Vertrages von Nizza. Ab 1.11.2014 (bzw. uneingeschränkt ab 2017) soll das Prinzip der „doppelten Mehrheit“ angewendet werden, wobei jedes Land zunächst nur eine Stimme hat. Eine „doppelte Mehrheit“ ist dann erreicht, wenn 55 % der Mitgliedstaaten zustimmen, die gleichzeitig mindestens 65 % der Unionsbevölkerung aus­ machen (siehe dazu auch die Tabelle auf S. 49). Damit liegt die Sperrminorität

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Vier Vertragsreformen seit 1990

1.4

bei über 35 %. Allerdings muss die Sperrminorität mindestens vier Mitglied­ staaten umfassen. Das ist zumindest theoretisch gegen die drei Großen (D, F, UK) gerichtet, die zusammen bereits auf rund 45 % der Gesamtbevölkerung kommen würden. Durch den Vertrag von Lissabon wird die bisherige Säulenstruktur der Europäischen Union aufgelöst. Die Europäische Gemeinschaft geht vollkommen in der Europäischen Union auf. Da nun die Politikfelder der Bereiche Justiz und Inneres (früher: polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen; justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen und die Asyl-, Flüchtlings-, Visa- und Zuwanderungspolitik) weitgehend dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren und der Kontrolle des EuGH unterworfen sind, wurden sie unter dem Begriff „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ neu zusammengefasst. Allein die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) behält auch nach dem Vertrag von Lissabon ihre besonderen Verfahren und bildet aufgrund dieses intergouvernementalen Charakters (Entscheidungen sind stark durch die Mitgliedstaaten und nicht durch die Organe der EU geprägt) einen besonderen Bereich innerhalb der EU. Weitere institutionelle Veränderungen sind, dass die EU eigene Rechtspersönlichkeit erhält und somit u.a. auch internationale Übereinkommen unterzeichnen kann (wie z.B. die Europäische Menschenrechtskonvention), die Einrichtung des Europäischen Auswärtigen Dienstes und des Amtes des Hohen Vertreters/ der Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik sowie die eigene Rechtspersönlichkeit des Europäischen Rates und eine auf 2,5 Jahre gewählte Präsidentschaft des Europäischen Rates. Kritisch aus ArbeitnehmerInnensicht ist jedoch anzumerken, dass sich an der wirtschafts- und währungspolitischen Grundausrichtung der Europäischen Union durch den Vertrag von Lissabon nichts ändert: ein Gleichgewicht zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik wird nicht hergestellt. Bedenken bestehen gegenüber der unveränderten Orientierung der Geldpolitik an der Preisstabilität sowie dem Fehlen einer antizyklischen Budgetpolitik im Vertrag. Die Mitgliedstaaten haben ihre Budgets nach wie vor nicht nur nach den Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes zu erstellen. In den Jahren der sog. Krisenbewältigung ab 2007 kam ein neues Regelwerk zur wirtschaftspolitischen Steuerung hinzu so-

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1

Geschichte der Europäischen Integration wie weitere intergouvernementale Instrumente (v. a. Fiskalpakt) mit verschärften Defizitregeln und Ausgabenregeln sowie an Sanktionsmöglichkeiten dazu. Nach wie vor gibt es damit wenig Spielraum, um durch Ausweitung der öffentlichen Investitionen die Binnennachfrage zu stützen. Wie die Auswirkungen der Wirtschaftskrise und die damit verbundenen Rettungspakete mit strengen Auflagen und Sparmaßnahmen zu Lasten der ArbeitnehmerInnen z.B. in Griechenland, Portugal und Irland ­bereits drastisch gezeigt haben, setzen rigide budgetäre Maßregelungen die Sozialpolitik der Mitgliedstaaten unter erheblichen Druck.

Exkurs: Charta der Grundrechte der Europäischen Union Auch wenn die Grundrechte schon bisher vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) als ungeschriebene allgemeine Rechtsgrundsätze anerkannt wurden, so bestand vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon doch erhebliche Rechtsunsicherheit über Ausmaß und Tragweite der Grundrechte in der EU. Diesem Schwachpunkt des europäischen Rechts soll das Inkrafttreten der Charta der Grundrechte mit dem Vertrag von Lissabon ein Ende setzen. In sechs Kapiteln mit insgesamt über 50 Artikeln, die der Würde des Menschen, seinen Freiheiten, der Gleichheit, der Solidarität, den Rechten als BürgerIn und den justiziellen Rechten gewidmet sind, werden „die Grundrechte“ in der Charta umfassend kodifiziert. Sie fußen auf den Traditionen Europas wie etwa der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), der Sozialcharta des E­ uroparats und anderen internationalen Abkommen sowie einzelstaatlichen Traditionen. Besonders erfreulich aus ArbeitnehmerInnensicht ist die ausdrückliche Nennung sozialer Grundrechte, die in der EU neben der Rechtsordnung Österreichs (!) nur jener des Vereinigten Königreichs bis heute fremd geblieben sind. Zu den sozialen Grundrechten der Grundrechtecharta zählen: xx das Recht auf Unterrichtung der ArbeitnehmerInnen im Unternehmen xx Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen einschließlich Streik xx Recht auf Zugang zu einem unentgeltlichen Arbeitsvermittlungsdienst xx Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung

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Exkurs: Charta der Grundrechte der Europäischen Union

1.5

xx gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen xx Verbot der Kinderarbeit und Schutz der Jugendlichen am Arbeitsplatz xx Vereinbarkeit von Beruf und Familie xx soziale Sicherheit und soziale Unterstützung xx Gesundheitsschutz xx Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse Die Charta der Grundrechte muss vom EuGH in Hinkunft als Rechtsquelle bei der Auslegung des europäischen Rechts herangezogen werden.

© Thomas Frey/dpa/picturedesk.com

Das Gebäude des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg Europäische Rechtsakte wären daher anfechtbar, wenn sie mit den Grundrechten unvereinbar sind. Allerdings soll die Charta keine zusätzlichen Zuständigkeiten der Union begründen. Überall dort, wo die Mitgliedstaaten allein zuständig sind (de facto im gesamten Sozialrecht), würden die sozialen Grundrechte der EU die Rechtsstellung der BürgerInnen grundsätzlich nicht berühren. Dennoch sollte aber aus ArbeitnehmerInnensicht die „soziale Grundrechtsphilosophie der EU“ auch für entsprechende Entwicklungen in Österreich Impulse setzen. Ein weiterer Wermutstropfen der Grundrechtecharta ist ferner der Umstand, dass sie keine Anwendung im Vereinigten Königreich und in Polen findet, da diese Mitgliedstaaten ein „Opt-Out“ von der Grundrechtecharta für sich in Anspruch genommen haben. Diese Entwicklungen sind zu kritisieren, jedoch wird der EuGH im Wege der „allgemeinen Rechtsgrundsätze“ die Substanz der Grundrechtecharta auch auf die Opt-out-Länder anzuwenden haben.

Das Gebäude des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Lxemburg.

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2

Die Erweiterung der EU – der Beitrittsprozess Wie kommt man als Staat in die EU? Wer darf eigentlich Mitglied werden? Jeder europäische Staat, der die Grundsätze der Freiheit und der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit beachtet, kann die Mitgliedschaft in der EU beantragen. Das Beitrittsverfahren ist generell folgendermaßen aufgebaut: Am Beginn steht der Antrag des beitrittswilligen Staates um Aufnahme in die EU an den Rat. Die Europäische Kommission erarbeitet sodann für den Rat eine vorläufige Stellungnahme, die sich mit der Beitrittsfähigkeit/-reife des Staates sowie den möglichen Auswirkungen eines Beitrittes auf die EU auseinandersetzt. Dies ist die Grundlage für die Beratungen im Rat darüber, ob Verhandlungen aufgenommen werden sollen oder nicht. Die Beitrittsverhandlungen führt die jeweilige Präsidentschaft der Union mit Unterstützung der Kommission im Rahmen von Beitrittskonferenzen. Die Positionen der EU werden im Detail in Ratsarbeits­ gruppen vorbereitet.

Die Kopenhagen-Kriterien Die Beschlüsse des Europäischen Rates von Kopenhagen (1993) sowie die darauf aufbauenden Schlussfolgerungen schaffen die zentrale Grundlage für die Beitrittsverhandlungen. Sie legen die Bedingungen für eine Aufnahme in die Union fest („Kopenhagen-Kriterien“). Der Beitrittskandidat hat unter anderem xx über stabile Institutionen zu verfügen, die die Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit, die Achtung der Menschenrechte, die Einhaltung der Rechte der Minderheiten und deren Schutz gewährleisten (politisches Kriterium); xx über eine funktionierende Marktwirtschaft zu verfügen und in der Lage zu sein, dem Wettbewerbsdruck und den Kräften des Binnenmarktes zu begegnen (wirtschaftliches Kriterium); xx in der Lage zu sein, die aus dem Beitritt erwachsenden Verpflichtungen zu erfüllen und insbesondere die allgemeinen sowie die wirtschafts- und währungspolitischen Ziele der Union zu übernehmen (Übernahme des EURechts);

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Die Kopenhagen-Kriterien Übergangsbestimmungen

2.1 2.2

xx über ausreichende Kapazitäten zur wirksamen Anwendung und Umsetzung zu verfügen (effektive Umsetzung des EU-Rechts). Die Aufnahmefähigkeit der EU spielt bei jeder Erweiterung ebenfalls eine zentrale Rolle. Aufnahme- oder Integrationsfähigkeit bedeutet, dass die EU über funktionsfähige Institutionen und Politiken verfügt, die es ermöglichen, dass die Erweiterung zu einer Vertiefung der europäischen Integration beiträgt. Die neuen Länder ihrerseits müssen gut auf ihren neuen Status als EU-Mitglied vorbereitet sein. Integrationsfähigkeit bedeutet auch, dass die EU-Erweiterung von der öffentlichen Meinung in den Mitgliedstaaten und dem Kandidatenland getragen wird. Die Kommission übermittelt dem Rat jährlich Berichte über die Fortschritte eines Kandidatenlandes auf dem Weg zum Beitritt unter dem Gesichtspunkt der Erreichung der Kopenhagener Kriterien. Voraussetzung für die Eröffnung von bilateralen Beitrittsverhandlungen ist zunächst die Erfüllung des politischen Kriteriums. Hiefür gibt die Kommission eine Empfehlung ab, entscheiden über den Verhandlungsbeginn muss jedoch der Rat. In den Beitrittsverhandlungen werden sodann die Bedingungen festgelegt, unter denen das Bewerberland der EU beitritt. Dabei wird zunächst kapitelweise der EU-Rechtsbesitzstand dargelegt und kontrolliert, ob die Bestimmungen der Union vom Beitrittskandidaten übernommen und effektiv umgesetzt werden können.

Übergangsbestimmungen am Arbeitsmarkt Ist es bis zum Beitrittsdatum nicht möglich, die legistischen und institutionellen Voraussetzungen zu erfüllen oder aus wirtschaftlichen, sozialen oder politischen Gründen erforderlich, werden Übergangsbestimmungen verhandelt. Diese stellen zeitlich befristete Ausnahmen von gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen dar. In der letzten Erweiterungsrunde wurden zahlreiche Übergangsbestimmungen für die neuen, aber auch alten Mitgliedstaaten ausverhandelt. Sensible Bereiche für die alten Mitgliedsländer waren u. a. finanzielle Fragen im Zusammenhang mit der Landwirtschaft und Strukturpolitik, Verkehrspolitik sowie Arbeitneh-

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2

Die Erweiterung der EU – der Beitrittsprozess merInnenfreizügigkeit. Die neuen Mitgliedsländer haben Übergangsbestimmungen u. a. beim Grundverkehr, den Beihilfen und der Wirtschafts- und Währungsunion erhalten. Insbesondere als Anliegen Österreichs und Deutschlands wurde eine bis zu siebenjährige Übergangsfrist am Arbeitsmarkt (einschließlich ArbeitnehmerInnenentsendungen, die EU-rechtlich unter den freien Dienstleistungsverkehr fallen) festgelegt. Diese Frist wurde auch bis zum Jahr 2011 voll ausgeschöpft (gegenüber Bulgarien und Rumänien bestanden Übergangsfristen bis Ende 2013; analog gelten sie auch für Kroatien). Bis zum Ablauf der Frist konnten alte wie auch neue Mitgliedstaaten Vorbereitungen treffen, um den Nachteilen offener Arbeitsmärkte zu begegnen. Dazu zählen Qualifizierungsoffensiven ebenso wie Maßnahmen, um Lohn- und Sozialdumping entgegenzutreten (in Österreich z.B. wurde das Lohn- und ­Sozialdumpingbekämpfungsgesetz 2011 in Kraft gesetzt). Im Sinne einer schritt­weisen Öffnung hatten sich die österreichischen Sozialpartner zudem für v­ ereinfachte Verfahren bei der Zulassung von Fachkräften am österreichischen Arbeitsmarkt ausgesprochen. Durch diese sukzessive Öffnung des Arbeitsmarktes in Österreich ist bisher der große Ansturm osteuropäischer Arbeitskräfte mit 1. Mai 2011 aus heutiger Sicht ausgeblieben.

Wichtig ist es jedenfalls, durch (grenzüberschreitende) Kontrollen effektive Maßnahmen gegen Lohn- und Sozialdumping und die Einhaltung der Kollektivverträge und Gesetze zu gewährleisten.

28


In der Warteschlange

2.3

Derzeit gibt es fünf weitere Kandidatenländer: Island, Montenegro, Serbien, die Türkei und die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien. Die Beitrittsverhandlungen von Kroatien mit der EU wurden 2012 abgeschlossen, und der Beitritt Kroatiens fand am 1. Juli 2013 statt. Ein baldiger Beitritt Islands in die Europäische Union wäre durchaus möglich, ist aber im Inselstaat innenpolitisch heftig umstritten. Hingegen gestalten sich die Verhandlungen mit der Türkei schwieriger. Ein ­Abschluss ist derzeit nicht absehbar. Einige EU-Staaten – so auch Österreich – haben sich vorbehalten, vor einem Türkei-Beitritt eine Volksabstimmung ab­zuhalten.

Länder der Europäischen Union EU-Mitgliedsländer Länder, die EU-Mitglied werden wollen Finnland Schweden

Irland

Großbritannien

Estland Lettland

Dänemark

Litauen

Niederlande

200 km

Belgien

Polen

Deutschland

Luxemburg

Tschechien Slowakei

Atlantischer Oz e a n

Frankreich

Österreich Slowenien

Ungarn

Kroatien

Portugal

Italien

Spanien

Rumänien Serbien

S chwa r z e s M e e r Bulgarien

Montenegro

© Bildarchiv ÖGB

Mazedonien Türkei

M ittelmeer Griechenland Malta

Zypern

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3

Organe und Einrichtungen der EU So wie jeder Staat (aber auch jede privatrechtliche Vereinigung) benötigt die EU „Organe“, mit welchen sie erst tätig werden kann. Im Folgenden werden zunächst die drei wichtigsten – die Europäische Kommission, der Rat und das Europäische Parlament – präsentiert. Ihren inneren Strukturen liegt stets ein Ausgleich zwischen mitgliedstaatlicher und europäischer Interessenwahrnehmung zu Grunde. Dabei geht es primär um die Frage, wie Macht und Einfluss der Mitgliedstaaten im europäischen Ganzen „aufgehoben“ sind. Aufheben ist dabei in gleicher Weise als „Bewahren“ wie auch als „Beendigen“ nationaler Macht, und nicht zuletzt im Sinne einer „qualitativ gehobeneren“ (überstaatlich europäischen) Wahrnehmung von Macht zu begreifen. Aus ArbeitnehmerInnensicht ist dann besonders darauf zu achten, dass diese „neue“ Form europäischer Machtausübung (Hoheit) die Anliegen der ArbeitnehmerInnen in gleicher Weise integriert wie die „alten“ Nationalstaaten (siehe insbesondere Kapitel Soziales Europa). In einem Abschnitt zur Rechtsetzung wird zu zeigen versucht, wie die drei großen Organe in der Praxis zueinander in Beziehung treten (vor allem bei den Richtlinien und Verordnungen) und welche EU-Fragen letztlich allein den Mitgliedstaaten zur Regelung vorbehalten sind (z. B. die Grundlagenverträge und Beitritte). Abschließend werden weitere europäische Einrichtungen angeführt, die entweder für die EU insgesamt (EuGH, Rechnungshof, EZB, EIB) oder unter besonderer Berücksichtigung von ArbeitnehmerInnenanliegen (EWSA, „Dublin-Foundation“) von Bedeutung sind.

30


Die Europäische Kommission

3.1

Die Kommission ist – ebenso wie der Rat – ein „Mischorgan“. Sie nimmt sowohl (legislative) Rechtsetzungsaufgaben als auch (exekutive) Verwaltungsaufgaben wahr. Die Fülle von Macht und Verantwortung macht die Kommission auch als Ziel von Lobbying besonders interessant. Die wichtigsten Aufgaben ➔➔ Rechtsetzung Die Kommission hat in aller Regel das „Initiativrecht“ in der Rechtsetzung. Das heißt, dass das europäische Sekundärrecht (insbesondere Richtlinien und Verordnungen) nur auf Vorschlag der Kommission zustande kommen können. ➔➔ Verwaltungsaufgaben In einigen wenigen, aber sehr bedeutsamen Bereichen (insbesondere im Wettbewerbsrecht) verfügt die Kommission über unmittelbare Vollzugskompetenzen. So ist z. B. die Kommission im Grunde allein befugt, Unternehmenskartelle von europäischer Tragweite zu untersagen oder Beihilfen der Mitgliedstaaten an „ihre“ Unternehmen zu genehmigen. Von den Gewerkschaften wurde hier in den letzten Jahren thematisiert, inwieweit Beihilfen an grundsätzlich subventionsabhängige öffentliche Dienstleister (z. B. Krankenhäuser, Schulen, sozialer Wohnbau) dem Einfluss der marktorientierten Kommission entzogen werden können. Häufig ermächtigen einzelne EU-Sekundärrechtsakte (Richtlinien oder Verordnungen) die Kommission zum Erlass von Durchführungsbestimmungen, z. B. zur Anpassung an technische Veränderungen (zu dem, was in Österreich als „Verordnung“ bezeichnet wird). In derartigen Fällen wird die Kommission stets durch Ausschüsse unterstützt, in denen die Mitgliedstaaten repräsentiert sind (so ­genanntes Komitologieverfahren). In der Mehrzahl der Fälle ist das EU-Recht jedoch von den mitgliedstaatlichen Behörden zu vollziehen bzw. (im Fall der Richtlinien) von den nationalen Parlamenten in Gesetzesform umzusetzen. In diesen Fällen ist es die Aufgabe der Kommission, die Mitgliedstaaten dahingehend zu kontrollieren, ob sie das EU-Recht auch korrekt beachten. Man spricht dann von der Kommission als „Hüterin des Gemeinschaftsrechts“ bzw. „Hüterin der Verträge“. Nötigen-

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3

Organe und Einrichtungen der EU falls kann sie die Mitgliedstaaten auch vor den Gerichtshof zitieren (Vertrags­ verletzungsverfahren). ➔➔ Vertretung der EU nach außen Die Europäische Kommission vertritt auch die EU auf internationaler Ebene. Dadurch können die Mitgliedstaaten in internationalen Foren wie der Welthandelsorganisation (WTO) „mit einer Stimme“ sprechen. Ferner ist die Kommission für das Aushandeln völkerrechtlicher Verträge im Namen der EU verantwortlich. Ein Beispiel dafür ist das Abkommen von Cotonou (früher Lomé), in dem die Bedingungen für eine bedeutende Hilfs- und Handelspartnerschaft zwischen der EU und den Entwicklungsländern in Afrika, in der Karibik und im Pazifikraum festgelegt sind. Zu beachten ist jedoch, dass die Kommission am internationalen Parkett stets an Mandate gebunden ist, die ihr vom Rat – und seit dem Vertrag von Lissabon auch vom Europäischen Parlament – erteilt werden. In der Praxis kommt es dabei oft zu Kompetenzkonflikten: zwischen Kommission und Rat oder – ganz grundlegend – zwischen der EU und einzelnen Mitgliedstaaten, vor allem wenn letztere bestimmten internationalen Abkommen mit Skepsis begegnen (z. B. beim weltweiten Liberalisierungsabkommen im Handel mit Dienstleistungen – „GATS“). Zusammensetzung, Arbeitsweise, Beschlüsse Die Europäische Kommission besteht aus 28 Mitgliedern – den KommissarInnen (je 1 pro Mitgliedstaat). Jedem/Jeder KommissarIn unterstehen spezifische Fachbereiche (z. B. Soziales, Umweltschutz, Binnenmarkt etc.). Die Kommission wird auf fünf Jahre ernannt. Eine Verlängerung der Amtsdauer ist möglich. Die Kommission ist als überstaatliches Entscheidungsgremium konzipiert. Demgemäß sind die KommissarInnen – insbesondere von den Mitgliedstaaten – unabhängig und ausdrücklich dem Allgemeinwohl der EU verpflichtet. Das hindert freilich die Mitgliedstaaten nicht daran zu versuchen, über „ihren“ Kommissar/„ihre“ Kommissarin Einfluss auf die Politik der Kommission auszuüben. Inwieweit dies gelingt, hängt immer von den besonderen Konstellationen ab. Zu bedenken ist ferner, dass die Festlegung der Mitgliedstaaten auf „ihren“ Kommissar/ „ihre“ Kommissarin immer auch ein Politikum innerhalb der Mitgliedstaaten ist.

32


Die Europäische Kommission

3.1

Eine besondere Rolle innerhalb der Kommission nimmt der/die KommissionspräsidentIn ein. Er/Sie führt die Kommission in politischer Hinsicht und tritt meist auch als „das Sprachrohr der Kommission“ in Erscheinung. KommissionspräsidentIn ist das höchste Amt, das von der EU vergeben wird. Es wird in der Regel von ehemaligen Regierungschefs/-chefinnen eines Mitgliedstaates ausgeübt. Die Ernennung der Kommission erfolgt in einem mehrstufigen Verfahren. Dabei wird zuerst nur der/die KommissionspräsidentIn designiert, anschließend – unter Einbeziehung des/der designierten Präsidenten/Präsidentin – die übrigen 27 KommissarInnen. Sowohl das Europäische Parlament (durch Zustimmung) als auch der Rat (durch Ernennung mit qualifizierter Mehrheit) müssen die derart zustande gekommene Kommission billigen. Die Zustimmungspflicht des Europäischen Parlaments führt dazu, dass das politische Kräfteverhältnis innerhalb der Kommission das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament in etwa widerspiegelt bzw. die demokratische Legitimation der Kommission gestärkt wird. Daher wird auch die Amtsdauer der Kommission mit der Sitzungsperiode des Europäischen Parlaments (EP) zeitlich abgestimmt (z. B. 2004-2009, 2009-2014). Während für die Zustimmung des EP zur Kommissionsernennung die einfache Mehrheit (mehr als die Hälfte) der abgegebenen Stimmen reicht, erfordert eine „Abwahl“ (Misstrauensvotum) eine 2/3-Mehrheit. Das Misstrauensvotum des EP kann sich überdies nur auf die Kommission als Ganzes beziehen (nicht gegen einzelne KommissarInnen). In der Praxis erfordert die Bildung der Kommission oft einen komplizierten ­diplomatischen Balanceakt, der in relativ kurzer Zeit bewältigt werden muss. Mit folgenden Fragen muss sich dann ein/e designierte/r KommissionspräsidentIn auseinandersetzen: Ist die Kommission (partei-)politisch ausgewogen? Sind die „besonders wichtigen“ Staaten ausreichend repräsentiert? Ist im Gremium ausreichend Expertise verankert? Ist das Frauen-/Männer-Verhältnis ausgewogen? Wie können diejenigen, die zu kurz gekommen sind, auf anderem Wege abge­golten werden (z. B. durch eine Aufstockung von finanziellen Förderungen oder durch stärkere Berücksichtigung von Personalwünschen innerhalb der EU-­ Verwaltung)? Wie geht man mit renitenten Mitgliedstaaten um?

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3

Organe und Einrichtungen der EU Die Kommission ist ein auf dem Kollegialitätsprinzip aufgebautes politisches Organ. Beschlüsse erfordern eine einfache Mehrheit, d.h. mindestens 14 (von den 27) KommissarInnen müssen dahinterstehen. Der Kommission ist ein Verwaltungsapparat unterstellt, der in Generaldirektionen, Direktionen, Abteilungen und Referate gegliedert ist. Um die tägliche Arbeit der Kommission kümmern sich derzeit rund 23.000 Beamte und Beamtinnen, davon rund ein Viertel allein im Sprachendienst.

Der Rat Der Rat ist das Vertretungsorgan der Mitgliedstaaten in der Rechtsetzung und in der politischen Abstimmung. Er ist „das“ zentrale und einflussreiche Machtorgan. Vergleicht man den Rat mit dem parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren in Österreich, so fungiert er als „Länderkammer“, ähnlich dem österreichischen Bundesrat. Im Gegensatz zur österreichischen Kompetenzaufteilung zwischen der Abgeordnetenkammer (Nationalrat) und der Länderkammer (Bundesrat) sind in der EU die Machtbefugnisse jedoch umgekehrt. Nicht zuletzt dadurch sind in der EU nach wie vor die Länder (= die Mitgliedstaaten) tonangebend. Das ist auch insoweit erklärbar, als die Mitgliedstaaten bei jedweder Vergemeinschaftung von Kompetenzen ursprünglich eigene Zuständigkeiten (Souveränitätsrechte) an die EU abgegeben haben. Sie wollen dann wenigstens bei der Ausübung dieser Kompetenzen ihre Mitsprache erhalten, die ihnen insbesondere durch die starke Rolle des Rates gesichert ist. Andererseits werden durch den starken Einfluss des Rates soziale Interessens­ gegensätze oft als nationale Interessen verbrämt (etwa wenn die Interessen der Unternehmen eines Mitgliedstaates als „nationale Interessen“ ausgegeben werden). Die „EU-verfassungspolitischen Trends“ des letzten Jahrzehnts haben die Allmacht der Mitgliedstaaten im Rat andererseits auch erheblich relativiert: einerseits zu Gunsten der Entscheidungseffizienz im Fall der Ausweitung der sogenannten qualifizierten Mehrheit (siehe unten) auf immer mehr Kompetenzbereiche, andererseits zu Gunsten der Demokratisierung durch die sukzessive

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Der Rat

3.2

Miteinbeziehung des Europäischen Parlaments als Co-Gesetzgeber in immer mehr zentralen politischen Bereichen (siehe S. 44). Wichtige Aufgaben ➔➔ Rechtsetzung Da der Rat praktisch bei allen legislativen Beschlüssen (insbesondere Richtlinien, Verordnungen) mitgestaltet, gilt er als Hauptrechtsetzungsorgan. Relativ wenig Mitsprache hat er lediglich im Bereich des Wettbewerbsrechts. Hier dominiert die Kommission. Bei einer Vielzahl legislativer Entscheidungen ist die Macht des Rates indessen mit der Kommission (sie hat in der Regel das Initiativmonopol) und dem Europäischen Parlament (insbesondere im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren) geteilt. „Alleingesetzgeber“ ist er jedoch in der zweiten und dritten Säule (GASP und PJZS). Der Rat hat außerdem besondere Zustimmungsbefugnisse bei Änderungen der Grundlagenverträge der EU (Primärrecht) und beim Beitritt neuer Mitgliedstaaten. Bei diesen fundamentalen Fragen ist obendrein eine Ratifizierung aller Mitgliedstaaten gemäß „ihrer verfassungsrechtlichen Vorschriften“ (daher muss beispielsweise in Irland eine Volksabstimmung durchgeführt werden) nötig, womit auch eine aktive Einbeziehung der einzelstaatlichen Parlamente bei den ganz großen Entwicklungsfragen gesichert bleibt. Zur Rechtsetzung kann ferner auch der Abschluss von Verträgen mit Drittstaaten gezählt werden (nachdem die Verhandlungen von der Kommission geführt worden sind). ➔➔ Haushalt Auf Vorschlag der Kommission stellt der Rat den jährlichen Haushaltsplan auf. Beschlossen wird er gemeinsam mit dem Europäischen Parlament. Bei einzelnen Ausgaben (so genannte „obligatorische Ausgaben“) kann der Rat das Europäische Parlament überstimmen. ➔➔ Ernennungen Der Rat ernennt wichtige Organe, zum Teil im Zusammenwirken mit dem Europäischen Parlament (z. B. Ernennung der Kommission), zum Teil allein (z. B. RichterInnen am EuGH, Mitglieder im WSA).

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3

Organe und Einrichtungen der EU ➔➔ Sonstige politische Festlegungen Der Rat spielt ferner eine wichtige Rolle bei politischen Festlegungen ohne rechtsverbindliche Kraft wie z. B. im Rahmen der Koordinierung der Wirtschaftspolitik oder bei den beschäftigungspolitischen Leitlinien. Darüber hinaus äußert sich der Rat regelmäßig zu verschiedenen Themen, meist in Form von Schlussfolgerungen. Hierbei fordert er etwa die Kommission auf, bestimmte Legislativvorschläge zu erarbeiten. Dem leistet die Kommission auch in aller Regel Folge (anders bei Entschließungen des Europäischen Parlaments oder ­anderer Organe). Zusammensetzung Der Rat wird aus je einem/einer VertreterIn der 28 Mitgliedstaaten gebildet. Da die VertreterInnen in aller Regel ein Ministeramt in ihrem Land bekleiden, spricht man auch vom Ministerrat. Anstelle der MinisterInnen vertreten häufig auch StaatssekretärInnen ihr Mitgliedsland im Rat. Die konkrete Besetzung des Rates hängt vom Fachgebiet ab, dem sich der jeweilige Rat widmet. So treffen am Rat „Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz“ die SozialministerInnen (bzw. je nach Tagesordnung eventuell andere für Arbeitsmarkt, Gesundheit oder VerbraucherInnenschutz zuständige Minis­terInnen) der Mitgliedstaaten zusammen, am Rat „Wettbewerbs­ fähigkeit“ die WirtschaftsministerInnen, am Rat „Umwelt“ die UmweltministerInnen. Das Treffen der AußenministerInnen heißt Rat „Allgemeine Angelegenheiten und Außenbeziehungen“. Bei grundsätzlich sachübergreifenden Themen werden die Ratsformationen auch kombiniert bzw. gemeinsam abgehalten. Aufgrund der sich daraus ergebenden Größe wird das inoffiziell auch als „JumboRat“ bezeichnet. Insgesamt gibt es derzeit zehn verschiedene reguläre Rats­ formationen. Unab­hängig von der Besetzung entscheidet aber immer der „Rat“. Die Ratsformationen xx Allgemeine Angelegenheiten xx ­Auswärtige Angelegenheiten xx Wirtschaft und Finanzen (ECOFIN) xx Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (JI)

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Der Rat

3.2

xx Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und VerbraucherInnenschutz xx Wettbewerbsfähigkeit (Binnenmarkt, Industrie, Forschung und Raumfahrt) xx Verkehr, Telekommunikation und Energie xx Landwirtschaft und Fischerei xx Umwelt xx Bildung, Jugend, Kultur und Sport Eine Sonderformation ist der Rat in Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs. Hier treffen nicht MinisterInnen aufeinander, sondern „deren Vorgesetzte“, die jeweiligen PremierministerInnen bzw. (Bundes-)KanzlerInnen. Dieser Rat entscheidet in jenen Fragen, die zur ChefInnensache erklärt werden – sei es weil sie von Vornherein in den Grundlagenverträgen als derart wichtig betrachtet werden (z. B. bei der Feststellung der Verletzung fundamentaler Grundsätze durch einen Mitgliedstaat) oder weil sich auf FachministerInnen­ ebene eine Pattstellung ergeben hat, die es aufzulösen gilt. Der Europäische Rat Bei einem Treffen der BundeskanzlerInnen bzw. PremierministerInnen handelt es sich allerdings meist nicht um einen „rechtsetzenden“ Rat in Zusammensetzung der Staatsund Regierungschefs/-chefinnen, sondern um den Europäischen Rat (informell auch „Gipfel“ bezeichnet). Vom „rechtsetzenden Rat“ unterscheidet er sich zunächst darin, dass neben den Staats- und Regierungschefs auch der/die KommissionspräsidentIn daran teilnimmt. Der Europäische Rat ist das politische Leitgremium der Euro­päischen Union und tagt rund viermal im Jahr. Durch die Änderungen des Lissabonvertrages hat der Europäische Rat nun Rechtspersönlichkeit und außerdem eine/n auf 2,5 Jahre gewählte/n Präsidenten/Präsidentin erhalten. Der Europäische Rat entfaltet sein Wirken nicht durch rechtsverbindliche Beschlüsse, sondern durch politische Weichenstellungen (Festlegung von Prioritäten), meist in Form so genannter „Schlussfolgerungen“. Bei Schlussfolgerungen geht der Europäische Rat (wie auch der „normale“ Rat, wenn er lediglich politische Erklärungen abgibt) ausschließlich einvernehmlich (konsensual) vor. Im Europäischen Rat kann somit Österreich niemals überstimmt werden.

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3

Organe und Einrichtungen der EU Der Ratsvorsitz Alle sechs Monate (Jänner bis Juni, Juli bis Dezember) rotiert der Vorsitz im Rat. Die reihum in den Sitzungssälen des Ratsgebäudes platzierten Mitgliedstaaten rutschen um einen Sitzplatz weiter („Der Rat dreht sich im Rad“). Der Ratsvorsitz hat folgende Aufgaben zu erfüllen: xx Vorbereitung und Leitung sämtlicher Ratstagungen xx Ausarbeitung von Kompromissen und Lösungen für die anstehenden Probleme xx Sicherung der Kontinuität der Entscheidungen Ein Vorsitz wird rückblickend immer daran gemessen, inwieweit er die politische und rechtliche Entwicklung der EU vorangetrieben hat. Um entsprechendes europäisches Prestige bemüht, setzt sich der Vorsitz bisweilen auch gern in Szene. Die dem Vorsitzland zugedachte Rolle des „ehrlichen Maklers“ zwischen den verschiedenen Interessen zwingt politisch (nicht aber rechtlich) zu einer gewissen Zurückhaltung gegenüber den eigenen Anliegen. In jüngerer Vergangenheit wurde indessen bisweilen nicht einmal mehr versucht, die eigenen Interessen wenigs­tens zu verbergen. Österreich hatte die Ratspräsidentschaft zuletzt im ersten Halbjahr 2006 inne. Nach derzeitigem Stand würde es erst wieder im ers­ ten Halbjahr 2019 an die Reihe kommen. Beschlüsse Entsprechend der politischen Sensibilität der Angelegenheit sind nach den Grundlagenverträgen drei unterschiedliche Quoren vorgesehen: Die einfache Mehrheit (mindestens 14 der 28 Mitgliedstaaten): Sie ist für Fragen von relativ untergeordneter Bedeutung maßgeblich, insbesondere bei vielen Verfahrensbeschlüssen oder für Fragen zur Tagesordnung. Die Einstimmigkeit (keine Gegenstimme): Jeder Mitgliedstaat kann hierbei sein Veto erheben, um einen Beschluss zu verhindern. Sie ist bei jenen „besonders sensiblen“ Fragen vorgesehen, für die (zumindest einzelne) Mitgliedstaaten ihre souveräne Entscheidungshoheit trotz „Vergemeinschaftung der Materie“ aufrechterhalten wollen: Dazu zählt neben wichtigen institutionellen Beschlüssen – aus ArbeitnehmerInnensicht bedauerlicherweise – die Angleichung der Steuerregelungen. Die Einstimmigkeit bei Steuerfragen verhindert damit nicht­

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Der Rat

3.3

zuletzt die Bekämpfung des Steuerdumpings (das heißt, des gegenseitigen ­Hinun­terlizitierens der Mitgliedstaaten zur Attraktivierung ihres Standortes). Im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) gilt auch nach dem Vertrag von Lissabon überwiegend das Einstimmigkeitsprinzip. Die qualifizierte Mehrheit: Ihr Anwendungsbereich ist bei den vergangenen Vertragsrevisionen sukzessive ausgeweitet worden, sodass sie mittlerweile als Regelfall gilt (insbesondere im Binnenmarktrecht, überwiegend im Umweltrecht, teilweise auch in der Sozialpolitik). Bei der qualifizierten Mehrheit werden die Stimmen entsprechend der EinwohnerInnenzahl der Mitgliedstaaten gewogen (d.h. jedem Mitgliedstaat wird eine Punktezahl zugeordnet); allerdings erfolgt dies nicht in strenger Linearität zur Bevölkerungsgröße, sondern als Kompromiss zwischen dem Gedanken gleichrangiger souveräner Staaten (grundsätzlich gilt jeder Staat gleich viel im internationalen Recht) und der demokratischen Repräsentation (Gewichtung nach der repräsentierten Bevölkerung). Entsprechend der EinwohnerInnenzahl erhalten die Staaten danach zwischen 3 und 29 Stimmen. Man beachte dabei, dass im Rat auch Deutschland (trotz seiner rund 80 Mio. EinwohnerInnen) nicht mehr Stimmen zuerkannt werden als den anderen drei großen: Italien, Frankreich, Vereinigtes Königreich (je knapp 60 Mio. EinwohnerInnen). Im Einzelnen gilt folgende Stimmverteilung („Stimmwägung“): Deutschland, Frankreich, Italien, Vereinigtes Königreich Polen, Spanien Rumänien Niederlande Belgien, Griechenland, Portugal, Tschechien, Ungarn Bulgarien, Österreich, Schweden Dänemark, Finnland, Irland, Kroatien, Litauen, Slowakei Estland, Lettland, Luxemburg, Slowenien, Zypern Malta Gesamtstimmen

29 27 14 13 12 10 7 4 3 352

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3

Organe und Einrichtungen der EU Ein mit qualifizierter Mehrheit zu fassender Beschluss benötigt erstens mindes­ tens 255 der 345 Stimmen. Außerdem muss zweitens die Mehrheit der Mitgliedstaaten (mindestens 14) dahinterstehen. Es gibt aber auch noch eine dritte Hürde, die zu überspringen ist: Jene Mitgliedstaaten, die die qualifizierte Mehrheit bilden, müssen zusammen mindestens 62 % der Gesamtbevölkerung (=305 586 300 EinwohnerInnen) repräsentieren. Auf diese dritte Hürde muss sich ein Mitgliedsland aber extra berufen (und sich damit gleichsam an den „Pranger der Integrationsfeinde“ stellen). Deutschland hat diese Notbremse im Gegenzug zu seiner Zustimmung erhalten, trotz mit Abstand höchster Bevölkerungszahl nicht mehr an Stimmen im Rahmen der Stimmwägung zu bekommen (Bevölkerungstabelle siehe S. 49). Die Stimmwägung bei der qualifizierten Mehrheit bietet ein interessantes Terrain für verhandlungspolitisches Kalkül. Dabei neigen die Mitgliedstaaten oftmals dazu, ihre Karten erst möglichst spät auf den Tisch zu legen, auch um nicht als Blockierer dazustehen. Wer überdies von Anbeginn an ausschließlich negativ gegenüber einem vorgeschlagenen Rechtsakt eingenommen ist, kann selbst punktuelle Verbesserungen oft nur schwer durchsetzen. Man würde ja trotz Zugeständnissen immer noch nicht zustimmen. Um einer derartigen Isolation zu entgehen, neigen dann Staaten dazu, unter der Voraussetzung bestimmter Verbesserungen (dem „Ziehen der Giftzähne“) ein Gesamtprojekt doch zu unterstützen. Will man aber Vorhaben maßgeblich beeinflussen oder gegebenenfalls auch gänzlich verhindern, so ist es wichtig, BündnispartnerInnen im Rat zu finden. In der Praxis heißt das, dass man mindestens 91 Gegenstimmen (Blockadequorum) hinter sich versammeln muss (sodass sich die erforderliche Stimmenzahl von 255 nicht mehr ausgehen kann). Das eröffnet dann die Möglichkeit für geopolitische Rechenspiele. Dabei sind z. B. nachstehende Interessenbündelungen durchaus beachtlich, aus denen bisweilen Koalitionen für ein Blockadequorum entspringen können. BefürworterInnen von Vorhaben bemühen sich dann meist darum, einzelne Staaten aus dem betreffenden Block herauszulösen. Zumal die Koalitionen im Rat ja nicht auf grundsätzlicher ­Loyalität, sondern lediglich auf m ­ omentaner Interessengleichheit be­ruhen, ist dies z. B. durch besondere Zugeständnisse (allenfalls auch in gänzlich an-

40


Der Rat

3.2

deren Bereichen) möglich. Nachstehende Bündelungen sind daher auch nur als grobe Annäherung zu verstehen. Die Wirklichkeit sieht nur selten so eindeutig aus. So hängt etwa die ideologische Einstellung zur „Freiheit des Marktes“ bekanntlich viel mehr noch von der parteipolitischen Zugehörigkeit bzw. von der Orientierung der Regierung des jeweiligen Mitgliedstaates ab. Dennoch erscheint es gerade in dieser Frage bemerkenswert, dass z. B. die Position eines französischen Konservativen oftmals marktkritischer und regulierungsorientierter ist als die eines britischen Labour-Ministers. Denkbare Interessendeckungen Staaten der „Osterweiterung“ (PL, RU, CZ, H, BG, LT, SK, ES, LET, SLO, CRO) 5 Nettozahler (D, UK, NL, S, Ö)

103 Stimmen 91 Stimmen

Aktive Marktöffner (Osterweiterung + UK, NL, S, FIN, DK, IRL ... D?) Marktkritischere Staaten (F, I, SP, B, GR, P, Ö)

205+ Stimmen 131 Stimmen

Ab 2014 wird mit der Einführung des Systems der „doppelten Mehrheit“ für die Annahme eines Beschlusses erforderlich, dass immer zwei Mehrheiten erreicht werden: die Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten (d.h. mindestens 15) und die Mehrheit der EU-Gesamtbevölkerung (d.h. die zustimmenden Länder müssen mindestens 65 % der EU-Bevölkerung vertreten – siehe oben). Sitz, Arbeitsweise Angesiedelt ist der Rat in Brüssel. Dass er an drei Monaten im Jahr nach wie vor in Luxemburg tagt, gehört zu den skurrilen, historisch bedingten Eigenheiten der EU, die freilich den termingedrängten MinisterInnen die Anreise auch unnötig erschwert. In Brüssel unterhalten sämtliche Mitgliedstaaten Ständige (diplomatische) Vertretungen. In wöchentlichen Treffen, dem Ausschuss der Ständigen

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3

Organe und Einrichtungen der EU Vertreter (AStV bzw. COREPER nach der französischen Abkürzung), werden die Tagungen der Ministerräte vorbereitet. Der COREPER ist die Versammlung der LeiterInnen der Ständigen Vertretungen. Am COREPER versucht man die in aller Regel bereits auf Ratsarbeitsgruppen­ ebene vorbereiteten Dossiers entscheidungsreif für den eigentlichen Minis­ terrat zu machen. Von Entscheidungsreife ist dann auszugehen, wenn die Diskussionen zu einem Rechtsakt nur mehr auf ganz wenige Fragen reduziert werden können, die politisch zu lösen sind. MinisterInnen sollen und können sich z. B. nicht mit technischen (legistischen) Feinheiten herumschlagen. Spätes­ tens am COREPER sollten daher alle technischen Fragen geklärt und bei politischen Fragen Annäherungen versucht worden sein, nicht zuletzt um die Verhandlungssituation für den Ministerrat zu sondieren. Da die Positionierung im Rat von den Mitgliedstaaten festgelegt wird, han­delt z. B. der/die österreichische VertreterIn im COREPER stets auf Basis einer ­Weisung aus Wien. Um die Dossiers aber auch für ihn/sie verhandlungsfähig zu halten, werden die Weisungen mitunter mit flexiblen Positionen inklusive Rückzugsmöglichkeiten ausgestattet. Die Ständigen VertreterInnen sind insoweit als BeamtInnen mit politischen Verhandlungsvollmachten zu begreifen. In die wöchentliche Abstimmung der Weisung sind in Österreich auch die Sozialpartner eingebunden. Die eigentliche inhaltliche Vorbereitung der Ratsbeschlüsse erfolgt jedoch „unterhalb“ des COREPERS in den so genannten Ratsarbeitsgruppen. Sie werden mit den betreffenden FachbeamtInnen aus den Mitgliedstaaten beschickt und leisten in der Regel die Knochenarbeit bei der Ausverhandlung eines Rechts­ aktes. Derzeit gibt es rund 150 Ratsarbeitsgruppen, die sich je nach Dringlichkeit eines Dossiers auch mehrmals pro Woche in Brüssel treffen können. Wer einmal an einem Wochentag den Morgenflug nach Brüssel nimmt, der wird vermut­lich vielen österreichischen FachbeamtInnen auf ihrem Weg in eine Ratsarbeits­ gruppe begegnen. Daneben gibt es auch noch weitere Formationen, die letztlich dem Ministerrat zuarbeiten: Aus ArbeitnehmerInnensicht sind hier der „Beschäftigungsausschuss“ und der „Sozialschutzausschuss“ zu nennen, in die bisweilen auch Angehörige der Sozialpartner der Mitgliedstaaten entsandt werden.

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Der Rat

3.2

Es ist wohl gut vorstellbar, dass die Organisation dieses Räderwerks aus ExpertInnen und PolitikerInnen insbesondere die jeweilige Ratspräsidentschaft vor hohe Anforderungen stellt. Ganz allein steht eine Ratspräsidentschaft bei der Organisation aber nicht da. Unterstützt wird sie vom Ratssekretariat, einem Verwaltungsapparat aus spezialisierten BeamtInnen, der für die Kontinuität der Abläufe sorgt und an dessen Spitze der/die GeneralsekretärIn des Rates steht. Unterstützt wird das Vorsitzland in der Praxis aber auch von der Kommission. Denn auch diese ist in höchstem Maße daran interessiert, Einigungen voranzubringen bzw. daran dass über jene Rechtsakte im Rat entschieden wird, die ja von ihr vorgeschlagen wurden. Exkurs: Die so genannte Exekutivlastigkeit und das Problem des Demokratie­ defizits Doch selbst wenn diese Form des Vorbereitens und Entscheidens unter Einbeziehung verschiedener Interessen in der Praxis effizient funktioniert, so sollen auch die Schattenseiten dieser Entscheidungsabläufe erwähnt werden. Aus demokratiepolitischer Sicht ist zu bemerken, dass die MinisterInnen, sohin die Exekutive der Mitgliedstaaten, über den Rat legislative Beschlüsse fassen, die für die Mitgliedstaaten einschließlich deren Parlamente verbindlich sind. Das überwiegende Gros der Arbeiten, de facto die meisten Vorentscheidungen, werden im Rat überdies von BeamtInnen erledigt, die zwar über hohe Expertise, aber im Vergleich zu den MinisterInnen über überhaupt keine demokratische Legitimation zur Rechtsetzung mehr verfügen. Und außerdem finden die Ratstagungen nach wie vor praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Eine negative praktische Folge ist dann das sogenannte „Spiel über die Bande“. Dabei wird versucht, über den Umweg der europäischen Rechtsetzung Dinge zu realisieren, die im eigenen Land entweder von den nationalen Parlamenten oder von der Öffentlichkeit verhindert würden (z. B. Dienstleistungsrichtlinie). Um dem damit angesprochenen Demokratiedefizit Abhilfe zu verschaffen, wurden einige Ansätze entwickelt, von denen drei nachstehend erwähnt werden. Gerade aus ArbeitnehmerInnensicht besteht ein besonderes Interesse am Ausbau der demokratischen Strukturen in der EU. Wir EuropäerInnen

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Organe und Einrichtungen der EU wollen beobachten, wer mit welchen Argumenten welche Interessen vertritt. Mehr Mitsprache der nationalen Parlamente Einige Mitgliedstaaten sehen eine besondere Beteiligung ihrer Parlamente im Rahmen der Verhandlungen auf Ratsebene vor. Bis zur entsprechenden Genehmigung des Parlaments agieren dann die nationalen VertreterInnen im Rat „unter Parlamentsvorbehalt“ (z. B. üblich in DK). Auch in Österreich wurde anlässlich des Beitritts zur EU das Parlament mit entsprechenden Befugnissen ausgestattet. Die seither bestehende Möglichkeit einer bindenden Stellungnahme des Hauptausschusses des Nationalrats an den/die betreffende/n MinisterIn hat jedoch bislang keine praktische Bedeutung erlangt. Eine gewisse Berührungs­ angst mit europäischen Themen ist aber auch bei den bisherigen Plenartagungen des Nationalrates zu europäischen Themen nicht zu leugnen gewesen. Mehr Mitsprache des Europäischen Parlaments Der einfachste und probateste Weg zur Stärkung der demokratischen Legitimation ist die Stärkung des Europäischen Parlaments. Tatsächlich hat das Europäische Parlament hier mit den letzten Änderungen der Grundlagenverträge stark aufgeholt. Dies zeigt sich an der Ausweitung des sogenannten Mitentscheidungsverfahrens (welches nun ordentliches Gesetzgebungsverfahren heißt) in der Rechtsetzung ebenso wie am Zustimmungsrecht zu wichtigen Entscheidungen wie der Kommissionsbestellung. Dennoch verfügt das Europäische Parlament nicht über das Recht zur „Gesetzesinitiative“ und bleibt daher auf Vorschläge der Kommission angewiesen. Dadurch kann das Parlament das Sekundärrecht immer nur im Wege von Abänderungsanträgen gestalten. Öffentlichkeit der Ratstagungen Ratstagungen finden nach wie vor grundsätzlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Dieser Mangel an Transparenz schwächt die Legitimation der Entscheidungen und nährt das Misstrauen der BürgerInnen. Vor diesem Hintergrund wurden zuletzt Initiativen lanciert, um etwa das Abstimmungsverhalten der MinisterInnen über das Internet zu übertragen (siehe http://www.consilium. europa.eu/showPage.aspx?id=1102&lang=de). Auch der Vertrag von Lissabon

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Das Europäische Parlament

3.3

sieht in diese Richtung weitere Schritte vor, die die Durchsichtigkeit der Verhandlungs- und Entscheidungsabläufe für Außenstehende verbessern sollen. Es wäre gewiss spannend, einen kommentierten Ablauf einer Ratstagung mit entsprechenden Hintergrundinformationen zu den verhandelten Dossiers mitverfolgen zu können. Dies setzt dann freilich ein neues Selbstbewusstsein des Rates voraus. Er hätte sich weniger als intergouvernmentales Verhandlungsgremium zu begreifen, sondern als „machtvolle Länderkammer“ nach Vorbild der einzelstaatlichen Parlamente.

Das Europäische Parlament Das Europäische Parlament (EP) ist das größte multinationale Parlament der Welt. Die Befugnisse und Zuständigkeiten des Parlaments wurden mit den letzten Änderungen der Grundlagenverträge zunehmend erweitert. Die Entwicklung des europäischen Parlamentarismus kann damit aber noch keinen Endpunkt erreicht haben. Nur durch den nochmaligen Ausbau der Mitgestaltungsrechte des EPs lässt sich insbesondere dem Vorwurf des Demokratiedefizits in der EU überzeugend begegnen. Mehr Demokratie bedeutet schließlich auch mehr Mitsprache der ArbeitnehmerInnen bzw. die stärkere Berücksichtigung unserer Interessen in der europäischen Politik. Durchaus mit Stolz darf sich die europäische ArbeitnehmerInnenbzw. Gewerkschaftsbewegung auch als treibende Kraft einer Demokratisierung Europas bezeichnen. Wichtige Aufgaben ➔➔ Rechtsetzung Historisch war das Europäische Parlament nur als Forum für Beratungen und Konsultationen gedacht; diese Rolle hat sich mittlerweile stark geändert. Zusätzliche Kompetenzen lassen das Parlament mehr und mehr zum zentralen demokratischen Gremium der Union werden. Mittlerweile kann es bei wichtigen Sekundärrechtsakten (Richtlinien, Verordnungen) über die bloße Anhörung hinaus auch mitentscheiden. Allerdings verfügt (ebenso wie der Rat) auch das Europäische Parlament nach wie vor über

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Organe und Einrichtungen der EU kein echtes legislatives Initiativrecht, sondern kann lediglich die Kommission (in Form einer Entschließung bzw. R ­ esolution) zur Initiative auffordern. Daher vertreten manche Stimmen die A ­ nsicht, dass das Europäische Parlament immer noch kein „Vollparlament“ ist. Leistet die Kommission der Aufforderung des EPs nicht Folge, bleibt dem Europäischen Parlament in letzter Konsequenz nur ein Misstrauensvotum gegenüber der gesamten Kommission, für das jedoch eine 2/3-Mehrheit nötig ist. ➔➔ Haushaltsbefugnis Das EP beschließt gemeinsam mit dem Rat jährlich den Haushaltsplan der EU. Das EP kann die Vorschläge des Rates abändern oder ablehnen. Erst durch die Unterschrift des Parlamentspräsidenten/der Parlamentspräsidentin erlangt der Haushaltsplan Rechtsgültigkeit. Mit dem Vertrag von Lissabon hat das EP nun auch in Bereichen wie Agrar- und Energiepolitik oder EU-Fördermittel ein volles Mitspracherecht erhalten, da diese nun dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren unterstellt sind. Auf Empfehlung des Rates beschließt das EP ferner die Entlastung der Kommission für die Ausführung des Haushaltsplanes. Dem geht regelmäßig eine Überprüfung voraus, in die auch der Rechnungshof eingebunden ist. ➔➔ Kontrolle der Exekutive Das EP verfügt über wichtige Kontrollmöglichkeiten gegenüber der Kommission, und nur eingeschränkt gegenüber dem Rat. Das EP kann die Kommission insbesondere mit einem Misstrauensvotum (2/3-Mehrheit) zur Amtsniederlegung zwingen. Darüber hinaus muss die Kommission aufgrund des umfassenden Fragerechtes ebenso Rede und Antwort stehen wie bei ihrem Jahresbericht oder dem Haushaltsplan. Schriftliche Anfragen an die Kommission sind darüber hinaus ein beliebtes Ins­ trument, um der Kommission bestimmte Festlegungen zu entlocken oder sie auf Probleme hin­zuweisen, die von den Menschen in Europa ans EP herangetragen werden. Die schriftlichen Antworten der Kommission werden überdies im Internet ver­öffentlicht. Gegenüber dem Rat verfügt das EP nach den Grundlagenverträgen jedoch über keinerlei Kontrollrechte. Auf freiwilliger Basis hat sich aber der Rat verpflichtet,

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Das Europäische Parlament

3.3

Anfragen des EPs auch schriftlich zu beantworten (und zu veröffentlichen). Weiters ist es üblich, dass die Ratspräsidentschaft (d. h. die betreffenden Minis­ terInnen des jeweiligen Vorsitzlandes im Rat) an bestimmten Sitzungen des EPs teilnehmen und Fragen der Abgeordneten beantworten. Ein weiteres starkes Instrument ist jenes der Klage vor dem EuGH: Erstens kann das EP gegen jeden Rechtsakt wegen vermuteter Rechtswidrigkeit eine Nichtigkeitsklage erheben. Dies spielt in der Praxis dann eine große Rolle, wenn das EP im Rechtsetzungsverfahren möglicherweise übergangen wurde (oftmals durch Heranziehung einer falschen Rechtsgrundlage in den Grundlagenverträgen). Zweitens kann das EP bei Säumigkeit eines oder mehrerer anderer Organe deren pflichtwidrige Untätigkeit mittels Klage feststellen lassen. Einen historischen Erfolg feierte hier das EP in den 1980ern, als es den Rat vor den EuGH zitierte, der daraufhin die jahrelange Untätigkeit des Rates im Bereich der Gemeinsamen Verkehrspolitik als pflichtwidrige Unterlassung feststellte. Zusammensetzung Die Mitglieder (Abgeordneten) zum Europäischen Parlament (MEPs) werden in allgemeiner und unmittelbarer Verhältniswahl von den BürgerInnen der Union gewählt. Einzelheiten des Wahlverfahrens bestimmen die Mitgliedstaaten. Mit der Wahlperiode 2009-2014 wurde die Zahl der Abgeordneten auf 736 festgelegt. Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon haben sich geringfügige Verschiebungen ergeben (754 Abgeordnete insgesamt). Die 754 Sitze werden auf die 28 Mitgliedstaaten so verteilt, dass auf diese entsprechend ihrer EinwohnerInnenzahl zwischen 5 und 99 Mandate (Parlamentssitze) entfallen. Dem Selbstverständnis des EPs als Volksvertretung folgend werden zwar dem einwohnerInnenmäßig größten Mitgliedsland (Deutschland) die meisten Abgeordneten zugeordnet (99). Insgesamt wird aber auch im EP die Repräsentation der Bevölkerungen durch einen Länderfaktor korrigiert, sodass z.B. in Österreich auf 486.000 Einwohner 1 MEP (Mitglied des Europäischen Parlaments) entfällt, während 1 französischer MEP 873.000 EinwohnerInnen „repräsentieren“ muss. Relativ am meisten Abgeordnete hat nach dieser Berechnung Luxemburg: Pro 77.000 EinwohnerInnen wird 1 MEP entsandt. Auch bei der Sitzaufteilung im EP musste also erst eine Balance zwischen der

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Organe und Einrichtungen der EU Repräsentation (Vertretung) der BürgerInnen einerseits und der jeweiligen Mitgliedstaaten andererseits, ergänzt durch verhandlungspolitische Restgrößen, austariert werden. Verzerrungen ergeben sich dann u. a. daraus, dass man im Zweifel bei Mitgliedstaaten mit ähnlicher Bevölkerungszahl zur gleichen Mandatszahl neigt, um den Eindruck einer Hierarchisierung zwischen den Staaten zu vermeiden. Die nachfolgende EinwohnerInnenzahl ist im Übrigen auch für die dritte Hürde der qualifizierten Mehrheit im Rat (mindestens 62 % der Gesamtbevölkerung, das sind gegenwärtig 305.586.300 EinwohnerInnen) maßgeblich (siehe S. 40). Kroatien ist seit dem Beitritt im Jahr 2013 mit zusätzlichen 12 Abgeordneten im Europäischen Parlament vertreten. Nach den Wahlen im Jahr 2014 kommt es zu einer Anpassung der Zahl der Abgeordneten im EU-Parlament. Einzelne EULänder werden Mandate verlieren, so auch Österreich, das ein Mandat verlieren und künftig nur mit 18 Abgeordneten im Europäischen Parlament vertreten sein wird.

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Das Europäische Parlament

3.3

Sitzverteilung im Europäischen Parlament (Stand 2014), EinwohnerInnenzahl und Stimmen im Rat (Stand 2012) Deutschland 96 82 438 000 29 Frankreich 74 62 886 200 29 Vereinigtes Königreich 73 60 421 900 29 Italien 73 58 751 700 29 Spanien 54 43 758 300 27 Polen 51 38 157 100 27 Rumänien 32 21 610 200 14 Niederlande 26 16 334 200 13 Griechenland 21 11 125 200 12 Portugal 21 10 569 600 12 Belgien 21 10 511 400 12 Tschechien 21 10 251 100 12 Ungarn 21 10 076 600 12 Schweden 20 9 047 800 10 Österreich 18 8 265 900 10 Bulgarien 17 7 718 800 10 Dänemark 13 5 427 500 7 Slowakei 13 5 389 200 7 Finnland 13 5 255 600 7 Kroatien 11 4 480 000 7 Irland 11 4 209 000 7 Litauen 11 3 403 300 7 Lettland 8 2 294 600 4 Slowenien 8 2 003 400 4 Estland 6 1 344 700 4 Zypern 6 766 400 4 Luxemburg 6 459 500 4 Malta 6 404 300 3 Gesamt 751 497 361 200 352

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Organe und Einrichtungen der EU Arbeitsweise, Sitz, Beschlussfassung Das Europäische Parlament verfügt über zwei Arbeitsorte, in denen es politisch tätig ist: Straßburg und Brüssel. Das Generalsekretariat ist in Luxemburg untergebracht. Auch diese Aufsplitterung hat historische Gründe: Hauptsächlich in diesen drei Städten ließen sich die europäischen Institutionen nach ihrer Gründung nieder. Als Symbol der deutsch-französischen Aussöhnung wurde Straßburg zunächst Sitz des Europarates, später dann auch Ort der Plenartagungen des Europäischen Parlaments. Die europäischen Abgeordneten tagen regelmäßig eine Woche pro Monat in Straßburg (Plenartagung). Zusätzlich notwendige kurze Plenartagungen finden in Brüssel statt. Zwei Wochen pro Monat tagen die parlamentarischen Ausschüsse in Brüssel. Die verbleibende weitere Woche ist den Fraktionssitzungen vorbehalten. De facto ist damit Brüssel auch zum Hauptarbeitsort für die MEPs geworden, die somit einmal pro Monat – im wahrsten Sinn des Wortes – mit Sack und Pack nach Straßburg reisen. Man kann sich gut vorstellen, dass auch unter den Abgeordneten an der Sinnhaftigkeit zweier Parlamentsgebäude gezweifelt wird. Immer wieder gibt es Initiativen der MEPs inklusive parlamentarische Entschließungen, den Sitz gänzlich ins Zentrum der Macht, nach Brüssel, zu verlegen und den Standort Straßburg aufzulösen. Wichtige Argumente dafür sind der sehr hohe logistische Aufwand, den der regelmäßige Umzug nach Straßburg bereitet und die damit verbundenen Kosten von geschätzten 200 Millionen Euro pro Jahr. Für eine Sitzverlegung wäre jedoch eine Vertragsänderung und damit eine Zustimmung aller Mitgliedstaaten notwendig. Das scheiterte bislang an Frankreich, das „seinen“ Sitz nicht aufgeben will. Außerdem wurde das neue Straßburger Parlamentsgebäude erst vor kurzem eröffnet. Die Leitung des Parlaments obliegt dem Präsidenten/der Präsidentin. Er/Sie wird für die Dauer von zweieinhalb Jahren, d.h. für eine halbe Wahlperiode, ­gewählt. Der/Die PräsidentIn verkörpert das EP nach außen und in seinen Beziehungen zu den übrigen Organen und Einrichtungen der Gemeinschaft. Er/Sie wird von 14 VizepräsidentInnen unterstützt und leitet alle Arbeiten des EPs und seiner Organe (Präsidium und Konferenz der PräsidentInnen) sowie die Debatten in den Plenartagungen.

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Das Europäische Parlament

3.4

Ebenso wie andere Parlamente gliedert sich auch das EP nach Fraktionen. Diese bilden sich keineswegs nach nationalen Gesichtspunkten, sondern transnational (länderübergreifend) entsprechend der politischen Orientierung. Derzeit (Juni 2012) gibt es – gereiht nach Mandatsstärke – folgende politische Fraktionen im EP: Fraktionen im Europäischen Parlament xx Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten) (EVP) xx Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialisten und Demokraten im Europäischen Parlament (S&D) xx Fraktion der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE) xx Fraktion der Grünen/ Freie Europäische Allianz (Die Grünen/FEA) xx Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformisten (ECR) xx Konföderale Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) xx Fraktion „Europa der Freiheit und der Demokratie“ (EFD) xx Fraktionslose Ein Großteil der parlamentarischen Arbeit findet in den derzeit 24 Ausschüssen statt, die nach Sachthemen gegliedert sind (u.a. Entwicklung, Internationaler Handel, Beschäftigung und soziale Angelegenheiten, Binnenmarkt und VerbraucherInnenschutz, Rechte der Frau und Gleichstellung der Geschlechter, Menschenrechte). Nach den Ausschüssen gelangen die Vorlagen schließlich ins Plenum. Gewöhnlich entscheidet das EP mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen, wobei die Anwesenheit von mindestens einem Drittel der Mitglieder erforderlich ist. Sonderquoren gibt es aber z. B. beim Misstrauensvotum der Kommission (2/3Mehrheit der abgegebenen Stimmen und Mehrheit der Mitglieder) oder teil­ weise auch im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (in der zweiten Lesung: Mehrheit der Mitglieder = 378 Stimmen). Im Gegensatz zu manchen einzelstaatlichen Parlamenten werden im EP nahezu alle Vorlagen detailreich erörtert. Es ist auch durchaus üblich, fraktionsüber­ greifend zu kooperieren bzw. aus der eigenen Fraktion auszuscheren (kein

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Organe und Einrichtungen der EU ­Fraktionszwang). Daher buhlen MEPs regelmäßig auch um Unterstützung aus anderen Fraktionen für ihre Anliegen, meist in Gestalt von Änderungsanträgen zu den betreffenden Vorlagen. Aufgrund der langen Diskussionen und oft großen Zahl an Abänderungsanträgen hat sich das EP den Ruf eines echten Arbeits­ parlaments erworben. Ein Grund für die Diskussions- und Kritikfreudigkeit des EP ist auch dem Umstand geschuldet, dass das EP (im Gegensatz zu nationalen Parlamenten) fraktio­ nell nur zum Teil mit der parteipolitischen Zusammen­setzung des Rats oder der Kommission verwoben ist. Dies stärkt die Unabhängigkeit des EP, gleichzeitig wird dadurch aber auch die parteipolitische Zurechen­barkeit der Handlungen der europäischen Legislative erschwert. Nicht zuletzt in seinem permanenten Ringen um mehr Mitsprache versteht sich das EP dann durchaus als echter Gegenpol zur EU-Exekutive bzw. zu Kommission und Rat. Es folgt damit – mehr als einzelstaatliche Parlamente – dem Ideal der Gewaltenteilung.

Der Europäische Bürgerbeauftragte Dem Vorbild einiger EU-Mitgliedstaaten wie Österreich (Volksanwaltschaft) oder Schweden (Ombudsmann) folgend ist auch für die Union ein Bürgerbeauf­ tragter vorgesehen. Der Europäische Bürgerbeauftragte untersucht Beschwerden über Missstände in der Verwaltungstätigkeit der Organe und Institutionen der Europäischen Union. Er ist vollkommen unabhängig und wird durch das Europäische Parlament gewählt. Derartige Missstände sind etwa Unregelmäßigkeiten in den Verwaltungsstellen, Diskriminierungen, Verweigerung von Informationen, unbegründbare Verzögerungen und Machtmissbrauch. Mit einem Schreiben an den Bürgerbeauftragten in einer der Amtssprachen der Union ist dieser verpflichtet, der Beschwerde nachzugehen. Gegebenenfalls werden weitere Ermittlungen durchgeführt. In aller Regel werden gütliche Lösungen zwischen BeschwerdeführerIn und dem betreffenden EU-Organ angestrebt. Beschwerden werden grundsätzlich öffentlich behandelt, außer die eingebende Person wünscht dies nicht.

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Der Europäische Bürgerbeauftragte 3.4 Rechtsetzung in der EU 3.5 Das Petitionsrecht und die Europäische Bürgerinitiative Nach dem Petitionsrecht hat jeder/jede EU-BürgerIn oder jede Person mit Wohnort in einem Mitgliedstaat der EU das Recht, allein oder zusammen mit anderen Personen in Angelegenheiten, die in die Tätigkeitsbereiche der EU fallen und die ihn oder sie unmittelbar betreffen, eine Petition an das Europäische Parlament zu richten. Eine Petition vermittelt freilich keinen Anspruch auf entsprechende Erledigung. Petitionen geben dem EP aber z. B. Gelegenheit, von Verletzungen der Rechte eines Unionsbürgers/einer Unionsbürgerin durch einen Mitgliedstaat, eine lokale Gebietskörperschaft oder eine sonstige Institution zu erfahren und darauf hinzuweisen. Mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon wurde ein weiteres Instrument der unmittelbaren Interessenartikulation der BürgerInnen vorgesehen, die so genannte ­Europäische Bürgerinitiative. Die Europäische Bürgerinitiative räumt BürgerInnen aus verschiedenen EU-Mitgliedstaaten das Recht ein, die EUKommission zu rechtlichen Schritten aufzufordern, sofern es gelingt, für ein Anliegen eine Million Unterschriften aus mindestens sieben Mitgliedstaaten zu sammeln (wobei auch in den einzelnen Mitgliedstaaten eine Mindestschwelle erreicht werden muss, in Österreich sind z.B. 12.750 Unterschriften erforderlich). Die Europäische Bürgerinitiative verpflichtet die Europäische Kommission, sich substanziell mit dem Vorschlag der BürgerInnen auseinanderzusetzen. Im Gegensatz zur Petition richtet sich die Bürgerinitiative auch an die eigentliche Anlaufstelle zur Initiierung der Rechtsetzung: an die Kommission. Gut vorstellbar, dass die Europäische Bürgerinitiative, dem Wesen dem österreichischen Volksbegehren sehr ähnlich, auch als Instrument zur europaweiten Bündelung von ArbeitnehmerInnenanliegen genützt wird.

Rechtsetzung in der EU Die Art der Rechtsetzung in der EU hängt zunächst davon ab, welches „Recht“ gesetzt werden soll. JuristInnen unterscheiden hier zwischen dem höherrangigen „Primärrecht“ und dem niederrangigeren „Sekundärrecht“. Das klingt auf den ersten Blick ein wenig kompliziert, ist aber bei Vernachlässigung von „juristischen Feinheiten“ gar nicht schwierig. Die Unterscheidung ist deshalb

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Organe und Einrichtungen der EU wichtig, weil die speziellen EU-Rechtsetzungsverfahren (das „gemeinsame Tanzparkett“ der zentralen Rechtsetzungsorgane Kommission, Rat und EP) praktisch nur im Sekundärrecht zur Anwendung kommen. Primärrecht (oder „Verfassungsrecht“) Das Primärrecht ist erstens das, was in den Grundlagenverträgen steht. Das sind jene völkerrechtlichen Verträge, in welchen die Mitgliedstaaten die wesentlichen Rahmenbedingungen für die EU festgeschrieben haben. Darunter versteht man insbesondere den EU-Vertrag (EUV) und den Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV) mit allen Protokollen sowie sämtliche Beitrittsverträge. Im Primärrecht sind jene Regelungen enthalten, die in den Mitgliedstaaten typischerweise in der „Verfassung“ stehen würden: insbesondere Zuständigkeiten der EU, ihre Organe und deren Befugnisse, Rechtsetzungsverfahren und die ­inhaltliche Grundausrichtung. Nicht alles Wichtige und Verfassungswürdige konnten jedoch die Mitgliedstaaten bei der Ausverhandlung der Grundlagenverträge bedenken. Ergänzend zu den „Verträgen“ bzw. „Grundlagenverträgen“ zählen daher zweitens auch allgemeine Rechtsgrundsätze zum Primärrecht. Dazu zählt ganz besonders die Achtung der Grundrechte. Wer anstelle von Primärrecht daher einfach „Verfassungsrecht“ sagen will, liegt vollkommen richtig. Es kann sein, dass JuristInnen oder europakritische Puris­ tInnen einwenden, dass nur „ein Staat“ eine Verfassung haben kann und niemals ein auf „Verträgen“ beruhendes zwischenstaatliches Gebilde wie die EU. Bedauerlicherweise ist die Diskussion zum letztlich gescheiterten „EU-Verfassungsvertrag“ tatsächlich von derartigen symbolischen Debatten d­ominiert worden und weniger von den inhaltlichen Ausrichtungen der EU. Wer sich aber von derartigen rein symbolischen Auseinandersetzungen lösen kann, wird weitere Gründe finden, warum man ohne weiteres vom „EU-Verfassungsrecht“ reden kann, wenn das Primärrecht angesprochen wird. Denn genauso wie das „Verfassungsrecht“ eines Mitgliedstaates sind auch „die Grund­ lagenverträge“ bzw. das Primärrecht insgesamt nur erschwert, in einem langwierigen Prozedere, zu ändern. Dazu bedarf es letztlich nicht nur der Einstim-

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Rechtsetzung in der EU

3.5

migkeit unter den Mitgliedstaaten im Rat (bei der Änderung der Verträge wird das formale Verhandlungsgremium dazu „Regierungskonferenz“ genannt). Es bedarf zudem der Ratifikation durch alle Vertragsstaaten (das sind alle Mitgliedstaaten und im Fall des Beitritts auch die Beitrittsstaaten) nach deren einzelstaatlicher Verfassung. Da auf diese Weise die Weiterentwicklung der Verfassung der EU in Händen der Mitgliedstaaten verbleiben, nennen manche die Mitgliedstaaten auch „Herren der Verträge“ (im Gegensatz zur Kommission als „Hüterin der Verträge“). Diese mitgliedstaatlichen Verfassungen sind ihrerseits nun ganz unterschiedlich gestrickt. Manche Länder wie Irland sehen bei Änderungen im Primärrecht grundsätzlich Volksabstimmungen vor, andere Mitgliedstaaten (wie Frankreich, Niederlande, Deutschland) nur unter besonderen Bedingungen. In Österreich ist eine Volksabstimmung dann erforderlich, wenn eine Änderung des EU-Primärrechts (des „EU-Verfassungsrechts“) gleichzeitig eine „Gesamt­ änderung der österreichischen Bundesverfassung“ ist. Das wäre dann der Fall, wenn die grundlegenden Prinzipien wie insbesondere Demokratie und Rechtsstaatlichkeit mit der konkreten Änderung wesentlich verändert würden. Von einer Gesamtänderung war im Fall des Beitritts Österreichs 1995 – vor allem aufgrund der Verlagerung zahlreicher Souveränitätsrechte auf die EU – auszugehen. Nicht zuletzt das Beispiel Irlands hat gezeigt, wie schwierig Änderungen der Grundlagenverträge (des Primärrechts bzw. des EU-Verfassungsrechts) bei mittlerweile 27 Mitgliedstaaten geworden sind. Daher wurde nach möglichen Auswegen gesucht, um die EU auch in Zukunft entwicklungsfähig zu halten und gleichzeitig die Bevölkerungen einzubeziehen. Ein interessanter Ansatz dazu wäre sicherlich eine gesamteuropäische Volksabstimmung. Dadurch könnten sich grenzüberschreitende Interessenkoali­ tionen entlang sozialer Positionen (z. B. ArbeitnehmerInnen, VermögensbesitzerInnen …) bilden. Die Aufforderung zu oder die Bildung von „nationalen Schul­ terschlüssen“, durch die von sozialen Problemen meist abgelenkt wird, könnte so schwieriger werden. Allerdings müssten auch dafür erst wieder die Grundlagenverträge geändert werden. Und welchen Preis würden Mitgliedstaaten dafür verlangen?

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Organe und Einrichtungen der EU Sekundärrecht (insbesondere Richtlinien und Verordnungen) So wie eine Verfassung die Entstehung von Gesetzen regelt, regeln die Grundlagenverträge der EU die Entstehung von EU-Rechtsakten, die allerdings anstelle von „Gesetzen“ als „Richtlinien“ oder „Verordnungen“ bezeichnet werden. Auch in diesen Begriffen kommt einmal mehr die Exekutivlastigkeit der EU zum Vorschein. Eine Verordnung ist nicht nur in Österreich eine „typische Handlungsform der Verwaltung“. Auf den Begriff „EU-Gesetz“ konnte man sich deshalb noch nicht verständigen, weil nach Meinung vieler einzig Parlamente „Gesetze“ verabschieden dürfen, nicht aber verwaltungslastige Organe wie die Kommission oder der Rat. Durch die zunehmende Mitsprache des EPs bei der Entstehung von „Richtlinien“ und „Verordnungen“ wurde dieses Problem mittlerweile unter demokratiepolitischen Gesichtspunkten zumindest entschärft. Die wichtigsten Rechtsakte xx Verordnungen: Sie gelten unmittelbar in der gesamten EU. Sie müssen daher nicht erst von den Mitgliedsländern in nationales Recht umgesetzt werden. Verordnungen dienen dazu, ein Thema exakt und abschließend (ohne zusätzliche Entscheidungsspielräume der Mitgliedstaaten) zu regeln. Ein wichtiges Beispiel dafür ist aus ArbeitnehmerInnensicht die sogenannte „Freizügigkeitsverordnung“ (VO 1612/68/EWG), in der viele Rechte von WanderarbeitnehmerInnen festgeschrieben werden (siehe S. 82). xx Richtlinien geben Ziele vor, die von den Nationalstaaten erst durch Gesetze umgesetzt werden müssen. Der Umsetzungsspielraum ist bisweilen auch sehr klein. Richtlinien ermöglichen es dann aber wenigstens den Mitgliedstaaten, bestimmte Regelungsbereiche systematisch in ihre Rechtsordnungen zu integrieren (z. B. eine Richtlinie, die dem VerbraucherInnenschutz gewidmet ist, im „österreichischen Konsumentenschutzgesetz“ umzusetzen). Aus ArbeitnehmerInnensicht bedeutsam ist z. B. die Entsenderichtlinie (RL 96/71/EG). Sie regelt die Rechte von vorübergehend in andere Mitgliedstaaten entsandten ArbeitnehmerInnen. Umgesetzt wurde sie in Österreich u. a. im AVRAG (Arbeitsvertragsrechts-Anpassungsgesetz).

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Rechtsetzung in der EU

3.5

Daneben gibt es noch andere Rechtsakte wie z. B. Entscheidungen (sie enthalten keine generellen Anordnungen, sondern sind wie ein österreichischer „Bescheid“ nur für ihre AdressatInnen verpflichtend (AdressatInnen können Staaten, Unternehmen oder Einzelpersonen sein), oder auch unverbindliche Empfehlungen. Für die Rechtsetzungsverfahren spielen sie indessen keine Rolle. Die Rechtsetzungsverfahren („Europäische Demokratie in der Praxis“) Ergibt sich aus den Grundlagenverträgen eine Zuständigkeit zur Regelung von einzelnen Bereichen auf EU-Ebene (sog. „Rechtsgrundlage“), so darf dazu (Sekundär-)Recht gesetzt werden. Aus der Rechtsgrundlage ergibt sich dann auch das Verfahren, in dem „die EU“ ihre Regelungszuständigkeit wahrnimmt. Die drei wichtigsten Verfahren für die Annahme neuer EU-Rechtsvorschriften sind das Anhörungsverfahren, das Zustimmungsverfahren und das ordentliche Gesetzgebungsverfahren (frühere Bezeichnung: Mitentscheidungsverfahren), die ihre Bezeichnung aus dem unterschiedlichen Mitgestaltungsrecht des EPs herleiten: Beim Anhörungsverfahren nimmt das EP zu Vorschlägen der Kommission Stellung. Erst danach ist der Rat berechtigt, darüber (nach den vorgesehenen Beschlussquoren) abzustimmen. Der Rat kann jedoch die Stellungnahme des Parlaments auch gänzlich verwerfen. Das EP hat somit lediglich Beratungscharakter. Es ist mittlerweile auch in jenen Fällen, in denen die Verträge nicht einmal eine Anhörung vorsehen, Usus geworden, das Parlament zur Stellungnahme einzuladen (sog. „fakultative Anhörung“). Generell kommt das Anhörungsverfahren in Bereichen wie dem Wettbewerbsrecht zur Anwendung. Beim Zustimmungsverfahren muss der Rat bei besonders wichtigen Beschlüssen die Zustimmung des Europäischen Parlaments einholen. Der Ablauf entspricht dem Anhörungsverfahren. Das Parlament darf einen Vorschlag allerdings (im Gegensatz zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren) nicht abändern, sondern bloß entweder annehmen oder ablehnen. Der Zustimmung des EPs bedürfen wichtige Entscheidungen wie insbesondere die Bildung der Kommission, der Beitritt neuer Mitgliedstaaten oder bestimmte internationale Abkommen, mit denen seine Mitentscheidungsbefugnisse bei der Rechtsetzung unterlaufen werden könnten.

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Organe und Einrichtungen der EU Am bedeutsamsten ist das ordentliche Gesetzgebungsverfahren. Dieses Verfahren gilt für die Mehrheit der Rechtsvorschriften in den meisten Politikbereichen, in denen die Union tätig werden kann. Anwendung findet das ordentliche Gesetzgebungsverfahren vor allem in den Bereichen Binnenmarkt und Marktfreiheiten, VerbraucherInnenschutz, überwiegend auch in der Sozialpolitik und im Umweltschutz. Im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren ist die Einflussmöglichkeit zwischen Rat und Parlament aufgeteilt. Sie agieren als „gleichberechtigte Gesetz­ gebungskammern“. Das Europäische Parlament könnte also z. B. durch Ablehnung jedes Vorhaben vereiteln (jeden Vorschlag der Kommission oder einen sogenannten Gemeinsamen Standpunkt des Rates). Mit diesem Drohpotenzial im Ärmel hat sich das Europäische Parlament zu einem echten Mitgestalter in der EU-Politik weiterentwickelt. Auf Druck großer grenzüberschreitender Bewegungen konnte das Europäische Parlament auch als Stimme der Menschen in Europa „marktliberale Exzesse“ wie den Kommissionsvorschlag zur Dienstleis­ tungsrichtlinie (sog. „Bolkestein-Richtlinie“) weitgehend entschärfen und wichtige sozialpolitische Akzente setzen (z.B. bei der geplanten Ausweitung der wöchentlichen Arbeitszeit nach der Arbeitszeitrichtlinie). Vereinfacht ausgedrückt läuft das ordentliche Gesetzgebungsverfahren in der Weise ab, dass zuerst die Kommission (Initiativmonopol) einen legislativen Vorschlag dem EP und dem Rat zuleitet. Dazu beschließt dann das EP seine „Stellungnahme“ mit (manchmal auch weit über hundert) Abänderungsanträgen. Anschließend legt sich der Rat mit seinem so genannten „Gemeinsamen Standpunkt“ fest. Nachdem beide „Kammern“ damit ihre Pflöcke eingeschlagen haben, erfolgt noch ein Annäherungsversuch (u.a. eine zweite Lesung im EP). Kommt dabei keine Einigung heraus, wird ein Vermittlungsausschuss aus den 28 Mitgliedern im Rat und 28 MEPs gebildet. Einigt sich der Vermittlungsausschuss auf einen gemeinsamen Entwurf, so muss dieser sowohl vom Rat (qualifizierte Mehrheit) als auch vom EP (einfache Mehrheit) gebilligt werden. Die Kommission, die theoretisch bis zum Ende des Verfahrens ihren Vorschlag auch zurückziehen könnte, zieht sich angesichts des Kraftfeldes zwischen Rat und Parlament primär auf die Rolle einer Mittlerin zwischen den beiden Polen zurück. Der Vermittlungsausschuss wird in der Praxis immer seltener hinzugezogen, die meisten Rechts-

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Rechtsetzung in der EU

3.5

texte, die das ordentliche Gesetzgebungsverfahren durchlaufen, werden entweder in 1. oder 2. Lesung angenommen. Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren

Quelle: www.europa.eu/publications

59


3

Organe und Einrichtungen der EU Eigenes Sozialpartnerverfahren: Der Soziale Dialog Die Grundlagenverträge enthalten auch Zuständigkeiten der EU, Fragen im Bereich der Sozialpolitik zu regeln. Dazu zählen u.a. technischer ArbeitnehmerInnenschutz, Arbeitsbedingungen, Schutz bei Beendigung des ­Ar­beits­verhältnis­ses, Chancengleichheit u.v.a.m. Ausdrücklich ausgenommen von dieser Kompetenz sind zwar Arbeitsentgelt und das Arbeitskampfrecht. Das bedeutet aber nicht, dass diese beiden Rechtsgebiete vom Gemeinschaftsrecht überhaupt nicht ­berührt würden. Ein Kollektivvertrag etwa, der unterschiedliche „Entgelte“ für ÖsterreicherInnen und Nicht-ÖsterreicherInnen vorsehen würde, wäre etwa als Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot dennoch EU-widrig. Ein europäischer Mindestlohn könnte von der EU jedoch nicht fest­gelegt werden. Zur Wahrnehmung der sozialpolitischen Zuständigkeit haben die europäischen Sozialpartner ein autonomes Rechtsgestaltungsrecht. Als „europäische Sozialpartner“ gelten der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) als Dachverband der ArbeitnehmerInnen, Business Europe (vormals UNICE) als Dachorganisation der europäischen Industrie- und ArbeitgeberInnenverbände sowie der Europäische Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft (CEEP), sowie repräsentative Verbände der ArbeitnehmerInnen bzw. ArbeitgeberInnen auf Branchenebene. Kern dieses Gestaltungsrechtes ist der Abschluss von Vereinbarungen (Übereinkommen) im Bereich der Sozialpolitik. Derartige Vereinbarungen können die Grundlage für ein abgekürztes Rechtsetzungsverfahren bilden, indem (auf Vorschlag der Kommission) der Rat einen entsprechenden Rechtsakt annimmt, sodass die Sozialpartnervereinbarung gleichsam in Richtlinienform „umgegossen“ wird. Im Ergebnis wird die Einbindung des EP durch die besondere Repräsentation der Sozialpartner ersetzt.

Auf diese Weise sind bereits einige Richtlinien als Durchführung von ­Sozialpartnerübereinkommen erlassen worden. Zu nennen sind die Richtlinie zum Elternurlaub (RL 96/34/EG bzw. ihre von Sozialpartnern revidierte Fassung RL 2010/18/EU), die Richtlinie zur Teilzeitarbeit (RL 97/81/ EG) und die Richtlinie zu befristeten Arbeitsverhältnissen (RL 99/70/EG).

60


Der Europäische Gerichtshof

3.6

Der Europäische Gerichtshof (abgekürzt EuGH, offizielle Bezeichnung: „Gerichtshof der Europäischen Union“) ist das oberste Rechtsprechungsorgan der EU. Er sichert die einheitliche Auslegung und Anwendung des gesamten Unionsrechts („EU-Rechts“). Seine Urteile müssen auch von den Gerichten und den Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten beachtet werden. Bedeutung und Rolle für die europäische Integration Für die europäische Integration und die Herausbildung einer europäischen Rechtsordnung ist dem EuGH enorme Bedeutung beizumessen. Viele Regelungen des europäischen Rechts sind unbestimmt bzw. als Ergebnis komplizierter Kompromisse vielfach auch bewusst offen formuliert. Die nähere Bedeutung, „den genaueren Schliff“, erhalten derartige Bestimmungen dann erst in der Auslegung durch den EuGH (z. B. die nähere Definition, wer im Sinne der ArbeitnehmerInnenfreizügigkeit als „ArbeitnehmerIn“ gilt). Überhaupt sind zentrale Strukturprinzipien des europäischen Rechts weniger das Ergebnis politischer Willensentscheidungen der Mitgliedstaaten gewesen, sondern letztlich Resultat einer „schöpferischen Interpretation“ durch den EuGH. Zu diesen Strukturprinzipien zählen z. B. der Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor innerstaatlichem Recht, die Bedeutung der Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze oder die Haftung der Mitgliedstaaten gegenüber den Menschen Europas, wenn diese durch die Nichtumsetzung von europäischem Recht einen Schaden erleiden. Nicht nur als treibende Kraft der europäischen Integration, sondern überdies als Impulsgeber zur Festigung eines europäischen Sozialmodells (u. a. im Gleichbehandlungsrecht) genoss der Gerichtshof über lange Jahre hohes Ansehen bei den europäischen Gewerkschaften. Anlässlich einiger jüngerer Entscheidungen wurde aber auch massive Kritik an der Rechtsprechung laut. Sie sieht sich vermehrt dem Vorwurf ausgesetzt, den Marktfreiheiten zu viel an Gewicht zu verleihen und dadurch dem Sozialdumping in der EU Vorschub zu leisten. Dies betraf zuletzt die Untersagung von Tariftreueklauseln bei öffentlichen Aufträgen in Deutschland („Rüffert-Fall“), die Zurückdrängung des Einflusses der schwedischen Gewerkschaften bei der Durchsetzung eines flächendeckenden Kollektivvertragsniveaus („Laval-Fall“) oder relativ strenge Auflagen für grenzüber-

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3

Organe und Einrichtungen der EU schreitend agierende Gewerkschaften, wenn diese die Interessen ihrer Mitglieder vertreten („Viking-Fall“). Zusammensetzung Der EuGH besteht aus 28 RichterInnen (eine/r pro Mitgliedstaat) und 8 GeneralanwältInnen. Die RichterInnen und GeneralanwältInnen werden von den Regierungen der Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen auf sechs Jahre ernannt (Wiederernennung ist möglich). Die GeneralanwältInnen unterstützen den Gerichtshof, indem sie in wichtigen Fällen Rechtsgutachten (sog. „Schlussanträge“) erstellen. Zur Entlastung des Gerichtshofs wurden mittlerweile zusätzliche Spruchkörper eingerichtet (Gericht erster Instanz und Gericht für den öffentlichen Dienst). Direktklagen und Vorabentscheidungsverfahren Die in der Praxis wichtigsten EuGH-Verfahren sind Vertragsverletzungsverfahren und Vorabentscheidungsverfahren. Beim Vertragsverletzungsverfahren verklagt in der Regel die Kommission (in ihrer Rolle als „Hüterin der Verträge“, grundsätzlich kann ein solches Verfahren aber auch von einem anderen eingeleitet werden) einen Mitgliedstaat, um ihn zur Einhaltung des Gemeinschaftsrechts zu bringen. Dem geht zunächst ein Vorverfahren voraus, in dem sich der betreffende Mitgliedstaat zu den erhobenen Vorwürfen äußern kann (sog. „Blauer Brief aus Brüssel“). Fügt sich der Mitgliedstaat den Vorwürfen nicht, kann die Kommission vor dem EuGH klagen. Bleibt der Mitgliedstaat auch nach einer Verurteilung untätig, kann ihm der EuGH in einem weiteren Verfahren die Zahlung eines Pauschalbetrags und/oder Zwangsgelds auferlegen. Das Vertragsverletzungsverfahren kann aus ArbeitnehmerInnensicht insbesondere dann interessant sein, wenn ein Mitgliedsland eine EU-Richtlinie zum Nachteil der ArbeitnehmerInnen nicht richtig umgesetzt hat. Wird die Kommission davon in Kenntnis gesetzt, ist mit einem Vorgehen zu rechnen. Einzelne BürgerInnen können nur in Ausnahmefällen direkt vor dem Gerichtshof klagen. Um ihnen dennoch den Schutz ihrer europäischen Rechte zu sichern, ist das so genannte Vorabentscheidungsverfahren wichtig. Hierbei arbeitet der EuGH mit den Gerichten der Mitgliedstaaten zusammen. Diese sind ja auch jene Gerichte, die das europäische Recht in erster Linie zu berücksichtigen (zu voll­

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Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss

3.7

ziehen) haben. Bestehen nun in irgendeinem anhängig gewordenen Fall Zweifel in der Deutung des europäischen Rechts, kann das betreffende mitgliedstaatliche Gericht „vorab“ – d. h. vor seiner endgültigen Entscheidung – den EuGH einschalten und um eine verbindliche Auslegung zur Streitfrage ersuchen. Die Höchstgerichte der Mitgliedstaaten sind zu einer derartigen Fragestellung an den EuGH sogar verpflichtet. Die Antwort des Gerichtshofs ergeht in aller Regel durch ein Urteil. Und daran sind alle Gerichte in der EU gebunden. Deshalb können neben den Streitparteien des Ausgangsverfahrens auch alle Mitgliedstaaten und die Gemeinschaftsorgane am Verfahren teilnehmen, um den EuGH von ihrer Rechtsmeinung zu überzeugen.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss Der Europäische Wirtschafts– und Sozialausschuss (EWSA) ist ein beratendes Organ zur Unterstützung der Rechtsetzungsorgane Rat, Kommission und Europäisches Parlament. In ihm sind VertreterInnen der verschiedenen wirtschaftlichen und sozialen Bereiche der organisierten Zivilgesellschaft versammelt. Der EWSA versteht sich vor allem als institutioneller Mittler zwischen den Rechtsetzungsorganen und der Zivilgesellschaft. Wenngleich sein politischer Einfluss begrenzt ist, genießt er immerhin auch Anhörungsrechte bei der Rechtsetzung im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Darüber hinaus kann er aus eigener Initiative Stellungnahmen abgeben, wenn er es für zweckmäßig erachtet. Der Ausschuss setzt sich aus VertreterInnen der ArbeitgeberInnen (Gruppe I), der ArbeitnehmerInnen (Gruppe II) und sonstiger Interessensgruppen (Gruppe III) zusammen. Neben den klassischen Sozialpartnern sind somit auch andere gesellschaftliche Bereiche (z. B. VerbraucherInnenschutz und Umweltorganisationen) im Ausschuss repräsentiert. Aufgrund seiner dennoch stark sozialpartnerschaftlichen Prägung kommt dem EWSA aus ArbeitnehmerInnensicht besondere Bedeutung zu. Er leistet insoweit einen Beitrag zur institutionellen Festigung europäischer ArbeitnehmerInnenanliegen. Der EWSA besteht aus 353 Mitgliedern, die vom Rat auf Vorschlag der 28 Mitgliedstaaten auf 5 Jahre ernannt werden. Die 12 von Österreich entsandten Mit­ glieder setzen sich aus VertreterInnen von ÖGB, Bundesarbeitskammer

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3

Organe und Einrichtungen der EU (BAK), Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ), Landwirtschaftskammer Österreich (LKÖ), dem Bundeskomitee Freie Berufe Österreichs und dem Verein für Konsumenteninformation (VKI) zusammen. Stellungnahmen des EWSA werden in Studien- und Fachgruppen diskutiert und ausgearbeitet. Anschließend werden sie im Plenum verabschiedet und dem Rat, der Kommission und dem Europäischen Parlament übersandt und im Amtsblatt veröffentlicht. Fachgruppen des EWSA xx Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt xx Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch xx Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft xx Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft xx Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz xx Außenbeziehungen Die Fachgruppen können wiederum Studiengruppen zur Erarbeitung der Stellungnahmen einsetzen. Die Arbeit der Studiengruppen kann auch durch externe Sachverständige unterstützt werden. Darüber hinaus gibt es auch mehrere Beobachtungsstellen im EWSA: xx Beobachtungsstelle für den industriellen Wandel xx Binnenmarktbeobachtungsstelle xx Arbeitsmarktbeobachtung xx Beobachtungsstelle für nachhaltige Entwicklung

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Der Ausschuss der Regionen Der Europäische Rechnungshof

3.8 3.9

Der Ausschuss der Regionen Aus Respekt vor der Wichtigkeit regionaler und lokaler Strukturen in den Mitgliedstaaten der Union wurde der Ausschuss der Regionen (AdR) geschaffen. Er soll dem Vorwurf einer Blindheit der EU für die spezifischen regionalen Untergliederungen der Mitgliedstaaten – d. h. in Österreich den Ländern und Gemeinden – begegnen. Der AdR genießt – ähnlich dem EWSA – Anhörungsrechte im Rahmen der Rechtsetzung mit besonderer Bedeutung für die Regionen (z. B. im Verkehrswesen). Die politische Bedeutung des AdR ist eher gering. Er besteht ebenso wie der EWSA aus 353 Mitgliedern. Die 12 aus Österreich stammenden VertreterInnen setzen sich aus den 9 Landeshauptleuten sowie 3 VertreterInnen aus Städte- und Gemeindebund zusammen.

Der Europäische Rechnungshof Der Europäische Rechnungshof versteht sich als das „finanzielle Gewissen“ der EU. Ähnlich dem Rechnungshof in Österreich überprüft er die Rechtmäßigkeit, Ordnungsgemäßheit und Wirtschaftlichkeit der EU-Finanzgebarung. Nachdem rund 80 % der EU-Mittel in den Mitgliedstaaten abgewickelt werden, unterliegen seiner Kontrolle auch sämtliche nationalen, regionalen und lokalen Stellen, die finanzielle Mittel der Union verwalten. Manipulationsanfällig sind insbesondere bestimmte Ausgaben im Agrarbereich wie Prämien für die Still­ legung von landwirtschaftlichen Produktionsflächen. Die Jahresberichte des Rechnungshofes sind eine wichtige Grundlage für die budgetäre Entlastung der Kommission durch das Europäische Parlament.

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3

Organe und Einrichtungen der EU Die Europäische Zentralbank

© EZB

Die Europäische Zentralbank (EZB) ist die gemeinsame Währungsbehörde der Mitgliedstaaten der Europäischen Währungsunion (Euro-Zone), sohin gleich­sam die „Hüterin des Euro“. Zu ihren wichtigsten geldpolitischen Instrumenten zählen die Genehmigung der Ausgabe der Euro-Banknoten sowie die Fest­ legung des Leitzinssatzes. Sie bildet gemeinsam mit den nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten das Europäische System der Zentralbanken (ESZB). Das ESZB ist dem vorrangigen Ziel der Preisstabilität verpflichtet. Die Vernachlässigung anderer wichtiger Ziele, insbesondere Wachstum und Beschäftigung (wie etwa nach dem Vorbild der Zentralbank der USA, der so genannten „FED“), ist aus ArbeitnehmerInnensicht zu beanstanden. Die EZB agiert unabhängig, d. h. dass sie keinen Weisungen anderer Organe der EU oder der Mitgliedstaaten unterliegt. Obwohl die europäische Geld- und Zinspolitik weitreichende soziale und politische Konsequenzen nach sich zieht, unterliegt sie keinerlei demokratischer Kontrolle. Zur Stärkung der Transparenz ihrer weitreichenden währungspolitischen Entscheidungen sind ausschließlich gewisse institutionelle Verschränkungen mit den anderen Organen der EU vorgesehen (z. B. Teilnahme von VertreterInnen des Rates und der Kommission an

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Die Europäische Zentralbank


Die Europäische Zentralbank Die Europäische Investitionsbank

3.10 3.11

den Sitzungen des EZB-Rates, Berichtspflichten an die anderen Organe, Anhörungen vor den zuständigen Ausschüssen des EP). Mittlerweile haben 18 Staaten (sog. Euro-Zone) ihre Nationalbanken unter Kontrolle und Leitung der EZB gestellt und den Euro eingeführt. Jene nationalen Banken, die nicht dem Euro-Gebiet angehören, haben einen ­eigenen Status innerhalb des ESZB. Sie sind an Entscheidungen der EZB oder des ESZB nicht gebunden, setzen somit eine unabhängige Währungspolitik weiter fort.

Die Europäische Investitionsbank Von der EZB zu unterscheiden ist die Europäische Investitionsbank (EIB). Ihre Aufgabe ist die Förderung der regionalen Entwicklung. Die EIB wird nicht aus dem Gemeinschaftshaushalt finanziert, sondern über den Kapitalmarkt. Ihre Anteilseigner sind alle Mitgliedstaaten der EU, wodurch die EIB auch in den Genuss des begehrten „AAA“-Ratings kommt. Im Jahr 2010 betrug ihre Bilanzsumme über 400 Milliarden Euro. Die EIB gewährt Darlehen vor allem zur Hilfe für entwicklungsschwache Regionen, zum Ausbau transeuropäischer Infrastrukturnetze, zur Unterstützung von Klein- und Mittelbetrieben, Umwelt- und Energieprojekten als auch in sozialen Bereichen (z.B. Bildung, Gesundheit etc.). Von besonderer Bedeutung ist die EIB für die Staaten Mittel-, Süd- und Osteuropas schon im Zuge der Vorbereitungen zur Erweiterung der Union gewesen. Ebenso ist die EIB für die Mittelmeerländer ein Mitfinanzierungsfaktor geworden. Wichtig sind ferner Darlehen für friedensschaffende Investitionen im Nahen Osten.

Euro-Zone Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Estland, Irland, Italien, Lettland, Luxemburg, Malta, Niederlande, Österreich, Portugal, Slowenien, Slowakei, Spanien, Griechenland, Zypern

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3

Organe und Einrichtungen der EU Europäische Agenturen –„Eurofound“ oder Dublin-Foundation Neben den erwähnten in den Grundlagenverträgen vorgesehenen Organen bzw. Institutionen der EU gibt es noch rund 20 ausgelagerte Einrichtungen (Agenturen), deren Sitze über die gesamte EU verteilt sind. Wien beherbergt etwa den Sitz der europäischen Grundrechteagentur. Bedeutsam aus ArbeitnehmerInnensicht ist vor allem die Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebensund Arbeitsbedingungen in Dublin, auch „Eurofound“ oder „Dublin-Foundation“ bezeichnet. Eurofound wurde bereits 1975 als eine der ersten Agenturen der EU einge­ richtet. Die Stiftung konzentriert sich auf das Erforschen und Sammeln von Informationen und auf die Veröffentlichung ihrer Ergebnisse im Bereich der europäischen Sozialpolitik. Sie verfügt über ein ExpertInnennetzwerk in der gesamten EU. Aktuelle Entwicklungen in der europäischen Arbeitswelt werden auf so genannten „Monitoring Tools“ festgehalten und können auch über das Internet mitverfolgt werden (siehe unter http://www.eurofound.europa.eu/eiro). Finanziert wird die Stiftung von der Europäischen Kommission (jährliches Budget rund 20 Millionen Euro). Im Verwaltungsrat und somit in der Steuerung der Dublin-Foundation sind neben Regierungsvertretern aller EU-Länder ebenso Vertretungen der nationalen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände vertreten.

Exkurs: Die Finanzen der EU Von nationalen Haushalten unterscheidet sich der EU-Haushalt in zwei grundsätzlichen Punkten: xx Die EU finanziert ihren Haushalt nicht aus selbst erhobenen Steuern (die in der Praxis geläufige Bezeichnung „Eigenmittel der EU“ ist daher etwas irreführend) und der EU-Haushalt muss ausgeglichen sein (die EU darf keine Schulden ­machen). Einnahmen und Ausgaben der EU Die EU finanziert ihren gesamten Haushalt im Wesentlichen durch Mittel, die von den Mitgliedstaaten erhoben und für den EU-Haushalt bereitgestellt ­werden.

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„Eurofound“ oder Dublin-Foundation 3.12 Exkurs: Die Finanzen der EU 3.13 Die EU-Einnahmen betrugen 2012 ca. 139,5 Mrd. Euro. Die Einnahmen des Gemeinschaftshaushaltes stammen aus folgenden Quellen (für 2012 in Prozent): xx Agrarabschöpfungen, Zuckerabgaben, die bei Agrarimporten aus Drittstaaten erhoben werden sowie Zölle (im Handel mit Drittstaaten) (12 %) xx Mehrwertsteuer-Eigenmittel (11 %) xx BNE-Eigenmittel der Mitgliedstaaten („ergänzende Einnahmen“), die vom Bruttonationaleinkommen (BNE) des jeweiligen Mitgliedstaates abhängen (71 %) xx Sonstiges (ca. 7 %) Der EU-Haushalt 2012 sah Ausgaben in Höhe von ca. 138,7 Mrd. Euro vor. Sie gliedern sich in folgende Ausgabenbereiche (für 2012 in Prozent des Budgets): xx Landwirtschaft (46,5 %) xx Nachhaltiges Wachstum (45,9 %) xx Interne Politik (1,74 %) xx EU als globaler Partner (5,9 %) xx Verwaltung (5,9 %) Österreich trägt 2012 mit rund 2,94 Mrd. Euro pro Jahr zum EU-Budget bei. Dem stehen unmittelbare Rückflüsse in Höhe von 1,85 Mrd. Euro gegenüber. Österreich ist daher im Sinne des europäischen Solidaritätsgedankens ebenso wie alle anderen wirtschaftlich besser entwickelten EU-Mitglieder sog. Nettozahler. xx Einen großen Anteil am Budget hat seit jeher die gemeinsame Agrarpolitik (GAP). Dies wird auch in der neu ausgehandelten finanziellen Vorausschau für die Jahre 2014-2020 im Wesentlichen fortgeschrieben. Zum Teil erklärt sich das aus der umfassenden Vergemeinschaftung des landwirtschaftlichen Förderungswesens im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik. Eine derartige Agrarlastigkeit des EU-Budgets erscheint indessen nicht nur aus ArbeitnehmerInnensicht inakzeptabel. Damit können die Herausforderungen, denen sich die EU zu stellen hat (vor allem angesichts der steigenden Arbeitslosenraten in vielen Mitglied-

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3

Organe und Einrichtungen der EU staaten aufgrund der Finanz- und Wirtschaftskrise), jedenfalls nicht bewältigt werden. In diesem Sinn wäre eine Umschichtung des Haushalts in der Finanz­ periode ab 2014 mit einer Schwerpunktsetzung für Wachstum und Beschäftigung notwendig gewesen.

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VÖGB/AK-SKRIPTEN Die Skripten sind eine Alternative und Ergänzung zum VÖGB/AK-Bildungsangebot und werden von ExpertInnen verfasst, didaktisch aufbereitet und laufend aktualisiert.

UNSERE SKRIPTEN UMFASSEN FOLGENDE THEMEN:

Lucia Bauer/Tina Brunauer-Laimer

Damit wir uns verstehen OEA 1

Tipps und Konzepte für Öffentlichkeitsarbeit im Betrieb

1

Damit wir uns verstehen

› Arbeitsrecht › Sozialrecht › Gewerkschaftskunde › Praktische Gewerkschaftsarbeit › Internationale Gewerkschaftsbewegung › Wirtschaft › Wirtschaft – Recht – Mitbestimmung › Politik und Zeitgeschehen › Soziale Kompetenz › Humanisierung – Technologie – Umwelt › Öffentlichkeitsarbeit SIE SIND GEEIGNET FÜR:

› Seminare › ReferentInnen › Alle, die an gewerkschaftlichen Themen interessiert sind. und Nähere InfosBes tellung: e s kostenlo kripten www.voegb.at/s ten@oegb.at E-Mail: skrip Adresse: öhm-Platz 1, Johann-Bien 1020 W534 44-39244 Tel.: 01/

Die Skripten gibt es hier zum Download:

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Leseempfehlung: Reihe Zeitgeschichte und Politik

Öffentlichkeitsarbeit


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Soziales Europa Im Folgenden werden zunächst wichtige Akteure eines sozialen Europas, allen voran der Europäische Gewerkschaftsbund, präsentiert. Zudem wird auf den Europäischen Beriebsrat als ein weiteres Betätigungsfeld für transnational agierende GewerkschafterInnen eingegangen. Der anschließende Abschnitt widmet sich einigen bereits bestehenden Stützpfeilern eines sozialen Europas (u. a. Beschäftigungspolitik, Europäischer Sozialfonds, Europäische Sozialpolitik). Diesen Errungenschaften werden schließlich Forderungen gegenübergestellt und Wege aufgezeigt, die uns aus heutiger Sicht zu einem sozialen Europa, einer besseren EU, führen könnten.

Die EU ist in besonderem Maße auf den Rückhalt und die Unterstützung der europäischen ArbeitnehmerInnen angewiesen. Im Gegenzug erwarten die ArbeitnehmerInnen eine EU, die das europäische Sozialmodell als Ausgleich von nachhaltigem wirtschaftlichem Wachstum und der stetigen Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen festigt. Zu diesen Bedingungen zählen Vollbeschäftigung, sozialer Schutz, Chancengleichheit, qualitativ hochwertige Arbeitsplätze, soziale Eingliederung sowie ein transparenter und demokratischer politischer Entscheidungsprozess.

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SKRIPTEN ÜBERSICHT WIRTSCHAFT

POLITIK UND ZEITGESCHICHTE

WI-1

Einführung in die Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftswissenschaften

PZG-1A Sozialdemokratie und andere politische Strömungen der ArbeiterInnenbewegung bis 1945

WI-2

Konjunktur

WI-3

Wachstum

WI-4

Einführung in die Betriebswirtschaftslehre

WI-5

Beschäftigung und Arbeitsmarkt

PZG-3 Die Unabhängigen im ÖGB

WI-6

Lohnpolitik und Einkommensverteilung

PZG-4 Liberalismus/Neoliberalismus

WI-7

Der öffentliche Sektor (Teil 1) – in Vorbereitung

PZG-6 Rechtsextremismus

WI-8

Der öffentliche Sektor (Teil 2) – in Vorbereitung

WI-9

Investition

WI-10

Internationaler Handel und Handelspolitik

WI-12

Steuerpolitik

WI-13

Bilanzanalyse

WI-14

Der Jahresabschluss

WI-16

Standort-, Technologie- und Industriepolitik

PZG-1B Sozialdemokratie seit 1945 (in Vorbereitung) PZG-2 Christliche Soziallehre

PZG-7 Faschismus PZG-8 Staat und Verfassung PZG-10 Politik, Ökonomie, Recht und Gewerkschaften

Die einzelnen Skripten werden laufend aktualisiert.

SOZIALE KOMPETENZ

SK-1

Sprechen – frei sprechen

SK-5

Moderation

SK-2

Teamarbeit

SK-6

Kommunizieren und Werben mit System

SK-3

NLP

SK-8

Führen im Betriebsrat

SK-4

Konfliktmanagement

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5

Akteure eines sozialen Europas Der Europäische Gewerkschaftsbund Teilweise parallel zur historischen Entwicklung des europäischen Einigungsprozesses verlief auch die Entstehung einer multinationalen Gewerkschaftsbewegung in Europa. In den 50er-Jahren entstand zunächst als Regionalorganisation des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften (IBFG) in Europa die „Europäische Regionalorganisation“, ein eher loses Beratungsgremium zwischen den europäischen Mitgliedsorganisationen. 1958 entschloss man sich dann zu einer intensiveren Zusammenarbeit, aus der die Errichtung des Europäischen Gewerkschaftssekretariats stammt, das für eine bessere Vernetzung der nationalen Organisationen Sorge tragen sollte. 1969 schließlich gründeten dann die IBFGGewerkschaften aus den Mitgliedsländern der EG den Europäischen Bund Freier Gewerkschaften (EBFG). Nachdem man aber auch an einer Vernetzung mit Gewerkschaften aus den EFTA-Staaten stark interessiert war, wurde im Februar 1973 der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) aus der Taufe gehoben. Ihm gehörten bei seiner Gründung 17 Gewerkschaftsbünde aus den EG- und EFTAStaaten an. Im Laufe der Zeit gewann der EGB an Bedeutung. Heute zählt er 85 Mitgliedsorganisationen aus 36 europäischen Ländern (darunter befindet sich auch der ÖGB), sowie 10 europäische Branchengewerkschaftsverbände. ➔➔ Ziele, Aufgaben und Handlungsspielräume des EGB Der EGB strebt die Weiterentwicklung des europäischen Sozialmodells an und ein durch Frieden und Stabilität gekennzeichnetes vereintes Europa, in dem die ArbeitnehmerInnen den Schutz ihrer Rechte und einen hohen Lebensstandard genießen. Der EGB erachtet die Einbeziehung der ArbeitnehmerInnen in unternehmerische Entscheidungsprozesse, kollektive Verhandlungen, den sozialen Dialog und gute Arbeitsbedingungen als Schlüssel für die Steigerung von Innovation, Produktivität und Wachstum in Europa. Zur Erreichung dieser Ziele stehen dem EGB insbesondere die folgenden Handlungsmöglichkeiten offen: ➔➔ Interessenvertretung und qualifizierte Mitsprache Der EGB versucht seine Interessen durch Beeinflussung des europäischen Entscheidungsprozesses zu verfolgen. Neben herkömmlichen Interessenvertre-

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Der Europäische Gewerkschaftsbund 5.1 tungs-Aktivitäten ist er als Sozialpartnerorganisation ausdrücklich im EG-Vertrag als politischer Akteur anerkannt und tritt deshalb auch in privilegierter Rolle gegenüber den anderen EU-Organen (Kommission, Rat und EP) auf. In diesem Zusammenhang ist der dreigliedrige Sozialgipfel zu erwähnen [in Art. 152 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV) normiert], der die effektive Teilnahme der Europäischen Sozialpartner (und somit auch des EGB) in Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik in der EU sicherstellen sollte. Insbesondere mit dem Europäischen Parlament pflegt der EGB eine enge Beziehung im Rahmen einer fraktionsübergreifenden Gruppe (sogenannte „Intergroup“), die sich aus gewerkschaftsnahen Mitgliedern des Europäischen Parlaments (MEPs) ­zusammensetzt. ➔➔ Sozialer Dialog Der Soziale Dialog auf EU-Ebene wurde 1985 vom damaligen Kommissionspräsidenten Jacques Delors initiiert, um die europäischen ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen in seine Reformen (Einheitliche Europäische Akte, Binnenmarkt und Währungsunion) einzubinden und ihre Unterstützung zu gewinnen. Über den Europäischen Sozialdialog ist dem EGB als europäischem Dachverband eine besondere Rolle zugewiesen. Hierbei kooperiert er direkt mit den europäischen Arbeitgeberverbänden (insbesondere Business Europe). Auf diesem Wege kann er einerseits sektorübergreifende Vereinbarungen von EU-weiter Tragweite schließen (die auch als Grundlage für eine abgekürzte Rechtsetzung dienen können, siehe oben S. 60). Neben den in Richtlinienform umgegossenen Rahmenvereinbarungen hinsichtlich Elternurlaub (1995 und revidiert 2008), Teilzeitarbeit (1997) und befristete Arbeitsverhältnisse (1999) betreffen weitere Abkommen die Bereiche Telearbeit (2002), Stress am Arbeitsplatz (2004) und Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz (2007), Integrative Arbeitsmärkte (2010) sowie Aktionsrahmen betreffend das lebenslange Lernen (2002) und die Gleichbehandlung von Mann und Frau (2005). Neben den sektorübergreifenden Vereinbarungen findet zudem der so genannte sektorale soziale Dialog in mehr als 30 Branchen statt, wodurch u.a. auch branchenspezifische Vereinbarungen auf europäischer Ebene geschlossen werden können (u. a. im Verkehrswesen).

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5

Akteure eines sozialen Europas ➔➔ Aktionen Der dritte Stützpfeiler wird schließlich durch Aktionen gebildet, die vom EGB in Zusammenarbeit mit seinen Mitgliedsverbänden koordiniert werden. Zu nennen sind Kampagnen anlässlich der Einbeziehung des Beschäftigungskapitels ins Gemeinschaftsrecht oder zur EU-Grundrechtecharta. Ferner tritt der EGB auch als Organisator von Demonstrationen in Erscheinung (z. B. regelmäßig anlässlich der Europäischen Räte, oder aus Anlass der Dienstleistungsrichtlinie im Februar 2004, wodurch das sogenannte Herkunftslandprinzip zu Fall gebracht worden ist). Außerdem haben in letzter Zeit zahlreiche Europäische Aktionstage und Demonstrationen (u.a. in Brüssel, Budapest, Luxemburg) stattgefunden, um gegen die Sparmaßnahmen zu Lasten der ArbeitnehmerInnen in Folge der Wirtschaftskrise zu protestieren. Denn rigide budgetäre Maßregelungen setzen die Sozialpolitik der Mitgliedstaaten und insbesondere die ArbeitnehmerInnen unter erheblichen Druck und gefährden somit den sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhalt Europas. Siehe auch die europaweiten Aktivitäten und Kampagnen des EGB zur Durchsetzung eines umfangreichen europäischen Konjunktur- und Investitionsprogrammes. Die Organe des EGB ➔➔ EGB-Kongress Die oberste Instanz des Gewerkschaftsbundes tagt alle vier Jahre und entscheidet über die allgemeinen Strategien und die politischen Richt­linien des EGB. Auf den Kongressen werden dementsprechende Entschließungen verabschiedet, wie auch Wahlen für die Führungsgremien durchgeführt. Gewählt werden neben dem Präsidenten/der Präsidentin auch das Generalsekretariat, die RechnungsprüferInnen und der Exekutivausschuss. Dem Kongress obliegt auch die Veränderung und Annahme der Satzung sowie die Aufnahme neuer Mitgliedsorganisationen. Präsident des EGB ist derzeit der Spanier Ignacio Fernández Toxo von der ­Confederación Sindical de Comisiones Obreras (CCOO). Generalsekretärin des

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© Julien Warnand/EPA/ picturedesk.com

Bernadette Ségol (geb. 1949)

EGB ist gegenwärtig Bernadette Ségol (Frankreich), sie kommt von UNI Europa (European Trade Union Federation for Services and Communication). ➔➔ Exekutivausschuss Er führt die Arbeit des EGB zwischen den Kongressen. Mindestens viermal jährlich tritt der Ausschuss zusammen und entscheidet dabei über die politischen Richtlinien der Organisation. ➔➔ Präsidium Das Präsidium entscheidet über sämtliche anfallenden organisatorischen und finanziellen Angelegenheiten und setzt die Vorgaben des Kongresses bzw. des Exekutivausschusses um. Es besteht aus dem Präsidenten/der Präsidentin, dem/ der GeneralsekretärIn, zwei stellvertretenden GeneralsekretärInnen und 17 vom Exekutiv­ausschuss gewählten Mitgliedern. Weitere EGB-Institutionen ➔➔ Europäisches Gewerkschaftsinstitut (EGI) Das EGI ist 2005 aus dem Zusammenschluss von drei bestehenden Gewerkschaftsinstituten (Forschung, Bildung, Arbeits- und Gesundheitsschutz) hervorgegangen. Es hat zum einen die Aufgabe, wissenschaftliche und technische Unterstützung für die europäische Gewerkschaftsbewegung zu leisten, um ihren Beitrag zur Gestaltung der Sozial- und Wirtschaftspolitik auf EU-Ebene zu verstärken. Zum anderen soll es den GewerkschafterInnen in Europa die Kenntnisse und Fähigkeiten vermitteln, die sie benötigen, um wichtige Politikansätze auch umzusetzen. Das Institut trägt mit seinen Projekten und Aktivitäten zur Stärkung einer europäischen Gewerkschaftsidentität bei. Die Forschungsabteilung befasst sich mit sozio-ökonomischen Fragen und Arbeitsbeziehungen. Sie verbindet europäische Gewerkschaften und Wissenschaft und betreibt und fördert Forschung auf Feldern von strategischer Bedeutung für die Arbeitswelt. Sie arbeitet in Netzwerken mit Forschungszentren in verschiedenen Ländern zusammen. Sie verbreitet ihre Arbeitsergebnisse sowohl durch Konferenzen und Seminare als auch über ihre breite Palette an Publikationen, und sie leistet direkte fachliche Unterstützung und politische Beratung für den EGB.

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5

Akteure eines sozialen Europas Die Abteilung für Bildung bietet europäische Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen für den EGB und seine Mitgliedsorganisationen an. Sie koordiniert Kurse auf europäischer Ebene, die hauptamtlichen GewerkschafterInnen und ArbeitnehmervertreterInnen aus ganz Europa die Möglichkeit geben, an einer einzigartigen europäischen Lernerfahrung teilzuhaben, d.h. neue Informationen zu erhalten, neue Fähigkeiten zu entwickeln, europäische gewerkschaftliche Werte zu teilen und sich aus einer breiteren europäischen Perspektive heraus mit Gewerkschaftsfragen zu befassen. Die wichtigste Aufgabe der Abteilung für Arbeits- und Gesundheitsschutz ist es, europaweit ein hohes Niveau im Bereich von Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz zu fördern. Sie begleitet die Erarbeitung, Umsetzung und Anwendung der europäischen Gesetzgebung im Bereich von Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz. Sie hat eine Beobachtungsstelle für die Anwendung der europäischen Richtlinien eingerichtet, die vergleichende Analysen über die Auswirkung der gemeinschaftlichen Gesetzgebung auf die verschiedenen Systeme vorbeugender Maßnahmen der Länder der Europäischen Union erstellt und gemeinsame Gewerkschaftsstrategien ausarbeitet. ➔➔ Frauenausschuss Mit der Gründung des EGB ist auch ein eigener Ausschuss zur Vertretung der Interessen von Arbeitnehmerinnen geschaffen worden. Sein Hauptaugenmerk liegt in der Verwirklichung von Gleichstellung und -behandlung zwischen Frauen und Männern und der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. ➔➔ EGB-Jugend Neben den Frauen haben auch die jugendlichen GewerkschafterInnen ein eigenes Forum im Rahmen des EGB. Mit eigener Satzung und Struktur beab­ sichtigt die EGB-Jugend, den Anliegen junger ArbeitnehmerInnen in der Euro­ päischen Union Gehör zu verschaffen. Besonderes Augenmerk ist dem Schutz der Lehrlinge (Personen in Ausbildung) und dem Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit gewidmet. Im Rahmen des EGB wurde auch eine eigene Struktur für Fach- und Führungskräfte (EUROCADRES – der Rat der Europäischen Fach- und Führungskräfte) sowie für ältere Personen

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Der Europäische Betriebsrat

5.2

und PensionistInnen (FERPA – Euro­päische Vereinigung der PensionistInnen und älteren Personen) geschaffen. Darüber hinaus koordiniert der EGB die Aktivitäten der interregionalen Gewerkschaftsräte (IGRs), die gewerkschaftliche Zusammenarbeit in den Grenzregionen Europas durchführen.

Der Europäische Betriebsrat Nach zwanzig Jahren Auseinandersetzungen um einheitliche ArbeitnehmerInnenvertretungen in multinationalen Konzernen verabschiedete der EU-Ministerrat schließlich im September 1994 die Europäische-Betriebsräte-Richtlinie (RL 94/45/EG). Auf dem Weg hin zu einem Sozialen Dialog auf europäischer Ebene kommt den Europäischen Betriebsräten (EBR) eine wichtige Funktion zu. Sie repräsentieren auf demokratischer Basis die Ideen und Rechte der ArbeitnehmerInnen mehrerer Länder durch ein einziges Gremium. Dies erleichtert auch dem/der ArbeitgeberIn eine Kooperation. Zunächst von den Unternehmen angefeindet, erkennen diese zunehmend den Wert der neuen ArbeitnehmerInnenvertretung. Die Richtlinie betrifft Beschäftigte und ihre Interessenvertretungen in grenzübergreifend tätigen Unternehmungen, die insgesamt mehr als 1.000 Beschäftigte überschreiten und an mindestens zwei Standorten in mehreren europäischen Ländern mehr als 150 Beschäftigte haben. Ziel ist es, dass die Beschäftigten in europaweit operierenden Konzernen über die wirtschaftliche Situation des Konzerns informiert und zu bestimmten Entwicklungen, die sich auf die Beschäftigten und deren Arbeitsbedingungen auswirken, angehört werden. Dafür ist den ArbeitnehmerInnenvertretungen aus den verschiedenen Konzernstandorten auf Kosten der Unternehmensleitung die Möglichkeit einzuräumen, regelmäßig zusammenzutreten und grenzübergreifende Beratungen anzustellen. Finanziert muss der EBR grundsätzlich durch die Konzernleitung werden. Sitzungen des gesamten EBR finden mindestens einmal jährlich statt. In den meisten Fällen gibt es mehrere Sitzungen pro Jahr, zumindest die eines geschäftsführenden Ausschusses. Die Mitglieder werden für eine Funktionsperiode von vier Jahren bestellt. Zu den Sitzungen dürfen ebenso Sachverständige (seitens der Gewerkschaft) hinzugezogen werden.

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Akteure eines sozialen Europas Die Initiative zur Errichtung des EBR kann vom Unternehmen selbst oder durch schriftlichen Antrag von 100 ArbeitnehmerInnen oder durch die Betriebsräte kommen. Zusammengesetzt wird der EBR aus mindestens drei, aber höchstens 30 Mitgliedern, die von den ArbeitnehmerInnen oder deren VertreterInnen gewählt werden. Grundsätzlich gibt es ein Mitglied pro Mitgliedstaat, die restlichen Sitze werden im Verhältnis der ArbeitnehmerInnenzahlen aufgeteilt. Eine zusätzliche Stärkung ihrer Rechte haben die Europäischen Betriebsräte mit der Anfang 2009 geänderten Richtlinie erfahren (EBR-RL 2009/38/EG), die mit Juni 2011 in österreichisches Recht umgesetzt worden ist (in einer ­Novelle des Arbeitsverfassungsgesetzes). Die Nachbesserungen der Richtlinie zum EBR betreffen im wesentlichen einige neue bzw. neu gefasste Bestimmungen zum Verfahrensrecht bei der Einrichtung künftiger EBR, wie etwa die Neuregelung bei der Besetzung des Besonderen Verhandlungsgremiums zu Verhandlungen mit der Unternehmensleitung, oder zusätzliche Vorgaben hinsichtlich der Inhalte, die nun zwingend in einer EBR-Vereinbarung enthalten sein müssen. Dabei wurden durch mehrere neue Bestimmungen, die nun in einer EBR-Vereinbarung ent­halten sein müssen, Grundlagen geschaffen, um die Arbeit im EBR selbst effektiver zu gestalten. Die Bestimmungen zur länderübergreifenden Unterrichtung und Anhörung der ArbeitnehmerInnen und ihrer Vertretungen im EBR werden deutlich präzisiert sowie Klarstellungen hinsichtlich der Modalitäten der Betei­ligung der ArbeitnehmerInnenvertretungen auf nationaler und europäischer Ebene geschaffen. So wurde insbesondere klargestellt, dass die Meinung des EBR bereits vor der Unternehmensentscheidung und nicht erst vor der Umsetzung derselben gefragt ist. Die an den EBR gegebenen Informationen haben sich also auf geplante Maßnahmen zu beziehen und nicht bereits Beschlossenes zu umfassen. Durch ein neues, direkt aus dem EBR-Mandat zustehendes und über die jeweiligen nationalen Freistellungs- und Weiterbildungsansprüche hinaus­ ­ gehendes Recht zur Aus- und Weiterbildung ohne Gehaltsverlust wird es zu ­einer Kompetenzerweiterung der EBR-Mitglieder kommen. Die Mitglieder des EBR erhalten explizit auch die Aufgabe übertragen, die ArbeitnehmervertreterInnen und Belegschaften der Betriebe und Unterneh-

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Der Europäische Betriebsrat

5.2

men über Inhalt und Ergebnisse der EBR-Arbeit zu unterrichten. Das sollte eine verbesserte Praxis der Kommunikation zwischen EBR und nationalen Organen der ArbeitnehmerInnenvertretung zur Folge haben. Schließlich erhalten bestehende EBR das Recht zu Neuverhandlungen bei Strukturänderungen im Unternehmen, wenn eine praktikable und dem vereinbarten Standard entsprechende Information und Anhörung aller ArbeitnehmerInnen nicht mehr gewährleistet ist. Das gilt auch für bereits bestehende EBR. Bei der Umsetzung in das österreichische Recht wurde in mehreren Punkten über die in der neuen EU-Richtlinie festgeschriebenen notwendigen Nachbesserungen hinausgegangen. So gelten nun für alle Europäischen Betriebsräte die neuen, verbesserten Definitionen und bei Verletzung der Bestimmungen (z.B. Verletzung der Informationspflicht der Unternehmen bei geplanten Unternehmensentscheidungen von länderübergreifender Bedeutung) gibt es schärfere Sanktionen. Bislang wurde in über 1.000 von ca. 2.500 möglichen europaweit tätigen Unternehmensgruppen ein EBR eingerichtet. Jährlich kommen etwa 30 bis 40 neue dazu, die in Kooperation mit den zuständigen Gewerkschaftsverbänden auf nationaler Ebene und in Europa ausgehandelt werden.

Literaturtipp: Wolfgang Greif, Der Europäische Betriebsrat. Ein gewerkschaftliches Handbuch (Verlag des ÖGB), 2. Auflage 2013. Weiterführende Information im Internet, u.a.: www.oegb.at (Stichwort: Internationales/Europa-EU/Europäische Betriebsräte)

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Soziale Errungenschaften der EU Im Folgenden werden schlaglichtartig Aspekte der europäischen Politik angesprochen, die für die Anliegen der ArbeitnehmerInnen von besonderem Interesse sind. Es zeigt sich, dass die EU, wenngleich primär auf Öffnung der Märkte programmiert, seit jeher auch den Keim für marktkorrigierende Politikfelder in sich getragen hat. Dies lässt sich neben flankierenden Maßnahmen in Zusammenhang mit der ArbeitnehmerInnenfreizügigkeit besonders an der EU-Gleichbehandlungspolitik, dem ArbeitnehmerInnenschutz, der Etablierung sozialer Mindeststandards, der Beschäftigungspolitik und dem Europäischen Sozialfonds darstellen.

Die Freizügigkeit der ArbeitnehmerInnen Die ArbeitnehmerInnenfreizügigkeit (Art 45 AEUV) zählt zu den vier Marktfreiheiten des Binnenmarktes. Sie ermöglicht es allen UnionsbürgerInnen, in einem anderen Land der EU ohne Weiteres eine unselbständige Beschäftigung aufzunehmen. Sie erleichtert natürlich auch Unternehmen die transnationale Ver­ fügbarkeit des „Produktionsfaktors Arbeit“, weshalb sie mindestens genauso in deren Interesse gelegen ist. Die damit geschaffenen offenen Arbeitsmärkte innerhalb der EU sind bei unterschiedlichen Lohnniveaus aus ArbeitnehmerInnensicht kritisch zu beurteilen. Ein ungeregelter Zustrom von Arbeitskräften aus Niedrig- in Hochlohnländer der EU droht die Arbeitsmärkte der Hochlohnländer zu überlasten und den Niedriglohnländern insbesondere qualifizierte Arbeitskräfte zu entziehen (sog. „brain drain“). Zur Vermeidung von Verwerfungen am österreichischen Arbeitsmarkt wurden deshalb gegenüber den neuen Mitgliedstaaten der EU entsprechende Übergangsfristen ausverhandelt und nach Auslaufen dieser Übergangsfristen im Mai 2011 Maßnahmen zur Verhinderung von Lohn- und Sozialdumping mit Inkrafttreten des Lohn- und Sozialdumpingbekämpfungsgesetzes in Österreich umgesetzt. Um ArbeitnehmerInnen die Mobilität zu erleichtern, wurde eine Reihe flankierender Maßnahmen beschlossen, die die „volle Integration“ im Gastland sicherstellen soll. Zu erwähnen ist die sogenannte Freizügigkeitsverordnung (VO 1612/68/EWG): Danach genießen die WanderarbeitnehmerInnen die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie InländerInnen. Diese Rechte

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Freizügigkeit der ArbeitnehmerInnen 6.1 EU-Gleichbehandlungspolitik 6.2 gelten auch für ihre Familienangehörigen. Zur Vermeidung von möglichen Anspruchsverlusten im Bereich der sozialen Sicherheit wurde die VO 1408/71/ EWG beschlossen (die durch die VO 883/2004/EG ersetzt wurde).

EU-Gleichbehandlungspolitik Wichtige Impulse für die – auch österreichische - Gleichbehandlungspolitik sind von der EU ausgegangen. Den Anfang machte der Grundsatz der Entgeltgleichheit von Frauen und Männern bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit. Er war bereits Bestandteil der Römischen Verträge und stellt einen bemerkenswerten Kompromiss an der Grenzlinie zwischen Sozial- und Wirtschaftspolitik dar. Ihren Ursprung verdankt die Bestimmung nämlich der wirtschaftspolitischen Sorge Frankreichs, das wegen seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtung zur Wahrung der Entgeltgleichheit Wettbewerbsnachteile gegenüber denjenigen Mitgliedstaaten (insbesondere Deutschland) befürchtet hatte, die diesen Grundsatz noch nicht kannten. Durch die Aufnahme des Prinzips in den EG-Vertrag wurde dieser Aspekt indessen als Standortfaktor eliminiert. Trotz dieser wirtschafts- bzw. wettbewerbspolitischen Geschichte emanzipierte sich das Prinzip der Entgeltgleichheit bald zum Prototyp einer europäischen Gleichbehandlungspolitik. Es bildete in weiterer Folge auch den Ausgangspunkt für eine umfassende ­Politik der Union im Bereich der Gleichstellung. Den Anfang machte die Richtlinie 75/117/EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen: Sie enthält unter anderem die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, einen innerstaatlichen Rechtsweg zur Durchsetzung der Entgeltgleichheit zu garantieren, die Nichtigkeit von entgegenstehenden arbeitsvertraglichen Bestimmungen sowie den Schutz vor Entlassung als Reaktion des Arbeitgebers bzw. der Arbeitgeberin auf Beschwerden oder Klagen. Das Gros der Gleichbehandlungsbestimmungen wurde inzwischen in der sogenannten Gleichbehandlungsrichtlinie (RL 2006/54/EG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen) 2006 neu gefasst. Im Jahr 2004

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Soziale Errungenschaften der EU wurde außerdem auch eine Richtlinie zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen erlassen. Dadurch sind Frauen nun auch außerhalb der Arbeitswelt gegen Diskriminierungen (z.B. durch sexuelle Belästigung durch einen Taxifahrer) geschützt. Mit dem Vertrag von Amsterdam wurde zudem – auch unter starkem Betreiben der ersten österreichischen Ratspräsidentschaft 1998 – mit dem Grundsatz des Gender Mainstreamings die Gleichstellungspolitik zur Querschnittsaufgabe im Gemeinschaftsrecht. Das bedeutet, dass die gesamte politische Tätigkeit der EU im Hinblick auf die Beseitigung von Ungleichheiten und die Förderung der Gleichstellung von Männern und Frauen zu überprüfen ist. Um die Entwicklung der Gleichstellung von Frauen und Männern in Europa laufend zu beobachten, erstellt die Kommission auch jährlich einen Gleichstellungsbericht. Die Politik der EU in Sachen Gleichstellung erstreckte sich in jüngerer Vergangenheit aber auch auf andere benachteiligte Gruppen. Wesentlich sind hier die Antirassismus-Richtlinie (RL 2000/43/EG), die Diskriminierungen aus Gründen der ethnischen Herkunft in mehreren Lebensbereichen (Arbeitswelt, Sozialschutz, Gesundheitsdienste, Bildung, Güter und Dienstleistungen) verbietet, sowie die Rahmengleichbehandlungsrichtlinie (RL 2000/78/EG), die den Diskriminierungsschutz um das Gebot der Gleichbehandlung ohne Unterschied der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in der Arbeitswelt erweitert. Die Europäische Union hat im europäischen Gleichstellungsrecht sicherlich eine Art „Vorreiterrolle“, denn die Anstöße für Novellierungen im österreichischen Gleichbehandlungsrecht, die in den letzten Jahren stattgefunden haben, kamen oftmals von der EU.

EU-Sozialpolitik Als Sozialpolitik im weiteren Sinn kann jede Politik verstanden werden, die dem (sozialen) Wohlergehen der Menschen dient. Auf europäischer Ebene könnte darunter – nicht minder weit – jede Maßnahme verstanden werden, die uns dem Ziel eines sozialen Europas näherbringt.

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EU-Sozialpolitik

6.3

Im EU-Jargon wird jedoch mit „Sozialpolitik“ im technischen Sinn zumeist die besondere Kompetenz der Gemeinschaft zur Rechtsetzung gemäß Art 153 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) bezeichnet. Diese sozialpolitische Kompetenz bezieht sich (insbesondere nach französischem Vorbild) vor allem auf Fragen des Arbeitsrechts. Dazu zählen u.a. technischer ArbeitnehmerInnenschutz, Arbeitsbedingungen, Schutz bei Beendigung des ­Arbeitsverhältnisses, Chancengleichheit u.v.a.m. Hier ist die EU zur Festlegung von sozialen Mindeststandards befugt. Das heißt, dass die EU (im Wege der Rechtsetzung) ein Mindestniveau festlegen kann, das von den Mitgliedstaaten (im Zuge der Umsetzung der betreffenden Richtlinien in nationales Recht) auch höher gesetzt werden kann. Damit soll, wie es in Art 151 AEUV heißt, „die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, um dadurch auf dem Wege des Fortschritts ihre Angleichung zu ermöglichen“, erreicht werden. Bisher wurden nicht zuletzt im Zuge sozialpolitischer Aktionsprogramme und des Sozialprotokolls etliche Bereiche des Arbeitsrechts durch die Einfügung von Mindeststandards gleichsam gegen Unterbietung abge­ sichert, um als Faktor im Standortwettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten ausgeschlossen zu werden (Bekämpfung von Sozialdumping). Zu nennen sind ergänzend zum Gleichbehandlungsrecht und den im Rahmen des Sozialen Dialogs erarbeiteten Regelungen insbesondere Richtlinien in folgenden Bereichen: xx Technischer ArbeitnehmerInnenschutz, z. B. Arbeitsstättenrichtlinie (RL 89/ 654/EWG), Lärmrichtlinie (2003/10/EG) oder Asbestrichtlinie (RL 83/477/EWG); xx Arbeitsverhältnis, z. B. Entsenderichtlinie (RL 96/71/EG), Arbeitszeitrichtlinie (RL 2003/88/EG), Betriebsübergangsrichtlinie (RL 2001/23/EG), Massenentlassungsrichtlinie (RL 98/59/EG) oder die Mutterschutzrichtlinie (RL 92/85/EWG); xx Kollektives Arbeitsrecht: z. B. Europäische-Betriebsräte-Richtlinie (RL 94/45/ EG sowie RL 2009/38/EG), Richtlinie über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der Europäischen Aktiengesellschaft SE (RL 2001/86/EG). Ein Endpunkt kann damit aber noch lange nicht erreicht sein.

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Soziale Errungenschaften der EU Beschäftigungspolitik Der Anstieg der Arbeitslosigkeit ist in den Staaten der Europäischen Union zu einem der größten ökonomischen und sozialen Probleme geworden. Um dem entgegenzuwirken, wurden bereits 1997 die ersten Leitlinien einer einheitlichen europäischen Beschäftigungspolitik festgelegt. Seit dem Gipfel von Amsterdam werden diese Vorgaben jährlich durch den Rat der Union festgelegt. Die Umsetzung der beschäftigungspolitischen Leitlinien erfolgt nach Absteckung der gemeinsamen Ziele auf nationaler Ebene. Seit dem Jahr 2005 sind die beschäftigungspolitischen Leitlinien und die Grundzüge für Wirtschaftspolitik in einem Dokument – „Integrierte Leitlinien für Wachstum und Beschäftigung“ – zusammengefasst. Jedes Mitgliedsland hat die Realisierung der Leitlinien mit Hilfe eines Nationalen Aktionsplans (NAP) für Beschäftigung vorzunehmen. Jährlich wer­den die nationalen Anstrengungen durch den Rat, die Kommission und die Sozialpartner bewertet und Empfehlungen dazu abgegeben. Es gibt bei Nichteinhaltung der Zielvorgaben jedoch keinerlei rechtliche Sanktionen seitens der Union. Damit sind die Mitgliedsländer zwar angehalten, gemeinsam und auf nationaler Ebene Fortschritte zu erzielen, jedoch durch das Fehlen von Sanktionen erweisen sich solche Vorgaben als zumeist zahnlos und sind vom guten Willen der nationalen Regierungen abhängig.

Am 21.10.2010 sind vom Europäischen Rat neue EU-Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten zur Umsetzung der Strategie „Europa 2020“ beschlossen worden und bilden die Grund­ lage für gemeinsame Prioritäten der Mitgliedstaaten im Rahmen der ­koordinierten Beschäftigungsstrategie.

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Beschäftigungspolitik Der Europäische Sozialfonds (ESF)

6.4 6.5

Inhaltlich konzentriert sich die EU-Beschäftigungspolitik auf folgende Bereiche: xx Aktive und präventive Arbeitsmarktpolitik xx Förderung von Beschäftigungsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt xx Chancengleichheit von Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt xx Bildung und lebenslanges Lernen Angesichts des primär politischen Charakters der Europäischen Beschäftigungsstrategie kann deren Wirkung kaum exakt bestimmt werden. Für Österreich vermochten die NAPs aber dennoch wichtige Impulse zur Etablierung einer aktiven Arbeitsmarktpolitik zu setzen. Es bleibt freilich abzuwarten, ob sich mit der Europäischen Beschäftigungsstrategie mittel- bis langfristig ein Konvergenzprozess der nationalen Beschäftigungspolitiken ergeben wird. Die derzeitige wirtschaftliche Entwicklung macht Prognosen umso schwieriger.

Der Europäische Sozialfonds (ESF) Beschäftigungspolitische Ziele werden seit Bestehen der EWG auch mit den Mitteln der sogenannten Strukturfonds, v.a. mit Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF), verfolgt. Seit 1957 unterstützt der ESF Projekte in den Mitgliedstaaten, die die Qualifikationen und die Beschäftigungschancen europäischer BürgerInnen fördern. Die vergebenen EU-Mittel dienen so der Schaffung von neuen wie auch der Verbesserung bestehender Arbeitsplätze. Der ESF wird über siebenjährige Programmzyklen verwaltet. Strategie und Haushalt des ESF werden zwischen den EU-Mitgliedstaaten, dem EP und der Kommission ausgehandelt. In der Strategie werden die Ziele der ESF-Finan­ zierung festgelegt. Der gegenwärtige ESF-Finanzierungszyklus verfolgt die Stärkung der regionalen Wettbewerbsfähigkeit und der Beschäftigung sowie die Förderung von Wachstum und Beschäftigung in den am wenigsten ent­ wickelten Regionen. In der abgelaufenen Finanzierungsperiode 2007-2013 richtete sich die Finanzierung des ESF neben der Unterstützung von Frauen, Jugendlichen, älteren ArbeitnehmerInnen, Behinderten und anderen Menschen, die auf besondere Schwie-

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Soziale Errungenschaften der EU rigkeiten bei der Arbeitssuche stoßen, auch auf die Unterstützung von Unternehmen und ArbeitnehmerInnen bei der Anpassung an Strukturveränderungen. Dies soll durch die Förderung von Innovation am Arbeitsplatz, lebensbegleitendem Lernen und der Mobilität der ArbeitnehmerInnen erfolgen. Auch der gegenwärtige Programmzyklus des ESF (2014–2020) richtet sich eng an der Europa-2020-Strategie aus. In diesem Rahmen werden rund 80 Milliarden Euro – fast 10 % des EU-Haushaltes – für Projekte zur Beschäftigungsförderung eingesetzt. Die Finanzierung wird für spezifische prioritäre Bereiche bewilligt. Eckpunkte der neuen Förderperiode sind u. a.: xx ca. 25 % der gesamten Kohäsionsmittel sind dem ESF zur Verfügung zu stellen; xx mind. 20 % der gesamten ESF-Mittel sind im Bereich der sozialen Eingliederung zu verwenden; xx Förderung der Gleichstellung von Männern und Frauen ist in allen Maßnahmen zu verfolgen; xx der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit wird besonderes Augenmerk geschenkt (Bereitstellung gesonderter Mittel in Regionen mit einer Jugendarbeitslosigkeit von über 25 %); xx Unterstützung von Anstrengungen der Mitgliedstaaten zur Qualität der öffentlichen Verwaltung. Die Umsetzung der ESF-Maßnahmen vor Ort erfolgt über Projekte, die von verschiedenen öffentlichen und privaten Trägern beantragt und durchgeführt werden. Dazu gehören auch Gewerkschaften oder Betriebsräte.

Bedingungen für ein soziales Europa schaffen Trotz der Bemühungen hin zu gemeinsamen Beschäftigungsinitiativen, der Einführung von Mindeststandards im Bereich der ArbeitnehmerInnenrechte und der Lancierung vielfältiger sozialpolitischer Maßnahmen bleibt die „europäische Sozialunion“ noch immer ein fernes Ziel.

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Bedingungen für ein soziales Europa schaffen

6.6

Ein Grund dafür ist gewiss die marktwirtschaftlich vorgegebene Ausrichtung der Grundlagenverträge. Sie stellen primär die grenzüberschreitenden Unternehmen und Konzerne und nicht die ArbeitnehmerInnen und die international agierenden GewerkschafterInnen in den Mittelpunkt. Sämtliche europäischen Gewerkschaftsverbände wie auch der EGB suchen zurecht nach mehr Einflussmöglichkeiten in die Entscheidungen der Union. Eine damit verbundene noch stärkere Demokratisierung der EU und ihrer Organe ist jedenfalls eines der Vorhaben, die zum sozialen Europa führen können. Mehr Rechte für ArbeitnehmervertreterInnen und eine weitere Aufwertung transnationaler Demokratie (wie sie etwa europäische Bewegungen und das Europäische Parlament verkörpern) könnten wichtige Instrumente sein. Auf diese Weise könnten auch von der Kommission Initiativen eingemahnt werden, die den Interessen der ArbeitnehmerInnen mindestens ebenso entsprechen wie jenen der Unternehmen. Ebenso muss aber die Sozialpartnerschaft auf europäischer Ebene noch stärker Fuß fassen. Der soziale Dialog muss in Europa auf Basis aller Sektoren verstärkt und ausgebaut werden. Gerade in Zeiten einer Wirtschaftskrise muss sich die EU als Krisenmanagerin etablieren, die hinter den europäischen ArbeitnehmerInnen steht und nicht hinter den ManagerInnen der großen Konzerne. Die nicht zuletzt auf europäischer Ebene vorangetriebene Politik neoliberaler „Reformen“ hat dazu geführt, dass die Weltwirtschaftskrise und ihre Folgen besonders starken Niederschlag in Europa gefunden haben. Die Deregulierung der Finanz- und Kapitalmärkte unter Zuhilfenahme der Kapitalverkehrsfreiheit, der Steuerwettbewerb und der durch die Marktfreiheiten betriebene Wettbewerb zur Absenkung rechtlicher Schutzstandards hat die europäische Wirtschaft verletzlich gemacht. Das über das herrschende Binnenmarktmodell ermöglichte Lohndumping der Unternehmen und die gemeinsame Wirtschafts- und Währungsunion ohne ­Sozialund Transferunion haben die ungleiche Entwicklung in, aber auch zwischen den Ländern Europas beschleunigt und somit die Ursachen der Krise geschaffen. Vor diesem Hintergrund sind Reformen dringend geboten. Vor allem das weitgehende Scheitern der so genannten Lissabon-Strategie sowie die notwendige Umsetzung der EU 2020-Ziele (siehe Anhang Seite 98) verlangen einen An-

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Soziale Errungenschaften der EU stoß für eine Trendumkehr in der europäischen Politik. Wir fordern, dass endlich die Bedingungen für ein soziales Europa geschaffen werden. Zu diesen Bedingungen sind aus heutiger Sicht jedenfalls die folgenden zu ­zählen: ➔➔ Gewerkschaftliche Grundrechte vor den Freiheiten des Binnenmarktes In einigen Urteilen der jüngsten Zeit hat der EuGH die Binnenmarktfreiheiten tendenziell über den Schutz der ArbeitnehmerInnen und soziale Grundrechte gestellt (insbesondere Fälle Laval, Viking und Rüffert, siehe oben EuGH). Es bedarf einer Richtungsänderung in der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs. Wichtiges Signal der europäischen Politik an den EuGH könnte es sein, ein „Protokoll für den sozialen Fortschritt“ im Primärrecht der EU zu verankern, das festlegt, dass Bestimmungen zur Freizügigkeit unter Berücksichtigung der Grundrechte auszulegen sind. Im Fall des Konflikts sollen (soziale) Grundrechte Priorität gegenüber Marktfreiheiten genießen. Mit einer Änderung der Entsenderichtlinie sollten die einzelstaatlichen kollektivvertraglichen Gestaltungsmöglichkeiten und die grenzüberschreitende Durch­ setzung der Rechte besser abgesichert werden. ➔➔ Maßnahmen gegen Lohn- und Sozialdumping bei grenzüberschreitendem Einsatz von ArbeitnehmerInnen Europäische Unternehmen nutzen das Lohngefälle und die unterschiedlichen Schutzstandards in Europa, indem sie legal, oft aber auch illegal ArbeitnehmerInnen in andere Länder entsenden und dabei das Schutzniveau der Zielländer unterlaufen. Dabei können sie auch ArbeitnehmerInnen aus Drittländern vorübergehend nach Österreich entsenden. Wir kämpfen dafür, dass KollegInnen aus verschiedenen Ländern nicht gegeneinander ausgespielt werden und setzen uns dafür ein, dass gleicher Lohn und gleicher Schutz am gleichen Ort gelten. Daher sind folgende Maßnahmen angezeigt: xx Eine Änderung der Entsenderichtlinie hat sicherzustellen, dass ArbeitnehmerInnen, die zur vorübergehenden Tätigkeit nach Österreich entsandt werden, grundsätzlich und auch tatsächlich den gleichen Arbeitsbedingungen wie inländische ArbeitnehmerInnen unterliegen (Prinzip des gleichen

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Bedingungen für ein soziales Europa schaffen

6.6

Entgelts und gleicher Arbeitsbedingungen für die gleiche Arbeit am gleichen Ort). xx KollegInnen, die ihre illegale Beschäftigung oder ihre unzulässigen Ar­ beitsbedingungen melden oder anzeigen oder die eine Beschäftigung und Bezahlung nach den Bestimmungen der Entsende-Richtlinie einklagen, müssen europaweit unter besonderen Schutz (Stichwort Whistleblower) gestellt werden. xx Bei grenzüberschreitenden Tätigkeiten von ArbeitnehmerInnen müssen die gleichen Arbeitsbedingungen wie für inländische Beschäftigte gelten, um Lohn- und Sozialdumping zu verhindern, und es ist eine effektive behördliche Kontrolle der Lohn- und Arbeitsbedingungen aller (grenzüberschreitend tätiger und inländischer) ArbeitnehmerInnen zu gewährleisten. Das Lohn- und Sozialdumpingbekämpfungsgesetz in Österreich könnte zu einem Modell für ganz Europa werden. xx Die Rechtsverfolgung im Ausland ist durch europaweite Regelung der grenz­über­schreitenden Zustellung von Schriftstücken von Verwaltungsbehörden und eine europaweite Vollstreckung von Verwaltungsentscheidungen zu sichern. xx Es muss gewährleistet werden, dass es sich bei der Entsendung von Drittstaatsangehörigen nur um tatsächlich am Arbeitsmarkt des Herkunftslandes (des Entsendestaates) integrierte ArbeitnehmerInnen handelt. xx Um die strukturellen Gründe des Lohn- und Sozialdumpings zu beseitigen, müssen auf europäischer Ebene Maßnahmen gesetzt werden, welche die ungleiche Wirtschaftsentwicklung der Mitgliedstaaten bekämpfen und ein hohes arbeitsrechtliches und soziales Schutzniveau in ganz Europa verwirklichen helfen. ➔➔ Hohe europäische Standards für alle ArbeitnehmerInnen Mit dem Abschluss der Leiharbeitsrichtlinie und den Nachbesserungen bei der Richtlinie zum Europäischen Betriebsrat sind wichtige Schritte gelungen, um europaweit Mindeststandards zum Schutz der ArbeitnehmerInnen festzulegen. Die Diskussion um die Arbeitszeitrichtlinie hat die Gefahr eines Unterlaufens des

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Soziale Errungenschaften der EU europäischen Sozialmodells durch individuelles Außerkraftsetzen von Mindeststandards aber nur zu deutlich aufgezeigt. Viele „sozialpolitische“ Initiativen der letzten Jahre verfolgten in Wirklichkeit wirtschaftspolitische Ziele, wie insbesondere die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen sollte daher wieder in den Mittelpunkt europäischer Sozialpolitik gerückt werden. Zu fordern sind xx ein soziales Aktionsprogramm mit dem Ziel der Verbesserung der Lebensund Arbeitsbedingungen; xx der Ausbau europaweiter sozialer Mindeststandards, um den Herausforderungen eines europäischen Arbeitsmarktes im Interesse der ArbeitnehmerInnen zu begegnen; xx das Unterlaufen des europäischen Sozialmodells durch individuelles Außerkraftsetzen („opt out“) von Mindeststandards muss verhindert werden; xx Initiativen zum Thema Qualität der Arbeit, sodass die Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Mittelpunkt steht (im Unterschied etwa zu angebotsorientierten Konzepten wie Employability, Making Work Pay oder Flexicurity). ➔➔ Steuerwettbewerb in der EU – Maßnahmen gegen das Steuerdumping Die Harmonisierung der direkten Steuern (dazu zählen u.a. die Einkommensteuer und die Körperschaftsteuer für Unternehmen) ist im Gegensatz zu den indirekten Steuern (u.a. Mehrwertsteuer, Energiesteuern inkl. Mineralölsteuer und Tabaksteuer) im EU-Vertrag nicht ausdrücklich geregelt. Nettoempfänger aus dem EU-Budget verschaffen sich durch steuerliche Maßnahmen einen Vorteil, um einen schädlichen Steuer- und Standortwettbewerb mit einer Spirale nach unten zu betreiben. Um im Steuerbereich eine Wettbewerbsverzerrung zu bekämpfen, muss der derzeitige Steuerwettbewerb innerhalb der Europäischen Union beendet werden. Dies erfordert: xx möglichst weitreichende EU-weite Harmonisierung (Angleichung) der Unternehmensbesteuerung, jedenfalls der Körperschaftsteuer, sowohl in

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Bedingungen für ein soziales Europa schaffen

6.6

Hinblick auf die Gewinnermittlungsvorschriften als auch auf die Festlegung eines Mindestsatzes. ➔➔ Eine Wirtschaftspolitik für Wachstum und Beschäftigung – Ausrichtung der Geldpolitik auf Wachstum xx Die Auswirkungen der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise zeigen einmal mehr die Notwendigkeit einer grundlegenden Änderung der EU-Wirtschaftspolitik. Sie muss besser koordiniert und flexibler gehandhabt werden. Zu diesem Ziel ist erforderlich: xx Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts z.B. durch die Einführung einer „goldenen Regel“ im Zuge der Defizitberechnung. Damit sollen langfris­ tige öffentliche Zukunftsinvestitionen für Wachstum und Beschäftigung nicht auf das Maastricht-Defizit angerechnet werden, da diesen auch langfristige volkswirtschaftliche Erträge gegenüberstehen. xx In die Bestimmungen zur Wirtschafts- und Währungsunion im Allgemeinen und in das Mandat der EZB im Besonderen hat die Förderung von Wachstum und Beschäftigung stärker Eingang zu finden. ➔➔ Ein umfassendes europäisches Konjunktur- und Investitionsprogramm in der Höhe von bis zu 2 % des EU-BIP pro Jahr. ➔➔ EU-Budget für Wachstum und Beschäftigung Auch im EU-Haushalt werden falsche Prioritäten gesetzt. Die Schwerpunkte Wachstum, Beschäftigung und Soziales sind auch in der neuen Finanzperiode weiterhin unterdotiert (d. h. im mehrjährigen Finanzrahmen der EU 2014 bis 2020). Das EU-Budget ist nach wie vor agrarlastig. Mit dieser Haushaltsstruktur können die Herausforderungen, denen sich die EU stellen muss, nicht bewältigt werden. Wir fordern xx die Umschichtung des Haushalts auf die Schwerpunkte Wachstum, Beschäftigung und Soziales; xx die Aufwertung des Europäischen Sozialfonds (ESF): Er soll außerhalb der Strukturpolitik eigenständig agieren können und finanziell höher dotiert

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Soziale Errungenschaften der EU werden. Der Fonds soll all jenen zur Verfügung stehen, die bei der Bekämpfung von Problemen am Arbeitsmarkt (wie hohe Arbeitslosigkeit, hohe Zahl an SchulabbrecherInnen, geringe Weiterbildungsquoten – also bei der Erreichung von Zielen wie sie im Rahmen von EU 2020, siehe Anhang S. 98, vorgesehen sind) Unterstützung benötigen. xx Vermehrte Mittel zur Bekämpfung der während der Krise unerträglich stark gewachsenen Jugendarbeitslosigkeit (v. a. der europaweiten Jugendgarantie). ➔➔ Regulierung des Finanzsektors Europaweit kam und kommt es zum massiven Einsatz öffentlicher Mittel, um den Finanzsektor zu stabilisieren. Dabei sind viele Mitgliedstaaten gezwungen, beträchtliche Risiken auf sich zu nehmen. Entgegen einer verbreiteten Darstellung ist die sogenannte Staatsschuldenkrise die direkte Folge der Finanz- und Weltwirtschaftskrise. Während die Staatsschulden seit der Einführung des Euros zurückgegangen sind, explodierten sie ab 2008 durch die Kosten der Krise. Es ist daher unbestritten, dass alles getan werden muss, um die momentane Situation in Zukunft zu vermeiden. Die weitgehende Regellosigkeit auf den Finanzmärkten, aber auch der Ansatz der Selbstregulierung haben sich als Irrwege erwiesen. Grundsätzlich müssen in Zukunft die Interessen der europäischen ArbeitnehmerInnen und Konsu­ mentInnen absolute Priorität vor den Interessen einzelner Finanzmarktakteure haben. Aus Sicht der ArbeitnehmerInnen ist zu fordern: xx eine Stärkung der transnationalen Finanzmarktaufsicht. Unternehmen und AnlegerInnen sollen nicht von Regulierungsunterschieden zwischen den Staaten profitieren können (als Teil einer zu schaffenden Bankenunion); xx Eine weitgehende Neugestaltung des Finanzsektors ist anzustreben. Zu denken ist an die Gründung einer europäischen Aufsicht über Ratingagenturen, die Überprüfung der Bilanzregeln und der Eigenkapitalforderungen für Banken, die Überprüfung der Anreizstrukturen der Entlohnungs­

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Bedingungen für ein soziales Europa schaffen

6.6

systeme, die Beschränkung der Rohstoffspekulation für institutionelle Anleger, die Einführung einer Finanztransaktionssteuer, die Regulierung von Hedgefonds und Private-Equity-Fonds, die Beschränkung des Verkehrs mit Offshore-Zentren und Steueroasen, etc. etc. xx Ziele der Neuregulierung müssen die Schaffung von Transparenz und ­Stabilität sein. Es gilt, die Finanzierung der Realwirtschaft mittels Krediten sicherzustellen. Schließlich ist ein solider Finanzsektor eine notwendige ­Basis für Wachstum und Beschäftigung der europäischen Wirtschaft ­insgesamt. ➔➔ Öffentliche Dienstleistungen europaweit absichern, nachhaltige Energiepolitik Auch sensible öffentliche Dienstleistungen sollen (insbesondere nach dem Willen der Kommission) nur noch nach Wettbewerbskriterien erbracht werden. Ausschreibungen werden selbst in hierfür ungeeigneten Sektoren propagiert (z. B. bei sozialen Diensten). Aus ArbeitnehmerInnensicht sind die Erfahrungen mit der Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen (von wenigen Ausnahmen abgesehen) indessen negativ. Sie war überwiegend von Beschäftigungsrückgang und schlechterer Beschäftigungsqualität begleitet. Besonders bedenklich ist ­zudem die Entwicklung am europäischen Energiemarkt, die von Kapazitäts­stagnation, Investitionskürzungen, enormen Preisvolatilitäten und Unsicherheiten bei den Energieimporten geprägt ist. Gleichzeitig steigt der Energiebedarf konstant an. xx Im Lichte der bisherigen Erfahrungen sollte vorerst von weiteren sektoralen Marktöffnungen Abstand genommen werden (Moratorium in der Liberalisierungspolitik). xx Ein Rechtsrahmen für Dienste von allgemeinem (wirtschaftlichem) Interesse soll Grundsätze für die Erbringung dieser Leistungen festschreiben wie z. B. xx das Primat funktionierender öffentlicher Dienstleistungen vor den Prinzipien des Binnenmarktes und des Wettbewerbs oder die Gewährleistung eines allgemeinen, diskriminierungsfreien, flächendeckenden und erschwinglichen Zugangs zu den betreffenden Leistungen;

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Soziale Errungenschaften der EU xx wirksame Maßnahmen für eine sozial, wirtschaftlich und ökologisch nachhaltige Energiepolitik im Interesse der ArbeitnehmerInnen und KonsumentInnen: Energiekosten, Nachhaltigkeit, Energieeffizienz und die Förderung von Wachstum und Beschäftigung sind dabei integriert zu betrachten. ➔➔ Erweiterung nur mit Berücksichtigung der Aufnahmefähigkeit der EU Die seit 2004 erfolgte Verdoppelung der Mitgliedstaatenanzahl hat den inneren Zusammenhalt der EU gefährdet. Daher ist bei künftigen Beitritten die Integrationsfähigkeit der EU umfassend zu berücksichtigen und die Kandidaten haben die Aufnahmekriterien vollständig und lückenlos zu erfüllen. Zukünftige Erweiterungen der EU sind davon abhängig zu machen, ob die Union auf ihrem Weg zur sozialen und wirtschaftlichen Weiterentwicklung entsprechende Fortschritte macht. Die Aufnahmefähigkeit der EU soll von folgenden sozialen Aspekten abhängig gemacht werden: xx Verkleinerung des Wohlstandsgefälles mit der Zielvorgabe, dass alle EUStaaten mindestens 50 % des EU-Durchschnitts-BIP erreicht haben, bevor weitere Staaten aufgenommen werden können; xx deutlicher Rückgang der EU-Arbeitslosenquote; xx abnehmende EU-Armutsquote; xx politische Einigung über einen zukunftsorientierten EU-Haushalt. ➔➔ Internationale Sozial- und Umweltstandards müssen gesichert werden Gerade in Zeiten der Globalisierung geht der Wettbewerb mit Unternehmen aus weniger entwickelten Staaten – sei es außerhalb oder innerhalb der EU – häufig auf Kosten der Sozial- und Umweltstandards, damit auch insbesondere zu Las­ ten der ArbeitnehmerInnen in diesen Staaten. Sozial- und Lohndumping kann zur Auslagerung von Produktionsstätten führen. Die zunehmende Internationalisierung der Unternehmen widerspricht nationalen Strategien, denn nur auf multinationaler Ebene kann in Hinkunft Einfluss auf die Entscheidungen von Konzernen ausgeübt werden.

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6.6

Aus ArbeitnehmerInnensicht ist daher u.a. zu fordern: xx stetige Angleichung der internationalen Lohn- und Sozialstandards an das Niveau der weiter entwickelten Staaten; xx Ausbau von Entwicklungsprogrammen zur Steigerung der Wohlstandsniveaus in weniger entwickelten Staaten; xx internationale ArbeitnehmerInnenrechte sichern und ausbauen; xx Aufnahme von bindenden Umwelt- und Sozialklauseln (gegen Kinder-, Zwangsarbeit, die Diskriminierung von Frauen und GewerkschafterInnen sowie zum Schutz der fundamentalen Menschenrechte) in sämtliche internationale Wirtschafts- und Handelsverträge der EU mit Drittstaaten. Doch all die genannten Maßnahmen und Ziele setzen eines ganz besonders ­voraus: die Vertiefung der europaweiten und internationalen Zusammenarbeit als gelebte Solidarität unter ArbeitnehmerInnen und Gewerkschaften. ➔➔ Globalisierung und Freihandel, TTIP Die multilaterale Freihandelspolitik ist aufgrund des Scheiterns von großen Regulierungen wie etwa im Rahmen der WTO zu bilateralen Freihandelsabkommen übergegangen. Für die Europäische Union werden Freihandelsabkommen durch die jeweiligen Mandate der Mitgliedsstaaten von der EU-Kommission verhandelt. Die laufenden Verhandlungen zu TTIP (EU-USA-Freihandelsabkommen), TISA (Dienstleistungsabkommen) und CETA (EU-Kanada-Abkommen) zeigen eine Deregulierungs- und Liberalisierungsagenda auf. Demokratische Entscheidungsprozesse werden ebenso durch die Einschränkung weiterer gesetzlicher Regulierungen in den Abkommen ausgehöhlt. Sonderklagsregelungen für Konzerne durch Schiedsgerichtsmechanismen sind jedenfalls abzulehnen.

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Anhang Europa-2020-Strategie und Rückblick Lissabon-Strategie und Ausblick wirtschaftspolitische Steuerung in der EU ➔➔ Rückblick Lissabon-Strategie Im Jahr 2000 hatte der Europäische Rat von Lissabon eine umfassende „Reform­ agenda“ beschlossen (Lissabon-Strategie). Kernziel dieser Agenda für die wirtschaftliche und soziale Erneuerung Europas war es, die EU bis 2010 zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen – einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen“. Die Bilanz nach 10 Jahren LissabonStrategie fällt ernüchternd aus, das Ziel, bis 2010 Vollbeschäftigung in der EU zu erreichen wurde neben den meisten anderen Zielen (wie z.B. 60 % Beschäftigungsquote der Frauen, 50 % Beschäftigungsquote älterer ArbeitnehmerInnen oder das 3-%-Ziel der BIP-Ausgaben für Forschung und Entwicklung in der EU) bedauerlicherweise nicht verwirklicht. ➔➔ EUROPA-2020-Strategie Im Juni 2010 beschloss der Europäische Rat die Leitlinien für eine Nachfolgestrategie bis 2020: die Ziele der „EU-2020-Strategie“. Im Rahmen der EU2020-Strategie wurden fünf Kernziele für die gesamte EU vereinbart, um die Fortschritte ihrer Verwirklichung messbar zu machen. Diese sollen in ­jedem EUMitgliedstaat in nationale Ziele umgesetzt werden. Neben den fünf Kernzielen umfasst die EU-2020-Strategie außerdem Kernelemente wie eine Prioritätensetzung für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum für eine europäische soziale Marktwirtschaft im 21. Jahrhundert, die effektivere Umsetzung der Strategie durch Festlegung der Ziele für jeden Mitgliedstaat in einem nationalen Reformprogramm (NRP) sowie die Schaffung eines Europäischen Semesters zur Verstärkung der wirtschaftspolitischen Überwachung. ➔➔ Fünf Kernziele der Europa-2020-Strategie: Es wurden fünf quantifizierbare Kernziele beschlossen, die EU-weit bis 2020 ­erreicht werden sollen:

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xx Beschäftigung: Unter den 20- bis 64-jährigen Frauen und Männern wird eine Beschäftigungsquote von 75 % angestrebt; xx Forschung und Entwicklung: Steigerung der Ausgaben für Forschung auf 3 % des BIP; xx Klimawandel und Energie: Verringerung der Treibhausgasemissionen um 20 % gegenüber 1990 (u. U. um 30 %), Steigerung des Anteils der erneuerbaren Energien am Gesamtenergieverbrauch auf 20 % sowie eine Erhöhung der Energieeffizienz auf 20 %; xx Bildung: Reduktion des Anteils der SchulabbrecherInnen auf unter 10 %, mindestens 40 % der 30- bis 34-Jährigen sollen über einen Hochschulabschluss oder einen gleichwertigen Abschluss verfügen; xx Armut und soziale Ausgrenzung: die soziale Eingliederung soll insbesondere durch Verminderung der Armut gefördert werden, mindestens 20 Millionen Menschen sollen vor dem Armutsrisiko bewahrt werden. Die Fortschritte bei der Verwirklichung der Kernziele sollen regelmäßig überprüft werden. Jeder Mitgliedstaat setzt diese EU-weiten quantitativen Ziele in konkrete nationale Zielwerte um, die seiner Situation und den Möglichkeiten entsprechen. Die inhaltliche Ausgestaltung der Reformmaßnahmen bleibt daher den Mitgliedstaaten überlassen. ➔➔ Fünf nationale Kernziele für Österreich: Entsprechend den Beschlüssen der Europäischen Räte vom März und Juni 2010 hat die österreichische Bundesregierung im Oktober 2010 für ­Österreich folgende fünf nationale Kernziele vereinbart: xx Beschäftigungsziel: Unter den 20- bis 64-jährigen Frauen und Männern wird eine Beschäftigungsquote von 77 bis 78 % angestrebt. Der Fokus liegt vor allem auf der Erwerbsbeteiligung älterer ArbeitnehmerInnen sowie der Beschäftigung von Frauen und (jugendlichen) MigrantInnen. xx Forschungs- und Entwicklungsziel: Bis 2020 soll die F-&-E-Quote am BIP 3,76 % betragen, die Aufwendungen dafür sollen zumindest zu 66 % (möglichst zu 70 %) von privater Seite getragen werden.

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Anhang xx Energieziel: Die Maßnahmenvorschläge der Energiestrategie Österreichs gelten als Basis für die Erarbeitung eines energie- und klimapolitischen Gesamtkonzepts, das die bestehenden Zielsetzungen auf EU-Ebene berücksichtigt. xx Bildungsziel: Senkung der SchulabbrecherInnenquote auf 9,5 % und Erhöhung des Anteils der 30- bis 34-Jährigen mit abgeschlossenem Hochschulstudium oder gleichwertigem Abschluss auf 38 %. xx Ziel zur Verminderung von Armut und sozialer Ausgrenzung: 235.000 Menschen sollen vor dem Armutsrisiko bewahrt werden. Dieses Ziel soll mit dem Beschäftigungsziel in enger Verbindung stehen - der Fokus liegt auf der Beschäftigungssteigerung und Eingliederung in den Arbeitsmarkt, insbesondere von erwerbsfähigen, arbeitsmarktfernen Personen. Angesichts der aktuellen Herausforderungen in der EU wäre eine weitaus stärkere sozialpolitische Ausrichtung der EU-2020-Strategie sinnvoll. Immerhin verfolgt sie quantitativ messbare Ziele wie etwa zur Verminderung von Armut in Europa, was grundsätzlich positiv zu bewerten ist. Die Realität der derzeitigen neoliberalen Sparpolitik in der Europäischen Union geht jedoch leider in eine völlig andere Richtung und lässt befürchten, dass es sich in der Praxis für viele Mitgliedstaaten nur um schöne „Überschriften“ handeln wird. Ob bis zum Ende dieses Jahrzehntes die Ziele von EU-2020 diesmal verwirklicht werden, bleibt daher fragwürdig. Eine gemeinsame europäische Strategie für mehr Wachstum und qualitativ hochwertige Beschäftigung in der Europäischen Union ist gefragt. Notwendig dafür ist jedoch eine grundlegende Neuorientierung in der Wirtschaftspolitik und ein makroökonomischer Kurswechsel, um die europäische Wirtschaft auf den Weg nachhaltigen Wachstums mit Stärkung der Binnennachfrage und Vollbeschäftigung zu bringen – hin zu einem sozialen Europa. ➔➔ Wirtschaftspolitische Steuerung in Europa (Economic Governance) Die 2011/2012 in Kraft getretenen Rechtsakte zur wirtschaftspolitischen Steuerung in der EU („Economic Governance“) und der im Laufe des Jahres 2012 auf zwischenstaatlichem Weg verabschiedete Fiskalpakt weisen jedoch in

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eine völlig andere Richtung und bereiten den Weg Europas zu einer „Sparunion“ weiter auf. Eine Verschärfung des sozialen Kahlschlages ist die Handschrift der Maßnahmen zur „wirtschaftspolitischen Steuerung“ in der EU. Das Gesetzespaket enthält eine Radikalisierung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes mit stärkeren Sanktionsmaßnahmen sowie eine strengere Überwachung der Haushaltspolitik und der allgemeinen Wirtschafts- und Strukturreformpolitik in den Mitgliedstaaten. Diese schränken eine antizyklische Fiskalpolitik ein und bedeuten Kürzungen im öffentlichen Bereich und Sozialabbau. Das dadurch ausgelöste gleichzeitige „Sparen“ in Europa droht das Wirtschaftswachstum auf Dauer zu gefährden und damit die durch die Krisenkosten (z.B. Bankenrettung) explodierten Schuldenstände weiter zu erhöhen. Hinzu kommt ein neuer Mechanismus zur Bekämpfung „makroökonomischer Ungleichgewichte“, die vor allem auf Indikatoren wie Wettbewerbsfähigkeit, Leistungsbilanzen oder Preis- und Kostenentwicklungen abstellen. Diese Vorschläge werden Staaten mit Leistungsbilanzdefiziten weiter unter Druck setzen, um über die Senkung der Kosten (Deregulierungen, niedrigere Löhne) „wettbewerbsfähiger“ zu werden. Ein Erfolg des Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) ist jedoch die Verankerung von Schutzklauseln gegen Eingriffe in die Kollektivvertragsautonomie und Lohnfindungssysteme in dem Gesetzespaket zur wirtschaftspolitischen Steuerung. Die Umsetzung dieses Gesetzespakets kommt auf uns zu, der Weg, der in die Wirtschaftskrise geführt hat, wird dadurch fortgesetzt werden und ein „Hinauswachsen“ aus der Wirtschaftskrise mit verstärkter Binnennachfrage und antizyklischer Gegensteuerung in den Mitgliedstaaten der EU erschweren. Derzeit mehren sich die Stimmen in Europa, dass es dringend einen Kurswechsel in Richtung eines europaweiten Konjunktur- und Investitionspaktes bedarf. Das wäre ein notwendiger Schritt wieder hin zu einem sozialeren Europa statt einer neoliberalen Wettbewerbsunion. Die Europäische Gewerkschaftsbewegung steht jedenfalls vor wichtigen Aufgaben, denn sie hat bestehende soziale Errungenschaften im Interesse der europäischen ArbeitnehmerInnen zu verteidigen aber auch weiter auszubauen.

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