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Schwerpunkt Zukunft der Landwirtschaft
Kost kommt nicht von Kosten von Oliver W. Schwarzmann
Die Zukunft des Lebensmittelmarktes
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er in Zukunft erfolgreich Lebensmittel verkaufen will, muss die Kultur der Ernährung ändern – was eine zentrale Herausforderung ist, zweifellos. Aber es lohnt sich, denn die Alternative heißt: Preiskampf. Und was dieser bedeutet, wissen alle Lebensmittelerzeuger, man denke nur an das Drama der Milchbauern. Ich habe dabei Verständnis für den Ruf nach politischer Unterstützung, glaube jedoch, dass die Zukunft der Lebensmittelbranche in der Erneuerung ihres Marktes liegt. Dessen Entwicklung zeigt die Ursachen des Preisdrucks: Durch die rigorose Industrialisierung der Nahrungsmittelerzeugung haben wir es mit einer generellen Massen- und latenten Überproduktion zu tun. Hinzu kommt die Marktmacht der Discounter. Im 100-Jahresvergleich zeigt sich, dass die Geschichte der Lebensmittelpreise eine Negativspirale nach unten ist. Während Einkommen, Vermögen und Kaufkraft in diesem Zeitabschnitt einen Höhenflug erlebten, sind im Vergleich dazu die Preise für Lebensmittel regelrecht abgestürzt.
Schwerpunkt Zukunft der Landwirtschaft
Wie ist der Lebensmittelmarkt zu erneuern? Hier kommt eine Entwicklung ins Spiel, die dieses Vorhaben unterstützt: Verbraucher kaufen nicht mehr wirklich das, was sie essen wollen, sondern sie essen so, wie sie kaufen. Heißt: Das Konsumverhalten bestimmt unsere Ernährungskultur. Und das Konsumverhalten geht direkt auf unseren Lebensstil zurück, der sich wiederum an einigen Trends festmachen lässt, die – und so schließt sich der Kreis – den Markt beeinflussen. Erinnern wir uns an das Ende der 1980er Jahre: Seinerzeit war es chic und angesagt, billig einzukaufen. Die Folge: Selbst hohe Einkommensbezieher tummelten sich bei Billig-Discountern. Es erschien sogar ein Buch zum Trend mit dem vielsagenden Titel: „Im Armani zum Aldi“ (Christine und Harald Lüders, ISBN 3596160472). Obwohl es unzweifelhaft ist, dass es Bevölkerungsschichten gibt, die aufgrund ihrer Einkommenssituation jeden Cent umdrehen müssen, ist der Konsum keine Frage des Preises. Wäre dem so, würde es viele Konsumbereiche nicht mehr geben. Zudem gilt: Auch mit schmalem Budget ist bewusster Konsum, insbesondere im Lebensmittelsegment, durchaus möglich. Die Mehrheit der Verbraucher indes entscheidet nach persönlicher Life-Style-Orientierung – dabei spielt der Preis nur dann eine Rolle, wenn andere Alleinstellungsmerkmale fehlen. Das ist ein großes Dilemma im Lebensmittelsegment: Viele Produkte sind einfach nicht klar zu unterscheiden, weshalb der Käufer zwangsweise eine „Wahl nach Preis“ trifft. Alle Analysen zeigen: Interessante Preise lassen sich nur mit einem besonderen Mehrwert durchsetzen. Die eigentliche Marktmacht steckt nicht in den Absatzstrukturen, sondern liegt im Wunsch des Kunden nach Einzigartigem und Außergewöhnlichem. Wer das bieten kann, gewinnt. Hiervon profitieren beispielsweise nach wie vor Öko- oder BioProdukte. Doch Vorsicht: Mit ihrer Massenausbreitung verfällt ihre Exklusivität und damit ihr Marktwert. Gleiches erlebte die Wellnessbranche vor einigen Jahren – dieser Trend war derart erfolgreich, dass er nahezu jede Marktnische zierte und da-
durch letztlich wertlos wurde. Die Bezeichnung „Wellness“ ist heute kein Marken-Privileg mehr, höhere Preise lassen sich damit nicht mehr erzielen. Im Gegenteil: Wellness ist mittlerweile eine Standardeigenschaft.
Lebensstil und Ernährungsbewusstsein Die Veränderung des Konsumverhaltens beginnt beim Lebensstil – und dieser ist nichts Geringeres als die Entfaltung unseres Bewusstseins. Damit stellt sich schon die erste Frage: „Welches Ernährungsbewusstsein besitzen wir?“ Die Antwort ist motivierend, denn hier tut sich einiges: Wir wollen nicht mehr nur „billig und schnell“ essen, sondern legen zunehmend Wert auf Qualität, Herkunft und Wirkung der Lebensmittelprodukte. Die Grafik zeigt die wichtigsten Life-Style-Trends und ihre Effekte auf den Lebensmittelmarkt: Mobilität: In einer dynamischen Welt gehört schnelles Essen dazu. Davon profitieren Instant- und Fast-Food-Produkte sowie To-Go-Angebote. Allerdings steht die Branche im Ruf, schlechte und ungesunde Lebensmittel zu verkaufen, weshalb in diesem Marktsegment mit kommenden Gesundheitskampagnen zu rechnen ist. Vitalität: Körperliche und geistige Fitness sind nicht nur das Ergebnis sportlicher Betätigung, sondern vor allem ein Effekt richtiger Ernährung. In diesem Bereich ist die derzeitige Bewusstseinsbildung am stärksten ausgeprägt – Industrien, die Wellness-Food, Health-Food, Functional-Food und Design-Food herstellen, sind erfolgreich. Wenngleich sie ebenfalls im Ruf stehen, künstliche, sprich: unnatürliche und ungesunde Lebensmittel herzustellen. Deshalb glaube ich, dass von diesem Trend vor allem regionale Anbieter und Hersteller von Öko- oder Bio-Waren profitieren werden. Intimität: Aufgrund der Lebensmittelskandale und des daraus entstandenen Misstrauens setzen viele Verbraucher auf „Produkte der Nähe“ – Anbieter vor Ort punkten daher mit tradi-
Phasen des Lebensmittelmarktes
tung rmark
g + Ve izierun Qualif
ution Distrib + g n u r rialisie Indust Mehrwertschaffung
ung rarbeit
Philosophie der Produktion
zur Produktion Rationalisierung der Produktion
Industrialisierung der Produktion Sicherstellung der Produktion
Wirkungswettbewerb Kostenwettbewerb
Marktwettbewerb Erschließungswettbewerb
Motivationswettbewerb
Bewusstsein Quelle: Oliver W. Schwarzmann
Ve ung + Erzeug
Vitalität Preis
Verfügbarkeit Versorgung
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Die Struktur des Lebensmittelmarktes Schwarzmann-Modell der Wirkungsschichten im Lebensmittelkonsum
LebensmittelPremium-Food Ernährungs-
Bio-/Öko-Food/ Fair-Trade-Food Phi los oph ie
Konsum-
Lebenskultur
Quelle: Oliver W. Schwarzmann
g run tie n e ri iso Pre
Discount-Food/ Handelsmarken
Kultur
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Virtu alitä t M ob ilit ät
Tradional-/ Authentic-/Fresh-Food
Wellness-/Health-/ Functional-/Design-Food
Kultur Instant-/Fast-/To-Go-Food Markt
tionellem, authentischem und frischem Angebot. In Kombination mit dem Trend zur Vitalität ein Erfolgsrezept. Tipp: Gute Beratung (gerade über die physiologische Wirkung von Lebensmitteln) und hohe Verfügbarkeit (Öffnungszeiten, Erreichbarkeit) sicherstellen. Privilegierter Genuss: Die Gruppe der Genießer und damit der Markt für Premiumprodukte wachsen, u.a. auch durch die demografische Entwicklung – die „jungen Alten“ besitzen nicht nur Kaufkraft, sondern verfügen über ein gutes Gespür für Qualität und Genuss. Die Demografie birgt weiteres Potenzial: Kommunikations- und Serviceansprüche von Senioren sind hoch – gute Chancen für regionale Anbieter, die Raum für entspannte Gespräche schaffen und darüber hinaus verschiedene Serviceleistungen anbieten. Philosophie: Der „moralische Konsum“ ist im Kommen – die Sensibilität gegenüber dem Umgang mit unserem Planeten wächst, was sich nicht nur in der Infrastruktur und bei der Energieerzeugung niederschlägt, sondern auch bei der Wahl der Nahrungsprodukte: Lebensmittel schaffen eine Art „Verbindung zur Erde“, was sich nicht nur im prosperierenden Marktsegment von Öko- oder Bioprodukten ausdrückt, sondern auch im Erfolg der Fair-Trade-Waren. Hier gilt: Die Verarbeitungsphilosophie ist pures Marketing! Ein Konzept, das auch auf andere Lebensmittelsegmente übertragen werden kann. Zudem interessant: Immer mehr junge Konsumenten interessieren sich für diese „ethische Form“ der Nahrungsmittel, fernab vom Klischee der Fast-Food-Generation. Nicht nur das: Die Öko- oder Bio-Branche wird sich erneuern müssen – einen guten Ansatz bietet der Begriff „Biologie“ in seiner Übersetzung für „das Lebendige“ – Bio-Produkte könnten mit einer „Philosophie des Lebens“ zum Synonym für „lebendige Produkte“ werden inklusive der Ausstrahlung einer „neuen Verbundenheit zur Erde“. Für dieses Marketingkonzept sehe ich Top-Chancen.
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e rG te r e gi ile iv r P ität Intim
Preisorientierung: Wie gesagt – der Preis ist letztes Orientie-
rungsmittel, wenn Produkte nicht nur gleich aussehen, sondern auch sonst keine Besonderheiten besitzen.
Genuss verbindet äußerer mit innerer Welt Lebensmittelherstellung und ihr Vertrieb sind mittlerweile zum Marketingfaktor geworden, weil die „Kultur der Verarbeitung“ (Philosophie) und die „Wirkung der Produkte“ (Mehrwert-Effekt) den Konsumenten in einer besonderen und faszinierenden Weise kommuniziert werden müssen. Der Konsum von Lebensmitteln sollte in Zukunft eine „philosophisch-kulturelle Handlung“ sein – ganz in der Leichtigkeit einer neuen LebensSouveränität. Der Genuss sollte als „Verbindung zwischen äußerer und innerer Welt“ verstanden werden. Und danach sollten auch Verkaufsräume gestaltet werden – eine schlechte Warenpräsentation, keine Wohlfühl-Atmosphäre, mangelnde Kommunikation und Beratung sowie das Fehlen besonderer Produkte sind absolute Erfolgskiller. Wir dürfen nicht vergessen – Lebensmittel sind kein Gegenstand einer rationalen Kosten-Nutzen-Rechnung. Ich meine: Das Essen ist die Weise, wie wir uns selbst in der Welt erleben. Diesem Anspruch sollten wir gerecht werden. Dann kommt auch der Erfolg.
Autor Oliver W. Schwarzmann Zukunftsforscher & Vordenker, Vordenker-Medien, Bley und Schwarzmann AG