VERTRIEBS-TOOLS Vision
Midsommar-Fest: Das Möbelhaus Ikea wirbt mit Traditionen und setzt damit auf Megatrends wie Freundschaft und Familie.
Kaufst du noch oder lebst du schon? Werte wie Freundschaft, Religion und Familie erleben in der Gesellschaft eine Renaissance. Der Verkäufer der Zukunft muss deshalb ein fairer Partner des Kunden sein – und mehr bieten als nur Produkte.
> Von Iris Kraft < och qualifizierte Verkäufer machen – wahlweise als Experten oder Spaßmacher – aus dem Verkauf Themeninszenierungen, und Marketing wird zum Lifestyle-Guide. Die Kommunikation zwischen Kunde und Hersteller ist interaktiv, die Kerntechnologie RFID erobert den Handel immer stärker. So lautet die Prognose der Zukunftsforscher für den Vertrieb von morgen. Oliver W. Schwarzmann, Zukunftsforscher der Bley und Schwarzmann AG,
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die Münchner Zukunftsforscherin Corinna Langwieser und auch der Siemens-Konzern in seinem von tns Infratest entwickelten Zukunftsszenario „Horizons 2020“ prognostizieren den bevorstehenden Wandel der Absatzkultur. Verkauf und Vertrieb, wie wir ihn kennen, entwickelt sich hin zu einer drahtlos vernetzten Kooperation mit dem Kunden – „Near Marketing“, „Network Marketing“ und „MultiChanneling“ heißen die Schlagwörter der Zukunft. „Der Verkäufer von mor-
gen wird dabei ein wichtiger, integraler Bestandteil des Marketing sein. Interaktive Kundeninformationssysteme und eigene Medienservices für den Kunden werden boomen“, sagt Oliver W. Schwarzmann. Im Zuge dieses Wandels, prognostiziert der Zukunftsforscher weiter, „wird der Kunde vom Abnehmer zum Partner und schließlich zum Fan“. Als Fans schließen sich die Kunden in Communities zusammen – wer dazugehört, zeigt, welche Werte er schätzt. Dank des UMTS-Netzes trifft
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sich diese Community überall unterwegs im Internet. Das Zusammengehörigkeitsgefühl spielt dabei als (Mehr-)Wert eine wesentliche Rolle. WERTEMARKETING STATT PRODUKTMARKETING Im aktuellen „Zukunftsletter“, herausgegeben von dem renommierten Zukunftsforscher Matthias Horx, wird die neue Studie „Werte im Wandel“ des Zukunftsphilosophen Dr. Andreas Giger zitiert, nach der das Wertemarketing in zehn bis 15 Jahren das reine Produktmarketing ablösen wird: „In Zeiten der Internet-Transparenz ist es überlebenswichtig, als Unternehmen bewusst einen Werte-Diskurs zu führen und proaktiv zu steuern. Die Konsumenten klagen Werte massiv ein.“ Vor diesem Hintergrund wird das Markenmanagement zum Wertemarketing, das sich in Lifestyle-Inszenierungen realisiert. „Die reine Ware wird letztlich“, ist Oliver W. Schwarzmann überzeugt,„ein Merchandisingprodukt sein. Gekauft werden Lifestyle-Inhalte.“ Biolüske in Berlin ist ein Beispiel dafür: In einem eigenen Kosmos klarer Werte – Gesundheit, fairer Handel – wird der Prozess des Verkaufens eine freudigspaßige Lifestyle-Inszenierung, die eine
große Anhängerschaft bindet. Ort der Inszenierung ist ein altes Kino aus den 50er-Jahren in Lichterfelde. Abends finden in dem stilvoll eingerichteten Laden Weinproben statt. Im Kochstudio veranstaltet Biolüske Kochkurse unter einem jeweils wechselnden Motto. Jochen Senf, bekannt als radelnder und kochender Kommissar Max Palu aus dem Saarbrücker „Tatort“, ist PromiKoch. „Die reine Freude“, heißt es auf der Homepage – „was anderes kommt bei Biolüske nicht in die Tüte.“ Anhänger des kultigen Bioladens können das Programmheft online abonnieren und ihren Lieben – ebenfalls online – „Einen schönen Abend“ bei Biolüske im Kochkurs schenken. Gutscheine für die Kurse sind ebenfalls online buchbar. „Performance Selling“ nennt Prof. Dr. Christian Belz diese Art des Verkaufens als „Leistung der Wertschöpfung“. Der Autor des gleichnamigen Buchs (Ueberreuter Verlag) und Professor für Marketing an der Universität St. Gallen bringt es auf den Punkt: „Zukünftige Verkäufer schaffen Mehrwert für Kunden und sind geschickte Mehrkämpfer.“ Markenweltbewusste Unternehmen wie Ikea bieten ihren Kunden heute schon etwas, was der Belzschen MehrwertPhilosophie nahe kommt: Wer Ikea-Fan
ist, bekommt den Lebensstil gleich mitgeliefert. Der schwedische Möbelkonzern verkörpert mit seiner Kampagne „Wohnst du noch oder lebst du schon?“ Werte wie Freiheit und Ungezwungenheit, Wärme, Freude und Lebendigkeit zu Hause. Der Einkauf bei Ikea dokumentiert die Übereinstimmung mit diesen Werten, Ikea-Käufer outen sich damit als Anhänger eines Lebensstils, der geprägt ist von Humor und zwischenmenschlicher Wärme. VERTRAUEN ZWISCHEN KUNDE UND VERKÄUFER Überhaupt: Wärme. Werte wie Freundschaft, Fairness, Spiritualität, Religion und Familie werden, da sind sich die Zukunftsforscher einig, eine Renaissance erleben. Die Vertrauensfähigkeit und die Verlässlichkeit der Beziehung zu bevorzugten Herstellern prägen die Beziehung zwischen Kunde und Hersteller. „Vertrauen = Kompetenz mal Sympathie“ – mit dieser Formel hat Prof. Dr. Christian Belz die Rolle des Verkäufers beschrieben. Der Kunde von morgen will Vertrauen und Beständigkeit. Die vermittelt ihm der Verkäufer über eine Kombination von Qualifikation und Persönlichkeit. „Verkauf“, so Belz, „stützt sich auf menschliches Ver-
Intensive Kundenbeziehung: Der Berliner Bioladen Biolüske (links) macht mit Kochkursen das Verkaufen zu einer Lifestyle-Inszenierung. In einem Nachtclub in Barcelona (rechts) soll ein implantierter Kundendaten-Speicher (RFID-Chip) den Service verbessern.
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halten und Spielregeln für gute Beziehungen. Die Spielregeln bleiben konstant. Trotzdem bahnt sich eine Revolution an.“ Bedingt sei das vor allem durch den Wandel zur Mediengesellschaft mit ihren vielfältigen mobilen Kommunikationssystemen. Einem Hersteller, dem er vertraut, wird der Kunde ganz freiwillig seine Daten überlassen. Erst dann wird wirklich möglich, was die Verfechter des One-to-One-Marketing schon heute gern mal als Realität verkaufen: Mobiles 1:1-Marketing, das sich durch Interaktion und Integration der Kundensysteme kennzeichnet. Verkaufsanbahnung könnte dann so aussehen: Auf einer Chipkarte führt der Konsument von morgen freigegebene Daten mit sich, die dann über RFID (Radio Frequency Identification) lesbar sind und „seinen“ Herstellern ermöglichen, ihn mit Informationen zu versorgen. RFID, bei der auf einem Smart Chip der elektronische Produktcode gespeichert ist, den wiederum ein RFID-Lesegerät erkennt, ist die Schlüsseltechnologie des Handels von morgen (siehe auch absatzwirtschaft 3/2005). Siemens hat 2004 ein Handy vorgestellt, das mittels RFID- und NFC-Chips (Near Field Communication) nicht nur eine Bezahlfunktion bekommt, sondern auch versteckte Informationen von bestimmten Plakaten lesen und übermitteln kann. UMTS ist ein weiterer Revolutionstreiber, der für das mobile Werte- und Anhänger-Marketing eine enorme Rolle spielt. Stefan Kosche, Kommunikations- und IT-Berater sowie Geschäftsführer der Berliner TBZ Trainer- und Beraterzentrale, schildert die Vision so: „Über UMTS bin ich identifizierbar für Lifestyle-Elemente. Und wenn ich mich in der Nähe eines PoS aufhalte, kann ich über Handy oder Palm eine entsprechende Nachricht bekommen, beispielsweise eine Wegbeschreibung zum Laden um die Ecke, der ein Superangebot für mich hat.“ Die Vision des mobilen 1:1-Marketing nähert sich also der Realität. Allerdings nur bei einem Teil der Konsumenten von morgen, denn „die Märkte sind in Zukunft zweigeteilt“, prognostiziert Trend-
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scout Corinna Langwieser. Die Autorin der Studie „Future Marketing“ aus dem Zukunftsinstitut von Matthias Horx sagt: „Einerseits sind da die ,interessierten Prosumenten‘, andererseits die ,Nosumenten‘, die wenig lustvoll kaufen und eher ohne Stress günstig Besorgungen machen wollen.“ Bei den Prosumenten sei, so Langwieser, der Verkäufer von morgen als Teil der Community gefragt und angesehen. Als Online-Networker – Stichwort „buzz“oder virales Marketing – vertreibe er Produkte, die den Kunden einen ideellen Mehrwert böten. Als „Beziehungspartner“ der Kunden werde er die Werte des Unternehmens verkörpern und somit über seine Persönlichkeit vermarkten. „Neben ökonomischen Fähigkeiten bringt er auch Weisheit in die Beziehung zum Kunden ein“, ergänzt Oliver W. Schwarzmann. DIE NEUE ROLLE DES VERKÄUFERS Während der Verkäufer in der Industriegesellschaft von gestern noch in der Rolle des „Überzeugers“ stecke, sei er in der Dienstleistungsgesellschaft von heute bereits ein Kommunikator, der Lösungen finde. In zehn Jahren, mit fortschreitender Technisierung und Integration der Kundenkommunikationssysteme in die Mediengesellschaft, werde er die Rolle eines Entwicklers haben, der mit den Kunden Produkte entwickelt. Er fördere Fähigkeiten, Privilegien und Orientierung, indem er Inspirationen und Mehrwert bietet – so jedenfalls skizziert es Oliver W. Schwarzmann. „Kundennahe und faszinierende, sowohl lokale als auch virtuelle beziehungsweise mobile Themen-Inszenierungen, Promotions und Animationen werden zunehmend neue Präsentationsvarianten entwickeln. Im Schwarzmann-Prinzip habe ich dazu formuliert: Inspiration ersetzt Bedürfnisse. Effekte lösen den Nutzen ab.“ 2015, so Schwarzmann, tritt der Verkäufer auf als Kunden-Animateur, der Spaß vermittelt, als Experte und Berater, der Inspirationen zum persönlichen Lifestyle bietet.
Der Funfaktor zählt on- und offline. Online-Shopping-Erlebnisse, aufgemacht als Krimi oder Abenteuer, sind überall abrufbar – in Cafés über Hotels bis hin zu den Einkaufszentren und den Bahnhöfen. Überall kann man ins Netz. Durch die mobile Breitbandtechnik ist der Zugang zum Web fast überall verfügbar. Das Internet wird sich – so die tns-Infratest-Studie „Horizons 2020“ – in den kommenden zehn bis 15 Jahren als akzeptierter Beschaffungsweg neben dem stationären Handel etabliert haben. Parallel wird die RFID-Technologie den stationären Handel revolutionieren. Im Metro-Future-Store in Rheinberg am Niederrhein, der die Zukunftswerkstatt für künftige Handelstechnologien in einem Extra-Supermarkt beherbergt, ist die Zeit nach der Revolution bereits real. Am Eingang wird der Kunde persönlich auf dem Display seines Einkaufswagens begrüßt von einer Dame – das ist der Personal Shopping Assistent. Die nette Frau in der Funktion einer betreuenden Verkäuferin kann über Funk gleich die elektronische Einkaufsliste aus dem Palm ablesen und führt den Kunden anhand seiner elektronischen Liste durch die Regalreihen. „Funkgesteuerte Warenschilder sind der Schlüssel für das Shopping in Zukunft. Smart Labels schaffen das Schlangestehen ab und bringen umfassende Produktinfos aufs Handy“, erklärt Joseph Scheppach in seiner aktuellen Studie „Hightech 2010“ (Zukunftsinstitut von Matthias Horx). Entscheidend an den neuen Verkäufern von 2015 sind für Oliver W. Schwarzmann aber nicht die Technologie und die Veränderung des Marketing, entscheidend sei vielmehr, dass sie eine neue Kultur des Verkaufens repräsentierten, die den Menschen wieder Lust mache aufs Geldausgeben. Und „wenn der Konsum wieder Spaß macht, könnte die Binnennachfrage der angeschlagenen Wirtschaft wieder auf die Beine kommen. Denn dann werden die Leute einen Teil des Geldbergs, ihre enorme Kaufkraft, die sie tatsächlich haben, mobilisieren.“ Das tun sie bisher nicht, weil ihnen, so hat Schwarzmann in einer aktuellen Umfrage herausgefunden, „das Einkaufen in Deutschland einfach keinen Spaß bringt“.
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