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Fachbericht
Form und Reform der europäischen Fussbekleidung
Im Folgenden sollen in geraffter Form zweitausend Jahre Schuhgeschichte Revue passieren. Besonderes Augenmerk gilt dabei den Entwicklungen, die der Schuh als dreidimensionaler Körper erfahren hat. Denn dadurch wurde nicht nur das Aussehen des Schuhes ver ändert, sondern auch der Auftritt der Trägerinnen und Träger. Unter diesem Gesichtspunkt lassen sich drei Phasen der europäischen Schuhgeschichte unterscheiden.
Dass wir einen rechten und einen linken Schuh tragen, ist selbstverständlich? Durchaus nicht! Schuhe, die nach rechts und links unterschieden und der Anatomie unseres F usses angepasst sind, tragen wir erst seit knapp 150 Jahren. Davor war das Schuhemachen seit Menschengedenken ein Handwerk, das Bräuchen, Moden und Schönheitsvorstellungen folgte und auf Erfahrungswissen und Gewohnheit basierte. Die Erkenntnis, dass unsere Füsse nicht nur Schutz und «schöne» Bekleidung benötigen, sondern auch eine zum Fuss und zum Körper passende Form, verdanken wir einem aufmerksamen Anatomieprofessor. Georg Hermann von Meyer (1815 – 1892), lehrte über vierzig Jahre an der ETH Zürich und widmete sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts leidenschaftlich der Aufgabe, die Fussbekleidung zu «reformieren». Schweizer Militärärzte und Politiker gehörten zu seinen ersten Lesern und Anhängern. Durch Erprobung, Fachkommissionen und eine internationale Fussbekleidungsausstellung trugen sie zur Entwicklung und Verbreitung der Meyer’schen Ideen von einer «rationellen Fussbekleidung» entscheidend bei und wurden zu Schrittmachern einer europäischen «Schuhreform». Zum ersten Mal wurde die Schuhherstellung auf wissenschaftlichen Prinzipien gegründet, die seither zwar verbessert und weiterentwickelt, aber nie wieder verlassen wurden. Die ersten 1500 Jahre n. Chr. sind geprägt durch leicht paarige Formen für den rechten und linken Schuh. Dabei wurde mehr oder weniger gefühlt auch die Anatomie der Füsse berücksichtigt. Diese Zeit war gefolgt von 350 Jahren einer Schuhmode im Banne der Symmetrie. Exakte Gleichförmigkeit für den rechten und den linken Schuh, die durch Muster und Ornamente noch betont wurde, galt in dieser Zeit für Adel und Bürgertum als Statussymbol und Inbegriff von «Schönheit». Auch ein geschmälertes Wohlbefinden infolge von Druck und Schmerzen hatte sich dem unterzuordnen. Diese Herrschaft der Mode und Mathematik über Fuss und Körper geriet schliesslich um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Kritik. In einem Reformprozess, der ein halbes Jahrhundert in Anspruch nahm, wurden die alten «zweibälligen» Schuhe zum Wechseln abgeschafft. An ihre Stelle traten Schuhe, die anatomisch an den rechten und linken Fuss und an die natür liche Gehbewegung des Menschen angepasst waren. Eine konsequente Umsetzung des Gedankens einer neuen «rationellen Fussbekleidung» nach von Meyer hat sich mehrheitlich nicht durchgesetzt. Ihre stark asym metrische Form galt als wenig attraktiv – und ist bis heute etwas für Kenner und Liebhaber einer gesunden Lebensweise geblieben. Doch bei Militärstiefeln, Kinder-, Sport- und Arbeitsschuhen gelang der Durchbruch. Die wissenschaftlich fundierte Fussform hat sich hier nachhaltig etabliert und ist inzwischen weltweit zum modernen Standard geworden.
Wissenschaftlich fundierte Fussform
Spätantike
Die Form folgt nicht dem Fuss
Die Kunstwerke der klassischen Antike zwischen 500 und 300 v. Chr. gelten seit jeher als Inbegriff körperlicher Vollkommenheit und idealer Schönheit. Auch die Füsse und Fussbekleidungen der dargestellten antiken Götter und Halbgötter zeigen fast durchgängig Formen, – man denke an den berühmten Apollo von Belvedere, der im vierten Jahrhundert v. Chr. entstand –, bei denen die Zehen ihre natürliche Lage haben. Die Sandalenriemen sind so angeordnet, dass sie keinen ungünstigen Druck ausüben. Für die römische Kaiserzeit und Spätantike trifft dies nicht ingleicher Weise zu. Das können wir an Statuen und Reliefs, aber auch an Schuhfragmenten und sogar Werkzeugen beobachten. Ein Paar vollständig erhaltene Schuhleisten, die 2007 im vicus Vitudurum, einer alten römischen Siedlung in Oberwinterthur, gefunden wurden, sind hier ein einmalig seltenes und aussagekräftiges Dokument. (Vgl. Jauch / Volken, 2010). Schon auf den ersten Blick fällt auf, dass die Form dieser Leisten, die aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. stammen, deutlich zugespitzt ist. Damit weicht sie von der natürlichen Fussform ab. In Schuhen, die über diese Leisten gefertigt worden sind, wurden die Füsse also in eine Fremd form gebracht und haben auf Dauer mit grosser Wahrscheinlichkeit ihre natürliche Eigen form eingebüsst. Dass dies tatsächlich auch geschehen ist, dürfen wir als gesichert annehmen. Der römische Grammatiker und Lexikograf Sextus Pompejus Festus, der im zweiten Jahrhundert n. Chr. lebte, gibt uns einen entscheidenden Hinweis. Er leitete nämlich in seinem Wörterbuch «de verborum significatione» den lateinischen Begriff «allus» mit folgenden Worten her: «Daumen des Fusses, der über den nächsten Zeh steigt, weil
er gleichsam den zweiten hinaufgesprungen erscheint, was griechisch ‹hallesthai› heisst». (Zit. n. Michler 1986). Der Anblick eines schiefen oder «springenden» Grosszehs muss dem Gelehrten Festus und seinen Lesern also vertraut gewesen sein, auch wenn wir nicht sagen können, wie verbreitet er tatsächlich war. Dass ausgerechnet Hygieia, die griechische Göttin der Gesundheit, auf einer Elfenbeinschnitzerei aus der Zeit um 400 n. Chr. dem Betrachter einen «Hallux Valgus» entgegenhielt, gibt zu denken. Götter sind makellos. Schiefe Zehen können alsogar nicht als Formverlust, sondern als «normal», womöglich gar als «schön» empfunden worden sein. (Vgl. Wamser-Krasznai, 2005).
Mittelalter
Von der «Bügeleisenform» zum Schnabelschuh
Nach der Absetzung des letzten römischen Kaisers Romulus Augustulus im Jahr 476 n. Chr. und dem Untergang des weströmischen Reiches machten sich unter der Herrschaft der Merowinger und Karolinger vermehrt oströmische Kultureinflüsse in Mitteleuropa geltend. Symmetrisch geformte und mit Ornamenten verzierte Slipperformen, so wie sie am byzantinischen Hof in der typischen «Bügeleisen- form» getragen wurden, hielten beim fränkischen Adel Einzug. (Vgl. Lieb, 1951), Schlichter
gearbeitet waren und sind sie bis heute auch im arabischen Kulturraum verbreitet. Die byzantinische Tracht und Fussbekleidung inspirierte damals auch die Kult-Gewänder des christlichen Klerus. In den zeremoniellen Schuhen von Papst, Kardinälen und Bischöfen haben sich diese Formen bis heute erhalten. Die im ganzen Mittelalter zahlenmässig dominierenden Bauern trugen, soweit uns Funde und Abbildungen aus dieser Zeit informieren, im frühen und hohen Mittelalter dagegen weiterhin die Fussbekleidung der angestammten germanischen und keltischen Bevölkerung: einfache Stiefel und Halbschuhe, die in «selbstformender» Bundschuhtechnik oder leicht paarig geformt in Wendetechnik hergestellt wurden. Mitte des 14. Jahrhunderts kamen bei den Schuhen immer längere Schnäbel in Mode, deren Mass schliesslich durch Kleiderordnungen einem Reglement unterworfen wurde. Fast immer waren diese Schuhe auch nach rechts und links unterschieden.


Die städtischen Bürger stehen auf symmetrischen Sohlen
Tiefgreifende Veränderungen brachte schliesslich die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert. Neue Entdeckungen entgrenzten die Welt, wie man sie bisher kannte (Entdeckung Amerikas, Erfindung


und Bürgerin trugen sie nun ohne «Trippen», die schützenden Unter schuhe aus Holz, deren Form sich aus den alten römischen Badesandalen weiterentwickelt haben dürfte. (Vgl. Knötzele (2007). In den Tessiner Holzschuhen «Zoccoli» lebt diese Form bis heute weiter. Doch vor allem waren «Kuhmaul» und «Entenschnabel» kaum mehr nach rechts und links unterschieden, bis sie schliesslich völlig symmetrisch waren. Von dem Nürnberger Künstler und Kupferstecher Albrecht Dürer ist uns aus dem Jahr 1524 die Musterzeichnung eines solchen Kuhmaulschuhs überliefert. Dürer trug darin sogar die Symmetrieachse ein. Seinen Schuhmacher wies er am Rand der Zeichnung energisch an: «Also soll der schuch ausgischnitten
des Buchdrucks, Reformation). Das suchte sich seinen Ausdruck auch in der Mode. Ein neuer Typus Schuh kam in den Städten in Gebrauch und verdrängte die schlanken, weichen, gotischen Schuhe. «Entenschnabel» und «Kuhmaul» wurden die neuen Modelle wegen ihres Aussehens auch genannt. Bürger


werden». Auch die
Form präzisierte der anspruchsvolle Künstler: «Der leizt zu diesem schuch soll unden an den sohlen ganz gerad sein und plat.» (Zit. n. Gall, 1975).
Die neuen «platten» breiten Schuhe müssen die
Erscheinung ihrer Träger und das Tragegefühl spürbar verändert haben. Welche Vorstellungen von Eleganz,
Würde und Schönheit sich darin ausdrücken, darüber wissen wir leider fast nichts. Mit seiner bodenständigen Form brachte der Kuhmaulschuh aber durchaus sinnfällig zum Ausdruck, dass Macht und Wohlstand seiner Träger auf einem sicheren Fundament ruhten. Die Vermutung liegt daher nahe, dass sich das städtische Bürgertum damit auch vom ästhetischen Diktat des Adels emanzipierte und ein eigenes Statussymbol gab. Es wurde nicht zufällig bald auch
von diesem übernommen. Die neue Begeisterung der Humanisten für die Antike mag diese Formfindung zusätzlich begünstigt haben, galt doch die Symmetrie im klassischen Griechenland als Ausdruck einer höheren Ordnung und Harmonie.
Schuhmode im Bann aristokratischer Ästhetik – wer schön sein will, muss leiden
Im Lauf des 16. Jahrhunderts konnte der Adel seine alte Macht erneuern und wies die stolze Selbstherrlichkeit der Städter wieder in ihre Schranken. Auch dafür fand die Mode eine symbolische Verkörperung. Ein kleiner Höcker unter der Ferse erhob zum späten 16. Jahrhundert die Adeligen wieder über die bodenständigen Bürger. Der Absatz hielt in die Schuhmode Einzug – und blieb zumindest anfänglich ein adeliges Statussymbol. Dabei bescherte er seinen Trägern zwar eine beeindruckend imposant-elegante Haltung, doch den Zehen bald manche Qualen. Denn das Gewicht ruhte nun auf dem Vorfuss. Trotzdem blieben die Schuhmacher weiter bei ihren gewohnten symmetrischen Leisten, auch wenn die Zehen nun noch stärker unter Druck gerieten. «Wer schön sein will, muss leiden», so lernte man damals. Die Füsse rächten sich mit Hühneraugen, Schwielen und krummen Zehen. Fussschmerzen wurden zu einer lästigen, aber geduldig ertragenen Gewohnheit. Auch im 17. und 18. Jahrhundert standen Damen und Herren in Pumps und Pantoffeln weiterhin auf einem Absatz, der dazu statisch noch ungünstig platziert war. Um der Schönheit willen blieben dabei auch diese «Hakenschuhe» weiterhin symmetrisch. Waren sie um 1600 an den Zehen noch stumpf und breit geformt und dadurch halbwegs komfortabel, wurden die Modelle bald wieder schlanker und spitzer. Der Druck auf die Füsse wuchs, die Probleme wuchsen ebenfalls – und führten schliesslich zu unkonventionellen Notlösungen. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts boten Fussärzte, die auch «kleine Chirurgen» und «Chiropodisten» genannt wurden, ihre Dienste an und linderten mit sorgsam geheim gehaltenen Pflastern, Salben und Tinkturen die Fussnot der eleganten Modeopfer. Die Schuhe der Form der Füsse anpassen anstatt umgekehrt? Niemals! In einer Zeit, in der sich alle Welt an den graziösen Manieren und Moden der Fürstenhöfe orientierte, lag Zweckmässigkeit jenseits des Vorstellungsvermögens. Mindestens die Fussärzte hatten an einer Reform der Fussbekleidung auch keinerlei Interesse, verdienten sie doch nicht schlecht an den Schmerzen ihrer Kundschaft.
Aufklärung
Das Gesundheitsbewusstsein erwacht
Im späten 18. Jahrhundert deutete sich schliesslich ein Umdenken an. Mutige Ärzte ergriffen das Wort, um gegen die «Bedrückung» des Körpers durch falsche Kleidung zu protestieren. Während der deutsche Anatom Thomas Samuel Sömmering (1755 – 1830) sich über die modischen «Schnürleiber» empörte, die eine «schöne Taille erpressen sollten und dafür den Brustkorb einzwängten», richtete der holländische Arzt Petrus Camper (1722 – 1789) sein Augenmerk auf die Füsse. Kritisch stellte er fest: «Das heutige Fusswerk dient auch nur von unserer Kindheit an dazu, die Zehen ungestalt zu machen, und den Füssen Hühneraugen zu verschaffen.» (Camper 1783). «Von der besten Form der Schuhe» erschien 1781 als Übersetzung aus dem Französischen. Unmissverständlich benannte er darin, was das Hauptübel der Schuhe darstellte: «Es ist ein alter, sich nach einer gar nicht vernünftigen Mode richtender Gebrauch, beyde Schuhe auf dem nämlichen Leisten zu machen, obschon unsere beyden Füsse sehr voneinander unterschieden sind.» (Camper, 1783).

Eine kurze, aber nachdrückliche Erwähnung widmete der Fussbekleidung auch der Bückeburger Arzt Bernhard Christoph Faust (1755–1842). In seinem 1794 erschienenen «Gesundheitskatechismus» erläuterte er nicht nur die Notwendigkeit von Reinlichkeit und gesunder Ernährung. Er warnte auch vor symmetrischen Schuhen: «Jeder Schuh muss vollkommen nach der Gestalt jedes Fusses gebildet seyn […] so sollten beyde Schuhe nicht über einen Leisten gemacht werden, sondern der rechte und der linke Fuss sollte seinen eigenen Leisten haben, und darnach sollte für den rechten und für den linken Fuss sein eigener Schuh, der die wahre Gestalt des Fusses hat, und nicht gewechselt werden kann, gemacht werden.» (Faust 1793). Dass diese Ermahnungen auf fruchtbaren Boden gefallen wären, ist nicht bekannt. Erst ein halbes Jahrhundert später hatten sich Wissenschaft, Medizin und Technik und die gesellschaftlichen Verhältnisse in Europa so entscheidend weiterentwickelt, dass sie auch den Blick auf die Natur und den menschlichen Körper veränderten.
Aus dem Buch «Schritt für Schritt» der Autoren Nike U. Breyer, Anna Weltert und Philippe Müller.
Mit freundlicher Genehmigung der Bibliothek am Guisanplatz in Bern. Erstabdruck in Fuss & Schuh. Teil 2 erscheint in Podologie 3/2020.
Der Bückeburger Arzt Bernhard Christoph Faust (1755 – 1842).