Lernen um zu kämpfen - Kämpfen um zu siegen

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REIHE ZEITGESCHICHTE UND POLITIK

MARCUS STROHMEIER

LERNEN UM ZU KÄMPFEN KÄMPFEN UM ZU SIEGEN Josef Luitpold Stern (1886-1966)

www.sozialarchiv.at


Die Reihe Zeitgeschichte und Politik wird herausgegeben von Marcus Strohmeier im Auftrag des Verbandes Ăśsterreichischer gewerkschaftlicher Bildung (VĂ–GB) und in Zusammenarbeit mit dem Archiv der sozialen Bewegungen.

Widmung Luitpold Sterns an einen Leser (Archiv der sozialen Bewegungen)


Josef Luitpold Stern

INHALT 4

Vorwort

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Aus dem Leben Josef Luitpold Sterns 5 6 7 9 13 14 17 18

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Aus den Werken Josef Luitpold Sterns 22 24 42

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Kindheit Student und jugendlicher Lehrer Überzeugter Antimilitarist „Verändere Dich!“ Auf der Flucht Die amerikanischen Jahre Neuanfang in der Heimat „Mache Deinen Willen lebendig!“

„Das Leid der Kinder“ (1908) „Der große Gefangene“ (1923) „Für die Republik Österreich“ (1944)

Bibliographie

Impressum Text: Marcus Strohmeier Fotos und Materialien: Pressearchiv des ÖGB, Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung, Archiv der sozialen Bewegungen Gestaltung: Katharina Bruckner Wien 2011, 1. Auflage

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VORWORT „Und es war wert, Mensch zu sein“, schreibt Josef Luitpold Stern in einem seiner Gedichte und beschreibt dabei sein eigenes Streben wie auch seine Bescheidenheit. Auch 125 Jahre nach seiner Geburt und im 45. Jahr seines Todes ist sein Schaffen für die Österreichische Arbeiterbewegung und die Erwachsenenbildung unvergessen. Seine zahlreichen literarischen Werke finden sich heute in fast allen Bibliotheken unseres Landes und seine Ausführungen im Bereich der Bildungsarbeit bleiben eine anhaltende Motivation für alle BildungsfunktionärInnen unserer Bewegung. Die Revolutionierung zahlreicher Aspekte der Bildungs- und Kulturpolitik sind das Ergebnis des erfüllten Lebens von Luitpold Stern. Dazu zählen die Gründung der Arbeiterhochschule, dem Vorläufer der heutigen Sozialakademie, der Aufbau des Arbeiterbüchereiwesens, das den modernen Bibliotheken in ganz Österreich Modell gestanden hat, oder die Inspiration Gedichte zum Aufzeigen sozialer Missstände zu verwenden.

Die nachfolgende Biographie ist allerdings keine theoretische Auseinandersetzung mit dem umfangreichen Werk von Luitpold Stern, sondern der Versuch, den verschlungenen Pfaden eines stets nach vorne strebenden Lebens zu folgen. Besonders fasziniert dabei der ungebrochene Wille Sterns auch in den schwierigsten Situationen niemals aufgegeben zu haben. Es scheint, als habe ihn jede Herausforderung, in seinem Bestreben die Welt zu verbessern, nur noch gestärkt. Ergänzt wird die kurze fragmentarische Aufzeichnung seines Lebensweges, eine umfassende biographische Aufarbeitung fehlt bisher, durch Zitate von MitstreiterInnen und ZeitzeugInnen, sowie von Gedichten, die aus der Feder Sterns stammen. Im Anhang werden zudem drei, aus historischer Sicht interessante Reden und Vorträge wiedergegeben. Für die Erstellung dieser Publikation sei vor allem Maria Rathgeb für die Vorarbeiten und das Lektorat, dem ÖGB-Pressearchiv, dem Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung und dem Archiv für soziale Bewegungen für die zur Verfügung gestellten Materialien und Fotos gedankt. Marcus Strohmeier, Wien im März 2011

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Josef Luitpold Stern

AUS DEM LEBEN JOSEF LUITPOLD STERNS KINDHEIT „Am 16. April 1886 in Wien geboren als Kind eines großen, starken, Gerechtigkeit ohne Rücksicht liebenden Mannes und einer kleinen, feinfühligen, der Dichtung und Philosophie recht zugeneigten Frau. Er wienerisch, aber ungarischen Geblüts – sie vom Lande, eine Mährin, die deutsch und tschechisch spricht.“ So beschreibt Josef Luitpold Stern selbst seine Eltern. Beide haben auf sein späteres Schaffen und seinen Lebensweg einen starken und nachhaltigen Einfluss. Besonders der Vater prägt Stern aufgrund seiner proletarischen Wurzeln. Das aus einer jüdischen Pressburger Familie stammende Familienoberhaupt war ursprünglich Steinmetz und wird aufgrund seiner aktiven Mitarbeiter in der noch jungen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung Administrator der 1889 gegründeten „Arbeiter-Zeitung“. Eng ist der Familienalltag mit der Arbeit der Partei verbunden. Schon als Vierjähriger nimmt Luitpold Stern auf den Schultern seines Vaters an der ersten 1. Mai Demonstration des Jahres 1890 teil. Die enge Bindung zur Arbeiterbewegung wird ihm durch den Vater vermittelt, die Liebe zu Literatur und Dichtung stammen von der Mutter. Diese Eigenschaften wer-

Titelblatt der ersten österreichischen Maifestschrift 1890 (Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung)

den ihn Zeit seines Lebens nicht mehr loslassen. Bereits mit fünf Jahren kann er Geige spielen und auch im Schulalltag fällt der junge Stern durch seine aktive Mitarbeit und Kreativität auf. Anders als vielen Proletarierkindern wird ihm ein Besuch in einem Gymnasium ermöglicht. Als er fünfzehn Jahre alt wird stirbt sein Vater und mit dessen Tod muss Luitpold finanziell zum Überleben der Familie beitragen. So unterrichtet er als Hauslehrer, für magere 80 Heller die Stunde, weniger begabte Kinder. Trotz Arbeit und Schule findet Stern noch Zeit sich im „Verband Jugendlicher Arbeiter“ zu engagieren. Auch arbeitet er für das Organ des Verbandes „Der Jugendliche Arbeiter“ als Redakteur.

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durch seine Bildungstätigkeit bekannt. Er hält soziologische Vorträge, beschäftigt sich aber auch in seinen Ausführungen intensiv mit den Themen Kunst und Musik. Weiters beginnt Luitpold Stern in der Volksbühnenbewegung aktiv zu werden. Diese Organisation versucht anspruchsvolles Theater an die arbeitenden Menschen zu vermitteln.

Eine der frühen Wirkungsstätten Sterns, die heutige Volkshochschule Ottakring (Foto: Volkshochschule Ottakring)

STUDENT UND JUNGENDLICHER LEHRER Mit 16 Jahren (1902) veröffentlicht er sein erstes Gedicht. Es ist ein Sonett im Gedenken an den verstorbenen Emile Zola. Kurz darauf werden auch weitere literarische Arbeiten von Stern erstmalig veröffentlicht. Nach dem Abschluss des Gymnasiums inskribiert Stern an der Universität Wien Rechtswissenschaften und wird nach kurzer Zeit Vorsitzender der Wiener sozialistischen Studenten. Und auch hier wird er

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Langsam wird Stern aufgrund seiner vielfältigen Aktivitäten auch unter den seinerzeit führenden Bildungsfunktionären der Sozialdemokratie bekannt. Emil Reich und Ludo Hartmann, beides Vorväter der Erwachsenen- und Volksbildung, werden auf ihn aufmerksam und bieten Stern schließlich die Stelle des Bibliothekars in der soeben gegründeten Abendvolkshochschule im Volksheim Ottakring (heute Volkshochschule Ottakring) an. Diese 1905 eröffnete neue Art der Weiterbildungsstätte ist zur Zeit der Jahrhundertwende einzigartig in Europa. Zahlreiche der damals bedeutendsten linken Gelehrten trugen in den Abendkursen vor. Auch Luitpold Stern wird einer der Vortragenden und hält mehrfach literarische Kurse ab. Dazu gelingt es ihm auch zahlreiche berühmte Literaten wie Robert Musil, Arthur Schnitzler oder Stefan Zweig zu Gastvorträgen einzuladen. Neben seiner beruflichen Tätigkeit im Volksheim wird er auch Schriftführer und Vorstandsmitglied des Trägervereins. Der Ruf Sterns wird nun auch über die Grenzen


Josef Luitpold Stern

Österreich-Ungarns hinaus bekannt. 1909 wird er vom Herausgeber der Zeitschrift „Kunstwart“ nach Dresden als Sekretär berufen. Luitpold folgt dieser Aufforderung und wird rund ein Jahr in Sachsen tätig sein, ehe man ihn wieder für die Arbeiterbildung nach Wien zurückruft. Heimgekehrt nach Wien schreibt Stern im Auftrag des deutschen Verlegers Eugen Diederichs eine gleichnamige Monographie über „Das Wiener Volksbildungswesen“. Die Broschüre ist die erste umfassende Darstellung der Volksbildung in einer europäischen Großstadt. Im Vorwort vermerkt Stern: „Was gegeben werden soll, ist das Bild einer Stadt, in der allen Bewohnern planmäßig Wege zur Bildung bereitet werden.“ Kulturell bleibt Josef Luitpold Stern stets aktiv. Auch musikalisch gelingen ihm immer wieder Erfolge. So wird das von ihm geschriebene und von Chormeister Josef Seyfried vertonte „Trotzlied“ im April 1911 von den Wiener Arbeitersängern uraufgeführt. Trotzlied

Wir heben die Hämmer, wir drehen das Rad und leben doch bitter in Not. Drum ruft in die Welt: Es genieße, wer schafft! Es lebe der Trotz und die Kraft! […] Verzagt nicht, ihr Kinder, ihr Männer, ihr Frau´n, und wie man ins Joch euch schnürt, auch uns will die Erde noch fröhlich schau´n; nur kühn ins Licht marschiert! Wir sprengen die Haft. Es genieße, wer schafft! Es lebe der Trotz und die Kraft!1 Von Robert Danneberg gefragt, wird Josef Luitpold Stern Leiter der Bibliotheksabteilung in der Zentralstelle für das Bildungswesen der deutschen Sozialdemokratie in Österreich (Arbeiterbildungszentrale) und legt damit den Grundstein für das organisierte Arbeiterbibliothekswesen. Diese Grundlagenarbeit gipfelt auch im Verfassen eines Handbuches für Arbeiterbibliothekare. Durch seine Tätigkeit modernisiert er nicht nur das bisherige Bibliothekswesen in Österreich, sondern er zeichnet damit auch für den Aufbau des später weltberühmten Systems der Arbeiterbüchereien im Roten Wien der Zwischenkriegszeit verantwortlich.

Wir pflügen den Grund, wir werfen die Saat, doch andere schneiden das Brot.

ÜBERZEUGTER ANTIMILITARIST

1 Luitpold, Josef: Das Sternbild. Gedichte eines Lebens. Erster Band: Glitzert, Plejaden! Wien, o.J.,

Das kulturelle Engagement Sterns findet mit dem Ausbruch des bis dahin größten

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der sich von den „Hurra-Schreien“ der Militaristen hatte anstecken lassen. „Die Bücher hinein, das Schwert heraus, Schußfreudig die blanke Büchse, Und losgeritten im donnernden Braus, auf die französischen Füchse! Noch steht der Tag im hellen Brand, Doch eilt mit Fahne und Eisen, Wir wollen zur Nach in Engeland Bären und Füchse verspeisen

In den Schützengräben des Ersten Weltkriegs (Foto: ÖGB Pressearchiv)

Völkermordes ein jähes Ende. Der Beginn des Ersten Weltkrieges verhindert auch die Weiterentwicklung des so erfolgreich begonnen Ausbaus des Bibliothekswesens in Österreich. Aber schon warten neue Aufgaben auf Luitpold Stern. Das sozialdemokratische Satireblatt „Glühlichter“ benötigt eine neue Leitung. So übernimmt er das bis dahin politisch eher harmlose Blatt und funktioniert es in eine wirkungsvolle Antikriegszeitschrift um. Der Pazifist Stern setzt literarisch und künstlerisch starke Akzente. Seine Haltung gegenüber dem Krieg ist unveränderbar, Stern zieht auch mit den Literaten, die dem nationalen Patriotismus huldigen, scharf ins Gericht. So trifft die Kritik auch seinen langjährigen Freund Alfons Petzold,

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Alfons Petzold betet sogar: O daß ich könnte jetzt jeder Kugel sein, Die fröhlich zischend ein rotes Menschenherz grüßt. O daß ich könnte jetzt atmen in jeder Säbelklinge, die flammenrasch ein weises Menschenherz küßt“2 Sterns Kritik am blutigen Krieg fällt nicht nur im privaten Schriftverkehr mit Petzold und anderen sehr offen aus, auch in den „Glühlichtern“ nimmt sich der Autor kein „Blatt vor den Mund“. So führen die strenge Zensur und die laufenden Beschlagnahmungen schließlich im April 1915 zur Produktionseinstellung der Zeitschrift.

2 Herlitzka, Ernst K.: Josef Luitpold Stern (18861966). Versuch einer Würdigung. In: Botz, G./ Hautmann, H./Konrad, H./ Weidenholzer, J. (Hrsg.): Bewegung & Klasse. Studien zur österreichischen Arbeitergeschichte. Wien, o.J.


Josef Luitpold Stern

Wenn das Eisen mich mäht, wenn mein Atem vergeht, sollt stumm unterm Rasen mich breiten.“3 Die Kämpfe führen ihn von der Dolomitenfront an den Isonzo und später bis an die Frontlinien der albanisch-makedonischen Grenze. Aber auch in diesen dramatischen Tagen findet Stern Gelegenheit weiter zu schreiben und es gelingt ihm, laufend einige seiner Gedichte und Abhandlungen in den Zeitungen und Zeitschriften in der Heimat zu veröffentlichen. Josef Luitpold Sterns Arbeit war stets eng mit der Gewerkschaftsbewegung verbunden (Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung)

Noch im selben Monat muss Stern zur Armee einrücken, für den Antimilitaristen beginnt eine schwere Prüfung. Zunächst wird er nach Tirol abkommandiert. Im Angesicht eines möglichen Fronteinsatzes schreibt Josef Luitpold das Gedicht „Trotziger Abschied“: „Wenn das Eisen mich mäht, wenn mein Atem vergeht, sollt stumm unterm Rasen mich breiten. Laßt das Wortspiel, ´s war kein Held, der da fiel, ´s war ein Opfer verlorener Zeiten. ´s war einer der nie nach Völkerblut schrie, ´s war ein Bürger erst kommender Zeiten.

„VERÄNDERE DICH!“ Als er im Winter 1918 nach Wien zurückkehrt, versucht er sofort wieder Anschluss an die Arbeiterbewegung zu finden. Noch in Uniform wird er Soldat der soeben gegründeten Volkswehr. Die junge Republik Österreich versucht um die Jahreswende 1918/1919 eine neue demokratische Armee aufzubauen. Den Auftrag dazu erhielt der Staatssekretär für das Heereswesen, Julius Deutsch. Bei einem gemeinsamen Treffen spricht ihn Stern auf dessen Pläne für den Bereich Bildung des jungen Heeres an. Deutsch ist von den Ideen des jugendlichen Stern begeistert und lässt das Reichsbildungsamt der Deutsch-Österreichischen Volkswehr gründen. Luitpold Stern wird Bildungsoffizier und führt parallel seine Tä3 Arbeiter-Zeitung v. 9.07.1915

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Der erste Jahrgang der Arbeiterhochschule, Wien 1926. J.L. Stern 2. Reihe, 1. von links. Aus „Arbeit und Wirtschaft“, 2/1966 (ÖGB Pressearchiv)

tigkeit aus der Vorkriegszeit, die Mitarbeit in der Arbeiterbildungszentrale, fort. Damit verbunden ist auch die Weiterentwicklung des Arbeiterbüchereiwesens. Privat findet Josef Luitpold Stern ebenfalls sein Glück. Im Frühjahr 1919 heiratet er Maria Kaspar und im Herbst desselben Jahres kommt Sohn Hans Martin zur Welt. Doch Kritiker und Neider sorgen dafür, dass Stern die für ihn eigentlich glücklichen ersten Nachkriegsjahre nicht genießen kann.

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Verärgert über das Verhalten von Personen in seinem beruflichen Umfeld verlässt er Wien und nimmt die ihm zuvor angebotene Stelle eines Leiters der Zentralstelle für Bildungswesen der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Tschechoslowakei (DSAP) in Teplitz und später Prag an. 1922 übersiedelt Stern in die Tschechoslowakische Republik und kann in seinem gewohnten Aufgabengebiet weiterarbeiten. Die Zukunft der Bildung der Arbeiterbewe-


Josef Luitpold Stern

aldemokratische Partei und die Freien Gewerkschaften bieten Stern die Leitung der neu gegründeten Arbeiterhochschule an. Diese neue Ausbildungsakademie wird für die besten Kader aus Partei und Gewerkschaft geschaffen. Hier unterrichten neben Karl Seitz, Otto Bauer, Karl Renner, Max Adler und Otto Neurath auch zahlreiche andere namhafte Persönlichkeiten der Arbeiterbewegung. Der Teilnehmer des ersten Jahrganges, Hans Rusinek, erinnert sich:

Politische Publikationen Josef Luitpold Sterns aus der Zwischenkriegszeit (ÖGB Pressearchiv)

gung bleibt auch hier für ihn eine der wichtigsten Aufgaben. Dies spiegelt auch seine Rede am Aussiger Parteitag der DSAP 1923 wider.4 In seinem Referat fordert er mit Nachdruck, die Arbeiterschaft durch verstärkte Bildung mit den notwendigen Instrumenten des Klassenkampfes vertraut zu machen. Seiner eigenen Losung „Verändere Dich“ treu, kehrt Luitpold Stern 1926 wieder nach Österreich zurück. Diesmal wartet eine ganz besondere Aufgabe auf den nun schon erfahrenen Arbeiterbildner. Die sozi-

4 Die Rede auf dem Aussiger Parteitag befindet sich im Anhang dieser Broschüre

„Wir zählen das Jahr 1926. ´Mitten in den bitteren Tagen der sozialen Pest, der Arbeitslosigkeit, begeht das österreichische Proletariat das erste und erhebende Fest der Eröffnung seiner Hochschule…´, so beginnt Luitpold seine Antrittsrede als Rektor der neugegründeten Wiener Arbeiterhochschule am 17. Jänner. Nun war er Lehrmeister und Erzieher an höchster Stelle, die die österreichische Arbeiterschaft nach dem Ersten Weltkrieg zu vergeben hatte. Wird diese Institution der Gesamtarbeiterschaft von Nutzen sein? Sorgfältig wählte Luitpold Lehrplan und Lehrkräfte aus. Sozialdemokratische Partei und Gewerkschaften entsandten die Schüler, und in den kommenden Jahren entstand ein Kader wissenschaftlich geschulter Kräfte für die zukünftige Arbeit in den Kampf- und Kulturorganisationen. Das Schlagwort ´Verändere dich!´, das Luitpold auch heute noch oft seinen Hörern zuwirft, findet sich be-

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„Ich habe Ihnen für die Erkenntnis zu danken, für das sieghafte ´Trotz alledem und alledem´, ´daß der wildeste aller Stürme nicht siegte´, sondern daß wir Rebellen des Lebens blieben und daß wir versuchen dürfen, Wächter zu sein und einige auserwählte Weiser der Sehnsucht! Ich habe Ihnen zu danken seit dem 19.Jänner 1926, und ich freue mich, daß ich das immer wieder tun muß.“6

Futuristische Buchcovers und vermehrt politische Beiträge prägten den „Österreichischen Arbeiter-Kalender“ in den Jahren der Herausgabe durch Josef Luitpold Stern (Archiv der sozialen Bewegungen)

Die Jahre bis zum österreichischen Bürgerkrieg im Februar 1934 sind die mit Abstand schaffensfrohsten des Luitpold Stern. Neben der Arbeiterhochschule bleibt er auch in der Arbeiterbildungszentrale aktiv und findet wieder Zeit, sich um das Bibliothekswesen zu kümmern. Dank der Arbeit der Gemeindeverwaltung wird in Wien der Zugang zu Büchern auch für breite Bevölkerungsschichten zur Selbstverständlichkeit. In den dreißiger Jahren vermerken die Städtischen Büchereien bereits mehr als zwei Millionen Entlehnungen jährlich. Die

reits in seiner Rede bei der Schlußfeier des ersten Jahrgangs der Arbeiterhochschule.“5 Sehr emotional äußert sich auch Rosa Jochmann, ebenfalls Schülerin des ersten Jahrganges, in einem Brief an Luitpold Stern:

5 Rusinek, Hans. In: Arbeit und Wirtschaft v. 1.09.1951

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Josef Luitpold Stern als Vortragender an der Wiener Arbeiterhochschule (Foto: Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung)


Josef Luitpold Stern

Benutzerausweis Sterns für die französische Nationalbibliothek aus dem Jahr 1940 (Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung)

Strukturen dafür hat Luitpold Stern bereits vor dem Ersten Weltkrieg geschaffen. Die Früchte seiner Arbeit sind im „Roten Wien“ in fast jedem Bezirk zu bewundern. Sogar spezielle Kinderbüchereien, eine Weltneuheit, werden eröffnet. Dank seiner umfangreichen politisch-literarischen Tätigkeit wird Josef Luitpold auch zum Vorsitzenden der „Vereinigung Sozialistischer Schriftsteller“ gewählt. Die Herausgabe des „altehrwürdigen“ „ArbeiterKalenders“ (erscheint seit 1872) wird von 1926 bis 1930 ebenfalls in Sterns Hände gelegt.

AUF DER FLUCHT Der Sieg des Austrofaschismus über die Demokratie im Februar 1934 zwingt Luitpold 6 Jochmann, Rosa: Brief an Josef Luitpold Stern v. 18.07.1955

Stern zur raschen Ausreise in die Tschechoslowakei. Wieder ist es ein schmerzhaftes kriegerisches Ereignis, das ihn aus seinem gewohnten Arbeitsumfeld herausreißt. Wie schon am Ende des Ersten Weltkrieges versucht Stern schnell Fuß zu fassen. Schon nach einigen Wochen gelingt es ihm auf der Masaryk-Hochschule in Brünn Vorträge zu halten. Vermehrt widmet sich Stern dem Verfassen von Gedichten und beginnt mit der Herausgabe seiner „Hundert Hefte“. Obwohl er kaum über Geld verfügt, schafft er es ab 1935 regelmäßig, die kleinen Büchlein herauszugeben. Inhalte sind vor allem soziale Balladen, die von geschichtlichen Themen, vom Leben bekannter und weniger bekannter Persönlichkeiten und von der Arbeiterbewegung handeln. Seinen Unterhalt verdient sich Josef Luitpold vor allem durch Vortragsreisen, die ihn bis in die Schweiz führen. Die Ruhe, die langsam in sein Leben zurückkehrt, wird aber wieder aufs Neue jäh unterbrochen. Als Hitler nach der Besetzung des Sudentenlandes auch in Prag einmarschiert, muss Stern erneut die Flucht ergreifen. Mit dem letzten Flugzeug gelingt ihm die Ausreise nach Paris. Im November 1938 erreicht er völlig mittellos die Hauptstadt Frankreichs. War Stern bisher gewohnt gewesen, in deutschsprachigen Ländern seiner Bildungstätigkeit

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nachzugehen, steht er jetzt vor einer Fülle von Herausforderungen. Er lernt in kürzester Zeit französisch und versucht, wie schon in der Tschechoslowakei, mit der Herausgabe von Gedichten Geld zu verdienen. Trotz aller Schwierigkeiten ist er schon nach relativ kurzer Zeit in der Lage, Vorträge und sogar Führungen durch den Louvre abzuhalten. Die Niederlage Frankreichs vor Augen, flieht Stern rechtzeitig in den Süden des Landes. Dort bleibt er zunächst in der Stadt Mon-

tauban und schließt sich dem dort lebenden Kreis Wiener Emigranten an. Darunter finden sich auch Bekannte wie Wilhelm Ellenbogen, Alfred Polgar und Friderike Zweig. Er genießt die kurze Zeit mit seinen Landsleuten, ehe ihn der rasche Vormarsch der deutschen Wehrmacht zur weiteren Flucht in den unbesetzten Teil Frankreichs zwingt. Die Vichy Regierung interniert ihn, wie die meisten anderen Emigranten auch, in verschiedenen Lagern. Diesen Tagen widmet er ebenfalls einen Gedichtszyklus unter dem Namen „Von Stacheldraht zu Stacheldraht“. Er versteht schnell, welche Gefahr für die Flüchtlinge in den Internierungscamps ausgeht, und beschließt seinen Ausbruch. Auf abenteuerlichen Pfaden gelingt es ihm, über Spanien nach Lissabon zu entkommen. In Portugal erhält er ein rettendes Visum für die Vereinigten Staaten.

DIE AMERIKANISCHEN JAHRE Im September 1940 erreicht sein Schiff den sicheren Hafen von New York. Nach Paris ist er ein weiteres Mal angehalten, sein gesamtes bisheriges Leben umzustellen. Wieder gilt es eine neue Sprache zu lernen, wieder sich in eine andere Gesellschaft zu integrieren. Für den schon vierundfünfzigjährigen Mann kein leichtes Unterfangen. Der Volksbildner in Aktion (Foto: ÖGB Pressearchiv)

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Einziger Lichtblick für Josef Luitpold ist die zeitgleiche Anwesenheit seines Sohnes


Josef Luitpold Stern

Hans Martin, dem es gelang, 1938 direkt in die USA zu emigrieren. Mit seiner Frau hat er schon lange keinen Kontakt mehr. 1939 wird die Ehe mit Maria Stern formell geschieden. Über die ärmlichen Lebensumstände Sterns in den USA gibt dieser Brief an seinen Sohn vom Oktober 1940 Auskunft: „Lieber Hans! Als ich Sonntag vormittags die Landungsbrücke überschritten hatte, stand Doktor Kurz unten und übergab mir Deinen Willkommensgruß und die fünfzig Dollar, und ich wusste, daß ich nicht in die Fremde komme, und ich bin Dir sehr dankbar. Das Visitor´s-Visum, gültig für sechs Monate, habe ich seit Ende Juli […] Für einen Monat habe ich hier kostenfrei ein Einzelzimmer mit Verpflegung, wenige Schritte vom Central

Für den Internationalisten Luitpold Stern war der inhaltliche Austausch mit Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt stets eine bereichernde Selbstverständlichkeit (Foto: ÖGB Pressearchiv)

Luitpold Stern bei einer seiner zahlreichen Vorträge. (Foto: ÖGB Pressearchiv)

Park, dessen Eichhörnchen mich schon begrüßt haben. […] Ich hätte Dir sogleich geschrieben. Aber das Zimmerchen hat noch keinen Tisch. Diese Zeilen schreibe ich stehend. Also nicht gerne. Schreiben ist für mich eine festliche Angelegenheit. Gute Feder, gute Beleuchtung wünscht sich das Herz. Ich wusste nicht, daß Mutter krank war und sie operiert werden musste. […] Ich selbst soll ihr wohl nicht schreiben. […] Meine Manuskripte (Band 5) habe ich wohlbehalten durch Spanien und Portugal gebracht. Das belohnt mir alle Mühseligkeiten. Auch dieses Buch noch gedruckt zu sehen gehört zu meinen Aufgaben. Gestern nachts war ich mit Doktor Kurz noch in der Zentral-Bibliothek. Viele Bücher, die ich

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vor allem verarmte italienische und farbige Arbeiter wohnen, wird Stern als Lehrer sehr bekannt. Er ist mit Recht Stolz darauf, den ärmsten Amerikanern Bildung zu vermitteln.

Besonderes Augenmerk richtete Josef Luitpold Stern zeit seines Lebens auf die bitte entferEntwicklung des Bibliothekswesens (Foto: ÖGB Pressearchiv)

für mein nächstes Werk brauchen werde, sind da. Die Arbeit wird zwei Jahre dauern. Aber ich sollte mich beeilen, beeilen. […] Mein Wirken hat der Gerechtigkeit gedient. Ich bin zufrieden.“7 Von einem eigens für geflüchtete europäische Akademiker angebotenen Integrationsprogramm der amerikanischen Quäker kann Josef Luitpold Stern profitieren. Er wird ein halbes Jahr als Lehrbeauftragter ausgebildet und darf spezielle Englischkurse besuchen. Im Mai 1941 wird er vom ehemaligen deutschen Innenminister, Wilhelm Sollmann, dazu angehalten, seinen ersten Vortrag auf Englisch zu halten. Nachdem der Abend zu einem Erfolg wurde, kommt auch Sterns Selbstbewusstsein wieder zurück. In den folgenden Jahren wird er in einem Elendsviertel außerhalb der Stadt Philadelphia tätig. Im Vorort Pendle Hill, in dem

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Neben seiner Anstellung im Armenviertel gelingt es ihm, auch in anderen Teilen der USA und sogar in Kanada, Vorträge über Österreich und Europa zu halten. Die Themen variieren vom Abend über Franz Schubert, die Katholische Kirche bis hin zur Musik der Arbeiterbewegung. Auch die Herausgabe seiner „Hundert Hefte“ bricht in den Vereinigten Staaten nicht ab. Es erscheinen weitere zwölf Bände mit Gedichten. Das Geld dafür verdient er durch den Verkauf von Publikationen am Rande seiner Vorträge. Politisch blieb Stern auch in den USA mit der Sozialdemokratie verbunden. Hin und wieder erschienen seine Arbeiten in der „Austrian Labor Information“. So auch seine viel beachtete New Yorker Rede vom 11. März 1944 „Für die Republik Österreich“.8 Die Jahre seiner Armut und Einsamkeit in den USA haben Stern stark beeinflusst. 7 Eppel, Peter: Josef Luitpold Stern in Amerika (1940-1948). In: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes: Jahrbuch 1987. Wien 1987 8 Die Rede „Für die Republik Österreich“ vom 11.03.1944 befindet sich im Anhang der Broschüre


Josef Luitpold Stern

Die Solidarität der Menschen in den Slums und die Zusammenarbeit mit den farbigen Amerikanern, blieben ihm bis an sein Lebensende unvergessen.

NEUANFANG IN DER HEIMAT Mit Ende des Krieges ist Josef Luitpold Stern verunsichert, ob er in seine ehemalige Heimat zurückkehren soll. Seit 1934 hatte er keinen direkten Kontakt mehr mit Österreich. Doch die Skepsis vor einer Zukunft im Nachkriegsösterreich weicht schnell. Seit 1947 erhält er vermehrt Briefe aus der alten Heimat mit der Aufforderung doch zurückzukehren. Letztlich dürfte allerdings die Einladung des stellvertretenden Vorsitzenden der Gewerkschaft Bau-Holz, Rudolf Holowatyj, ausschlaggebend für die Rückkehr gewesen sein. Dieser lud ihn zur Leitung der im Entstehen begriffenen Bildungseinrichtung seiner Gewerkschaft ein. Stern folgte dem interessanten Angebot und kehrte 1948, im Alter von zweiundsechzig Jahren, nach Österreich zurück, um im oberösterreichischen Schloss Weinberg bei Kefermarkt das Rektorat des neuen Bildungsheimes zu übernehmen. Er berichtet in einem Brief an seine Vertraute Elisa Karau über seine Gefühle und den Beginn des Schulungsjahres: „Meine Tätigkeit setzt nichts fort, was ich bis 1934 aufgebaut habe. Was immer ich bis dahin geschaffen habe, es werken jetzt andere

Zum Lesen fand Stern trotz seiner anstrengenden Tätigkeiten dennoch Zeit (Foto: ÖGB Pressearchiv)

daran. Ich beginne völlig neu. Und es gelingt. Das innere Leben der Schule ist voll Geistigkeit. […] In der nächsten Woche wird eine Orgel gekauft. Mitte September erfolgt die offizielle Eröffnung – Ich komme hier nicht mehr, fast vermeine ich kaum je mehr, zu dichterischem Schaffen. Aber ich dichte Wirklichkeit. – In einem Vierteljahr sehe ich klar, ob ich nach den USA zurückkehre oder endgültig im Schloß Weinberg bleibe“9 Obwohl Stern nicht mehr an seine Stellung, die er in den dreißiger Jahren innerhalb der Arbeiterbewegung hatte, anschließen kann, übernimmt er in bereits fortgeschrittenem Alter die gewerkschaftliche Bildungsarbeit auf Schloss Weinberg. Meh-

9 Stern, Josef Luitpold: Brief an Elisa Karau v. 16.08.1948

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auf das Wissen und die Schaffenskraft von Stern nicht verzichten wollen. Nahtlos wird Josef Luitpold 1953 daher in das Bildungsreferat des Gewerkschaftsbundes übernommen. Dort bleibt er bis zu seiner Pensionierung als Bildungssekretär tätig.

Ansicht des Bildungsheimes Schloss Weinberg der Gewerkschaft Bau-Holz (Foto: ÖGB Pressearchiv)

Blick in einen Unterrichtssaal auf Schloss Weinberg (Foto: ÖGB Pressearchiv)

rere tausend Kursteilnehmer besuchen die verschiedensten Schulungen, die in der Bildungsstätte angeboten werden. Doch schon nach einigen Jahren zwingen Finanzierungsprobleme die Gewerkschaft zum Schließen des Heimes. Diesmal sind es der ÖGB und der Leiter des Bildungsreferates Franz Senghofer, die

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Mit dem Tod seiner Frau 1958 verschlechterte sich der allgemeine Gesundheitszustand Sterns zusehends. Auch eine Operation kann die Sehkraft seines linken Auges nicht mehr retten. Doch selbst diese Rückschläge lassen ihn nicht zur Ruhe kommen. Ungebrochen schreibt er weiter an neuen Arbeiten und kümmert sich um die Publizierung seiner Werke. Einer der letzten Höhepunkte in seinem schöpferischen Leben war sicherlich die Herausgabe seines Gesamtwerkes in fünf Bänden durch den Europaverlag (1963-1966). Am 13. September 1966 allerdings, schloss der große Volksbildner, Arbeiterdichter und Sozialdemokrat für immer seine Augen. Achtzig Jahre eines kämpferischen, niemals zur Ruhe gekommenen Lebens, hatten ein erfülltes Ende gefunden.

„MACHE DEINEN WILLEN LEBENDIG!“ Im seinem Gedicht „Rückkehr des Prometheus“ schloss Stern mit dem für sein eigenes Leben bezeichnenden Satz „Mache deinen Willen lebendig!“. Lebendig geblieben ist bis heute auch das Andenken an den großen Arbeiterbildner. In kaum einer


Josef Luitpold Stern

Publikation über die österreichische Volksund Erwachsenenbildung bleibt sein Name unerwähnt. Sterns Schaffen prägt bis heute die Entwicklung des Bildungswesens in Österreich. Generationen von Funktionären aus den Reihen der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften in Österreich, aber auch in Mitteleuropa sind durch Schulungen von Josef Luitpold Stern ausgebildet und geistig bereichert worden. Sein mehrere tausend Seiten umfassendes literarisches Erbe gilt ungebrochen als einer der Grundsteine der österreichischen Arbeiterliteratur. Zahlreich waren daher die Ehrungen Sterns bereits zu Lebzeiten. Als er 1948 aus den USA in die Heimat zurückkehrte, erhielt er seine erste Auszeichnung durch die Stadt Wien: Den Preis der Bundeshauptstadt für Volksbildung. 1956 folgte der Ehrenring

Bis ins hohe Alter arbeitete Josef Luitpold Stern in der Erwachsenenbildung (Foto: ÖGB Pressearchiv)

der Stadt Wien, 1958 der Staatspreis für Volksbildung und der Professorentitel. Sein 70. Geburtstag wurde 1961 mit einem Festakt im Großen Saal des Wiener Konzerthauses gefeiert.

Gedenktafel für J.L. Stern von der Gewerkschaft Bau-Holz auf Schloss Weinberg (Foto: Lichtenberger)

Besonders verehrt wurde und wird Luitpold Stern in seiner Geburtsstadt Wien. Nicht nur zahlreiche Ehrungen und Preise wurden ihm hier zu teil. Die Stadt, die der Arbeit Sterns soviel zu verdanken hat, benannte eine Wohnhausanlage in WienDöbling und später eine Gasse in Wien-Donaustadt nach ihm. Darüber hinaus erhielt

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der berühmte Arbeiterbildner ein Ehrengrab der Stadt Wien. Auf Initiative seines Freundes und Mitstreiters Franz Senghofer wurde 1968 erstmals der bis 2005 bestehende „Luitpold-SternPreis“ durch den Österreichischen Gewerkschaftsbund vergeben. Damit wurden, von Seiten des ÖGB, besondere Verdienste um die Arbeiter-, Volks- und Erwachsenenbildung, wie auch um die Arbeiterdichtung, gewürdigt. Josef Luitpold Sterns Leistungen für die österreichische Arbeiterbewegung gehören nicht alleine der Vergangenheit an. Sein Einsatz für die arbeitenden und ausgebeuteten Menschen, seine Kreativität und sein bis ins hohe Alter anhaltender ungebrochener Wille nach sozialen Reformen, sind auch für die heutige, moderne, Erwachsenenbildung unveränderliche Leitlinien. Franz Senghofer charakterisierte in einem Artikel treffend das Leben dieses niemals ruhenden, stets von Energie durchströmten Menschen: „Vor dieser Fülle von Leistungen für die Arbeiterbewegung drängt sich die Frage auf: Wie wird man so? Man muß Eltern haben, die man grenzenlos liebt, weil sie aus dem Kind das Beste zu machen bereit sind. […] Man muß einen Lehrer haben, der den Jungen mit Kühnheit und Außergewöhnlichkeit befruchtet. […] Man muß

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Trotz seiner angeschlagenen Gesundheit setzte Stern seine literarische Tätigkeit fort (Foto: ÖGB Pressearchiv)

großen Menschen auch nach der Schule begegnen. Er begegnete ihnen. Es waren Ludo Hartmann, Emil Reich und außerdem viele bedeutende Namen des internationalen Sozialismus. Man muß mit dem Herzen bei den Erniedrigten und Enterbten sein, man muß ohne Unterlaß ´Lieder weiser Zukunft singen´. Dann wird man einer der größten, der treuesten

Ehrengrab Sterns in Wien-Grinzing (Foto: ÖGB Bildungsreferat/Rathgeb)


Josef Luitpold Stern

Söhne der Arbeiterklasse, dann wird man Revolutionierer der Arbeitergehirne. Ein solches Leben ist nicht leicht. Es erfordert bedingungslose Hingabe. Es ist eine schwere Last, immer vorne zu stehen, die anderen nach vorne zu rufen, ihre Bequemlichkeit zu stören, sie oft gegen ihren Willen in Bewegung zu bringen, um, wenn sie nach vorne gerückt sind, selbst schon wieder viel weitergerückt zu sein, wie ein solcher Geist seiner Zeit immer voraus ist. […] Der Lohn für Arbeit am großen Bewußtseinsstand kann klar sein, der für dienstfertige Gefolgschaftsleistungen ist zumeist größer. Aber der wahre Lohn für den Bildner sind die erhellten Gesichter und klugen Blicke der Hörer, das Bewußtsein der eigenen Leistung am Werk, die aber Tausenden Menschen aller Schichten, die vom verehrungswürdigen Menschen verehrungswürdig sprechen. […]

Gedenktafel an der Josef Luitpold SternWohnhausanlage in Wien-Döbling (Foto: ÖGB Bildungsreferat/Rathgeb)

Das Bewußtsein, wenn auch nicht in der offiziellen gesellschaftlichen Rangordnung der eigenen Klasse obenan zu stehen, wohl aber in der Liebe der geisterfüllten Klassenangehörigen und in den objektiven Taten für die Zukunft der Welt, das ist der Lohn des Arbeiterbildners.“10

10 Senghofer, Franz: Der Sänger erst kommender Zeiten. In: Der Österreichische Arbeitersänger, 54. Jg., Nr. 4/1.April 1956

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AUS DEN WERKEN JOSEF LUITPOLD STERNS Das Leid der Kinder Ein Vortrag vor Lehrlingen (1908) Daß euer Vaterland nicht das Land eurer Väter ist, wisst ihr. Nichts von der Fülle der Felder und nichts von der Beute des Bodens gehört euren Vätern; ihr ganzer Anteil heißt Arbeit und Arbeit, Sorge und Siechtum, Rechtlosigkeit und Schutzlosigkeit. Euer Vaterland ist aber auch kein Kinderland, denn es gibt die Kinder des Volkes unbekümmert der Raubgier des Kapitals preis. 145.000 Kinder arbeiten in Österreich. 145.000 arbeitende Kinder! Diese Zahl ergab eine amtliche Erhebung über die Kinderarbeit im Jahre 1908. So ungeheuer aber die Ziffern sind, die Wirklichkeit ist noch ungeheurer, denn die Erhebung fasste nur ein Zehntel sämtlicher Schulkinder eures Vaterlandes. Nur ein Zehntel sämtlicher Schulkinder Österreichs wurde um sein Schicksal gefragt, und doch kamen schon Zahlen zutage, die erschüttern. 77.000 Buben, 68.000 Mädchen, die nicht spielen und nicht fröhlich herumspringen, die aber auch nichts Rechtes in der Schule lernen, sondern in Steinbrüchen arbeiten und in Webereien, die daheim in dumpfen Stuben kleben und fädeln, netzen und flechten! Stellt euch diese Stadt der Tränen und der bleichen Wangen vor. Und das Handelsministerium erklärt selbst, daß ver-

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Werbung des Europaverlages für Sterns gesammelte Werke (Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung)

waiste Kinder wesentlich häufiger herangezogen werden als Kinder, deren Eltern leben, ebenso uneheliche häufiger als eheliche; von den mutterlosen unehelichen Schulkindern muß fast die Hälfte arbeiten. Je schutzloser die Kinder der Armut sind, um so schutzloser läßt sie das Vaterland. Statt sich ihrer anzunehmen, stößt sie das Vaterland noch tiefer in Weh und Verderb. 34.000 Schulkinder hält die Industrie in ihren Fängen, in Böhmen allein 14.000 Kinder! 8500 Kinder spulen und stricken in den böhmischen Städten und Dörfern, in Asch 146 Kinder, in Rokitnitz 283, in Nachod 403


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Kinder. 6000 Kinderhände klöppeln in diesem Kronland des Jugendmordes Spitzen, 5000 Kinderhände knüpfen und winden hier die Haarnetze, in dem einen Gerichtsbezirk Gratzen nähen und tamburieren 2000 Kinderhände Zwirnknöpfe. Schreckliche Bilder ließen sich endlos aneinanderreihen bis zu der Bemerkung einer Bischofteinitzer Schulleitung, daß Kinder selbst im Bergwerksbetrieb verwendet werden, eine Tatsache, die übrigens auch vom Bezirk Klagenfurt nicht geleugnet werden kann. Bei der Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt in Wien kamen in den Jahren 1887 bis 1901 nicht weniger als 225 Kinderunfälle in versicherungspflichtigen Betrieben zur Anzeige; sieben Kinder mußten sterben, eines in einer Papierfabrik, vier bei Bauten. 2500 blasse Kinder müssen sich in qualmenden Schankzimmern als Schankburschen, als Eßzeugputzer, als Brotverkäufer, als Kegelbuben mühen. Für ein paar Heller nimmt man ihnen die Freude an dem Sonntag und das Recht auf Schlaf. Und doppelt so viel Kinder sind Laufburschen und Austrägerinnen, hasten treppauf, treppab mit Zeitungen, mit Milch, mit Gebäck, durch Sturm und durch Schnee und durch den Nebel der Herbstfrühe in zerrissenem Kleid und mit hungrigem Magen, und laufen dann erschöpft in die Schule. Dann das Heer der 85.000 Kinder, die der Haushalt beschäftigt, die Holz tragen und waschen, scheuern und kochen. Hier nur die knappe Bemerkung eines öberösterreichischen Lehrers: „Manches Kind im vorschulpflichti-

gen Alter sitzt wohl oft stundenlang an der Wiege seiner Geschwister und wird so um die köstliche Freiheit gebracht, der es in solchen Jahren wohl bedürftig ist.“ Endlich die 93.000 Kinder, mit deren Jugendglück Österreichs Landwirtschaft betrieben wird; sie müssen ackern und säen, mähen und dreschen, Heu rechen und Holz schneiden. Sie dienen oft geradezu als Knechte oder Mägde. Weit über 2000 Kinder füttern das Vieh, über 1400 Kinder graben und sammeln Kartoffeln, 1600 lenken und treiben das Zugvieh, 1000 sammeln Reisig, 600 Kinder dreschen, 137 arbeiten mit Dreschmaschinen. In den 17 Jahren von 1890 bis 1906 verunglückten, soweit bekannt wurde, in Niederösterreich 43 schulpflichtige Kinder beim Betrieb von Dresch- und Futterschneidemaschinen mit Dampfkraft oder Tiergöpel. Dabei waren sieben Kinder noch nicht 12 Jahre alt. 24 Kinder wurden für ihr ganzes Leben zu Krüppeln, zwei Unfälle nahmen einen tödlichen Ausgang. Was die Kinder auszustehen haben, verrät der Bericht einer Schulleitung: Bei Kindern des siebenten und achten Schuljahres kommt es zur Zeit der Heu- und Grummeternte vor, daß sie um 2, spätestens um 3 Uhr früh aufstehen und bis zur Schulzeit arbeiten müssen. „Es kommen“, berichtet ein Arzt, „frühzeitig Herzfehler vor und trotz der guten, freien Luft sogar Tuberkulose der Lungen.“ Das entsetzlichste Los ist den 35.000 Kindern bereitet, die nachts zur Arbeit verhalten werden. Wenn die Kinder der Reichen

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auf feinen Kissen schlummern, wenn die Gesetzhüter des Vaterlandes zu Bette gehen, wachen diese 70.000 verweinten Kinderaugen immer noch und sind fleißig am Werke, 7700 Kinder in der Landwirtschaft, 3600 in der Industrie, 2000 im Haushalt! Fast die Hälfte dieser armen Kinder wird über 10 Uhr nachts hinaus beschäftigt, davon wieder ein Sechstel über Mitternacht. Aus Niederösterreich wie aus Krain wird von Kindern berichtet, die erst um 10 Uhr oder 11 Uhr nachts zur Ruhe kommen und um 3 oder ¼ 4 Uhr früh wieder aufs Feld an die Arbeit gehen müssen. Einer der Ärzte, die von der Regierung um ihr Gutachten ersucht wurden, faßt diese Zustände in die Worte: „Jede Nachtarbeit, jede lang andauernde sitzende oder stauberzeugende Beschäftigung ist zu verurteilen, sofern sie schwächliche, blutarme und schlecht ernährte Kinder betrifft. Da aber Armut, schlechte Nahrung und Kinderarbeit eng zusammenhängen, so ergibt sich, daß gerade die schlecht genährten, schwächlichen und blutarmen Kinder zu Nebenbeschäftigungen herangezogen werden…“ Als wären es Klänge aus tief verschollenen Zeiten, klingen die Verse an unser Ohr: Kinderland, du Zauberland! Wald und Feld und Hecken! Hinter weißer Wolkenwand Spielt die Welt Verstecken. Nein, für die Kinder der Armut gibt es kein Zauberland, mit ihnen spielt die Welt von

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heute kein Verstecken mehr. Unverhüllt, furchtbar in ihrer unersättlichen Beutegier, so zeigt sich die Gegenwart den Kindern der Armut allenthalben. Die Gerichtsbezirke, in denen 90 Prozent aller Schulkinder zermürbende Fronarbeit leisten, findest du in deinem Vaterland überall: in Mistelbach und in Millstatt, in Chotěboř und in Přibislau, in Tyczyn und in Bochnia, in Metkovič und in Vrhgorac. Hier sind die deutschen Kinder die Opfer und dort die tschechischen Kinder, da die polnischen und dort die dalmatinischen. Weil er ihnen weniger Lohn zu geben braucht, weil er an ihnen mehr verdienen kann, darum reißt der Unternehmer die Kinder seiner eigenen Volksgenossen aus der Schulstube und vom Kinderplatz. Die Körper der Kinder verkrümmen sich, ihre geistige Entwicklung wird gehemmt und verdorben, die Kraft der Nation wird geschwächt und zugrunde gerichtet, aber der Profit wächst und wächst. Und der Profit siegt über die Nation.

Der große Gefangene Ansprache an den Parteitag der Deutschen sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Tschechoslowakischen Republik im Dezember 1923 (gekürzt) Im Werdegang der Menschheit stellen die Massen bis zur Stunde das ungeheure wirtschaftliche Opfer dar; sie sind zugleich der große Gefangene im Geiste. Nicht nur wirtschaftlich, nicht nur politisch, sondern


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tiefer noch stecken die Massen geistig in Abhängigkeit, in Hörigkeit. Diese von der Wissenschaft noch kaum durchforschten Beziehungen zwischen wirtschaftlicher und geistiger Gefangenschaft deckt der Blick in die Vorgeschichte der Menschheit auf, wobei nach einem Worte von Friedrich Engels wir die Aufgabe haben, diese Vorgeschichte der Menschheit zu beenden. Das Merkmal der Vorgeschichte der Menschheit, in der wir also selber noch atmen, beruht darin, daß nicht die Menschen die Geschichte gestalten, sondern daß die von den Menschen noch unbegriffenen Gesetze des Gesellschaftslebens den Menschen gestalten. Je tiefer wir zurückblicken in die Jahrtausende vor uns, um so abhängiger der Mensch von den unbegriffenen Erscheinungen und Gesetzen. Hoernes kennzeichnet den Naturmenschen folgendermaßen: »Er kennt keinen Kausalverband, kein Müssen, er betrachtet jeden Vorgang der Natur als Einzelvorgang, besser als Einzelhandlung, es fehlt der Begriff der Gesetzmäßigkeit. Je ungewöhnlicher ein Vorgang, desto lieber hört man ihn erzählen, desto fester wird er geglaubt.« Das kennzeichnet den Höhlenbewohner, den Pfahlbürger. Dieser Typus des Urmenschen ist in uns noch lebendig. Wenn jene Merkmale den Jingo-Indianer kennzeichnen, so sind wir alle Jingo-Indianer. Das Primitive innerhalb der Menschheits-Entwicklung ist in uns noch nicht abgestorben. Damit der Gegenpol in Sicht tritt, sei an Friedrich Engels‘ Darstellung jenes Menschen erinnert, der die

Jingo-Indianer-Eigenschaften überwunden hat. Engels sagt: »Die fremden Mächte, die bisher die Geschichte beherrscht hatten, treten unter die Kontrolle der Menschen. Erst von da an werden die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewußtsein selbst machen, erst von da an werden die von ihnen in Bewegung gesetzten gesellschaftlichen Ursachen vorwiegend und in stets steigendem Maße auch die von ihnen gewollten Wirkungen haben.« Welcher große Gegensatz der menschlichen Möglichkeiten! Dort beim Menschen der Vorgeschichte: Ohnmacht gegenüber den Erscheinungen der Natur, verknüpft mit dem Glauben, Naturerscheinungen und Gesellschaftserscheinungen seien dasselbe – und als Gegensatz dazu beim Menschen der Zukunft: Erkenntnis der Gesetze der Natur, Beherrschung des gesellschaftlichen Lebens! Die proletarische Klasse ist es nun, die in der Entwicklung der Menschheit diesen Übergang in sich selbst planvoll zu gestalten hat. Die erzieherische Aufgabe, die wir zu bewältigen haben, ist die Umwandlung des Menschen der Vorgeschichte zum Emporführer der eigentlichen Geschichte der Menschheit, das heißt zum Beherrscher der Gesellschaft. Dies ist kein haltloser Einfall, kein willkürlich gestelltes Ziel, die Aufgabe wird uns aufgezwungen durch den Klassenkampf, durch die Wucht der Wirtschaftsgesetze; diese Umwandlung muß jeder einzelne in sich selbst erleben. So-

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lange er nicht spürt, daß er sich ändert und wandelt, solange mag er auf dem Papier in den Mitglieder-Verzeichnissen der revolutionären Parteien, Gewerkschaften, Genossenschaften eingetragen sein, als Kandidat der Überwindung der Vorgeschichte, aber er hat die Prüfung noch nicht bestanden. Wir stehen alle an der Schwelle zweier Zeiten. Auch das heißt schon Erwachen der Zukunft, daß wir etwas zu scheinen gezwungen sind, was wir erst werden müssen; daß wir etwas darstellen sollen, was noch nicht erreicht ist. Da zucken die Wurzeln aller revolutionären Sehnsucht. Solange man nicht die Sehnsucht spürt, etwas zu sein, solange kann man es nicht werden. Nach Bölsche ist »Sehnsucht das Vorzeichen der Erfüllung«. Was man will, kann man unter glücklichen Umständen erreichen. Die Massen wollen den Sozialismus, aber deshalb sind sie noch nicht die Former, die Erfüller des Sozialismus. So kommt es, daß die Arbeitermassen den Sozialismus erst verzerrt auf die Bühne der Geschichte bringen. Sie tragen in sich – ein Wort von Karl Marx – noch nicht den ganzen »Traum von der Sache«. Der Sozialismus ist größer und anders, als die proletarische Masse ihn vorläufig darzustellen vermag. Wichtig für die Gestaltung des neuen Menschen in jedem von uns ist das Bewußtsein unserer gesellschaftlichen Abhängigkeit, das Durchschauen der vielfältigen Arten dieser Abhängigkeit, während das Merkmal des Urmenschen darin besteht, daß ihm diese Abhängigkeit Ge-

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heimnis bleibt. »Ein jeder lebt‘s, nicht vielen ist‘s bekannt!« Hier rühren wir an die Frage, ob herrschende Klassen genau so unbewußt ihre Klasseninteressen durchzusetzen versuchen, wie die Massen noch in so starkem Maße unbewußte Opfer der Wirtschaft sind. Die herrschende Klasse ist immer ausgestattet mit einem erheblichen Maß von Wissen über die Ziele ihrer eigenen Klasseninteressen. Herrschende Klassen wissen, daß zu ihrer Herrschaft die Unwissenheit der Massen gehört. Der Beherrschte durchschaut den Klassencharakter der geistigen Erscheinungen seiner Zeit am wenigsten – darum gibt er sich der Täuschung hin, auch die Klassengegner wüßten nichts davon. Die bürgerliche Klasse kennt keine Einrichtungen, die ihre Klasseninstinkte verderben, aber sie ist erfüllt vom Wunsche, das Maß des Wissens in den dienenden Massen gering zu halten. Einige Beispiele und Aussprüche seien angeführt zur Vertiefung der Erkenntnis, welche Gegner dem geistigen Erwachen der arbeitenden Massen gegenüberstehen. Ein römischer Senator hat im Jahre 64 n. Chr. eine Rede gehalten und bekannt: »Nachdem wir mannigfache Nationen in unserer Dienerschaft haben, welche abweichende Gebräuche, fremde oder gar keine Religionen haben, kann man dieses Gesindel nur durch Furcht im Zaume halten.« Proletarische Eltern, die ihre Kinder zur Furcht erziehen, machen aus ihnen dieses Gesindel, das den Senatoren aller Mächte und Zeiten recht ist. Cato sagte infolgedessen


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sehr deutlich: » Sklaven müssen arbeiten und dann schlafen! « Nur nicht denken, nur nicht lernen! Sonst würden sie über die Diensteinteilung nicht vollkommen gleicher Meinung sein. Wie viele Arbeiter sagen abends, wenn die Kinder lesen wollen, das Licht sei zu teuer, die Kinder sollen schlafen gehen. Das ist dieselbe Anschauung, das ist Cato in proletarischer Gestalt. Im Jahre 1569 verbietet August von Sachsen, kaum daß die Buchdruckerpresse erfunden ist, die Errichtung einer Druckerei in Freiberg wegen »leichtfältigen, mutwilligen und bösen Beginnens«. Fragt sich nur: böse und mutwillig wem gegenüber? Wir sehen da die geistige Einstellung eines Kurfürsten gegenüber der Presse. In der Teplitzer Chronik aus dem 17. Jahrhundert lesen wir eine Kennzeichnung des Grafen ClaryAldringen: »Er vergrößerte Teplitz durch Ankäufe, baute ein Jagdschloß, errichtete die Dreifaltigkeitssäule auf dem Schloßplatz, erbaute mehrere Bäder und das Schießhaus und verbot allen Untertanen zu studieren.« Er kauft ganz Teplitz auf, wird Badeunternehmer größten Stils, errichtet eine Dreifaltigkeitssäule, und damit alle so dumm bleiben, nichts zu durchschauen, verbietet der Edle seinen Untertanen den Verstand. Friedrich II. weist die Schullehrer an, die Leute »Attache-ment«, Zuneigung, zur Religion zu lehren. Sie scheint also nicht vorhanden gewesen zu sein. Er hält die Soldaten an, »alle Zeit still mit Andacht Gottes Wort zu hören«. Diese Verbindung von

Gottesfurcht und Militarismus ist charakteristisch. Im französischen Sprachgebrauch heißt die Armee La Muette, das heißt die Stumme (»Kuschen und weiterdienen! «). In dem Briefe eines Predigers vom Jahre 1764 heißt es: »Je dümmer ein Untertan ist, desto eher wird er sich alles gefallen lassen. « Der preußische Minister Zedlitz bekannte in einer Rede in der Akademie der Wissenschaften: »Man darf die Erziehung des Bauern nicht zu weit treiben. Wenn der Bauer den Grund von allem einsehen könnte, wie würde er an mancher Verordnung mäkeln. Man muß dem gemeinen Mann Gehorsam einschärfen. « Die herrschenden Klassen verstehen die geistige Gefangenschaft ausgezeichnet zu handhaben. Eine kostbare Sammlung von Aussprüchen der Großbauern und Grundherren bietet die Broschüre eines zuverlässigen Gewährsmannes, des Pfarrers Josef Weigert: »Volksbildung auf dem Lande«, erschienen 1922 in Mönchen-Gladbach. Darin finden sich gar offenherzige Bekenntnisse, wie: »Der dümmste Arbeiter ist der beste. « Fragt sich nur, für wen! Oder: » Zum Kartoffelklauben ist keine Bildung notwendig. « Aber wohl zum Kollektiwertrag! Oder: »Ich brauche für meinen Pflug drei Ochsen, zwei vor und einen hinter dem Pfluge, und wenn der hinter dem Pfluge gehende rechtzeitig Hott und Hüh sagen kann, ist es genug.« »Dienstboten brauchen nichts zu lernen, sonst gehen sie in die Stadt. « Die Dummheit ist also notwendig. Kant hat einmal von vollziehbaren Gedanken gespro-

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chen. Der Kapitalismus ist kein vollziehbarer Gedanke für die Masse, er ist nur ein undurchdachter Vollzug durch die Masse. Sie denkt noch nicht! Offenbarungen dieser Zusammenhänge zwischen Herrschaft und Dummheit stammen aus dem Munde russischer Zaren. Katharina II. machte einen Minister aufmerksam: »Das gemeine Volk darf keine Bildung erhalten. Wenn das Volk ebensoviel wissen wird wie Sie und ich, wird es uns nicht mehr in dem Maße gehorchen wie jetzt. « Nikolaus I. stellt die Preisfrage: »Gibt es kein Mittel, um dem Kleinbürger den Zutritt zum Gymnasium zu verwehren? « Leontiew, ein Kultusminister unter Alexander II., empfiehlt: »Man muß mit allen Mitteln die Volksaufklärung bekämpfen. « Pobiedonoscheff weiß: »Die Verbreitung der Volksbildung ist entschieden schädlich. « Nikolaus II. befiehlt: »Kinder von Kutschern, Hausdienern, Wäscherinnen, Krämern, kurz Personen, die unter dem Range eines Kaufmannes zweiter Gilde stehen, dürfen überhaupt keine Mittel- und Hochschulbildung genießen.« Er tritt also für den numerus clausus der Volksbildung ein, für geistige Drosselung. Köstlich der Ausruf des Gouverneurs der ersten englischen Niederlassung in Nordamerika von 1671: »Gott sei Dank, wir haben bei uns weder eine Freischule noch eine Druckerei, und ich hoffe, daß in hundert Jahren auch noch nicht dergleichen hier existieren wird, denn der Unterricht hat die Ketzerei, die Sekten und den Ungehorsam zur Welt gebracht, und die Buch-

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druckerkunst hat alle diese Übel und außerdem noch die Angriffe auf die Regierungen fortgepflanzt und verbreitet.« Armer Gouverneur mit deinem Hundertjahrtraum, schon im Jahre 1719 erscheinen die ersten Zeitungen in Boston und Philadelphia. In diesem Zusammenhange sei ein Dekret des Fürsten Schwarzenberg aus dem Jahre 1911 nicht vergessen, das allen seinen Angestellten zur Unterschrift vorgelegt wurde, des Inhalts, sie mögen den Gottesdienst fleißig besuchen und zur heiligen Beichte und Kommunion gehen. Ob Herr Schwarzenberg den Besuch von Betriebsversammlungen erlaubt, ist nicht zu ersehen. Allen diesen Gelüsten kommt die bürgerliche Wissenschaft zu Hilfe. Noch ein Heinrich von Treitschke, »der große Herold«, faselt von der mangelnden Gesinnungsfähigkeit der unteren Klassen und wagt das Wort von der »Notwendigkeit, einen ungebildeten Arbeiterstand zu erhalten, wenn die Bildung der oberen Klassen nicht unmöglich werden sollte«. Die herrschenden Klassen, Patrizier, Grundherren, Industriemagnaten und ihre Schriftgelehrten, wissen: die Produktion der Dummheit der Masse gehört zur Produktion des Mehrwertes. Und sie sorgen für sie. Wie aber kommt es doch, daß die Massen zu lernen beginnen? Es taucht die Frage nach den Ursprüngen, nach den Quellgründen der sich entfaltenden Massenschulung auf. Sie geht nicht auf philantropische Pro-


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fessoren zurück, welche den Unwissenden Vorlesungen, astronomische Klostersuppen zum besten geben. Aber auch die Arbeiterklasse ist es nicht, die sich selbst zum Wissen aufreißt. Den Geist der Massen weckt die Ökonomie, der große Betrieb, die Entfaltung der Naturwissenschaften, der Aufschwung der Technik. Der Arbeiter wird vor die Maschine hingestellt. Man will nicht, daß er sie wie der Jingo-Indianer anstaunt, in ihr ein Gespenst, einen unheimlichen Naturvorgang erblickt; er muß den Zweck der Transmissionen und der Hebel erkennen. Wenn ein Rädchen stockt, wenn eine Schraube locker wird, nützt der Anruf der heiligen Genoveva? Die Anbetung des Himmels bleibt wirkungslos gegenüber der modernen Technik. Die Anwendung der Wissenschaft auf das Naturleben läßt den Zauberglauben absterben; der Mensch wird gezwungen, sich der Kompliziertheit der Wirtschaft anzupassen. Bildung des einzelnen wie der Masse, sie sind nichts anderes als Anpassung des einzelnen und der Masse an ihre wirtschaftlichen, an ihre geschichtlichen Aufgaben. Wer die Geschichte der Volksschulung kennt, weiß, wie sie ununterbrochen der Entfaltung der Industrie nachhinkt. Das europäische Bürgertum des 19. Jahrhunderts sieht sich plötzlich in der ihm schreckhaften und tragischen Stellung, es nicht zu wissen: Soll man die Massen so dumm lassen, daß man sie ausbeuten kann (aber sie werden nicht fähig sein, die Maschinen zu bedienen), oder soll man sie so gescheit werden lassen, daß sie die

Maschine bedienen können (aber sie lassen sich dann nicht mehr ausbeuten)? Das Indien des 20. Jahrhunderts steht heute vor dieser Frage. Broughton erwähnt in seinem Buch über den Industrialisnius in Indien, welche Hemmnisse die industrielle Umgestaltung am Analphabetentum des Proletariats findet. Der Unterschied zwischen dem ausgebeuteten und beherrschten Menschen ehedem und jetzt, er besteht darin, daß man früher dumm sein mußte, um ausgebeutet zu werden – daß man heute gescheit sein muß, um so dumm zu sein, sich noch ausbeuten zu lassen. Diese Gegensätzlichkeit erwähnt auch Marx in der Schrift über den 18. Brumaire: »Allerdings muß der Bourgeois die Dummheit der Massen fürchten, solange sie konservativ bleiben, und die Einsicht der Massen, sobald sie revolutionär werden. « Der Großkapitalismus hat sich zu entscheiden: Will er Massen, die unfähig sind, den Großbetrieb zu bedienen, dann kann er dumme Massen haben. Will er aber die Massen geistig den großen Aufgaben der Konzentration des Kapitals anpassen, dann muß er sie gescheit machen. Und da ist man auf die Dosierung des Massenverstandes gekommen. An der Wende der Feudalzeit zur frühkapitalistischen Epoche gibt Friedrich II. einen Ukas heraus, daß das preußische Landvolk »ein bisgen lesen und schreiben« lerne. Das Ringen der jüngsten zwei Jahrhunderte, alle Schulreformen, der ganze Kampf um die geistigen Güter geht

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um nichts anderes, als um dieses »bisgen« Lesen und Schreiben. Es muß ertrotzt werden. Da taucht die proletarische Klasse immer kraftvoller empor, sie zeigt die Niederträchtigkeit, ein »bisgen mehr lesen und schreiben« zu wollen. Ja, die Proletarier lockt gerade das bißchen Mehr, das man sie nicht lehren will. Das noch nicht Erforschte lockt das Proletariat. Mit wunderbarem Klasseninstinkt fühlt es, daß gerade dieses Mehr das Wichtigste ist. Der Seele des ringenden Arbeiters handelt es sich ewig um das Wissenwollen des Unentdeckten. Er spürt im täglichen Leben Verhüllungen; das Verhüllte möchte er durchschauen. Adam Smith, der große Nationalökonom der Bourgeoisie, der die Zusammenhänge zwischen Geist und Wirtschaft durchaus erkannte, aber das Interesse der herrschenden Klassen, den Bestand der kapitalistischen Gesellschaft im Auge hat, empfiehlt, wenn auch vorsichtig, »homöopathische Dosen im Volksunterricht«. Daher auch die hierarchische Staffelung in Volksschulen, Bürgerschulen, Hochschulen. Garnier, Adam Smiths französischer Übersetzer, fällt aus der Rolle und fragt: »Darf die Regierung einen Teil der Staatseinnahmen zu dem Versuche verwenden, zwei Klassen von Arbeit, die ihre Teilung und Trennung erstreben, miteinander zu vermengen und zu vermischen? « Er fürchtet, daß bei der Teilnahme der Massen am Unterricht geistige Vermischungen eintreten könnten, daß die Arbeiter ein paar Tropfen aus einer Ober-

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welt des Geistes in sich aufnehmen und so gescheit würden wie die anderen. Ein Glasfabrikant aus dem Jahre 1865, ein Typus für alle Fabrikanten, sagt: »Soviel ich sehen kann, ist das größere Quantum von Erziehung, welches ein Teil der Arbeiterklasse seit den letzten Jahren genoß, von Übel. Es ist gefährlich, indem es sie zu unabhängig macht. « Das sind immer dieselben Worte in verschiedenen Variationen, die immer und immer wieder auftauchen, seit Bernhard von Mandeville gesagt hat: »Um die Gesellschaft glücklich und das Volk selbst in kümmerlichen Zuständen zufrieden zu machen, ist es nötig, daß die große Majorität sowohl unwissend wie arm bleibt. Kenntnisse erweitern und vervielfachen unsere Wünsche, und je weniger ein Mensch wünscht, desto leichter können seine Bedürfnisse befriedigt werden. « Welcher Schritt bis zu Lassalle und seinem Wort von der »verdammten Bedürfnislosigkeit der Masse«! Die Einstellung, die es zu gewinnen galt, ist nun erreicht: Maß und Eroberung des Wissens, das Formen des Gemüts, des Charakters, des Verstandes, sie sind Klassenangelegenheiten in dieser klassenzerklüfteten Gesellschaft. Oder wie Max Adler in seinem Buche über Staatsauffassungen sagt: »Alle Bildung (muß) politische Bildung (sein), weil sie ein Kampfobjekt der Klassen ist; erst in einer sozialisierten Gesellschaft löst sich die politische Bildung in gesellschaftliche Bildung auf, die dann gleichzeitig sittliche Bildung sein kann. «


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Diesen Gedanken gilt es festzuhalten, wir kommen auf ihn bei der Besprechung der Volksbildungsbewegung noch zurück. Die Volksbildner beteuern ja, sie trieben heute schon unpolitische Bildung; unpolitisch in dem Sinne, daß sie nicht gefährlich ist dem Bestand der gegenwärtigen Gesellschaft, aber durchaus politisch dem Proletariat gegenüber. Wir haben erkannt: Wo die Wirtschaftsverhältnisse einfach sind, ist den Herrschenden das Wissen der Masse unerwünscht; erst die Entfaltung der modernen Wirtschaft erzwingt die geistige Anpassung der Massen an die komplizierte Arbeit – in Dosierungen. Jede Schulreform, jeder Kampf um einen Lehrplan, sind Kämpfe um die Dosierung des Wissensstoffes. Es handelt sich niemals um besonders kühne Schulgedanken, wenn wir von Einheitsschule oder Arbeitsschule hören. Diese Arbeitsschule besteht in der Herstellung von Pappschachteln und hat mit Arbeit soviel zu tun wie Pappschachteln mit Rotationsmaschinen. Auch diese Benennung ist nur Verhüllung. Wir gehen, nun wir die Entfaltung der Massenschulung als Frucht der Wirtschaft erkannt haben, nicht vorausgewollt von der bürgerlichen Klasse, nicht vorausgesehen von der Arbeiterklasse, an die Geschichte dieser Entfaltung. Warum sagen wir: Nicht vorausgesehen von der Arbeiterklasse? Es beherrscht die Geschichtsunerfahrenheit des Jingo-Indianers auch noch aufs stärkste die Gefühle und Anschauungen der Massen der Ge-

genwart. Am Anfang der sozialen Erhebung hatte das Proletariat keine Ahnung davon, daß es diese ganze Wirtschaft meistern kann. Die Maschine, die auftauchte, war der große Räuber, der den Arbeiter um den Arbeitsplatz bringt. Wie man den Räuber niederschlägt, der einen schädigt, nahm man das Beil, womöglich des Nachts, schlich sich unbemerkt bei Mondschein in die Fabrik, drang in den Maschinensaal, schlug die Maschine nieder. Das ist der Maschinenstürmer. Er ist überzeugt, mit der Kraft seiner Muskeln sich seiner Feinde entledigen zu können. In tausend Variationen steckt dieser Maschinenstürmer noch in den Massen. Alle Gewalttheorien gehen zurück auf die Vorstellung, die Anwendung der Wissenschaft auf die Wirtschaft, wie sie der Hochkapitalismus darstellt, sei mit Muskelkraft, mit Faust und Stimmband, mit Putschen zu hindern, zu überwinden. Es sind immer die ungeschulten Massen, die in der Gewalt die Erlösung suchen. Da wir aber dargelegt haben, daß die Massenschulung für die Bourgeoisie und für das Proletariat von gegensätzlichem Interesse ist, so müssen wir theoretisch, wenn wir noch gar nichts von der Geschichte der Massenbildung wissen, fragen: Worin zeigt sich die Gegensätzlichkeit, gibt es tatsächlich zwei Massenschulungstypen, in denen sich der bürgerliche und der proletarische Klassencharakter kennzeichnet? Diese Frage ist zu bejahen. Und diese Strömungen sind die Volksbildungsbewegung und die Arbeiterbildungsbewegung.

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Die Volksbildungsbewegung hat die Aufgabe, den mittelalterlichen Menschen, den Genoveva-Anbeter vor der Rotationsmaschine umzuwandeln in den modernen, naturwissenschaftlich gesinnten Monteur, der, wenn das Auto seines Herrn stehen bleibt, nicht zu den vierzehn Nothelfern sich wendet, sondern nachschaut, ob das Sieb im Tank verstopft, ob die Zündkerze verölt ist. Es ist die Anpassung des Unwissenden an die moderne Technik, um ihn zu einem naturwissenschaftlich etwas aufgeklärteren Bediener der Maschinen zu machen. Die Volksbildungsbewegung hat also konservative Ziele, sie verfolgt die Erhaltung, den Bestand, ja die Fortentwicklung des kapitalistischen Systems. Es sind dies Ziele, die wir nicht ablehnen, denn der Mensch muß diese ganze Strecke der Entwicklung mitmachen, aber er kann sie durchschauend und bewußt mitmachen. Der andere Zweig, die Arbeiterbildung, hat die Aufgabe, die proletarischen Massen reif zu machen für die politischen, gewerkschaftlichen, genossenschaftlichen, kulturellen Aufgaben ihres alles umspannenden Klassenkampfes. Wo die Volksbildungsbewegung versagt, müssen wir auch ihr Erbe antreten, auch ihre Aufgaben erfüllen. Aber ein Stenographiekurs in einem Arbeiterbildungsverein hat trotz alledem mit Arbeiterbildung nichts zu tun. Unsere Forderung für den Augenblick ist: Die bürgerliche Klasse gewährleiste einen Unterricht, der alle Fähigkeiten vermittelt, die das Gesellschafts-

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leben der Gegenwart verlangt. Nur wo die Volksbildungsbewegung versagt, haben wir ihre Aufgaben zu übernehmen, aber zu trachten, daß sie alle diese Aufgaben, die uns belasten, schließlich selber bewältigt. Ebenso ist es unsere Sorge, die Volksbildungsbewegung nicht zu Aufgaben zuzulassen, die uns überlassen bleiben müssen. Zu der Volksbildung gehört die naturwissenschaftliche Klärung des Massengeistes; wo aber die proletarische Klasse Macht und Einblick hat, geht die Volksbildungsbewegung die Gestalt unseres gesellschaftlichen Schauens nichts an. Jeder Volksbildungsverein, der einen Kurs über Geschichte, über Politik, über Staatsleben abhält, ist von der Arbeiterschaft nur aufzusuchen, um seine bürgerliche Richtung in Wechselgesprächen klar erkennen zu lassen. Er ist zu fürchten, solange die Arbeiterschaft nicht auf der geistigen Höhe steht, solche Feststellungen vorzunehmen; er wäre massenhaft zu besuchen, wo diese geistige Höhe erreicht ist. Diese zwei Gegensätze sind für Arbeiterbildungspolitik von grundlegender Bedeutung; ihre Erkenntnis ermöglicht uns, jederzeit zu allen Volksbildungseinrichtungen vom Kindergarten bis zur Volkshochschule klar Stellung zu nehmen. Der Verkennung dieser Gegensätze entspringen Fehler. Das Volksbildungswesen ist von diesem Gesichtspunkte aus zu betrachten: Überall, wo Wurzeln drin stecken, die der Revolutionierung des Bewußtseins helfen, und das sind alle Elemente der naturwissen-


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schaftlichen Aufklärung, alle Elemente der Weckung des Bewußtseins von der Veränderlichkeit des Daseins, überall dort haben wir diese Bewegung zu fördern-, alles, was in Gesellschaftskunde übergeht, werde von uns prüfend betrachtet. Gleichzeitig sind die Schranken der Massenschulung überhaupt zu erkennen. Wir geben uns der Täuschung nicht hin, es könnte auf dem Boden der Gegenwart gelingen, die Massen restlos in den Besitz des Wissensschatzes zu bringen. Es fehlt das treibende Motiv in dem unterrichtenden bürgerlichen Lehrer, in der bürgerlichen Wissenschaft; es fehlen aber auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Massen. Krise, Unterernährung, Hunger, Krankheit, kalte Wohnungen, Unsicherheit und Kummer verschließen den Massen den geistigen Aufstieg zu höheren Stufen, geschweige zur Vollendung. Die Edelsten in der Arbeiterschaft wissen, wie sie in ihrem Bildungsdrang ununterbrochen gehemmt und gedrosselt werden durch Sorge um Brot, Arbeit und Heim. Das Erlangen der tiefsten wissenschaftlichen Erkenntnis hat Voraussetzungen, die in der Volksschule nicht gegeben werden. Es ist eine Feststellung des englischen Aufbauministeriums (vor Macdonald), daß das Industriesystem der Gegenwart wenig Gelegenheit zur Befriedigung geistiger oder geselliger Bedürfnisse biete und auf die menschliche Persönlichkeit nachteilig wirke. Unter den deutschen Volksbildnern war es Theodor Bäuerle, der jüngst die Erkenntnis

aussprach, »daß die stärksten volkserzieherischen Wirkungen an die Erfüllung materieller Forderungen geknüpft sind, daß ausreichender Lohn, Sicherung der äußeren Lebenslage, gesunde Wohnung von höchster volkserzieherischer Bedeutung sind, daß die Volksbildung die großen sozialen Entscheidungen und Kämpfe weder verhindern kann noch darf«. Die Arbeiterbildungsbewegung kennt erst recht die harten Schranken der heutigen Gesellschaft. »Nur Höflinge des Proletariats«, sagt Otto Bauer, »können den Arbeitern einreden, daß sie heute als Proletarier alle Wissenschaften begreifen, alle Schönheit genießen können.« Und so ist derzeit keine Bildungsbewegung verankert in Glaube, Hoffnung und Illusion, die Massen könnten innerhalb der heutigen Welt die Höhen der Geistigkeit betreten. Es ist mehr Sehnsucht nach Wissen, als Handhabung des Wissens innerhalb der heutigen Gesellschaft erreichbar. Es muß der Gegenwart genügen, die beiden Zweige der planvollen Massenschulung, Volksbildung und Arbeiterbildung, kraftvoll treiben zu lassen. Wo die Arbeiterschaft einig und eine lebendige Macht ist, vor allem durch die Voraussetzungen einer Großstadt, dort gelingt ihr das; Wien ist ein Beispiel dafür, wie Massenschulung in ihrem bürgerlichen Flügel als Volksbildung, in ihrem proletarischen Flügel als Arbeiterbildung zu erfolgreicher Auswirkung organisierbar ist. Überall, wo so gearbeitet wird, bleibt der Arbeiterschaft der Anblick erspart, die Verfäl-

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schungskünste der bürgerlichen Welt auch auf dem Gebiet der Massenbildung zu beobachten und ihnen vollends zu verfallen. Die Zerrissenheit des Proletariats in nationaler, politischer und taktischer Beziehung hat zur Folge, daß Europa eine Brutstätte der Verfälschungen der Massenbildungsbewegung wurde. Eine große Anzahl von Arbeiterfunktionären erkennt diese Verfälschungen noch nicht. »Im 19. Jahrhundert wurden die deutschen Katholiken gezwungen, sich mit den Volksbildungsproblemen auseinanderzusetzen«, bekennt Josef Antz in einer Studie über Katholizismus und Volksbildung. Otto Baumgarten stellt in seinen Betrachtungen über Protestantismus und Volksbildung fest: »Die Annahme, daß das Bestehende und Gewordene zugleich das Gottgewollte sei, daß die gesellschaftliche Ordnung mit ehrfürchtiger Ergebung in Gottes gnädigen Willen zu betrachten sei, daß deshalb auch ein jeder demütig und freudig in dem Stand, auch in dem Bildungsstand zu bleiben habe, in den er hineingeboren ist, diese Annahme beherrscht weithin das Denken und Streben der lutherischen Protestanten.« Zwei Stimmen aus dem Jahre 1921. Noch 1925 lauteten die Sätze eines Katholikentages: »Im Lichte des Christentums sind die Grundlagen der heutigen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung nicht zu verwerfen. Das Privateigentum, auf dem sie aufgebaut ist, ist die vernunftgemäße Grundlage für die natürliche Daseinserhaltung des Menschen.«

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Nun die nationale Verfälschung der Volksbildungsbewegung durch Heimatbildungsprediger. Ihnen zustatten kommt, daß sich die Arbeiterbildungsbewegung bisher einer wissenschaftlichen Durchleuchtung der Heimatbildung noch nicht hat widmen können. Noch haben wir nicht dargestellt, daß auch Heimatgeschichte Kulturgeschichte ist. Es ist ein Stück Heimatgeschichte, wenn die Leute von Abertham erfahren, daß im Jahre 1633 die Frau des Totengräbers als Zauberin mit dem Strange erwürgt, ihre dreizehnjährige Tochter enthauptet, ihr Sohn landesverwiesen wurde. Es wäre für die Bewohner von Auscha lehrreich, von Gottfried Helft, dem Schuster, zu hören, der Anno 1617 als Führer des Bauernaufstandes auf dem Platze zu Auscha enthauptet wurde. Dokumente, die darüber wohl in der Stadt Auscha erliegen, sollten im Lichtbild gezeigt werden, damit sie erkennen lassen, welches Interesse die Arbeiterschaft von Auscha hat, Heimatforschung zu treiben. Die Hörer in Aussig wären einzuladen, sich etwas über den Bauernaufstand vom Jahre 1680 erzählen zu lassen. Herr Professor Umlauf, der über die Mariensäule und über die Gründung der Kirche so viel Schönes weiß, würde er hierüber schweigen wollen? Die Genossen von Liebeschütz würde der Bauernaufstand vom Jahre 1775 interessieren, der gegen die Liebeschützer Herrschaft gerichtet war. »Glücklicherweise lag Militär dort, welches die Bewegung rasch unterdrückte«, erzählt der Chronist. In der


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Türmitzer Reimchronik finden wir folgende Eintragung: »1774 Einigkeit, 1775 geht an der Streit, 1776 vieles Blutvergießen, 1777 wir Armen weichen müssen.« Ein Heimatabend wäre zu empfehlen! Die Warnsdorfer Arbeiter werden sich vielleicht ein wenig mit dem Seifhennersdorfer Freiheitsbaum beschäftigen und allem, was drum und dran hing. Auch die Warnsdorfer Weberaufstände von 1817 und 1823, wahrscheinlich die ersten auf sudetendeutschem Boden, gäben einem Heimatabend ernstes Gepräge. Von der Nachtfron des Hörigen lesen wir viel in allen Chroniken. Das sogenannte Laßfeld gehört ihm, nur der Tag gehört nicht ihm. Er arbeitet sechzehn Stunden, die Nacht hat der Hörige »frei«. Da kann er die deutsche Scholle pflegen. Von der Nachtfron zum Achtstundentag, von der feudalen Bierbraugerechtigkeit an allen Orten zu dem demokratischen Gemeindebestimmungsrecht auf Abstinenz, welche Entwicklungslinien für Heimatforschung! Überhaupt: Bier und Heimat, welches Thema für Heimatabende ohne Bier! Von dem Gottespfennig zur Bibliotheks- und Bildungssteuer! Auch der Kinderbettel war eine gott- und heimatgewollte Einrichtung. In Teplitzer Chroniken steht es verzeichnet, wie in den Anfangsjahren des Kapitalismus die Fabrikanten Fabriken errichteten, aber keinerlei Wohnungen für die arbeitenden Menschen. In der Zeit von 1800 bis 1830 mußten hier überall die Arbeiter in Erdhöhlen hausen; der frühe Kapitalismus hat hier ebenso wie auf englischem Boden die Ar-

beiter zu Troglodyten zurückverwandelt. »In der Heimat ist es schön.« Man brauchte Industrieschulen und hat das Wirtshaus dazu benützt. Um den Lehrer zu bezahlen, mußten die Kinder am Dreikönigstage – es muß immer Gott dazu helfen, wenn die Kapitalisten irgendeine Niederträchtigkeit ausführen wollen – von Haus zu Haus ziehen und betteln, damit sie dafür in der Schule verdummt wurden. Eine Aufgabe für einen Heimatabend, die Entwicklung von der Kinderbettelei zur Lehrmittelfreiheit durchzunehmen. Befassen wir uns noch ein wenig mit der Sagenwelt und ihrer Bedeutung. Wenn wir beginnen, soziologische Enthüllungen über die Märchenmotive zu bringen, wird es den Herren erwünscht sein, zu hören, daß es zum Beispiel in Warnsdorf ein Märchen vom schwarzen Hund gibt, womit der Fronvogt gemeint ist? Den Knecht hat die Qual des Herzens seltsame Märchen erfinden heißen, wenn er auch sonst schweigen mußte: auf deutschem Boden die Sage vom starken Hans, auf irischer Scholle die Sage vom König Cok, der im Wasser ertrinkt, »weil er« – erzählen die Brüder Grimm – »die Brunnen im Schloßhof den armen Leuten verschloß«, in den Bergen Norwegens die Gestalt Halvors, des Landbefreiers, in der Schweiz die Sage von den drei Teilen, die im Gebirge warten: Rebellensagen. Erkennen Sie, wie kritisch wir sein müssen, um all das zu durchschauen? Solange wir noch schwach an geistigen Waffen sind, tun wir gut, uns zu absentieren. Besitzen

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wir das wissenschaftliche Rüstzeug, dann gilt es, auch diese geistigen Gegner in der Illusionierung der Massen zu enthüllen. Sie treiben ihr Werk bewußt; sie wollen sozial blind machen, sie wollen ablenken, darum dieser Kult minderwertiger, kleingeistiger Altertümelei. Alle diese Strömungen, kleinbürgerliche Volksbildung im konservativen Sinne, konterrevolutionäre, nationale Bildung, letzten Endes sind sie einig in dem Verwischen der Gegensätzlichkeiten. Wir wenden uns der Frage der Arbeiterbildung zu. Gerade deshalb, weil der Sozialismus die Vorgeschichte der Menschheit beendigen will, die planmäßige Kontrolle des ganzen gesellschaftlichen Lebens zur Aufgabe hat, muß er an ein Organ der Menschen sich wenden, das klassenbedingt, wie wir nachwiesen, unentwickelt geblieben ist: an den Verstand der Massen. Die Größe der Zielsetzung der modernen Arbeiterbildung ist es, das Werkzeug brauchbar zu machen, das durch Jahrtausende nach Absicht und Wunsch der Herrschenden stumpf und ungeübt versunken lag: das Hirn der Masse. Wir verfallen aber nicht in den Fehler, uns einzig an den Verstand zu wenden. Wichtig bleibt es, die zwei anderen Türen zum Menschen zu kennen und zu öffnen: Charakter, Gefühl. »Was für eine Philosophie ein Mensch bekennt, das hängt davon ab, was für ein Mensch er ist«, sagt Fichte und macht damit auf den Zusammenhang zwischen Vorsatz und Persönlichkeit auf-

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merksam. Droht nicht unserer Bewegung die Gefahr des Risses zwischen dem Gedanken des Sozialismus und der Gefühlswelt des Bürgers im Proletarier selber? Kontrollieren wir unsere Gefühle? » Seinen Gefühlen vertrauen, heißt seinem Großvater und seiner Großmutter und deren Großeltern mehr gehorchen als den Göttern, die in uns leben: unserer Vernunft und unserer Erfahrung.« (Nietzsche) Wir haben eine Fülle von Arbeitern und Arbeiterinnen mit proletarischen Erfahrungen, mit revolutionierter Vernunft; aber ihrem Empfindungsleben, ihrem täglichen Verhalten merkt man sie nicht an. Wenn der Genosse Betriebsrat einen jungen Arbeiter beim Ohr nimmt mit der Rechtfertigung, er habe das auch mitmachen müssen, so wird der junge Arbeiter sein Lebtag nicht daraufkommen, daß die Hand, die ihn am Ohr hält, die Hand des »Genossen« ist. Es gilt unser ganzes Verhalten von unserem Verstande durchtränken zu lassen, wir haben es zu kontrollieren. Wir müssen erkennbar werden. Unser Gefühlsleben, unsere Charaktereigenschaften sind bislang erstarrte Geschichte. Es gibt nicht nur Ruinen auf den Bergen, es gibt Gefühls-, Gedanken-, Charakterruinen in uns selbst. Das macht die Pflege der Feste so bedeutsam. Schade, daß nicht in Diapositiven gesammelt wird, was für Plakate zu Arbeiterfesten einladen. Alle Stufungen der Geschmacklosigkeit enthüllen sich da, bis zu der Tatsache, daß es eine Organisation gibt, die auf einem Riesenplakat eine Gedenkfeier für Karl Liebknecht


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und Rosa Luxemburg ankündigt und, durch einen scharfen Strich getrennt, unten hinzufügt: Um 8 Uhr abends Maskenball! Welch ein Mangel der Beziehungen zwischen Gefühl und Verstand. Überlastet mit politischer Arbeit, haben unsere Vertrauensmänner kaum einen Blick dafür. Sie denken: Einmal sollen die Leute ihre Freude haben, warum ihnen den Spaß verderben ? Aber wollen, dürfen wir den Leuten ewig den Spaß gestatten, sich dumm machen zu lassen? Es wäre notwendig, in der Arbeiterpresse eine ständige Rubrik einzuführen: Der industrielle Sonntag. Es gibt nicht nur ein Arbeiterrisiko bei der Maschine, sondern auch ein Arbeiterrisiko an den Maschinen der bürgerlichen Vergnügungsindustrie. Es ist für den Vertrauensmann unmöglich, bei rastloser Arbeit an den sechs Abenden der Woche die Masse wieder zu der Vernunft zurückzuführen, die sie gehabt hat, ehe sie sich am Sonntag in die Veralberungsmaschinen des Kapitalismus hineingestürzt hat. Eine Wachsamkeit und Kritik sondergleichen müßten wider die offenkundig konterrevolutionären Leistungen des kapitalistischen Sonntags aufgeboten werden. Und diese Verdummten werden – ähnlich wie wir es von der Kinderbettelei erwähnt haben – von den Arbeitern selbst bezahlt: der Gottespfennig der Massentorheit, er wird ununterbrochen geleistet, ununterbrochen gesteigert. Welchen Sitz wollen Sie? fragt das Kino. »Geben Sie mir den ersten Platz, für meine Dummheit zahle ich

Höchstpreise.« Es gehört mit zu den Verfälschungen der Arbeiterbewegung durch die Arbeiterklasse selbst, in die Arbeiterheimstätten die kapitalistische Vergnügungsindustrie einzuführen. Eine Verbindung zwischen Bierpumpe und Massenschulung ist unmöglich. Hier harren unser ernste, schwere, notwendige Kämpfe und Siege. Wir haben die Losung unserer englischen Genossen aufzugreifen: Bread and beauty – Brot und Schönheit! Lenken wir nun unser Augenmerk auf die Verwendung des Urlaubes. Sie bringt Gefahren für den Urlaub selbst. Wer seine freie Zeit nicht auszunützen weiß, von dem ergreift seine tiefste Neigung gerne Besitz: der Mammonismus. Wenn ein Arbeiter, der Urlaub erhält, sich zum Kartoffelklauben meldet, um etwas dazuzuverdienen, und der Unternehmer bemerkt es, so wird er sich sagen: Ich habe dem Mann Urlaub gegeben, weil mir der Vertrauensmann sagte, der Mann sei urlaubsbedürftig; aber er arbeitet während seines Urlaubes, er will also doppelten Lohn haben. So wird der Urlaub gefährdet. Wenn wir aber den Urlaub zu einem machtvollen Organisationswerk gestalten, wird der Arbeiter seinen Urlaub so vorbereitet finden, daß er das ganze Jahr daraus Freude und Stärkung schöpft. Er kann nach Frankreich, in das Land der Mitternachtssonne, nach England kommen; er sieht das Land mit seinen Industriestädten, er gewinnt neue Einblicke; er wird erkennen, warum er sich für seinen Urlaub einsetzt. Der Urlaub wird so das große Erlebnis

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der Massen in jedem Jahr! Freilich: auch der Kapitalismus hat Einfallstore in uns. Das Arbeiterheim kann zur Bierbude, die Arbeiterreise zum Geschäft werden. Vereinigungen, die Arbeiterreisen zur Füllung ihrer Kasse planen, seien gewarnt: Auch diese Verfälschung der Arbeiterbildung wird uns nicht entgehen. Noch ein Wort der kulturellen Opposition gegen den bürgerlichen Kalender. Beginnen wir unseren eigenen Kalender zu gestalten! Der erste Sonntag im Jahr: Tag der Arbeiterkinder; dann Tag der Arbeiterinnen, Tag der Gewerkschaften, Tag der Genossenschaften, Tag wider den Krieg, Tag der Arbeiterbildung, Marx-Tag, Bebel-Tag! Würden wir dies tun, würden wir unseren Nothelfern die gleiche seelische Sorgfalt widmen wie die Kirchen ihren Nothelfern, es würde uns besser aus der Not geholfen werden. Förderung und Schätzung der Naturfreunde, der Arbeitersängerbewegung, der Arbeitersportler, sie werde kräftiger, allseitiger, ausgiebiger! Gewiß sind auch diese Bewegungen, wie alles, was wir gestalten und was uns gestaltet, unter die Kritik des Sozialismus zu stellen. Wenn Arbeiter schlecht oder Schlechtes singen, so haben wir es ihnen frank und frei zu sagen. Die Arbeitersängerschaft wolle an der modernen Musik nicht vorübergehen, sie spüre die revolutionären Bewegungen auch auf diesem Gebiet, sie vermittle sie uns! Wann feiert das soziale Volkslied seine Auferstehung? Das Lied der Armen aller Zeiten, entreißen wir es vergessenen Chroniken!

Beherzigen wir das Wort des tapferen Jean Baptiste Clement: »Bisher hat das Volk immer nur die Lieder gesungen, die für jedermann bestimmt waren – es ist endlich Zeit, daß es die Lieder singe, die ihm allein gelten!« Die Arbeiterturner wollen unsere Jugend nicht im Geiste Vater Jahns erziehen! Alle diese Bemerkungen erhellen die Notwendigkeit der Schulung des Charakters. Durch tausendjährige Untertänigkeit, Hörigkeit, Autoritätsgläubigkeit wurden wir unfähig gemacht, Vertrauen zu uns selber, zu unserem Wert, zu unserer Persönlichkeit zu gewinnen. Minderwertigkeitsgefühl, verbunden mit dem Wunsche, geringste Verantwortlichkeit zu tragen, kennzeichnet noch manchen Arbeiterverein. Kleinbürgerliche Unselbständigkeit, nistet sie nicht in unseren Reihen? Aber unsere Aufgabe ist nicht die Aufdeckung der Dummheit, sondern ihre Überwindung. Verstand, Charakter und Gefühl in gleicher Stärke von der Leuchtidee des Sozialismus entflammen zu lassen, ist die Kunst der neuen Erziehung. Es gibt Zusammenhänge zwischen einem Arbeitersinfoniekonzert und dem Lehrgang über Geschichte in einer Arbeiterschule im selben Orte. Wenn man in ein Sinfoniekonzert kommt und hört Schubert und fühlt diese Vormärzmusik und dann Gustav Mahler: Großstadtmusik – dann erst hat man die Geschichte, hat Musik in sich. Dieses Aufspüren der Zusammenhänge ist das Entscheidende im Werden aller Kultur. Darum ist ja bürgerliche Festkultur in un-


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serem Gewande so beschämend für uns. Zwischen einer Faschingsunterhaltung und dem Marxismus ist keine Bindung zu schaffen. Planvollen Zusammenklang aller sozial wertvollen Regungen des Gefühls, des Charakters, des Verstandes der proletarischen Massen zustande zu bringen tut not. Wie aber geht der Weg dahin? Kleinarbeit, mühevolles, opferreiches, gedankenkühnes Menschengestalten rastlos von unten auf, das ist das Geheimnis. Organisation, Finanztechnik, Pädagogik – auf diesen treuen Pfeilern ruht das proletarische Erziehungsgebäude, das nur das Werk des Proletariats selber sein wird. Die Organisation der Arbeiterbildung findet ihre geglückte Form im Aufbau vom Ortsbildungsrat mit seinem Stab der Betriebs- und Häuserbildungsräte über die proletarischen Kreis-und Landesbildungsausschüsse bis hinauf zu den Arbeiterbildungszentralen und der aus ihnen entstehenden Internationale der Arbeiterbildung. Ohne Funktionäre der Arbeiterbildung keine Arbeiterbildung! Zugleich, ja vorerst Schulung dieser Helfer und Helferinnen in eigenen, regelmäßig wiederkehrenden Bildnerkursen! Errichtung von Fachbüchereien, Herausgabe von Merkblättern und Lehrbüchern, Vermittlung der wachsenden Zahl der Zeitschriften für sozialistische Erziehung. Jeder unserer Mitarbeiter spüre immerfort den Zusammenhang der geistigen Bewegung vom kleinsten Fabrikdörfchen oder Waldarbeiternest bis zu

den bewundernswerten Leistungen der Arbeiterakademien und großstädtischen Arbeiterbildungsinstitute, bis zu der allumfassenden Kulturarbeit des Proletariats auf dem Erdball! Ewig neugenährter Ehrgeiz halte die tausend namenlosen Pioniere dieser stillen, aber gewaltigen Revolution der Geister in Atem! Der zweite Pfeiler aller Bildung heißt Finanztechnik. Nur eine Arbeiterschaft, die weiß, was sie mit ihren Mitteln zu machen hat, ist reif für Bildungsbewegung. Die Sozialdemokratie hat auf europäischem Boden Unsterbliches für die Schulung der Massen geleistet. Der Einsicht der Parteivorstände ist kaum je noch gerühmtes und doch unvergleichliches Mäzenatentum zu danken. Es ist aber nicht möglich, politische Mitgliedsbeiträge auf die Dauer so stark für Kulturaufgaben zu verwenden. Proletarische Bildungssteuer heißt die neue Losung, vor einem Jahrzehnt noch belächelt, heute auf dem Wege, überall Wirklichkeit zu werden, wo proletarischer Kulturwille lebt und drängt. Die Arbeiterschaft erwäge, nicht ob sie eine Bildungssteuer einführen soll, sondern in welchem Ausmaß Krisenhaftigkeit oder Konjunktur des Augenblicks dies gestatten. Nicht an dem Gedanken ist Kritik zu üben. Der Durchführung des Gedankens diene unsere Anstrengung. Freilich: die Bildungssteuer enthüllt Schwäche oder Stärke der Arbeiterbewegung selbst. Wer ist denn ihr Träger, ihr Quellgrund? Nur auf belgischem Boden das Proletariat in seiner Gesamtorganisation. Meist

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sind die Bildungszentralen immer noch nur Parteiwerk; ehrenvoll für die Partei, aber nicht letzte Gestalt. Fallen die Früchte der Massenschulung allein dem politischen Klassenkampf als Erfolg zu? Sie genießen zumindest mit gleichem Anteil Gewerkschaften und Genossenschaften. Es gibt keine proletarisch-revolutionäre Bildungsarbeit – es sei denn kleingeistige, bedeutungslose Parteimechanik –, die so eingeengt werden könnte, daß sie nur politisch, nur gewerkschaftlich, nur genossenschaftlich erzieht. Es gibt für den Sozialisten keine politische Bildung, die nicht wirtschaftliche Schulung zugleich sein müßte. Und umgekehrt. Und den ganzen Menschen erfassen wir bis ins Gefühl, bis zum Charakter. Und wenn er Solidarität als das Herz der Arbeiterklasse klopfen hört, ist er auch als Gewerkschafter, ist er auch als Genossenschafter solidarisch. Es taucht als Frage auf, die nicht heute gelöst wird, die aber gelöst werden muß: die Zusammenfassung aller Bildungsbewegungen und Bildungsbetrebungen von Partei, Gewerkschaft und Genossenschaft. Dann versinkt die Vorgeschichte der Arbeiterbildung, mit ihr die Vergeudung von Geldern und Kräften, die Aufopferung von Lehrern und Schülern. Dann erst beginnt, beginnt (!) die Klassik der proletarischen Kultur. Und Arbeiteruniversität und Arbeiterbühne und Film und Radio und Buch und Bild und Jugendfarm und Arbeitermuseum und Festspielhalle und Arbeiterhotel treten in den Dienst der Vermenschlichung. Ca ira!

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Bis dahin haben wir den dritten Pfeiler der Arbeiterbildung aufzurichten: die SozialPädagogik. Alle Forderungen der Anschaulichkeit, der Selbsterarbeitung gilt es auch in den Schulen des Sozialismus lebendig zu machen. In unseren Lehrformen, vom Lichtbild bis zum Internat, ist uns schon manches Vorbild gelungen. Die Leistungen der sozialistischen Sonntagskurse, der proletarischen Sommerschulen mit ihren Exkursionen und Seminaren, sie verdienen längst ihre Schilderer. Was die geschulten Leiter unserer Arbeiterbüchereien im stillen wirken, wie sie die Arbeit der wissenschaftlichen Kontrolle des proletarischen Lesedurstes durchführen, wie sie täglich seine Schwankungen überprüfen und daraus Gesundheitsberichte ablesen über die geistigen Fähigkeiten ihrer Klassengenossen, ihre Schwächen, ihre Steigerungen – wenige wissen darum. Doch was bald, bald jeder Helfer des Sozialismus wissen und in sich rings zum Durchbruch reißen müßte, das sind die großen, uns selbst zur Größe mahnenden Ziele der Arbeiterbildung: Abschied vom mittelalterlichen Menschen in uns letzten Früchten kleineuropäischer Kultur, Aufleben allgemeiner wissenschaftlicher Gesinnung, Erwachen des schöpferischen Bewußtseins von der sozialen Anwendbarkeit des Wissens. Wer aber ist unser Helfer? Auf sechs Gruppen innerhalb der Arbeiterschaft hat sich der Eifer unserer revolutionären Erzieher gleichmäßig und gleichzeitig zu erstre-


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cken. Zunächst auf die Arbeiter, auf die Männer. In ihnen vielfach noch letzte Ruinen des Männerhochmuts. Arbeiter vergessen noch, daß Sozialismus nicht einmal halber Sozialismus ist, wäre er nur verankert in den Herzen und Hirnen der Männer. Wir brauchen ebensosehr sozialistische Bildung der Frau. Arbeiter, geht auch in die Arbeiterinnenschulen! Erst wenn der Arbeiter und die Arbeiterin alle Ausbeutungsformen des Mannes und der Frau in der heutigen Wirtschaft kennen, wird sich eine der großen Gefühlsrevolutionen für das Zusammenleben der kommenden Geschlechter ermöglichen, die revolutionäre Kampfkameradschaft. Aber nicht nur Mann und Frau wollen gleichzeitig geschult werden, ebenso Masse und Führer. Es soll keine Ironisierung sein, sondern Fragestellung: Die Führer haben durch die Trägheit der autoritätsgläubigen, mittelalterlichen Masse so unendlich viel zu tun, daß sie im besten Falle Zeit haben, Kurse zu organisieren, aber kaum mehr Zeit, Kurse selber zu besuchen. Neben den Massenschulen also Führerschulen! Aber letzten Endes Auflösung der Masse in lauter Funktionen. Jeder hat Führer zu sein in einem Teilgebiet. Endlich neben Mann und Frau, neben Führer und Masse: Erwachsene und Kinder. Die Kinderfreundebewegung zählt noch zu wenig Ortsgruppen auf der Erde. Was der Vertreter dieser Bewegung in Oxford ausgesprochen hat, ist wahr: die Arbeiterschaft braucht zu ihrem Aufstieg die Besonnen-

heit der Erwachsenen, aber auch die Anmut der Kinder. Wir wollen nicht vergessen, daß der Kinderbewegung ahnliche Verfälschungen drohen wie den Erwachsenen. Hier gilt Kerlow-Löwensteins Wort: »Die Arbeiterklasse hat dafür zu sorgen, daß die Bourgeoisie uns unsere Kinder nicht raubt.« Gestärkt sei die Erkenntnis: Der Kapitalismus ist auch ein Verbrecher am Intellekt, am Charakter, am Gemüt der Masse. Pestalozzi, der Vorkämpfer der Volksschule, hat gesagt: »Ich kann mir kein Verbrechen an Gott, am Menschen, am Vaterland denken, das demjenigen gleichkommt, die Kräfte der Menschennatur, besonders im armen Menschen, mit Absicht, mit Mutwillen und Vorsatz in ihrem Keime zu ersticken.« Dieses dem edlen Sinne undenkbare Verbrechen, den Geist der Masse mit Absicht, mit Mutwillen, mit Vorsatz zu ersticken, ist tägliche Übung dieser seelenlosen, seelenmordenden kapitalistischen Wirtschaft. Proletarische Kulturarbeit heißt: Vorarbeit zur Aufhebung dieses Verbrechens. Die Französische Revolution, der Aufstieg des Bürgertums in seiner Glanzzeit rissen Rousseau zu den Worten hin: »former des citoyens«, »Bürger gestalten«. Unsere Pflicht ist es, unsere Sendung, den Proletarier und die Proletarierin zu bilden, zu gestalten. In einer Darstellung der Niederlande aus jener Zeit, da der Weltverkehr der Gegenwart entstanden ist, um das Jahr 1600 herum, ist zu lesen, daß damals in den Niederlanden jedes Haus eine Schiffahrtsschule, kein Haus ohne Seekarte war. Unser sei das

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Werk, jede Arbeiterstube zur Schule der Zukunft zu machen. Und was ist Zukunft? Befreiung des großen Gefangenen: des Menschen.

Für die Republik Österreich Rede am 4. März 1944 im Hunter College, New York Zwei rätselhafte, zwei erstaunliche und denkwürdige Sätze stammen von den Lippen Franz Schuberts. Im Gespräch mit einem Freund hat er eines Tages eine Frage aufgeworfen und sie auf der Stelle beantwortet. Seine Worte lauten: „Kennen Sie eigentlich lustige Musik? Ich nicht.“ Wer es will, kann in diesem Schubert-Wort die Eigenart und das Geheimnis der österreichischen Menschen, das Wetterleuchten des österreichischen Schicksals bemerken. Man hält uns Österreicher für ein heiteres und für ein erheiterndes Völklein. Friedrich Schiller hat uns ein Phäakenvolk genannt. Grillparzer hat von einem „Capua der Geister“ gesprochen. Wienerischer Spaß, älplerische Gemütlichkeit, Pratertanz und Walzerklang – sind wir das nicht? „Fahr`n ma, Euer Gnaden!“ – „Küß d´Hand, gnä`Frau.“ – Vogerl, fliag in d`Welt hinaus!“ – „Da habts mei letztes Kranl.“ – „Es wird ein Wein sein.“ Und „Wir wer`n kann Richter brauchen.“ Sind wir das nicht? Anmut, Frohsinn, ein bißchen Leichtfertigkeit, das süße Mädel, Wien, Wien, nur du allein, Prozession und Ringelspiel, sind wir das nicht?

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Wir? Wer denn? Ich bin Wiener, Wiener Kind, Wiener Arbeiterkind. Ich war Wiener Student. Ich war der Leiter der Wiener Arbeiterhochschule. Drei Jahrzehnte hindurch war ich mit hunderttausend österreichischen Arbeitern und Arbeiterinnen in Fühlung und Freundschaft. Wir alle waren nicht die spaßhaften, trällernden und lustigen Seifensieder. Wir standen und stehen an Schuberts Seite. Wir kennen keine lustige Musik, einer Weltlegende, einer Operettenmythe zum Trotz und zur Berichtigung, zur Überraschung und zur Kenntnisnahme. Was ist denn unsere Eigenart, unser Geheimnis? Daß wir in Wesen und in Äußerung, in Haltung und Gemüt die zu wenig gekannte Geschichte unserer Heimat darstellen. Wir sind Ergebnisse. Wir sind Zeugen. Wir sind Prophezeiungen. Bis um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gab es so etwas wie eine österreichische Geschichtsforschung nicht. Die Archive waren geheim und geschlossen. Die Zensur war offen und schamlos. Nur Lakaienhirnen waren Quellen und Belege der Vergangenheit zugänglich. Nur papistischen, nur kaisertreuen Augen entrollten sich die Pergamente der Habsburgermacht, der Habsburger-Nacht. Erst vor neunzig Jahren wurde das Geschichtsinstitut in Wien gegründet. Kaum seit drei Generationen wird österreichische Geschichte durchforscht. Sie hat mit Arneth begonnen. Sie wurde mit Otto Bauer zu Grabe gestoßen. Aber nicht für immer.


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Diese österreichische Geschichte kennen, heißt den Sturmatem, das Märzversprechen verspüren, die durch die Worte brausen: Für die unabhängige, demokratische Republik. Das ist nicht eine flinke Losung. Das ist nicht ein geschickter Aufruf. Das ist nicht Blitz erst für die Himmel der Zukunft. Das ist nicht in unseren Tagen in Teheran geboren. Die unabhängige demokratische österreichische Republik ist der zähe, bluterprobte, wachsende Wille der Leute vom Donauland und aus der Steiermark, von Salzburg und aus dem Tirolischen seit Jahrhunderten. Für Freiheit gegen Leibeigenschaft, für Selbstverwaltung gegen Thron und Krone, für die Rechte jedermanns gegen die Vorrechte einzelner – das ist die ernste Musik aus Österreich, das ist Figaros Lied vor dem Grafen, das ist die Neunte Symphonie und die Unvollendete Symphonie, das sind „Die vier Jahreszeiten“ von Haydn und die „Vier ernsten Gesänge“ von Brahms, das ist „Prometheus“ und „Der Atlas“ von Schubert, das ist Hugo Wolfs „Feuerreiter“ und Alban Bergs „Wozzek“, das ist das wilde und heiße Lied von Österreich: „Wer wird die Straßen dann kehr`n?“ Das ist die unterirdische Sicherheit, der geheime Trotz, mit dem österreichischer Bauer, österreichischer Bürger, österreichischer Arbeiter stritt und litt von Vater zu Sohn, seit eh und je, ob auch ungenannt, ob auch vergessen, ob auch verdeckt durch Legen-

de, ob auch im Schatten der Scheiterhaufen, der Galgen und der Kerker. Österreich, das ist der Bundschuh und der Krieg gegen die Bauern. Österreich, das ist die Aufklärung und der Krieg gegen die Bürger. Österreich, das ist der Sozialismus und der Krieg gegen die Arbeiter. Österreich, das war die Ermordung der Freiheit im Menschen. Österreich, das wird die Auferstehung des Menschen in Freiheit. 1524, 1525 glorreiche Erhebung der Bauern in Salzburg und in Schladming, in Linz und in Wiener Neustadt, in Mondsee und in Vöcklabruck. Der Leibeigene steht auf, so in Österreich wie in Böhmen und in Ungarn. Erhebung gegen die Land- und Waldherren in Ornat und Panzer. Für die Freiheit der guten Erde. Gegen Robot und Zehent. Männer aus der Tiefe steigen auf und werden beherzte Helfer der Gepeinigten. So Michael Gaißmaier zu Innsbruck. So Jakob Huetter zu Schwaz und Ulrich Muellner zu Klausen. So der Bauer Stöckl aus Bramberg im Salzburgischen. So Stephan Fadinger und Christopher Zeller zu Linz. Nie gehört diese Namen und diese Schicksale? Aber sie sind Österreich. Und wenn sie Jagd machen auf Michael Gaißmaier, und sein abgeschlagenes Haupt wird Ferdinand dem Katholischen von Padua nach Innsbruck gebracht, und sie erhalten ihr ehrloses Handgeld getreu ausbezahlt in Gold, Silber und Kupfer, denn du sollst nicht morden – so weht durch diese Geschichte um 1528 allbereits die

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Geschichte von Koloman Wallisch, vierhundertundsechs Jahre voraus. Und der Krieg für die Leibeigenschaft, der Krieg gegen die Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt, wird gewonnen, wird von Dynastie und Kirche gewonnen. Der Eiserne Reiter siegt. Die Kämpfer für Freiheit werden gepfählt, verbrannt, gehenkt, ertränkt. Oder man nimmt ihnen Habe, Pflug und Erde und jagt sie in die Fremde. Ist das alles verschollenes Geschehen? Die Soldateska von damals, die Barbarei von damals, der Geist der Gegenreformation, er lebte bis Dollfuß und Starhemberg. Er lebte noch in Adolf Hitler. Für ein unabhängiges, für ein republikanisches, für ein demokratisches Österreich! Das heißt Aufrichtung, Befreiung, Erziehung, Vermenschlichung des österreichischen Bauern. Von New York aus unser Gruß an Michael Gaißmaier, an Stephan Fadinger! 1789, 1848. Und die amerikanische und die französische Revolution heben ihr Haupt, das Haupt der Aufklärung. Spirit of Democracy. Und Jefferson sagt: I have sworn upon the altar of God hostility against every form of tyranny over the mind of man. Die Worte fliegen über Paris an den Strand der Donau. Männer, diesmal nicht an Pflug und Egge, diesmal Männer der Feder und der Forschung, erheben sich auf österreichischem Grund, die Professoren, die Studenten der Universitäten. Aufklärung und Liberalismus rufen nach Veränderung der Verwaltung in Staat und Stadt. Der Eiser-

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ne Reiter schickt zunächst seinen Warner in der Gestalt Metternichs voraus. Der Vormärz lebt auf mit seinem Rotstift, mit seinen Naderern, mit seinen Kasematten zu Wien, zu Brünn und Olmütz. Und dann 1848. Und der Liberalismus wird in Prag und in Mantua, in Arad und in Wien barbarisch niederkartätscht. Der Eiserne Reiter ist in Dreigestalt gekommen und die Erwürger der bürgerlichen Freiheit heißen Windischgrätz, Jellaĉić, Radetzky. Robert Blum sinkt dahin, der Buchhändler. Alfred Julius Becher sinkt dahin, der Musiker. Dahin sinkt Hermann Jellinek, der Arzt. Die Herren Offiziere lassen in die Klingen ihrer Säbel drei Buchstaben ritzen: W.I.R. Wie liest man das? Wir? Ja. Und was heißt es? Windischgrätz. Jellaĉić. Radetzky. Geist von ihrem Geist ist Adolf Hitler, der Bürgerverderber, der Bürgerfeind. Aber unsere New-Yorker Versammlung, der kommenden unabhängigen demokratischen Republik Österreich zu Diensten, ruft über den Ozean hinweg ihren Gruß an Robert Blum, an Alfred Julius Becher, an Hermann Jellinek. Nicht alle sind tot, die begraben sind. Und 1934. 1934, nicht erst 1938. Die Kanonen derselben alten Mächte gegen Bauernrecht und gegen Bürgerfreiheit speien ein letztes und schreckliches Mal ihren Haß gegen Verkünder einer neuen Zeit und feuern in Heimstätten, die die Namen Goethe, Marx, Matteotti tragen, und schießen auf die Häuser und auf die Menschen des modernen Sozialismus und verhängen


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das Standrecht über das Menschenrecht und ermorden Georg Weissel, den Ingenieur, Anton Münichreiter, den Arbeiter, der abends Bibliothekar war, und Koloman Wallisch, Sohn aus Bauernblut. Und Menschenrecht und Menschenwürde sind gehängt und erschossen. Das Inferno des Krieges will seine Flammentore schließen. Wir stehen vor der Aufrichtung der unabhängigen demokratischen Republik Österreich. Von New York aus unseren Gruß euch, Weissel, Münichreiter, Wallisch!

Was weiter wird, noch harren wir. Doch wird`s die Freiheit werden. Die Freiheit dort! Die Freiheit hier! Die Freiheit jetzt und für und für! Die Freiheit rings auf Erden!

Nachzuholen den Triumph der Sache der freien Scholle, den Triumph der Sache des freien Denkens, den Triumph der Sache der freien Arbeit – das ist die Aufgabe des Österreichers. Wir werden ihrer würdig und gewachsen sein, wir, die Verächter der Windischgrätz, Jellaĉić und Radetzky, wir, die Söhne von Gaißmaier, Becher und Wallisch. In den Bränden der Gegenwart brechen zusammen Konterreformation, Konterrevolution, Kontersozialismus. Ein Kapitel der „Vorgeschichte der Menschheit“ wankt seinem schmachvollen Ende zu. Ein kleiner, nicht so wichtiger, aber leiderfahrener Bruder, ein immer wieder niedergeworfener, aber ein unbezwingbarer Bruder im wachsenden Weltkreis der Zivilisation, ein Bruder unter Brüdern, ein Lied auf der Lippe, Unbeugsamkeit in den Adern – das wird die unabhängige demokratische Republik Österreich sein. Ihr unser Herz! Sie unser Alles!

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Josef Luitpold Stern

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In der Reihe Zeitgeschichte und Politik sind bisher erschienen: Martina Krenn, Maria Rathgeb 90 Jahre Betriebsratsgesetz 1919-2009

Marcus Strohmeier Aufbruch in die Zukunft. Aus der Geschichte des Ă–sterreichischen Gewerkschaftsbundes

Bestellung im Bildungsreferat des Ă–GB E-Mail: bildung@oegb.at


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