Podologie Schweiz 2/2020

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Fachbericht

Podologie Schweiz 2 | 2020

Form und Reform der europäischen Fussbekleidung Im Folgenden sollen in geraffter Form zweitausend Jahre Schuhgeschichte Revue passieren. Besonderes Augenmerk gilt dabei den Entwicklungen, die der Schuh als dreidimensionaler Körper erfahren hat. Denn dadurch wurde nicht nur das Aussehen des Schuhes verändert, sondern auch der Auftritt der Trägerinnen und Träger. Unter diesem Gesichtspunkt lassen sich drei Phasen der europäischen Schuhgeschichte unterscheiden.

Wissenschaftlich fundierte Fussform Dass wir einen rechten und einen linken Schuh tragen, ist selbstverständlich? Durchaus nicht! Schuhe, die nach rechts und links unterschieden und der Anatomie unseres Fusses angepasst sind, tragen wir erst seit knapp 150 Jahren. Davor war das Schuhemachen seit Menschengedenken ein Handwerk, das Bräuchen, Moden und Schönheitsvorstellungen folgte und auf Erfahrungswissen und Gewohnheit basierte. Die Erkenntnis, dass unsere Füsse nicht nur Schutz und «schöne» Bekleidung benötigen, sondern auch eine zum Fuss und zum Körper passende Form, verdanken wir einem aufmerksamen Anatomieprofessor. Georg Hermann von Meyer (1815 – 1892), lehrte über vierzig Jahre an der ETH Zürich und widmete sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts leidenschaftlich der Aufgabe, die Fussbekleidung zu «reformieren». Schweizer Militärärzte und Politiker gehörten zu seinen ersten Lesern und Anhängern. Durch Erprobung, Fachkommissionen und eine internationale Fussbekleidungsausstellung trugen sie zur Entwicklung und Verbreitung der Meyer’schen Ideen von einer «rationellen Fussbekleidung» entscheidend bei und wurden zu Schrittmachern einer europäischen «Schuhreform». Zum ersten Mal wurde die Schuhherstellung auf wissenschaftlichen Prinzipien gegründet, die seither zwar verbessert und weiterentwickelt, aber nie wieder verlassen wurden. Die ersten 1500 Jahre n. Chr. sind geprägt durch leicht paarige Formen für den rechten und

linken Schuh. Dabei wurde mehr oder weniger gefühlt auch die Anatomie der Füsse berücksichtigt. Diese Zeit war gefolgt von 350 Jahren einer Schuhmode im Banne der Symmetrie. Exakte Gleichförmigkeit für den rechten und den linken Schuh, die durch Muster und Ornamente noch betont wurde, galt in dieser Zeit für Adel und Bürgertum als Statussymbol und Inbegriff von «Schönheit». Auch ein geschmälertes Wohlbefinden infolge von Druck und Schmerzen hatte sich dem unterzuordnen. Diese Herrschaft der Mode und Mathematik über Fuss und Körper geriet schliesslich um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Kritik. In einem Reformprozess, der ein halbes Jahrhundert in Anspruch nahm, wurden die alten «zweibälligen» Schuhe zum Wechseln abgeschafft. An ihre Stelle traten Schuhe, die anatomisch an den rechten und linken Fuss und an die natürliche Gehbewegung des Menschen angepasst waren. Eine konsequente Umsetzung des Gedankens einer neuen «rationellen Fussbekleidung» nach von Meyer hat sich mehrheitlich nicht durchgesetzt. Ihre stark asymmetrische Form galt als wenig attraktiv – und ist bis heute etwas für Kenner und Liebhaber einer gesunden Lebensweise geblieben. Doch bei Militärstiefeln, Kinder-, Sport- und Arbeitsschuhen gelang der Durchbruch. Die wissenschaftlich fundierte Fussform hat sich hier nachhaltig etabliert und ist inzwischen weltweit zum modernen Standard geworden.

Spätantike Die Form folgt nicht dem Fuss Die Kunstwerke der klassischen Antike zwischen 500 und 300 v. Chr. gelten seit jeher als Inbegriff körperlicher Vollkommenheit und idealer Schönheit. Auch die Füsse und Fussbekleidungen der dargestellten antiken Götter und Halbgötter zeigen fast durchgängig Formen, – man denke an den berühmten Apollo von Belvedere, der im vierten Jahrhundert v. Chr. entstand –, bei denen die Zehen ihre natürliche Lage haben. Die Sandalenriemen sind so angeordnet, dass sie keinen ungünstigen Druck ausüben. Für die römische Kaiserzeit und Spätantike trifft dies nicht ingleicher Weise zu. Das können wir an Statuen und Reliefs, aber auch an Schuhfragmenten und sogar Werkzeugen beobachten. Ein Paar vollständig erhaltene Schuhleisten, die 2007 im vicus Vitudurum, einer alten römischen Siedlung in Oberwinterthur, gefunden wurden, sind hier ein einmalig seltenes und aussagekräftiges Dokument. (Vgl. Jauch / Volken, 2010). Schon auf den ersten Blick fällt auf, dass die Form dieser Leisten, die aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. stammen, deutlich zugespitzt ist. Damit weicht sie von der natürlichen Fussform ab. In Schuhen, die über diese Leisten gefertigt worden sind, wurden die Füsse also in eine Fremdform gebracht und haben auf Dauer mit grosser Wahrscheinlichkeit ihre natürliche Eigenform eingebüsst. Dass dies tatsächlich auch geschehen ist, dürfen wir als gesichert annehmen. Der römische Grammatiker und Lexikograf Sextus Pompejus Festus, der im zweiten Jahrhundert n. Chr. lebte, gibt uns einen entscheidenden Hinweis. Er leitete nämlich in seinem Wörterbuch «de verborum significatione» den lateinischen Begriff «allus» mit folgenden Worten her: «Daumen des Fusses, der über den nächsten Zeh steigt, weil


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