Volksbuehne_Berlin_Anthropos, Tyrann (Oedipus)_Programmheft

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VOLKSBÜHNE

Anthropos, Tyrann (Ödipus) von Alexander Eisenach nach Sophokles



Das hier wird eine Tragödie gewesen sein. Das hier wird keine Überschreibung, keine Aktualisierung, keine Interpretation gewesen sein. Diese Welt wird keine Welt gewesen sein, die Sie verstanden haben. Diese Tragödie wird keine Welt gewesen sein, die sich durch Ihr Betrachten und Erkennen verstehen ließ. Diese Tragödie wird nicht das Sujet Ihrer Erkenntnis gewesen sein. Manche sagten, die Tragödie sei tot, sie sagten, es gäbe keine Zeit mehr für die Tragödie. Sie waren überzeugt von ihrer Klugheit, ihrem Selbstbewusstsein, ihrer Fähigkeit zur Erkenntnis. Die Tragödie war ihnen nichts, da sie sich selbst genug waren. Alles hatte sich ihrem Verstehen unterzuordnen und diese Welt war nur für sie. Diese Welt war nur wichtig als Trägerin von Bedeutung. Jede Welt war nur wichtig als Trägerin von Bedeutung, war wichtig als etwas, das für den Menschen war. Der Mensch wurde zur ordnenden Kraft der Dinge. Zum Anthropos, der nicht länger Gegenstand des Lebens sein wollte, sondern Herrscher. Anthropos, Tyrann. Er bezwang die Sphinx, indem er ihr Rätsel löste. Seine Antwort „Der Mensch“ wurde Antwort auf alles. Die Sphinx musste weichen wie die anderen Kreaturen. Die Stadt war erlöst, und der Rätsellöser wurde ihr Herrscher. Der Anthropos lebte von der Hoffnung. Sie war die wesentliche Kategorie, die er seinem Verstehen und Erkennen hinzufügte. Ja, er verband sogar sein Verstehen mit seinem Hoffen und stellte einen kausal-logischen Zusammenhang zwischen beidem her. Als leite sich die Zukunft des Lebens notwendig aus seinem Denken ab. Das Leben, die Welt, die Wirklichkeit war eine Bühne geworden, auf die man von außen schaute. Die Tragödie, diese Tragödie wird sich nicht von außen betrachtet haben lassen. Diese Tragödie wird bereits gespielt worden sein, wenn die Prozesse des Verstehens beginnen. Diese Tragödie wird keine Hoffnung produziert haben. Sie wird keine Anleitung jedweder Art gegeben haben. Die, die sagten, die Tragödie sei tot, setzten sich selbst an die Stelle der Götter. Sie wollten nicht länger akzeptieren, dass sie anderen Kräften ausgesetzt seien, als denen ihres Denkens und Handelns. Sie setzten ihr Bild, ihr Verständnis von der Welt absolut und befreiten sich aus dem Wechselspiel der streitenden Götter, den Kräften des Schicksals, die um sie kämpften. – Alexander Eisenach, Anthropos, Tyrann (Ödipus), Prolog


Anthropos, Tyrann (Ödipus) von Alexander Eisenach nach Sophokles Mit: Johanna Bantzer, Manolo Bertling, Sarah Franke, Sebastian Grünewald, Vanessa Loibl, Emma Rönnebeck, Sarah Maria Sander; den Musikern Niklas Kraft und Sven Michelson sowie Prof. Dr. Antje Boetius (Direktorin des Alfred-Wegner-Instituts) und Dr. Frank M. Raddatz (Theater des Anthropozän der Humboldt-Universität zu Berlin) Regie: Alexander Eisenach Konzeptionelle Mitarbeit: Frank M. Raddatz (Theater des Anthropozän) Bühne: Daniel Wollenzin Kostüme: Lena Schmid, Pia Dederichs Video: Oliver Rossol Musikalische Leitung: Niklas Kraft, Sven Michelson Licht: Johannes Zotz Dramaturgie: Ulf Frötzschner Regieassistenz: Jan Jordan Bühnenbildassistenz: Carlotta Schuhmann Kostümassistenz: Linda Siegel Dramaturgieassistenz: Lisa Walder Inspizienz: Maria Bergel Soufflage: Elisabeth Zumpe Theatermeister: Jan Krüger Stellwerk: Jörg Neumann Ton: Gabriel Anschütz, Hannes Fritsch, Tobias Gringel Video und Live-Kamera: Oliver Rossol Video: Jens Crull, Benjamin Hartlöhner Stream-Technik: Dirk Heinrich Tonangel: Jonathan Hamann


Maske: Ilona Siefert, Antje Schulz Requisite: Johannes Buchmann Damen- und Herrengarderobe: Berit Prang, Daniela Urban Regiehospitanz: Caspar Unterweger Bühnenbildhospitanz: Hannah Brenner Kostümhospitanz: Carla Richardsen Dramaturgiehospitanz: Albert Heilmann Technische Direktion: Stefan Pelz; Technische Assistenz: Simon Behringer; Konstruktion: Sascha Gierth; Leitung Bühnentechnik: Andreas Dunkel, Jan Zanetti; Leiter der Beleuchtung: Kevin Sock; Leiter der Abteilung Ton/Video: Klaus Dobbrick; Chefmaskenbildnerin: Ilona Siefert; Chefrequisiteur: Moritz Marquardt; Leiterin der Ausstattung: Ann-Christine Müller; Kostümdirektion: Ulrike Köhler; Damengewandmeisterinnen: Käte Lehnhoff; Herrengewandmeisterinnen: Katrin Nowak, Marén Kutschick; Kostümmalerin: Teresa Hochfeld; Werkstättenleitung: Frank Mittmann; Tischlerei: Colin Mitchell; Schlosserei: Christian Schwarz; Plastik und Malsaal: Irma Fuchs; Dekoabteilung: Ramona Kubusch, Petra Stolze. Dank an die Praktikant*innen der Werkstätten. Premiere am 19.02.2021 als Livestream aus der Volksbühne Berlin Aufführungsrechte: Rowohlt Verlag GmbH Kooperation mit dem Theater des Anthropozän der Humboldt-Universität zu Berlin. Für die großzügige Unterstützung bei den Dreharbeiten danken wir dem Museum für Naturkunde Berlin.


Ödipus Reloaded

Erschien es im antiken Mythos und somit auch im Radius der Tragödie durchaus plausibel, wenn zum Beispiel Flüsse als Akteure auftraten, lautet gegenwärtig für das Theater die kardinale Frage, in welcher Form jenseits romantisierender Strategien oder einer Neo-Mythisierung die Rückkehr der Naturmächte auf der Bühne denkbar ist. Mit dem Begriff des Aktanten hat die zeitgenössische Epistemologie in kategorialer Gestalt eine Verwandtschaft mit den Protagonisten destilliert. Auch wenn der Mythos verstummt ist, verleiht die Literatur, wie Ovid, Gogol, Kafka oder der Prosaeinschub Herakles 2 von Heiner Müller zeigen, dem Aktanten von der Antike bis in die Gegenwart weiterhin ein Gesicht. Künstlerisch zertifizieren diese symbolischen Konstruktionen ihre Triftigkeit durch die Qualität der Kompositionen auf der Ebene des Ausdrucks. Anders als wissenschaftliche Wahrheitsoperation unterliegen sie nicht Kriterien wie Kohärenz, Überprüfbarkeit, Widerspruchsfreiheit und dergleichen. Im Straßenbau sollte eine Überführung, die diesen Kategorien nicht genügt, besser nicht realisiert werden. Dagegen kann sie im Reich der Kunst in unbekanntes Territorium führen wie Salvador Dalís Gebrochene Brücke veranschaulicht, die ganz offenkundig ins Jenseits ragt. Die Unterschiede zwischen der ästhetischen und der wissenschaftlichen Zugangsform zur Welt


sind evident. Für Nietzsche wie Calasso resultiert die Havarie der mythenbasierten Tragödie gerade aus dieser unterschiedlichen Verfasstheit von Wissenschaft und Kunst. Wie aber gestaltet sich deren Spannungsfeld nach der Einführung der Kategorie des Aktanten? Wird das Objekt der alten Epistemologie durch seine Aktivität definiert – also nicht länger nicht als (Roh-)Stoff, sondern Quasi-Subjekt –, lässt sich das vormals tote Ding sowohl mit künstlerischen wie mit wissenschaftlichen Verfahren als Wirkmacht erfassen und beschreiben. Auch wenn die Kunst ihren Eid auf das Uneindeutige und eine undurchschaute Komplexität ablegt und alles allzu Offensichtliche ihrer Dignität abträglich scheint und es dem wissenschaftlichen Denken im Gegenteil darum geht, Spannungen und Widersprüche aufzulösen und in eindeutig Verifizierbares zu übertragen, können sowohl Wissenschaft wie Kunst auf dasselbe Quasi-Subjekt referieren. Dessen zwei Seiten müssen sich nicht decken, aber überlappen womöglich. Sie stehen einander in jedem Fall nicht länger aus systematischen Gründen unvereinbar entgegen wie in der Ära von Mythos und Tragödie. War der tragische Aktant mythisch verfasst, stammt ein Großteil der Kenntnisse über dessen hybride Nachfahren unserer Gegenwart aus den Laboren, Versuchsanstalten, Satellitenprogrammen und Simulationsprozessen der wissenschaftlichen Kammern. Der scharfe Gegensatz zwischen Wissenschaft und Kunst schmilzt im Licht der anthropogen induzierten Aktanten, was mit einer Annäherung der divergenten Pole einhergeht. Als Aktant perspektiviert,


kehrt der mythologisch grundierte Akteur des tragischen Theaters als hybrider Exponent im Anthropozän auf die wissenschaftlich-dionysischen Tanzplätze zurück. Bei dieser Kombination von Wissenschaft und Dionysischem handelt es sich keineswegs um eine Synthese oder Aufhebung der Gegensätze, sondern um ein durch die drohende Menschheitskatastrophe verklammertes Amalgam oder eine Assemblage des Heterogenen voller innerer Differenzen. Das anthropozäne Theaterkunstwerk lässt sich somit strukturell als ein Nachfolgemodell von Nietzsches Perspektivierung des attischen Dramas einordnen, das seine Schubkraft ebenfalls von zwei gegenläufigen Polen bezog. Nicht der alte Mythos, aber sein epistemisches Substrat und die Wissenschaft bilden unter der Prämisse des Aktanten im künstlerischen Bereich eine neue Allianz heraus, wobei die Nähe der Wissenschaft zum Apollinischen und des Artistischen zum Dionysischen offenkundig ist. Bei dieser Bühne des Anthropozäns, die von humanen Protagonisten und hybriden Quasi-Subjekten gleichermaßen bespielt wird, handelt es sich demnach um ein Kraftfeld, das seine Spannungen, Interferenzen und Rückkopplungseffekte aus den vielfältigen Perspektivierungen der Aktanten bezieht. Situiert auf der Grenze von Kunst und Wissenschaft, ist die anthropozäne Bühne selbst hybrider Natur und bietet sowohl hochwertigen mytho-poetischen Beschwörungen der Akteure wie wissenschaftlichen Vorträgen über deren mittlerweile hybrides, weil anthropogen modifiziertes Wesen Raum. Tektonisch auf der Kreuzung von Erdgeschichte und einer ins Globale


erweiterten okzidentalen Kultur gebaut, szenisch entlang der Formel „Wissenschaft meets Kunst“ entwickelt, begegnen sich auf der Bühne des Aktantentheaters Schauspieler und Wissenschaftler auf Augenhöhe. Ästhetisch betrachtet, handelt es sich bei lyrischen beziehungsweise poetischen Zeugnissen und bei analytisch konzisen Sprachdokumenten um verschiedene Textsorten, die an keinen bestimmten Sprecher gebunden sind. Epistemologisch lässt sich dieses Vorgehen mit Michel Foucault begründen: „Die Wissenschaft, die objektive Erkenntnis ist nur ein möglicher Fall [...], mittels derer man das Wahre zum Ausdruck bringen kann“. Der französische Philosoph spricht im Kontext der Tragödie König Ödipus vom „Ritual der Wahrheitsmanifestation“ mit dem Ziel, „aus dem Verborgenen, dem Unsichtbaren, dem Unvorhersehbaren heraus das Wahre selbst aufscheinen zu lassen“. Den künstlerischen wie den wissenschaftlichen Wahrheitsmanifestationen ist gemeinsam, dass sie das Publikum, sowohl emotional wie kognitiv, metaphorisch wie diskursiv mit einer Kosmologie Bekanntschaft schließen lassen, in der nicht länger die humanen Akteure, sondern die nicht-menschlichen Quasi-Subjekte das Sagen haben. Auf dem Thron der Shakespeare-Zeit hat mittlerweile Erdmutter Gaia Platz genommen, und der Bühne obliegt es, die Zuschauer in deren ureigenem Interesse mit dem neuen Regime vertraut zu machen.

– Frank M. Raddatz


Zeitregime im Anthropozän Antje Boetius, Hans-Jörg Rheinberger und Frank M. Raddatz im Gespräch Frank M. Raddatz: Ich denke, es ist auch wichtig,

einen anderen Umgang mit der Zeit zu entwickeln. Das Anthropozän fordert uns auf, unsere Handlungen mit Voraussicht auf ihre Auswirkungen zu regulieren. Das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 umfasst das Leben einer Generation, die aufgefordert ist, ihre Lebensweise mit Blick auf die kommenden umzustellen. Hans-Jörg Rheinberger: Im Mittelalter wurden

Kathedralen über mehrere Generationen hinweg geplant – die Gesellschaft bewegte sich in langen Zeiträumen. Die feudale Gesellschaft hat sich über Jahrhunderte in ihren Binnenstrukturen nicht wesentlich verändert. Mit der Neuzeit trat eine unglaubliche Dynamisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse ein, sodass Veränderungen der Lebenswelt im Laufe einer Generation sinnlich erfahrbar wurden. Dagegen ließ sich die Natur als dasjenige abgrenzen, was objektiv – da es im Grunde immer gleichblieb – erforscht werden konnte. In der Wissenschaft ging es darum, die


ewigen Gesetze herauszufinden, welche die Dinge beherrschten. Hatte man die Kausalitäten einmal erkannt, ließen sich die Dinge nutzbar machen. Geschichtlich sind wir aber längst an einen Punkt gekommen, an dem wir begreifen müssen, dass der Planet, auf dem wir leben, selbst eine historische Größe ist, die sich mittlerweile auch in Generationszeiträumen, also in weniger als einem halben Jahrhundert, signifikant verändern kann. Das muss als Dimension erst einmal in den Köpfen der Menschen ankommen. Das ist keine einfache Aufgabe, denn beim Zeitbewusstsein handelt es sich um ein unglaublich komplexes Gefüge. Nicht nur, dass es insgesamt sehr vielfältig ist, sondern auch weil es in unterschiedlichen Dimensionen spielt: die persönlichen Erfahrungen, die geschichtlichen Erfahrungshorizonte und nun auch evolutionäre Koordinaten aufgrund einer Beschleunigung von Veränderungen der Natur, die es in der bisherigen Geschichte der Spezies so bisher nicht gegeben hat. Antje Boetius: Als entscheidend stellt sich für mich

dar, ob es uns bei den Menschen gelingt, von den kleinsten soziologischen Einheiten bis hin zur Nation, dem Kollektiv, der Öffentlichkeit die Investition in etwas ganz Langlebiges, in eine ferne Zukunft, in der man nicht mehr sein wird und auch die Enkel nicht, attraktiv erscheinen zu lassen. Einen solchen Gemeinschaftssinn haben wir ja gar


nicht. Dabei kommt nicht nur uns, sondern auch dem Verhalten von Bevölkerungen, die sich gerade von weniger als vier Tonnen CO2-Ausstoß im Jahr in Richtung zehn Tonnen bewegen, eine Schlüsselrolle zu. Hans-Jörg Rheinberger: Man sieht in der aktuellen Pandemie Dinge, die vor einem halben Jahr jenseits aller Vorstellungsmöglichkeiten waren. Zum Beispiel, dass man mit der Hälfte der Fliegerei auskommen kann, weil sich viele Angelegenheiten mühelos durch Konferenzschaltungen von zu Hause aus erledigen lassen. Wird das Homeoffice bleiben? Dass dadurch CO2 eingespart wird, ist evident. Antje Boetius: Leider bringen alle Corona-Lock-

down-Maßnahmen bis Ende des Jahres 2020 nur sieben Prozent Einsparung an CO2-Emissionen. Die achtzig oder neunzig Prozent, die noch zu schaffen sind, stecken vor allem in industrieller Produktion, Mobilität und Haushalt und zunehmend im Digitalen. Aber nun zurück zur Frage der Transformation und danach, ob die Kunst, das Theater diese beschleunigt. Ich frage mich überhaupt, ob es Beispiele in der Menschheitsgeschichte gibt, wo ohne Katastrophen, Krisen und gigantische Verluste, allein aus Hoffnung auf eine bessere Zukunft, eine Transformation stattgefunden hat.








Die tragische Matrix des Anthropozäns – eine theaterästhetische Spekulation So wenig die Biologie vorhersagen kann, welche Wege die Evolution einschlägt, sind künftige künstlerische Entwicklungen präjudizierbar. Doch lassen sich einige Eckpunkte jener theatralischen Artefakte extrapolieren, welche die Bühne des Anthropozäns bespielen. Zentrale Kategorien der Tragödie überlappen oder konvergieren gar mit Präliminarien des neuen Erdzeitalters. Grundbegriffe der Tragödienlehre des Aristoteles lassen sich mühelos auf die Koordinaten des Anthropozäns transponieren. Insbesondere der Tragödie König Ödipus des Sophokles scheint die theatralische Matrix des Anthropozäns eingeschrieben. Viele Jahre täuschte sich der rätsellösende Ödipus über die wirkliche Beschaffenheit seiner eigenen Geschichte. Nachdem er Kraft seiner Vernunft das Ungeheuer namens Sphinx gestürzt hatte, fiel ihm der Thron der Polis Theben zu, wie auch die experimentelle Wissenschaft nach Adorno den unheilvollen Triumph der Naturbeherrschung errang, als sie das Verhalten der blinden Naturkräfte in systematische Erklärungsmuster überführte. Erst als in Theben eine Seuche ausbricht, sieht sich Ödipus gezwungen, seine eigene Herkunft kritisch unter die Lupe zu nehmen.


Die Analogie zum anthropogenen Szenario ist frappant. Auch der grassierende Treibhauseffekt, eine unheilbare Klimapest, erfordert eine umfassende Begutachtung der karbonbasierten Lebensweise, der eingesetzten Technik im Verhältnis zur Biosphäre und eine Rekapitulation von deren Entstehungsgeschichte. So wenig sich der rätsellösende Ödipus der wirklichen Verfasstheit seiner eigenen Geschichte bewusst war, als er die Sphinx stürzte und mit seiner Mutter Kinder zeugte, wurde auch der Mensch von seiner Geschichte und den Folgen seiner Handlungen überrascht, als das Erdsystem begann, global auf lokale Aktivitäten zu reagieren. Das Zeitalter der Vernunft hatte die Marschrichtung vorgegeben, als René Descartes in seiner Abhandlung über die Methode von 1637 den Menschen „zum Herrn und Eigentümer der Natur“ erklärte. Dabei befand er sich ganz in Übereinstimmung mit jener theologischen Tradition, welche eine Schöpfung ex nihilo präsentierte und den Menschen aufgefordert hatte, sich diese Schöpfung untertan zu machen. Auch wenn in vorindustriellen Zeiten Spinoza oder Goethe für ein weniger herrschaftliches Verhältnis zur Natur plädierten, Hölderlin in seinen Kommentaren zu seinen Tragödienentwürfen zum Tod des Empedokles eine neue „Harmonie von Kunst und Natur“ (Ernst Mögel) avisiert und im tragischen Kunstwerk „die höchste Versöhnung wirklich zu seyn scheint“ (Hölderlin), musste Walter Benjamin 1940


verwundert feststellen, dass selbst ein materialistischer Begriff der Arbeit von einer folgenlosen Ausbeutung der Natur ausgehe. Nichts habe sich auf der Ebene der Theorie seit den Tagen des 19. Jahrhunderts geändert, als der mit Marx befreundete materialistische Philosoph Josef Dietzgen zu dem Schluss kam, dass die Natur „gratis da ist“. Das industrialisierte und mit gewaltigen Maschinen ausgerüstete zoon politikon schien die Natur als res nullius in Besitz nehmen zu können und die maschinellen Tätigkeiten, als „Stoffwechsel mit der Natur“ (Karl Marx) gefasst, schien allenfalls übersehbare Folgen zu zeitigen. Doch diese auf wissenschaftlicher Basis entwickelten Apparaturen sollten mit einer Zeitverzögerung von mehreren Generationen die bislang unabhängigen Größen Geschichte und Natur in einem neuen Zeitalter zusammenspannen. Verhielt sich die Geschichte blind gegenüber der Natur, muss der Mensch des Anthropozäns wie einst Ödipus begreifen, dass er selber jene Transformationen zu verantworten hat, die ihm bislang als ein äußeres meteorologisches Geschehen gegenübertrat. Wie der antike Ödipus unwissentlich den eigenen Vater erschlug, muss der heutige Mensch erkennen, dass er fahrlässig das alte Klimaregime zu Fall gebracht hat, ohne zu ahnen, in welchem existentiellen Verhältnis er zu ihm stand. Das, was die Tragödientheorie des Aristoteles als Harmatia, als blinden Fleck des Bewusstseins


oder als intellektuelle Fehlleistung bezeichnet, welche die tragische Kollision nach sich zieht, beruht aus der Perspektive des Anthropozäns auf einer fatalen Verkennung der Natur als einer Art ontologischer Invariante oder als neutralem Feld, auf dem sich ein quasi evolutionäres Fortschrittsgeschehen vollzieht. Das Anthropozän, „ein wahrhaft ödipaler Mythos“, so Latour, sattelt auf einem tragischen Kern, weil das autonome Subjekt der Aufklärung einsehen muss, dass seine Selbstverortung in der Souveränität einer Illusionsbildung gleichkommt. Auch wenn wir uns unter dem Aspekt der breiten Gegenwart noch nicht im Schlussteil von König Ödipus befinden, dämmert den kommenden Generationen wie dem thebanischen Herrscher immer mehr, dass er selbst das Desaster zu verantworten hat, was die Frage dringlicher werden lässt: „Doch ich / will wissen, wo ich hergekommen bin, / und wär’ es aus dem Staub.“ Der moderne Wiedergänger des tragischen Urbilds wird auf unschuldige Weise schuldig. So wie Ödipus seine Nachkommen in seine inzestuöse Misere verstrickt, drücken auch die Heutigen der Existenzweise der Kommenden einen irreversiblen Stempel auf. Denn es zeigt sich, „dass die Atmosphäre ein Gedächtnis hat: Sie hat den Rauch aus den Schornsteinen der frühen industriellen Revolution immer noch nicht ganz vergessen, und sie wird auch nichts von alledem ganz vergessen, was die Kohle-


kraftwerke der entwickelten Länder, die Heizungsanlagen der Megacities, die Flugzeuge, die Schiffe, die Automobile der Wohlhabenden und die unzähligen offenen Feuer der Armen auf allen Kontinenten in sie entlassen, obschon gewöhnlich die Hälfte davon durch Ozeane und Biosphäre gebunden werden.“ (Sloterdijk) Erst als Ödipus seiner wahren Genealogie und damit auch seiner Irrtümer gewahr wird, betritt er das feste Land der Wahrheit, und Sophokles porträtiert in Ödipus auf Kolonos den tragischen Heros als einen blinden umherziehenden, zu einer parasitären Lebensweise verdammten Bettler, der am Ende doch noch seinen Frieden findet. Doch steht das Schicksal der Nachgeborenen (Brecht) weiter in den Sternen. Womöglich können die Sprösslinge des technisch–industriellen Ödipus dank der unauslotbaren Potentiale ihres digitalen Maschinenparks eine vergleichbare Demontage wie die ihres antiken Urahnen abwenden, handelt es sich bei dem anbrechenden Erdzeitalter doch um eine Terra incognita, die ein Bündel von unterschiedlichen Möglichkeiten eröffnet, die von der Menschheitsdämmerung (Gumbrecht) bis zum rasanten Ausbau einer „intelligenten Technosphäre oder Noonsphäre“ (Sloterdijk) reichen, die mit der Geosphäre und Biosphäre kooperieren.

– Frank M. Raddatz


Flöhe im Pelz Das hier war doch mal die Bühne unseres Handelns. Das waren doch wir, die Geschichte geschrieben haben, die Geschichte gemacht haben. Die Geschichte war die Substanz unseres Erlebens und wir formten sie zur kunstvollen Erzählung. Wir verketteten, verknüpften, ließen Ursache und Wirkung blühen, schufen raffinierte Zusammenhänge und wurden immer kühner in unserer Meisterschaft. Wir dehnten unsere Herrschaft von der Beschreibung des Vergangenen aus in die fernste Zukunft. Die Spekulation war unser Handwerkszeug, mit dem wir die Zeit zum Derivat machten. Wir handelten mit Zeit und Zukunft. Der Markt wurde unser Orakel und die Geschichtsschreibung unser Mythos.


Die Götter? – Wir selbst. So dachten wir. Jetzt, wo sich die Geschichte zeigt, wo sie vor unseren Augen zu wirken beginnt, treten wir beschämt bei Seite und räumen das Feld. Wir müssen einsehen, dass unsere Herrschaft die von Kindern war, die Königinnen spielten und ihre Eltern als Untertanen und Reittier betrachten. Bis sie ins Bett müssen. Wir erkennen, dass die Verhältnisse umgekehrt sind, dass die Bühne unseres Handels eigentlich der Akteur ist, der unsere Machtphantasien geduldet hat wie Flöhe im Pelz.

– Alexander Eisenach


Impressum Herausgeber: Volksbühne Berlin Linienstr. 227, 10178 Berlin Intendant: Klaus Dörr Geschäftsführende Direktorin: Nicole Lohrisch Redaktion: Ulf Frötzschner Gestaltung: Hannah Göppel Textnachweis: Flöhe im Pelz ist ein Originalbeitrag von Alexander Eisenach, der Prolog Bestandteil seines Stückes Anthropos, Tyrann (Ödipus). Ödipus Reloaded sowie das Interview Zeitregime im Antropozän zwischen Antje Boetius, Frank M. Raddatz und Hans-Jörg Rheinberger sind Ausschnitte aus Das Drama des Anthropozän, dem im März 2021 erscheinenden Buch von Frank M. Raddatz im Verlag Theater der Zeit, Berlin. Die tragische Matrix des Anthropozäns ist ein Auszug aus Bühne und Anthropozän von Frank M. Raddatz, erschienen in Lettre International Berlin, Heft 122, Herbst 2018. Bildnachweis: Probenfotos von Thomas Aurin



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