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Richard T. Neer
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Von den Anfängen bis zum Hellenismus Aus dem Englischen von Iris Newton
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Für Bob, der mir sagte, ich solle es tun I do love these ancient ruins. We never tread upon them but we set Our foot upon some reverend history … J OHN W EBSTER , The Duchess of Malfi (1612–13)
Seite 1 Greifenprotome aus Olympia. Bronze; spätes 7. Jahrhundert v. Chr., siehe 4.10. Titelseite Die Tholos von Delphi, ca. 380–370 v. Chr., siehe Kapitel 7.
Englische Originalausgabe: Published by arrangement with Thames and Hudson Ltd, London Copyright © 2012 Richard T. Neer This edition first published in Germany in 2013 by Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt German edition © 2013 Wissenschaftliche Buchgesellschaft Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2013 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz und Producing: Palmedia Publishing Services GmbH, Berlin Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart Umschlagabbildung: Faustkämpfer, Skulptur von Apollonius, Museo Nazionale Romane delle Terme, Rom, © akg-images/Jürgen Raible Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-26268-7 Die Buchhandelsausgabe erscheint beim Verlag Philipp von Zabern, Darmstadt/Mainz Umschlaggestaltung: Katja Holst, Frankfurt am Main Umschlagabbildung: Ägina, Tempel der Aphaia (Farblithografie), Detail / akg-images ISBN 978-3-8053-4676-4 www.zabern.de
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KRETA UND DIE KYKLADEN BIS IN DIE SPÄTE BRONZEZEIT CHRONOLOGIE UND HINTERGRUND
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DIE GRIECHEN UND IHRE VORGÄNGER
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Troja II Die Ankunft der Griechen
DIE KYKLADEN IN DER FRÜHEN BRONZEZEIT Die Kykladenkultur Kykladenidole
DAS MINOISCHE KRETA BIS IN DIE SPÄTMINOISCHE ZEIT IB (SM IB) Vorpalastzeit Minoische Paläste Palastarchitektur Kunsthandwerkliche Produktion in den Palästen Wandbemalung Ikonografien der Macht Stierspiele
DIE KYKLADEN WÄHREND DER SPÄTKYKLADISCHEN ZEIT I (SK I): THERA Das Problem der Chronologie Xeste 3 Das Westhaus
ZUSAMMENFASSUNG
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CHRONOLOGISCHE ÜBERSICHT: DIE BRONZEZEIT IN DER ÄGÄIS SPÄTE FRÜHE DATIERUNG DATIERUNG
PERIODE
Frühe Bronzezeit
vor 3000 – ca. 2000
ALTPALASTZEIT
Mittlere Bronzezeit
ca. 2000 – ca. 2000 – ca. 1725 ca. 1625
NEU PALASTZEIT
DRITTE PALASTZEIT
ca. 1625 – ca. 1525 ca. 1525 – ca. 1450
Späte Bronzezeit
ca. 1725 – ca. 1600 ca. 1620 – ca. 1450
ca. 1450 – ca. 1420 ca. 1420 – ca. 1300
NACHPALASTZEIT
ca. 1300 – ca. 1200
KRETA
FESTLAND
Frühminoisch I (FM I) Frühminoisch II (FM II) Frühminoisch III (FM III) Mittelminoisch IA (MM IA) Mittelminoisch IB (MM IB) Mittelminoisch IIA (MM IIA) Mittelminoisch IIB (MM IIB) Mittelminoisch IIIA (MM IIIA) Mittelminoisch IIIB (MM IIIB) Spätminoisch IA (SM IA) Späminoisch IB (SM IB) Spätminoisch II (SM II) Spätminoisch IIIA (SM IIIA) Spätminoisch IIIB (SM IIIB)
Frühhelladisch (FH I) Frühhelladisch (FH II) Frühhelladisch (FH III)
KYKLADEN Grotta-Pelos-Kultur Keros-Syros-Kultur (Kastri-Kultur) Phylakopi I
Mittelhelladisch I–III (MH I–III)
Späthelladisch I (SH I) Späthelladisch IIA (SH IIA) Späthelladisch IIB (SH IIB) Späthelladisch IIIA (SH IIIA) Späthelladisch IIIB (SH IIIB)
Mittelkykladisch (MC)
Spätkykladisch IA (SC IA) Spätkykladisch IB (SC IB) Spätkykladisch II (SC II) Spätkykladisch IIIA (SC IIIA) Spätkykladisch IIIB (SC IIIB)
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ls die ersten Griechisch sprechenden Einwanderer in der Ägäis eintrafen, fanden sie das Land nicht unbesiedelt vor. Im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen die vorgriechischen Völker der frühen Ägäis, im Besonderen auf Kreta und den Kykladen. Das Kapitel beginnt mit einer chronologischen Übersicht, ein zwar trockenes, aber nicht minder wichtiges Thema. Es folgt ein Abriss der faszinierenden Hinterlassenschaften jener Kulturen, die auf den Kykladen während des 3. Jahrhunderts v. Chr. ihre Blütezeit hatten, mit besonderem Augenmerk auf die zerstörerischen Auswirkungen moderner Schatzjäger auf die archäologischen Hinterlassenschaften. Das Hauptthema dieses Kapitels jedoch bildet Kreta. Die schillernde und in mancher Hinsicht mysteriöse Zivilisation der Minoer erstand hier während des 2. Jahrtausends. Die erstaunlichen Errungenschaften des frühen Kretas sollten die griechische Kultur über Jahrhunderte beeinflussen. Wir beginnen mit einer Erörterung der großen administrativen Zentren oder „Paläste“, die im 2. Jahrtausend auf der Insel erschienen, und wenden uns dann der Keramik, den Wandgemälden und der Religion zu. Am Kapitelende kehren wir auf die Kykladen zurück, um die Geschichte der winzigen Insel Thera (heute Santorin) zu betrachten. Tief beeinflusst von Kreta blieb die Kultur von Thera der Archäologie aufgrund eines Vulkanausbruches erhalten, der eine pulsierende Stadt wie in einer Zeitkapsel konservierte.
CHRONOLOGIE UND HINTERGRUND Moderne Wissenschaftler bezeichnen die Periode zwischen ca. 3000 v. Chr. und ca. 1000 v. Chr. nach der vorherrschenden Metalltechnologie dieser Zeit als Bronzezeit. Es ist eine lange und faszinierende Periode, aber auch voller Fallstricke für Archäologen: Gesicherte Erkenntnisse sind knapp und somit die Gefahr der Ausschmückung groß. Gerade weil unser Wissen über diese Periode so unsicher ist, rücken die Fragen nach der archäologischen Methode in den Vordergrund: Wie stellen Archäologen ihre Theorien auf und überprüfen sie? Woher wissen wir, was wir wissen? Es ist der Mühe wert, diesen abstrakten Fragen nachzugehen. Tun wir das nicht, wird die Archäologie immer sehr viel mysteriöser erscheinen, als sie in Wirklichkeit ist. Die Bronzezeit dauerte etwa 2000 Jahre, vielleicht ein paar Jahrhunderte mehr oder weniger. Anhand 20
von Veränderungen der materiellen Kultur, besonders der Keramik, unterteilen die Archäologen die Periode in besser handhabbare Untereinheiten. Erscheint ein neuartiger Keramikstil im archäologischen Material, so erhält er einen Namen. Das Verfahren der Namensgebung ist einfach, seine Funktionsweise zu kennen, macht die Periode sehr viel verständlicher. Die Archäologen unterteilen die gesamte Bronzezeit in einen frühen, mittleren und späten Abschnitt und unterscheiden zwischen Fundorten. Das Material aus Kreta wird minoisch genannt, nach dem legendären König Minos, der von der Stadt Knossos aus über das Meer geherrscht haben soll. Das Material vom Festland trägt die Bezeichnung helladisch, nach dem griechischen Namen für Griechenland, Hellas. Das Material von den Kykladen wird als kykladisch bezeichnet. Theoretisch sollte das frühe Minoikum zeitgleich mit dem frühen Helladikum und dem frühkykladischen Material sein. Das mittlere Minoikum sollte zeitgleich mit dem mittleren Helladikum und dem mittelkykladischen Material sein usw. Danach wird es komplizierter. Innerhalb jeder Kategorie gibt es drei weitere, mit römischen Ziffern bezeichnete Unterkategorien, die dann nochmals durch Buchstaben bezeichnete Unterteilungen aufweisen. Diese so nummerierten Unterteilungen entsprechen den Veränderungen im Keramikstil. Die Tabelle am Beginn dieses Kapitels zeigt, wie alle diese Termini miteinander in Beziehung stehen. So kann man z. B. sehen, wie der spätminoische Stil IA (SM IA) der Keramik mit dem späthelladischen Stil I (SH I) und dem spätkykladischen Stil IA (SK IA) korrespondiert. Aber was ist mit den Daten? Man kann nicht oft genug betonen, dass diese Chronologie relativ ist, nicht absolut (siehe Einführung zu diesen Begriffen). Es hat sich als sehr schwierig erwiesen, die relative Abfolge der bronzezeitlichen Archäologie in der Ägäis mit gesicherten Kalenderdaten zu verknüpfen. Einige Wissenschaftler unterstreichen die Bedeutung von naturwissenschaftlichen Methoden wie z. B. die Radiokarbondatierung. Andere bevorzugen die Korrelation mit gut datierten Fundstellen in Ägypten und in Vorderasien. So benutzen sie beispielsweise Funde von ägyptischen Artefakten auf Kreta als Hilfe zur Datierung des minoischen Materials. Idealerweise sollten diese zwei Herangehensweisen identische Resultate erbringen. Aber in der ägäischen Archäologie ist das nicht der Fall. Im Gegenteil liefern die beiden Methoden sehr unterschiedliche Kalenderdaten. Obwohl es einen generellen Konsens hinsicht-
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lich der relativen Chronologie der ägäischen Bronzezeit gibt, bleibt die absolute Chronologie umstritten, besonders was die späte Bronzezeit betrifft. Die Tatsache, dass es in einer so grundlegenden Angelegenheit wie der Datierung solch weite Meinungsverschiedenheiten gibt, mag alarmierend erscheinen. Positiv betrachtet ist die Situation aber auch aufregend: Es gibt immer noch viel zu lernen. Noch warten wichtige Entdeckungen auf uns. Diese Kontroversen spiegeln sich in der Tabelle auf S. 19 wieder, wo zwei Gruppen absoluter Daten angeführt werden: „niedrige“ Daten, hauptsächlich auf der Basis von Korrelationen mit Vorderasien und Ägypten, und „hohe“ Daten, hauptsächlich basierend auf naturwissenschaftlichen Messungen in der Ägäis. Einige Details der Kontroverse werden später in diesem Kapitel noch behandelt. Bis sich die Situation klärt, wird es allerdings das Beste sein, im Umgang mit der ägäischen Bronzezeit vorsichtig mit absoluten Daten zu sein. Medienberichte ignorieren diese Schwierigkeiten oft, und Studenten sollten solche Berichte mit einer gesunden Portion Skepsis betrachten. In diesem Kapitel werden absolute Datierungen vermieden, und Objekte werden über ihren Platz in der relativen Abfolge identifiziert. Schließlich noch eine Warnung: Während der gesamten Bronzezeit war Griechenland arm und rückständig, verglichen mit seinen Nachbarn im Osten und Süden: den großen Reichen der Babylonier, Mittani und der Hethiter in Asien und dem pharaonischen Ägypten in Afrika. Im Vergleich mit den Tempeln Ägyptens und den Städten Mesopotamiens wirken sogar wichtige Zentren in Griechenland in der Tat sehr bescheiden. Die frühe Ägäis war hinsichtlich wirtschaftlicher Aktivitäten, die über den Eigenverbrauch hinausgingen, von ihren größeren und mächtigeren Nachbarn abhängig. Bronze kam erst spät nach Griechenland, während des Frühhelladikums II (FH II); davor wurden Klingen oft aus Obsidian (vulkanischem Glas) angefertigt, eine Technologie der Steinzeit. Bronze jedoch ist eine Legierung aus Kupfer und Zinn – und weder im Mittelmeerraum noch im Balkangebiet finden sich Zinnquellen. Durch die Einführung der Bronze machten sich die Völker der Ägäis mit einem Schlag völlig von ausländischem Zinn abhängig. Jede Unterbrechung der Zinnversorgung hätte ernste Auswirkungen auf Griechenland haben können, ähnlich wie eine Unterbrechung der Versorgung mit Rohöl die heutige Weltwirtschaft erschüttern würde.
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Kultgebäude
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DIE GRIECHEN UND IHRE VORGÄNGER Troja II Die Griechen waren weder die ersten noch die einzigen Einwohner der Ägäis. Vor- bzw. nicht-griechische Kulturen fanden sich in Siedlungen der frühen Bronzezeit auf den Kykladeninseln der zentralen Ägäis und in der großen Zivilisation der mittleren und späten Bronzezeit des minoischen Kretas (die beide im Folgenden noch im Detail behandelt werden sollen) sowie in der Stadt Troja in Nordwesten von Anatolien (in etwa der asiatische Teil der heutigen Türkei). Troja war Mitte des 3. Jahrtausends bereits ein wichtiges Seeverkehrszentrum. Diese Periode entspricht etwa dem Frühhelladikum II (FH II) auf dem Festland und dem Frühminoikum II (FM II) auf Kreta. Als Troja II ist heute die Phase der Stadt bekannt, in der diese aus einer Unterstadt hinter einer hölzernen Palisade und einer darüber thronenden
1.1 Troja, Plan der Zitadelle in der Phase Troja II, ca. Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr. (entspricht in etwa dem FH II). Siehe auch 0.1. Unten 1.2 a, b Axtkopf aus der Zitadelle von Troja II. Lapislazuli; ca. Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr. (entspricht in etwa dem FH II). Er wurde zusammen mit anderen Axtköpfen ähnlichen Typs gefunden, von denen alle vermutlich eine zeremonielle Funktion in Verbindung mit Blutopfern besaßen.
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1.3 Zweihenkelige Tasse aus der Zitadelle von Troja II. Gold; ca. Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr. (entspricht in etwa dem FH II).
1.4 Gefäß in Soßenschüsselform von der Insel Syros. Ton; kykladisch, Keros-Syros-Kultur.
Zitadelle mit hohen Mauern aus Lehmziegeln auf einem Fundament aus Bruchstein bestand [1.1]. Innerhalb der Zitadelle befand sich eine Reihe großer Gebäude, rechteckig im Entwurf, jedes mit einer zentralen Kammer und Vorbauten an der Vorder- und Rückseite. Ihre Funktion scheint religiös gewesen zu sein oder, im archäologischen Jargon, „kultisch“. Troja II verdankte seine Macht seiner Lage in der Nähe der Dardanellen, der Meerenge, die von der Ägäis zum Marmarameer und dem Schwarzen Meer führt. Der Kopf einer Prunkaxt aus Lapislazuli, einem Halbedelstein aus Afghanistan, bezeugt Kontakte über weite Distanzen, während substanzielle Goldfunde ein Hinweis auf den Wohlstand der Stadt sind [1.2, 1.3]. Keine andere Fundstelle in der Ägäis konnte sich mit solch einem Grad an sozialer und politischer Organisation zu dieser Zeit brüsten.
Die Ankunft der Griechen Aber wann erschienen die Griechen selbst? Nicht nur die Archäologie, sondern auch die Sprache kann hier Hinweise liefern. Griechisch (genau wie Englisch oder Deutsch) gehört zur indoeuropäischen Sprachfamilie. Die vorgriechischen Bewohner der Ägäis sprachen jedoch wahrscheinlich keine indoeuropäische Sprache. Spuren ihrer vorgriechischen Sprache können noch heute aus manchen griechischen Wörtern herausgehört werden. Die Laute -nth- und -ss- erscheinen nur selten in indoeuropäischen Eigennamen. Das Griechische ist jedoch voller Substantive, in denen diese Laute enthalten sind. Als Beispiele dienen Korinth, Labyrinth und Parnass sowie die Namen für spezifisch mediterrane Pflanzen und Tiere wie die Hyazinthe (ein noch heute gebräuchliches Wort). Ortsnamen und Bezeichnungen für lokale Pflanzen und Ressourcen gehören zu den Wörtern, von denen man erwarten würde, dass eine neu angekommene Bevölkerung sie von den angestammten Einwohnern übernimmt. Das geschah auch in Amerika, wo Begriffe der Ureinwohner für örtliche Pflanzen und Tiere („pecan“, „chipmunk“, „caribou“) oder für Orte („Arkansas“, „Mississippi“, „Pensacola“) ins Englische übernommen wurden. Leider wissen wir fast nichts über diese nichtgriechischen Sprachen, hauptsächlich weil es in der frühbronzezeitlichen Ägäis keine Schriftsprache gab. Mit dem Beginn des Mittelminoikums IA (MM IA) benutzten die Minoer auf Kreta ein Schriftsystem basierend auf selbst erfundenen Hieroglyphen. Eine zweite Schrift, die als Linear A bekannt ist, erschien im MM IIA. Keine von beiden Schriften ist bisher entzif22
fert worden, obwohl beide wahrscheinlich hauptsächlich für Verwaltungsdokumente benutzt wurden. Eine aktuelle Theorie verknüpft das Kretische mit dem Luwischen, einer in Anatolien gesprochenen indoeuropäischen Sprache. Deutlich ist allerdings, dass Griechenland von frühester Zeit an ein Schmelztiegel war.
DIE KYKLADEN IN DER FRÜHEN BRONZEZEIT Die Kykladenkulturen Die kykladischen Kulturen des 3. Jahrtausends v. Chr. bleiben uns rätselhaft. Die Kykladen sind kleine, felsige Inseln, und die Siedlungen dort waren oft nur von kurzer Lebensdauer. Sie waren locker angelegt, entstanden schnell, trieben intensive Landwirtschaft und verschwanden wieder, sobald die Erde ausgelaugt war. Nur eine Fundstelle, Phylakopi auf Melos, war kontinuierlich durch die gesamte frühkykladische Zeit besiedelt. Deswegen ist es schwierig, eine keramische Chronologie für die gesamte Periode zu erstellen. Ein weiteres Problem stellen die weitverbreiteten modernen Plünderungen kykladischer Fundstellen dar, welche große Teile des archäologischen Befundes gefährdet oder für immer zerstört haben (siehe Kasten
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S. 24). Angesichts dieser Situation ziehen viele Archäologen es vor, von einer Reihe sich überlagernder Kulturen auf den Kykladen zu sprechen, von denen jede nach einer bestimmten Fundstätte benannt ist, anstatt von einer einzigen Zivilisation. Die drei Hauptkulturen heißen Grotta-Pelos, Keros-Syros und Phylakopi I (siehe Tabelle S. 19). Die Keros-Syros-Kultur repräsentiert einen Höhepunkt. Bronze beginnt Obsidian als bevorzugtes Material für die Herstellung scharfer Werkzeuge abzulösen. Eine charakteristische Gefäßform erscheint im archäologischen Befund. Heutzutage als „Soßenschüssel“ bekannt, handelt es sich im Grunde um eine tiefe Schüssel mit einer Ausgussrinne [1.4]. Ihre Form könnte von älteren Gefäßen aus Flaschenkürbissen herrühren. Diese „Soßenschüssel“ wurden weithin exportiert, Edelmetallversionen sind aus Troja und von den Peloponnes bekannt. Wegen ihrer weiten Verbreitung sind sie ein wichtiges Hilfsmittel, um Fundstätten der frühen Bronzezeit miteinander zu verbinden. Beispielsweise suggeriert die Ähnlichkeit zwischen dem goldenen Exemplar aus Troja (1.3) und dem kykladischen von Syros (1.4) Kontakte zwischen den beiden Orten. Der Horizont der kykladischen Welt scheint sich in diesen Jahren erweitert zu haben. Eine neue kulturelle Gruppe trat gegen Ende der Keros-Syros-Kultur auf den Inseln in Erscheinung. Diese Kultur ist unter dem Namen Kastri-Kultur bekannt, benannt nach einer schwer befestigten Siedlung auf der Insel Syros. Hinweise auf ihre Präsenz lassen sich auch anderswo auf den Inseln finden, besonders bei Panormos auf Naxos, sowie auf dem Festland; auf Kreta ist sie nur schwach präsent. Die mit der Kastri-Kultur assoziierte Keramik benutzt Formen, die deutliche Parallelen im Südwesten Anatoliens hat, während die Bronzewaffen eine Legierung benutzen, die Ähnlichkeiten mit Exemplaren aus Troja aufweist. Einige Wissenschaftler interpretieren diese Kombination aus schweren Befestigungen und Beziehungen nach Osten solcherart, dass
die Kastri-Kultur eine Bewegung anatolischer Siedler in die Inselwelt hinein bedeute. Andere sind der Meinung, dies repräsentiere nichts Dramatischeres als eine Zunahme des Handels zwischen den beiden Regionen.
Kykladenidole Die Kykladen sind reich an Marmor, und Marmorgefäße und -figuren gehörten zu den Charakteristika der frühkykladischen Kulturen. Die frühesten Figurinen der Grotta-Pelos-Kultur sind hoch stilisiert und ähneln Violinen: ein kleiner, achtförmiger Körper mit einem schmalen Hals und undefiniertem Kopf. Sie wurden mithilfe von Werkzeugen aus Stein (oder vielleicht auch Metall) hergestellt und der Marmor mit Schmirgel (demselben sandigen Material, das heutzutage in Nagelfeilen benutzt wird) geglättet. In der Keros-Syros-Kultur entwickelten sich diese Figuren zu kunstvolleren, aber immer noch höchst abstrakten Formen. Sehr bekannt sind die Kykladenidole mit vor dem Leib verschränkten Armen: nackte Figuren mit keilförmigen Köpfen und vor dem Bauch gefalteten Armen [1.5, 1.6]. Die maßgebliche Inspiration für diese Statuetten könnte aus Vorderasien gekommen sein, wo ähnliche Typen gefunden wurden, die bis in das 4. Jahrtausend zurückreichen. Diese wurden auch in den Kykladen bekannt und dort über 500 Jahre lang mit nur leichten Variationen produziert. Ihre augenscheinliche Abstraktion täuscht jedoch, denn einst waren sie grell bemalt. Obwohl die Farben zwischenzeitlich verblasst oder abgewetzt sind, überlebten doch genügend Spuren von aufgemalten Gesichtszügen, Schmuck, Haar und sogar Tätowierungen, welche den Figuren in ihrem Originalzustand Leben eingehaucht hatten. Die Funktion der Kykladenidole ist allerdings unbekannt. Sie erscheinen in Siedlungen und Gräbern, aber durch Plünderungen ist es unmöglich geworden, endgültige Schlüsse zu ziehen. Ab und zu tauchen sie auch außerhalb der Kykladen auf, frühminoische Imitationen finden sich auf Kreta.
Unten links 1.5 Kykladenidol mit vor dem Leib verschränkten Armen von Amorgos. Marmor; ca. 2500 v. Chr. Unten 1.6 Kykladenidol, Vorderansicht. Marmor; später Spedos-Typ; ca. 2600– 2400 v. Chr.
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Moderne Sammler schätzen die frühkykladische Skulptur wegen ihrer augenscheinlichen Ähnlichkeit mit der abstrakten Kunst des 20. Jahrhunderts. Diese Vorliebe wirkt sich auch auf die Präsentation der Kykladenidole in Büchern und Museen aus. Einem modernen Betrachter erscheint es normal, dass eine Statue aufrecht auf einem Sockel steht. Kykladenidole, besonders der Typ mit vor dem Leib verschränkten Armen, können indes nicht aufrecht stehen: Ihre Füße zeigen nach unten (sie würden sozusagen auf Zehenspitzen stehen), und sie waren dazu gemacht, gegen eine Wand gelehnt oder hingelegt zu werden. In der
1.7 Fragmente des sogenannten Keros-Hortes. Wahrscheinlich von Keros und anderen Kykladeninseln. Marmor; Datierung ungewiss. Stücke wie diese – und andere, beeindruckendere als die hier gezeigten – wurden stückweise im freien Handel verkauft, ein unschätzbarer Verlust für unser Wissen über das frühe Griechenland.
DAS PROBLEM DES PLÜNDERNS
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ie Gesetze in Griechenland, Italien und andernorts verbieten die unerlaubte Ausgrabung und Ausfuhr von Antiquitäten, jedoch wird dies von Museen und Sammlern überall auf der Welt routiniert ignoriert. Viele der Antiquitäten, die in Amerikas und Europas besten Museen in den letzten 30 Jahren ausgestellt wurden, waren aus ihren Ursprungsländern herausgeschmuggelt worden, oft auf denselben Wegen, die auch von Drogenschmugglern und Terroristen benutzt werden. Seit den 1970er-Jahren ist der Ankauf von gestohlenen Kunstwerken mehr und mehr in die Kritik geraten und führte in den letzten Jahren zu einer Reihe peinlicher Skandale am Metropolitan Museum in New York, am J. Paul Getty Museum in Los Angeles, dem Museum of Fine Arts in Boston und an vielen anderen hochrangigen Museen. Die Befürworter des Antiquitätenhandels führen als Argument an, dass das künstlerische Erbe Griechenlands zu den Glanzleistungen der gesamten Menschheit zählt: Insofern als Gesetze gegen Plünderungen auch eine Einschränkung der Zugangsmöglichkeiten von Menschen auf der ganzen Welt zu diesem Material bedeuten, seien sie rückständig. Der Wunsch von Ländern wie Griechenland, Italien und der Türkei, ihre Kulturschätze zu behalten, reflektiere einen Kulturnationalismus, der sich nicht mit unserer globalisierten Zeit vereinbaren ließe. Es sei besser, argumentieren sie, dass die Kunst ausgegraben werde und Freude bereiten könne. Jedoch stellt der „Kulturnationalismus“ nur eine Seite der Medaille dar. Das Schlimmste an den Plünderungen ist ihre Zerstörungskraft. Denn Plünderer sind keine umsichtigen Ausgräber; sie benutzen Dynamit und Bulldozer, um zu erlangen,
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was sie wollen, und hinterlassen eine Spur der Verwüstung. Sobald ein archäologischer Zusammenhang zerstört ist, ist die Zerstörung unwiderruflich und der Verlust für das Menschheitswissen groß. Schlimmer noch, Plünderungen sind auch eng mit Fälschungen verknüpft. Nur wenn das Erscheinen undokumentierter Artefakte auf dem Kunstmarkt üblich ist, ist auch eine groß angelegte Fälschung möglich. Kykladische Skulpturen sind besonders einfach zu fälschen, und so sind die Museen weltweit voll von Objekten, die echt sein mögen oder auch nicht (niemand wird es je herausfinden) [1.8]. Kurz gesagt: Der Ankauf von illegalen Antiquitäten ist nicht nur gesetzeswidrig; er fördert auch die Zerstörung des archäologischen Befundes und seine Verunreinigung durch Fälschungen. Es ist, als brenne man eine Bibliothek nieder, eine Seite nach der anderen.
1.8 Harfenspieler im kykladischen Stil; Fundort unbekannt. Marmor; kykladisch; Übergang zwischen der Grotta-Pelos-Kultur und der Keros-SyrosKultur – oder moderne Fälschung.
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Tat sehen sie ganz so aus wie eine auf dem Rücken liegende Person. Die meisten Museen bohren Löcher in die Füße und schieben Metallstäbe hinein, damit sie in einer Weise präsentiert werden können, die attraktiver erscheint. Dadurch verwandeln sie funktionale Objekte in Kunstobjekte, auf Kosten der körperlichen Integrität der Objekte selbst. Das zeitgenössische Verlangen nach kykladischen Figurinen hat auch noch einen anderen, weitaus zerstörerischeren Effekt, indem es zu Plünderungen vieler kykladischer Fundstätten zur Belieferung der internationalen Antiquitätenmärkte beitrug. Diese Zerstörung war so gründlich und weitverbreitet, dass es schwierig ist, überhaupt eine definitive Aussage zu diesen Figuren zu machen: Wozu dienten sie, wen repräsentierten sie, wer stellte sie her? Beispielsweise stammt ein Drittel aller bekannten Kykladenidole aus einer riesigen Ladung geplünderter Fragmente, die anscheinend während der 1950er-Jahre aus Griechenland hinausgeschmuggelt worden waren (aber niemand weiß das genau). Der größte Teil des Materials scheint von der Insel Keros zu stammen, aber zumindest einige Stücke kommen auch von Naxos. Der sogenannte Keros-Hort verteilte sich schnell auf Museen und private Sammlungen auf der ganzen Welt [1.7]. Da wir weder genau wissen, wo der Hort herkam, noch was darin enthalten war, wird ein Großteil aller existierenden kykladischen Skulpturen für immer von Unsicherheit umwoben sein. Dieses Wissen ist uns verloren gegangen, und wir werden es niemals zurückbekommen.
CHRONOLOGISCHE ÜBERSICHT: KRETA BIS INS SM IB FM I–MM IA Vorpalastzeit
steigende Bevölkerungszahl, geplante Siedlungen Tholos-Gräber Goldverarbeitung
MM IB–IIIA Altpalastzeit
Keramik im Kamares-Stil Linear-A-Schrift Kontakte mit Vorderasien Stiersprung-Abbildungen Freskenmalerei (ab MM IIIA)
MM IIIB–SM IB Neupalastzeit
Fayence „Schlangengöttinnen“, Knossos Höhepunkt der Keramik und Fresken in Knossos spezielle Palasttradition in der Keramik Vulkanausbruch auf Thera Steingefäße mit Tierköpfen
DAS MINOISCHE KRETA BIS IN DIE SPÄTMINOISCHE ZEIT IB (SM IB) Vorpalastzeit Kreta ist die größte Insel der Ägäis, strategisch platziert zwischen dem Festland, den Inseln und dem östlichen Mittelmeer. Sie wurde in der Bronzezeit zu einem wichtigen kulturellen und wirtschaftlichen Zentrum. Die Insel verfügt über eine abwechslungsreiche Landschaft mit Gebirgen im Westen, einem
1.9 Kamilari, Kreta, Luftbildaufnahme eines Tholos-Grabes mit Anbauten für die Aufbewahrung der Knochen. In Gebrauch spätestens ab dem MM I bis in das SM III. In der Nähe gibt es Hinweise auf rituelle Festmahle.
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zentralen Rückgrat aus hohen Gipfeln, einem östlichen Hochland und Küstenebenen (besonders im Süden). Kreta wurde am Ende der Steinzeit besiedelt, die Hügelkuppen waren im FM I bereits mit kleinen Dörfern gesprenkelt. Der informelle Grundriss dieser Siedlungen deutet an, dass es keine zentrale Planung gab. Die Häuser wurden aus Lehmziegeln auf Fundamenten aus Bruchstein erbaut, und es existierte keine deutlich religiöse Architektur. Der wohl wichtigste und beeindruckendste Gebäudetyp dieser Zeit ist ein Grabtyp namens Tholos (Plural Tholoi) [1.9]. Tholoi finden sich in der MessaraHochebene im südlichen Zentralkreta. Sie besitzen einen runden Grundriss und sind aus grob behauenen Steinen errichtet. Der einzige Zugang besteht aus zwei aufrechten Pfeilern, die einen horizontalen Stein stützen. Diese einfache Baumethode nach dem Prinzip von Stütze und Last wurde durch die gesamte griechische Geschichte hinweg benutzt. Die Dächer waren wohl entweder flach oder aus vergänglichem Material gemacht, allerdings sind auch Kuppeln möglich. Die kretischen Tholoi waren überirdisch gebaut, nicht unter künstlichen oder natürlichen Hügeln, und stellten herausragende Orientierungspunkte in der Landschaft dar. Einzelne Exemplare blieben über Jahrhunderte hinweg in Gebrauch, manchmal bis in das SM IA, wobei eine Generation nach der anderen ihre Toten im Inneren ablegte und dabei oft die älteren Knochen einfach zur Seite schob. Abgesehen von den Knochen wurden die meisten Tholoi von Raubgräbern geplündert, manchmal sogar bereits in der Antike, und was sonst noch in ihnen enthalten war, bleibt somit größtenteils unbekannt.
Minoische Paläste Zunehmende Bevölkerungszahlen und steigender Wohlstand am Ende der frühen Bronzezeit förderten die politische und wirtschaftliche Vernetzung auf KRETER IM OSTEN Dieser Buchhaltungseintrag aus dem heutigen Grenzgebiet zwischen Irak und Syrien verzeichnet die Verteilung von Zinn an kretische Händler. Er bezeugt schon sehr frühe kretische Kontakte nach Osten. 1 1/3 Einheiten Zinn an die Kreter, 1/3 Einheit Zinn an den Dolmetscher [des] Haupthändlers der Kreter in Ugarit [an der syrischen Küste].
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Kreta. Kretische Händler waren auf ihrer Suche nach Zinn bis zum Euphrat vorgestoßen und unterhielten vermutlich eine dauerhafte Niederlassung in Ugarit, einer Stadt an der syrischen Küste (siehe Kasten unten). Dieser Aufschwung fand seinen Höhepunkt in der Gründung großer religiöser und administrativer Zentren in Knossos, Malia, Phaistos und anderswo. Obwohl sie in der modernen Wissenschaft als „Paläste“ bekannt sind, ist diese Bezeichnung ein wenig irreführend, da keine Hinweise für eine Nutzung als Residenz vorliegen. Vielmehr scheinen die kretischen Paläste Zentren für die Einsammlung, Lagerung, Verarbeitung und Verteilung der Güter aus dem nahen Hinterland sowie für Produktion und Handel gewesen zu sein. Neben dieser wirtschaftlichen Funktion, und mit ihr tief verwoben, hatten die Paläste auch religiöse und politische Aufgaben. Sie nahmen eine zentrale Rolle in der minoischen Gesellschaft ein, ob dort nun Herrscher lebten oder nicht. Kleinere Komplexe, die als „Villen“ bezeichnet werden, fungierten auf lokaler Ebene. Hier ist es zum ersten Mal in der ägäischen Geschichte angemessen, von Staaten statt nur von Dörfern zu sprechen. Alle minoischen Paläste wurden am Ende des MM IIIA durch Feuer und Erdbeben entweder zerstört oder zumindest schwer beschädigt. Sie wurden schnell wieder aufgebaut, wobei die neuen Paläste oft die Ruinen der alten auslöschten. Die neuen Paläste des SM IA waren keine exakten Reproduktionen der vorherigen, und über die folgenden Jahrzehnte hinweg fanden ständig Renovierungen, Reparaturen und Umbauten statt, welche dazu führten, dass die modernen Ausgräber mit komplizierten Ausgrabungsstätten konfrontiert werden. Während des SM IA erschien ebenfalls eine Reihe von neuen, kleineren Palästen, als hätten die Minoer aus der Katastrophe gelernt, nicht alles auf ein Pferd zu setzen. Diese Neupalastzeit dauerte bis zum Ende vom SM IB, zu welcher Zeit es erneut Hinweise auf eine weitverbreitete Zerstörung gibt – diesmal jedoch durch Menschenhand. In diesem Abschnitt werden wir die ersten zwei Perioden der kretischen Paläste (MM IB–SM IB) als Einheit behandeln.
Palastarchitektur Obwohl keine zwei Paläste einander gleichen, besitzen alle gewisse wiederkehrende Elemente [1.10 a, b]. Knossos im Norden Zentralkretas ist der größte und bekannteste Palast. Die Paläste standen meist im Zentrum größerer städtischer Siedlungen; es ist mitunter
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Oben 1.10 a, b Zwei minoische Paläste. (a) Knossos, SM IA–IIIA; (b) Phaistos, SM IA–IB. Beide Paläste sind gekennzeichnet durch: 1 Westhof; 2 Westeingang; 3 Vorrats0 25 yards räume im Westflügel; 4 Innenhof; 5 Minoische Halle; 6 Kultbassin. In Knossos: 0 der Königin“; 25 metres 7 Thronsaal; 8 Pfeilerkrypta; 9 „Megaron 10 „Theater“. Phaistos hatte während der Altpalastzeit ein „Theater“, das aber in der Neupalastzeit größtenteils begraben wurde.
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Unten 1.11 Phaistos, zentraler Innenhof des Palastes, Sicht nach Norden mit der Doppelspitze des Berges Ida im Hintergrund. SM I.
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1.12 Knossos, Rekonstruktionszeichnung des Westhofes und der Westfassade des Palastes mit dem „Erscheinungsfenster“ und Kulthörnern entlang der Dachkontur. SM I.
ERINNERUNGEN AN DEN ZENTRALEN INNENHOF IN KNOSSOS In dieser Passage aus Homers Ilias fertigt der Schmiedegott Hephaistos ein Abbild von Knossos auf einem Schild an. Woher wusste der Poet, dass sich dort ein weitläufiger Tanzplatz befunden hatte? Einen Reigen auch schlang der hinkende Feuerbeherrscher [auf dem Schild], Jenem gleich, wie vordem in der weitbewohneten KnossosDädalos künstlich ersann der lockigen Ariadne. Blühende Jünglinge dort und vielgefeierte JungfraunTanzten den Ringeltanz, an der Hand einander sich haltend.
Homer, Ilias 18. 590–94, Übersetzung Johann Heinrich Voß
1.13 Knossos, Pfeilerkrypta in der sogenannten Königsvilla in der Nähe des Palastes. SM IA. Aus dem minoischen Kreta sind etwa zwei Dutzend Pfeilerkrypten bekannt. Viele Wissenschaftler glauben, dass sie spezielle rituelle Funktionen innehatten. Eine skeptische Minderheit ist der Meinung, dass sie einfach einer strukturellen Funktion dienten.
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schwierig zu unterscheiden, wo die einen aufhörten und die anderen begannen. Allerdings ist das definierende Element eines minoischen Palastes der große, zentrale Innenhof. Dieser war rechteckig auf einer Nord-Süd-Achse angelegt und orientierte sich in Richtung einer nahen Bergspitze oder Höhle [1.11]. Diese Höfe waren wahrscheinlich multifunktional, sie dienten als Bühne für rituelle Aufführungen, Versammlungen und wirtschaftliche Aktivitäten, die mit den Betriebsabläufen des Palastes zusammenhingen. Die auf den Hof weisenden Fassaden konnten ziemlich beeindruckend sein. Sie waren über zwei oder drei Stockwerke aus sorgfältig behauenen Steinblöcken (Werksteinen) errichtet und besaßen zahlreiche Eingänge, Veranden und Fenster. Als Gegenstück zum zentralen Innenhof befand sich ein offener Platz westlich des Palastkomplexes. Dieser Westhof bildete das äußere Gesicht des Palastes, seine Schnittstelle mit der ihn umgebenden Gemeinschaft. Seine Fassade bestand oft ebenfalls aus Werksteinen, allerdings sehr viel schlichteren als die der Innenhoffassade. Das Innere war nur beschränkt zugänglich, und es gab nur wenige Fenster. Der Eingang zum Palast befand sich in der westlichen Fassade; ein gewundener Prozessionsgang führte zu einer Treppe, die in den zweiten Stock führte, und zum zentralen Innenhof. In die Westfassaden waren Nischen eingelassen, in Nachahmung der Monumentalbauten in Vorderasien. In Knossos gibt es Hinweise auf ein „Erscheinungsfenster“, ein Charakteristikum Vorderasiens für zeremonielle Präsentationen vor der versammelten Menge [1.12]. In Knossos wie andernorts brüstete sich der Westhof mit Sitzreihen, von denen aus die Zuschauer Prozessionen oder Rituale beobachten konnten. Um den zentralen Innenhof erhob sich der Palastkomplex selbst. Hier werden die lokalen Unterschiede deutlicher. Werksteinfundamente trugen mit Holzbalken verstärkte Bruchsteinmauern – eine Kombina-
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tion, die sehr widerstandsfähig gegen Erdbeben und auch auf den Kykladen und in Vorderasien anzutreffen ist. Lagen von Putz verdeckten eventuell unebene Wände und dienten als Untergrund für dekorative Bemalungen. Die Dächer waren flach, wie es auf den griechischen Inseln auch heute noch oft der Fall ist. Die minoischen Paläste waren in eigenständige Bereiche aufgeteilt, welche durch verwinkelte Korridore von labyrinthischer Komplexität verbunden waren. Es gab große Lagerräume, Schreine, Kulthallen, Produktionsanlagen und Verwaltungsräume. In Knossos befanden sich Räume für religiöse Aktivitäten („Kult“) und Lagerräume tendenziell westlich des Innenhofes, während Verwaltung und Produktion im Osten ansässig waren, aber diese Aufteilung war keinesfalls universell. Falls Wohnquartiere vorhanden waren, könnten diese sich auch im Ostteil befunden haben. Einige charakteristische Elemente der minoischen Architektur erscheinen so rätselhaft, dass Wissenschaftler oft als Erklärung die religiöse Funktion heranzogen. Paläste und auch kleinere Strukturen enthalten oft Kultbassins, die wie kleine Hallenbäder aussehen und über eine kurze Treppe zugänglich sind. Jedoch enthielten Kultbassins kein Wasser: Sie besitzen keine Abflüsse und sind innen mit löslichem Gipsputz überzogen. Obwohl eine Ritualfunktion wahrscheinlich erscheint, wäre jede weiterführende Aussage reine Spekulation. Andere architektonische Elemente mögen heilige Orte der kretischen Land-
schaft heraufbeschworen haben, insbesondere die Gipfel und Höhlen, nach denen die Paläste ausgerichtet waren. Dachkonturen waren z. B. oft mit Symbolen dekoriert, die als Kulthörner (1.12) bezeichnet werden. Obwohl manchmal angenommen wird, dass diese Symbole die Hörner von Opferstieren repräsentierten, ähneln sie anderen Darstellungen von Stierhörnern in der minoischen Kunst überhaupt nicht. Allerdings sehen sie genauso aus wie die ägyptische Hieroglyphe für „Berg“. Entscheidender noch, ähneln sie der Doppelspitze des Berges Ida, Kretas höchstem Berg (im Hintergrund von 1.11 zu sehen). Könnte ihre Platzierung entlang der Dachkonturen auf die minoische Verehrung der Berggipfel hinweisen? In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass einige wichtige minoische Gebäude einen Kellerraum mit einer einzigen zentralen Säule enthielten [1.13]. Diese „Pfeilerkrypten“ könnten heilige Höhlen darstellen, wobei der Pfeiler einen Stalaktiten repräsentierte. Falls diese eigenartigen Elemente wirklich künstliche Versionen heiliger Orte in der natürlichen Umgebung sein sollten, dann würde ihre Präsenz in den Palästen ein Zeugnis für die Institutionalisierung und Zentralisierung ländlicher Kultaktivitäten in den administrativen Zentren darstellen. Wie immer jedoch gibt es dafür keine handfesten Beweise. Andere architektonische Elemente sind mehr prosaischer Natur. Die minoische Halle ist eine charakteristische Einheit, bestehend aus einer Kammer
1.14 Knossos, Palast, eine minoische Halle mit Polythyra auf beiden Seiten. Der Thron ist eine moderne Beigabe.
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mit einer äußeren Veranda, die sich zu einem Luftschacht oder einem „Lichthof“ hin öffnet. Zwischen der Veranda und dem Hauptraum befinden sich drei oder vier Durchgänge, die durch längliche Pfeiler mit Querbalken darüber voneinander getrennt sind [1.14]. Solch ein Polythyron (Pfeiler-und-TürenKonstruktion) ist ein Hauptelement minoischer Architektur. Sie konnten auch um die Ecke gebaut werden und auf diese Art einen luftigen Raum erschaffen, der sich saisonalen Veränderungen sehr gut anpassen ließ: Die Türen konnten je nach Bedarf geöffnet oder geschlossen werden. Die minoischen Hallen sind in mehreren Palästen mit Archiven assoziiert, welche Siegelabdrücke enthielten, was auf eine administrative Funktion hinweist.
Unten links 1.15 Kanne im Kamares-Stil aus Phaistos. Ton; MM II. In Phaistos wurden besonders viele wertvolle Kamares-Keramiken geborgen. Unten rechts 1.16 MeeresstilRhyton aus Palaikastro auf Kreta. Ton; SM IB. Schalentier mit eingerollten Tentakeln (Nautilus).
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Kunsthandwerkliche Produktion in den Palästen Viele der Palastzentren unterhielten eine groß angelegte Keramikproduktion. Während der Altpalastzeit, vielleicht sogar schon ein wenig früher, kam eine wichtige technologische Erfindung aus dem Osten nach Kreta: die Töpferscheibe. Bereits während des MM IIB produzierten spezialisierte Kunsthandwerker eine exquisite Keramiklinie, den Kamares-Stil. Es handelt sich um einen Stil, in welchem helle, flache Pflanzenmotive in bewegungsreichen, fließenden Mustern auf dunklem Untergrund gemalt wurden. Trotz seiner scheinbaren Abstraktion umfasst der Kamares-Stil viele der grundlegenden Elemente der minoischen Kunst,
1.17 Kultgefäß (Rhyton) in der Form eines Stierkopfes, aus Knossos. Serpentin, Muschel, Kristall und Holz; SM IB. Die Hörner sind modern. Siehe 2.10 zu einem ähnlichen Gefäß vom Festland.
insbesondere einen Hang zu Naturmotiven, ondulierten Konturen und dynamischen Mustern (besonders Spiralen) [1.15]. Während der Neupalastzeit, ab dem SM IA, begannen die kretischen Töpfer neuartige Keramiken mit dunkler Bemalung auf hellem Grund zu produzieren, welche Politur sowie heißere Brennöfen erforderten. Regionale Variationen im Keramikstil machten einer größeren Einheitlichkeit Platz, die auf Modellen aus Knossos basierte. Eine besondere „Palasttradition“ stellen die kunstfertigen Produkte aus Knossos während des SM IB dar. Es gibt sie in mehreren Varianten, darunter den Meeresstil mit Abbildungen von Muscheln, Oktopussen und anderem Meeresgetier [1.16]. Die Muster des Kamares-Stils wurden hier in eine neue Ikonografie übertragen: Der Nautilus aus 1.16 ist wie ein zum Leben erwachtes florales KamaresMotiv. Meerestiere, die natürlicherweise im Wasser schweben, eignen sich für diesen Stil ganz besonders, der die Dynamik der Pose unterstreicht, während er die räumlichen Zusammenhänge unbestimmt lässt. Die Überlegenheit der Knossos-Keramik während des SM IA ist aufschlussreich: Von diesem Zeitpunkt an scheint Knossos die kulturelle, wirtschaftliche und vielleicht sogar politische Vormachtstellung auf Kreta besessen zu haben. Wie so oft im östlichen Mittelmeerraum waren Luxusgüter eine Möglichkeit, soziale, wirtschaftliche und poli-
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1.18 a, b Vogel-und-Affen-Fresko
im Haus der Fresken in Knossos; Rekonstruktion und Detail. Fresko; MM IIIB – SM IA. Im 20. Jahrhundert umfassend restauriert.
tische Beziehungen zum eigenen Vorteil zu gestalten. Im minoischen Kreta mochten aufwendige Gefäße und rituelle Paraphernalia aus Stein diese Funktion erfüllt haben. Unter den spektakulärsten dieser Gegenstände waren aufwendige Trichter zum Ausgießen von Flüssigkeiten, bekannt als Rhyta. Einige Rhyta sind einfache Kegel mit einer Öffnung am weiten Ende und einem kleinen Loch an der Spitze. Andere wurden in der Form von Stier- oder Löwenköpfen angefertigt, mit einer Öffnung am Kinn, nicht am Maul [1.17]. Es sind Fragmente von bis zu 26 steinernen Stierkopfrhyta bekannt, die alle nach Gebrauch vorsätzlich zerbrochen wurden, als ob das Tier symbolisch getötet werden sollte. Andere Steingefäße sind mit aufwendigen Reliefszenen dekoriert, welche sich auf Rituale der Eliten beziehen. Luxusgüter dieser Art waren wahrscheinlich auffällige Konsumgüter für wohlhabende Minoer, aber auch wichtige Produkte im Austausch von Geschenken. Bescheidenere Versionen aus Ton für den Gebrauch zu weniger gehobenen Anlässen sind ebenfalls bekannt.
DIE MINOER UND DIE ECHTE FRESKENMALEREI
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bwohl die minoische Wandmalerei letztendlich aus Ägypten stammt, war ihre Technik innovativ. In Ägypten malten die Künstler üblicherweise direkt auf den Stein oder trockenen Gipsputz. Die Minoer brachten die Pigmente dagegen meist auf feuchten Putz aus gebranntem Kalk (Calciumoxid) auf, der beim Trocknen steinhart wird. Damit erfanden sie das „echte Fresko“. Weil die Pigmente in den feuchten Putz eindringen und so dauerhaft in ihn eingebunden werden, ist echte Freskenmalerei extrem haltbar. Sogar nachdem Wände schon zusammengebrochen sind, können Archäologen die erhaltenen Fragmente noch zusammenfügen. Nach der Trocknung hinzugefügte Details überdauern weniger gut. Die echte Freskenmalerei wird auch in der späteren Kunstgeschichte einen bedeutenden Platz einnehmen: Beispielsweise benutzte Michelangelo diese Technik für die Bemalung der Sixtinischen Kapelle.
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Wandbemalung In Knossos selbst wird der neu gewonnene Status des Palastes durch verschwenderische Wandbemalungen mit figürlichen Szenen reflektiert. Die frühesten datieren in das MM IIIA, aber ihren Höhepunkt erreichen die Wandbemalungen in Knossos während des SM I. In bestimmten Motiven, wie z. B. munteren blauen Affen und Flussufer-Szenen mit Papyrus [1.18 a, b], wird ein ägyptischer Einfluss deutlich. Die Konvention, weiße Farbe für Frauen- und braune Farbe für Männerhaut zu verwenden, ist ebenfalls ägyptisch. In ihrem Stil jedoch ist die minoische Malerei charakteristisch. In 1.18 a und b ist ein Fresko aus einem Haus in der Stadt Knossos abgebildet, auf dem Affen
und Vögel in einer exotischen, Nil-ähnlichen Umgebung zu sehen sind. Das Bild mag an Ägypten erinnern, aber es ist keine ägyptische Kunst. In Ägypten sind die Figuren normalerweise an eine Grundlinie oder an Register gebunden. In Knossos dagegen bewegen sie sich frei über die Wandfläche. Natürlichen Formen wird besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht, wobei jede Pflanzenart sorgfältig dargestellt ist. Dennoch gibt es keine konstante räumliche Beziehung zwischen den Figuren und ihrer Umgebung. Anstatt wie in der modernen westlichen Malerei eine festgelegte Ansicht zu repräsentieren, rufen die Maler landläufige Umgebungen hervor: So „hängen“ Felsen von der Oberkante des Bildes, auch wenn sie vom Boden aufsteigen.
ANTIKE UND MODERNE MYTHEN
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ie Überreste des minoischen Kretas korrespondieren in faszinierender Weise mit den Sagen der griechischen Mythologie. Spätere Griechen erinnerten sich an Knossos als das Labyrinth oder das „Haus der Doppelaxt“, ein raffinierter Irrgarten, gebaut von dem legendären Kunsthandwerker Daidalos für König Minos und seine Tochter Ariadne. Sie wussten, dass es dort einen offenen Platz oder Hof gab und dass dort der Minotaurus hauste, ein stierköpfiger Mann, der sich vom Fleisch von Jungen und Mädchen ernährte, die vom Festland herübergebracht worden waren. Als die Ausgräber des 20. Jahrhunderts erstmals den labyrinthischen Palast mit seinen auffälligen Stierabbildungen entdeckten, schienen alle Legenden bewahrheitet. Es gibt sogar Hinweise auf den rituellen Kannibalismus an Kindern: Knochen mit Schnittmarken wurden zusammen mit
Kochutensilien in einem Kellerraum gefunden. Allerdings muss man Vorsicht walten lassen. Knossos wurde umfassend als moderne Touristenattraktion restauriert, manchmal auch auf Kosten der archäologischen Genauigkeit. Beispielsweise wurde ein Zimmer in der südwestlichen Ecke des Palastes von den Ausgräbern als „Megaron [Halle] der Königin“ bezeichnet, obwohl es keine handfesten Beweise für die Existenz von Königen oder Königinnen auf Kreta gibt. Neueren Interpretationen nach handelt es sich bei diesem Raum um einen Badebereich für Priesterinnen, jedoch ist diese Ansicht nicht minder spekulativ [1.19]. Auf einer der Wände im Megaron der Königin können Besucher heute eine moderne Restaurierung eines lebhaften Delfinfreskos betrachten. Sicher ein angemessener Schmuck für eine königliche Wohnung, jedoch wurden die Originalfragmente in einem anderen Raum, östlich des Megarons, gefunden. Sie scheinen ursprünglich den Fußboden (nicht die Wand) eines Raumes im zweiten Stockwerk geschmückt zu haben, welcher während der endgültigen Zerstörung des Palastes während des SM III A einstürzte. Nicht nur unsere Vorfahren, sondern auch wir modernen Menschen erschaffen Mythen.
1.19 Knossos, das sogenannte Megaron der Königin im Palast, mit einer modernen Replik eines Delfinfreskos. SM I– III. Es wird heute angenommen, dass das Fresko einst einen Boden in einem oberen Stockwerk des Palastes dekorierte.
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Wandgemälde waren eine Besonderheit in Knossos. Die einzige andere Fundstätte auf Kreta mit ähnlich reichen Dekorationen ist eine Villa in Agia Triada. Fresken in ähnlichem Stil sind jedoch auch in der heutigen Türkei, Syrien, Israel und Ägypten (siehe Kasten S. 35) gefunden worden. Diese Verbreitung bezeugt den Status von Knossos als eine regionale Macht. Denn eine weitverbreitete Praxis im Mittelmeerraum während der Bronzezeit war die Entsendung talentierter Kunsthandwerker als Geschenk an ausländische Fürsten. Obwohl nur selten minoische Exporte außerhalb der Ägäis gefunden werden, könnte es doch einen Handel mit vergänglichen Waren wie z. B. Textilien oder Rohstoffen wie Kupfer gegeben haben. Vom minoischen Standpunkt aus war der schlussendliche Zweck solcher Transaktionen wahrscheinlich die Sicherung einer steten Zinnversorgung für die Bronzeproduktion (siehe Kasten S. 26). Es gibt Hinweise dafür, dass Kreta berühmt für seine Kunstwerke war. Ein Gedicht aus der Stadt Ugarit an der syrischen Küste beschreibt, wie eine Lokalgöttin den Gott des Kunsthandwerks, Kotar-Hasis, von seinem Thron in Kreta herbeirief, um einen Palast zu errichten und auszustatten. Obwohl das Gedicht erst im 14. Jahrhundert v. Chr. (SM IIIA) niedergeschrieben wurde, könnte es doch überlieferte Erinnerungen an eine Zeit enthalten, als kretische Kunsthandwerker als Teil eines königlichen Austausches nach Vorderasien kamen. Kretas Verbindung mit technischem Können sollte bemerkenswert dauerhaft sein. Für die klassischen Griechen war Kreta die Heimat des legendären Kunsthandwerkers Daidalos, des Erfinders aller möglichen ausgeklügelten Vorrichtungen.
Ikonografien der Macht Über das politische Leben der Minoer ist nur wenig bekannt. Es gibt keine
Propagandabilder von Herrschern, wie sie in anderen bronzezeitlichen Staaten üblich sind, so z. B. in Ägypten, und es ist völlig unklar, wer genau die Macht innehatte. Auf einigen Siegeln und Siegelabdrücken sind Figuren abgebildet, männliche wie weibliche, in bestimmenden Posen und mit einem Zepter, doch ist es schwer zu sagen, ob es sich dabei um Sterbliche oder um Gottheiten handelt [1.20 a, b]. Diese Schwierigkeit ist schon an sich bedeutsam. Auf Kreta scheint die Hoheitsgewalt größtenteils in Hinsicht auf die Religion verstanden worden zu sein und andersherum. Gottheiten, nicht Fürsten, sind die hauptsächliche Verkörperung von Macht in der minoischen Kunst. An sich ist diese Tatsache nicht weiter verwunderlich, denn in der alten Welt war Religion keine persönliche, glaubensbasierte Angelegenheit. Vielmehr bildete sie die konkrete Matrix, auf der die Menschen Machtverhältnisse, Verpflichtung und sogar Wirtschaft verstanden. Der junge Mann mit dem bestimmenden Auftreten in 1.20 bildet hierbei eher die Ausnahme denn die Regel. Die minoische Religion konzentriert sich auf eine oder mehrere Göttinnen, die entweder mit Bergen (hoch oben) oder Schlangen (tief unten) assoziiert werden. Aus einem sorgfältig versiegelten Depot in Knossos stammen mehrere kleine Figurinen, die eine Schlangengöttin oder einen ihrer Verehrer reprä-
1.20 a, b Siegel-
abdruck, bekannt als Meisterabdruck; gefunden in Chania, im Westen Kretas. (a) Abdruck; (b) Zeichnung. Ton; SM IB–II. Ein fürstlicher Mann steht auf einem Palastkomplex oder einem Schrein.
1.22 MiniaturDoppelaxt aus Arkalochori. Gold; SM I.
1.21 Sogenannte Schlangengöttin aus der Tempelschatzkammer im Palast von Knossos. Fayence; MM III–SM IA. Im 20. Jahrhundert umfassend restauriert.
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Gegenüber 1.24 Stiersprungfresko aus Knossos. Fresko; SM II–IIIA. Dieses Panel war eines von mehreren, welche die Stierspiele zeigen. Es wurde umfassend restauriert. Die modernen Ergänzungen sind etwas heller gehalten als die Originalstücke.
1.23 Knossos, Thronsaal im Palast. SM IB. Das Fresko im Hintergrund ist eine moderne Rekonstruktion. Nur ein Teil eines Greifen ist durch eigentliche Überreste bezeugt. Die Papyruspflanzen sind eine moderne Erfindung. Direkt gegenüber dem Thron befindet sich ein Kultbassin.
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sentieren [1.21]. Diese Figurinen sind aus Fayence angefertigt, eine ursprünglich aus Ägypten stammende glasartige Keramik, für deren Produktion ein hochentwickelter Technologiestand nötig ist. Allerdings ist die Ikonografie charakteristisch minoisch: Schlangen sind natürlich phallische Symbole, besitzen aber auch eine starke Verbindung mit den versteckten Reichtümern und der Fruchtbarkeit der Erde, und so mag die Schlangengöttin diese Kräfte verkörpert haben. Sie trägt einen hohen zylindrischen Kopfschmuck, ein Standardattribut vorderasiatischer Gottheiten, ansonsten aber die typische Ausstattung einer kretischen Frau von hohem Status: eine Schürze, einen Volantrock und ein Mieder, das an der Taille zusammengeschnürt ist und die Brüste unbedeckt lässt (allerdings besteht ihr Gürtel aus verknoteten Schlangen, von denen eine ihren Schwanz um ihr rechtes Ohr ringelt). Hier ist es wiederum nötig, Fakten von Vermutung zu unterscheiden, denn die Göttin ist umfassend (wenn auch plausibel) restauriert worden. Die Schlange auf dem Kopfschmuck, ein großer Teil des Gesichtes, der Hals, der linke Arm und die Hand sowie alles unterhalb der Hüfte sind modern. Auch in Objekten oder Dingen konnten Religion oder Macht verkörpert werden. Neben anthropomorphen Gottheiten wurden auch Bäume, Säulen oder Stalaktiten verehrt. Wie die Kulthörner war auch die Doppelaxt ein wichtiges Symbol der minoischen Religion, vermutlich das bevorzugte Instrument für die Tötung von Opfertieren bei Blutopfern [1.22]. Miniaturversionen könnten den Göttern als Opfergaben dargebracht, größere Versionen in Fassungen in religiösen Bezirken aufgestellt worden sein. Das in 1.22
abgebildete Beispiel ist als Symbol eines Symbols völlig ohne Gebrauchswert: Es repräsentiert die in Ritualen benutzten Äxte, welche wiederum die Beziehung der Sterblichen zu ihren Gottheiten symbolisieren. Unterdessen verliehen die Paläste den minoischen Institutionen der Religion und der Macht einen architektonischen Ausdruck. In dieser Hinsicht waren bestimmte Örtlichkeiten besonders wichtig. Neben dem großen Hof in Knossos befand sich der sogenannte Thronsaal mit einem zeremoniellen Sitz. Während des LM IB wurden Fresken mit Greifen (Mischwesen aus Löwe und Vogel) zu beiden Seiten angebracht [1.23]. Dieser Raum war aber wahrscheinlich nicht der Sitz des Herrschers noch war er die Haupt-Zeremonienhalle des Palastes. Die Letztere befand sich vermutlich im zweiten Stock am Ende einer Monumentaltreppe, die hinter dem Westeingang sichtbar wird. Greifen sind sonst in der minoischen Kunst mit weiblichen Gottheiten assoziiert, daher ist argumentiert worden, dass die zur Besetzung des Throns vorgesehene Person wahrscheinlich eine Priesterin in der Rolle einer Göttin war.
Stierspiele Das markanteste Element der minoischen Religion stellen jedoch die „Stierspiele“ dar: ein dramatisches, ritualisiertes Spektakel, in dem ein Akrobat über einen angreifenden Stier springt. Obwohl Stierspiele in ganz Vorderasien praktiziert wurden, waren die Minoer ganz besonders besessen von ihnen. Diese Spiele erscheinen ab dem MM I in vielen Abbildungen. Da manche dieser Repräsentationen auch architektonische Elemente umfassen, wurde behauptet, dass die Spiele vielleicht in den zentralen Innenhöfen der Paläste abgehalten wurden. Ein relativ spätes, umfassend restauriertes (nur die dunklen Stücke sind original) Fresko zeigt diese erstaunliche Leistung [1.24]: Im Augenblick, in dem der Stier angreift, greift der „Torero“ nach den Hörnern und schwingt sich selbst in die Luft, überschlägt sich und landet entweder auf dem Rücken des Stieres oder direkt hinter ihm. Andere Spieler ergreifen die Hörner des Stieres und ringen ihn zu Boden. Die
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DER STIERSPRINGER VON AVARIS
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ine der erstaunlichsten archäologischen Entdeckungen der letzten Jahre ist ein minoisches Stiersprungfresko, das in einem ägyptischen Palast in Avaris (das heutige Tell el-Dab’a) im Nildelta ausgegraben wurde [1.25]. Hier treten erfolgreiche wie erfolglose „Toreros“ in der Wüste und vor einem labyrinthischen Hintergrund auf, der sicher an Knossos erinnern soll. Wie und warum genau diese Fresken in Ägypten gemalt wurden, ist ein Rätsel. Eine Theorie besagt, dass sie erschaffen wurden, um die dynastische Vermählung einer minoischen „Prinzessin“ mit einem ägyptischen König zu feiern. Weniger
fantasievoll ist die Vorstellung, dass die Herrscher in Knossos dem Pharao einige Maler als Geschenk sandten. Für die Ägypter waren diese Abbildungen wahrscheinlich Repräsentationen der exotischen Bräuche des Volkes, das sie unter dem Namen Keftiu kannten, die „Bewohner der Inseln inmitten des Meeres“. Die Avaris-Fresken sind peinlichst genau aus erhaltenen Fragmenten zusammengefügt worden und illustrieren die gegenwärtige Methode der archäologischen Rekonstruktion. Es ist ein Prozess der fundierten und manchmal sehr klugen Vermutung, ähnlich dem Zusammensetzen eines Puzzles, dem die meisten Teile sowie der bebilderte Deckel fehlen. Alle Stiere in 1.25 sehen sich z. B. ähnlich, weil kein komplettes Exemplar erhalten ist: Jeder ist eine Zusammenfügung auf der Grundlage von erhaltenen Fragmenten vieler einzelner Stiere. Dasselbe Prinzip regelt auch die Gesamtheit der Rekonstruktion.
1.25 Stiersprungfresko aus Tell elDab’a (Avaris) in Ägypten. Fresko; SM IA. Digitale Restaurierung. Stierspiele finden vor einem Labyrinth in einer Wüstenlandschaft statt.
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1.26 Akrotiri, Ansicht des Westhauses und der Straße in bemerkenswertem Erhaltungszustand. SK IA. In diesem Haus wurden die Fresken aus 1.30 und 1.31 gefunden.
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Figuren scheinen im Raum zu schweben, sogar noch mehr als im Vogel-und-Affen-Fresko (1.18 a, b), ähnlich den schwimmenden Meerestieren der Meeresstilkeramik (siehe 1.16). Der Stier schwebt mit allen vier Beinen über dem Boden, eine als „fliegender Galopp“ bekannte Pose, welche, wie wir noch sehen werden, den Einfluss des griechischen Festlandes verrät. Die Toreros haben einen maskulinen Körperbau und tragen das konventionelle Gewand eines minoischen Mannes: Lendenschurz, Penisbeutel und langes Haar. Hat der Springer in der Mitte braune Haut, die Standardkonvention für eine männliche Figur, weisen die Figuren zu beiden Seiten jedoch eine weiße, „feminine“ Haut auf. Sind es Männer oder Frauen? Andere Fresken zeigen wieder verschiedene Kombinationen von weiß und braun [1.25]. Wenn man sich an der einzigen Konstante, dem Körpertyp, orientiert, sollten die Figuren männlich sein, aber es ist nicht mit Sicherheit zu entscheiden. Der Punkt ist der, dass die traditionelle Unterscheidung zwischen maskulin und feminin während des Stiersprungrituals anscheinend verwischt wurde. Vielleicht war es ein Übergangsritus von der Jugend zum Erwachsenendasein, und die gemischte Farbgebung könnte einen „Zwischenstatus“ der Vorführenden reflektieren. In der späteren griechischen Kunst gibt es eine Analogie für diese strategische Benutzung der Geschlechtsmarkierung (siehe S. 140 unten und 5.35). Wie im spanischen Stierkampf war schließlich der Stier mit hoher Wahrscheinlichkeit das Opfer des Stierspiels. Trotzdem war der Stiersprung gefährlich und minoische Kunsthandwerker unterstrichen die Gefahr durch häufige Abbildungen von Teilnehmern, die von den Hörnern des Stieres aufgespießt oder unter seinen Hufen zertrampelt wurden.
Die Neupalastzeit (MM IIIB–SM IB) war für die Minoer so etwas wie ein goldenes Zeitalter. Es gab regelmäßige Kontakte mit Vorderasien und das Palastsystem befand sich auf seinem Höhepunkt. Jedoch endete das SM IB mit dramatischen und in vielerlei Hinsicht katastrophalen Veränderungen auf Kreta. Bevor wir diese näher betrachten, müssen wir noch einen Blick auf die Entwicklungen auf den Kykladen und dem Festland werfen.
DIE KYKLADEN WÄHREND DER SPÄTKYKLADISCHEN ZEIT I (SK I): THERA Späteren griechischen Mythen zufolge herrschte König Minos von Knossos durch die Überlegenheit seiner Schiffe über die Ägäis. Obwohl es durchaus minoische Außenposten auf Kythera, Rhodos und in Milet gab, gibt es nur wenige archäologische Hinweise auf das legendäre Imperium. Es ist jedoch deutlich, dass die kleinen und vergleichsweise schwachen Inseln der Zentralägäis in der späten Bronzezeit (SK IA) den starken kulturellen Einfluss Kretas zu spüren bekamen. Die Minoer ihrerseits zog es auf die Inseln wegen des Kupfers und des Silbers, das bei Laurion in der Nähe von Athen abgebaut und auf Keos verarbeitet wurde, und wegen der Handelszentren wie z. B. Akrotiri auf Thera. Diese letztere Fundstätte ist bei Weitem die informativste für diese Periode. Thera, das heutige Santorin, liegt von allen Kykladeninseln Kreta am nächsten. Die Insel besteht aus dem Kegel eines unterseeischen Vulkans. Spät im SM IA / SK IA explodierte der Vulkan infolge eines gewaltigen Ausbruchs, wahrscheinlich die größte Eruption der letzten 5000 Jahre auf der ganzen Welt. Thera wurde im wahrsten Sinne des Wortes in die Luft gesprengt. Übrig ist nur ein halbmondförmiger Teil des Vulkankraters. Akrotiri wurde einer Zeitkapsel gleich tief unter Bimsstein und Asche vergraben und die Nordküste Kretas könnte von einem Tsunami heimgesucht worden sein. Jedoch sind die Menschen auf Thera nicht von der Eruption überrascht worden. Ein großes Erdbeben ging dem Vulkanausbruch voraus, und die Menschen flohen mit all ihrer Habe. Jahre oder sogar Jahrzehnte später kamen einige von ihnen zurück und begannen mit Aufräumarbeiten, bei denen sie auch beträchtliche Schuttberge anlegten. Sie hatten sogar begonnen, ihre Häuserwände zu streichen, als die endgültige Katastrophe über sie hereinbrach. Alle scheinen sich in Sicherheit gebracht
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zu haben – es wurden keine Leichen gefunden –, aber sie flohen in großer Hast und ließen sogar Töpfe auf den unfertigen Fußböden ihrer Häuser zurück. Als die Archäologen 1976 mit umfassenden Ausgrabungen in Akrotiri begannen, fanden sie eine sehr gut erhaltene Geisterstadt vor [1.26].
Das Problem der Chronologie Die exakte Datierung des Vulkanausbruchs auf Thera ist eine der großen Kontroversen der griechischen Archäologie und das Herz der chronologischen Dissonanzen, von denen am Anfang dieses Kapitels die Rede war. Scheinbar solide C14-Datierungen platzieren die Eruption etwa im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts v. Chr. Genauso solide Korrelationen zwischen ägäischem und vorderasiatischem oder afrikanischem Material setzen sie 100 Jahre später an, wenn nicht mehr. Die Auflösung dieses ausweglosen Dilemmas ist eine der größten archäologischen Herausforderungen der jetzigen Zeit. Jedoch sollten die populären Assoziationen des Vulkanausbruchs mit der Atlantislegende von der Hand gewiesen werden; nicht einmal den Mythen nach befand sich Atlantis in der Ägäis. Es gibt auch keine fundierten Hinweise darauf, dass die Eruption lang anhaltende Konsequenzen für die Umwelt hatte, wie manchmal angenommen wird, oder dass sie den Kollaps des minoischen Kretas verursachte. Die Katastrophe, die über Thera hereinbrach, war alleine zerstörerisch genug, sodass keine weiteren Ausschmückungen nötig sind. Viele Häuser in Akrotiri sind bis zum zweiten oder sogar dritten Stockwerk erhalten. Architektonisch gibt es viele Übereinstimmungen mit dem minoischen Kreta, wie z. B. die Benutzung derselben Holz-und-
Bruchstein-Konstruktion sowie die Ausstattung mit Kultbassins und Polythyra (Pfeiler-und-Türen-Konstruktionen). Die Hauseingänge führten direkt auf enge Straßen, was auf kommerzielle oder handwerkliche Tätigkeiten im Erdgeschoss hindeutet, während sich die Wohnräume darüber befanden. Die oberen Stockwerke waren manchmal in der minoischen Technik der echten Freskenmalerei dekoriert. Viele der Abbildungen zeigen Frauenrituale. Männerszenen existieren zwar auch, sind aber weniger gut erhalten (was nicht bedeutet, dass sie weniger wichtig wären). Daraus folgt jedoch nicht, dass diese Räume eine religiöse Funktion gehabt hätten. Ebenso gut ist möglich, dass wohlhabende, vielleicht sogar prätentiöse Eliten auf Thera ihr Heim mit Abbildungen dekorierten, die das minoische Leben heraufbeschwören sollten – genauso wie in viel größerem Stil ein ägyptischer Pharao später in Avaris (siehe Kasten S. 35).
1.27 Akrotiri, Xeste 3, Wand über dem Kultbassin im Erdgeschoss. Fresko; SK IA. Drei weibliche Figuren in einer Landschaft.
Xeste 3 Das als Xeste 3 bekannte Gebäude enthielt im Erdgeschoss ein Kultbassin in minoischem Stil, abgeschirmt durch ein Polythyron. An der Wand über dem Bassin befand sich eine Szene mit drei Frauen in einer Landschaft aus blühenden Krokussen [1.27]. Ganz links hält eine reife Frau in einem transparenten Kleid eine Halskette in der Hand; in der Mitte schlägt ein jüngeres Mädchen in einem extravaganten Kostüm die Hand an die Stirn, während sie ihren blutenden Zeh versorgt; rechts bedeckt sich ein vorpubertäres Mädchen (erkennbar an dem rasierten Kopf) mit einem Safranschal und blickt von dem verwundeten Mädchen weg in Richtung eines Altars mit Kulthörnern, von denen Blut tropft. Was geschieht hier? Eine Kreta und die Kykladen bis in die späte Bronzezeit
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1.28 Akrotiri, Xeste 3, Raum 3a. Fresko. Frauen und Mädchen sammeln Safran in einer Felsenlandschaft.
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sakrale Konnotation liegt nahe. Die Szene – ein Mädchen, eine Frau und eine blutende Heranwachsende – wurde als Übergangsritus interpretiert, in welchem die beginnende Menses erkannt wird. Krokusblüten wirken angeblich krampflindernd. Das Krokusthema wird im Stockwerk darüber weitergeführt, in dem Raum direkt über dem Kultbassin. Mädchen sammeln die Stempel der Krokusblüten für die Produktion von Safran, einem kostspieligen Gewürz und Färbemittel. Links entleert ein Mädchen seinen Korb in ein herkömmliches Becken [1.29 a]; rechts klettern eine Frau und ein Mädchen auf einen Felsen, um weiter zu sammeln [1.28]. Die Mädchen tragen eine aufwendige Garderobe, inklusive Ohrringe, Armund Fußkettchen. Bis auf einen Pferdeschwanz am Hinterkopf sind sie kahlgeschoren; ihre Gesichter sind mit Kajal und Safran-Lippenfarbe geschminkt. Auf einer Plattform in der Mitte sitzt eine königinnengleiche Figur auf Ballen von safrangefärbtem Tuch [1.29 a, b]. Sie ist wahrscheinlich eine Göttin und trägt die bekannten Volantröcke mit Mieder, sowie Ohrreifen und Halsketten mit Perlen in der Form von Enten und Libellen. Ein blauer Affe nähert sich ihr auf seinen Hinterbeinen und bietet ihr Safran an. Hinter ihr ist
ein Greif, nicht unähnlich denen im Thronsaal von Knossos (siehe 1.23), jedoch geflügelt und angeleint. Eine bessere Darstellung der Wechselbeziehungen zwischen Kunst, Religion und Wirtschaft ist in der Bronzezeit kaum zu finden. Noch heute ist Safran das teuerste Gewürz der Welt, und wahrscheinlich war es auch für Theras Wirtschaft sehr wichtig. Jedoch war die abstrakte Sprache der modernen Ökonomie den Menschen auf Thera nicht geläufig. Stattdessen verstanden sie die Wichtigkeit des Safrans für ihr tägliches Leben in der konkreten Sprache der Religion. Die gemeinschaftliche Ernte der Rohstoffe erscheint in diesen Bildern als ein heiliger Akt; die Anhäufung dieses Produktes in einem zentralen Gefäß nimmt die Form der Darbringung für eine Göttin an. Das Endprodukt, die gefärbten Textilien, ist ihr Ruhesitz. Kurz gesagt ist die Religion Mittel und Weg zum Verständnis der Ökonomie. Diese Logik ist die Basis für viele Elemente der ägäischen Gesellschaft zu dieser Zeit, von der Zentralisierung der Industrie, Lagerung und Kult in den minoischen Palästen bis zur Verkörperung von Herrschaft in den Gottheiten, die wie diese, über das Einsammeln der Ressourcen wachen.
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Der weiße Hintergrund der Thera-Fresken (1.27–1.29) ist typisch für die kykladische Malerei und unterscheidet sie von der minoischen, in der mehrere Farben benutzt werden, um Landschaften zu suggerieren. Abgesehen davon ähneln die TheraFresken den minoischen Arbeiten in fast jeder Hinsicht. Wieder ist die Repräsentation des Raums eine Zusammensetzung: Eine gewellte Bodenlinie suggeriert Felsen, nicht unähnlich dem Vogel-undAffen-Fresko aus Knossos (1.18 a, b), während sich Blumen über den gesamten Hintergrund in der oberen Hälfte erstrecken. Diese Blumen stehen in keiner bestimmten räumlichen Beziehung zu den Felsen und den Figuren unter ihnen. Sie werden nicht von den Frauen gepflückt. Die Maler auf Thera schufen eine allgemeine Umgebung – sozusagen eine Blumenwelt –, anstatt eine spezifische, funktionelle Beziehung zwischen Menschen und Dingen darzustellen. Innerhalb dieser Situation interagieren die Figuren durch Blicke oder Gesten, sind jedoch in sich eigenständig. Bewegungen werden meist mit Gegenbewegungen kombiniert: Die Frauen schreiten in eine Richtung, während sie in die andere Richtung blicken, oder bücken sich hinab, während sie herauf blicken. Die Maler heben das Gesäß und die Brust hervor, um Rotation auszudrücken, während Umrandungen meist leicht gewellt, sogar elastisch erscheinen. Daher besitzen die Figuren von Xeste 3 eine fast nervöse Lebendigkeit, welche außerhalb der minoischen Sphäre ihresgleichen sucht.
Das Westhaus Die Rituale von Xeste 3 erscheinen allgemein – die Frauen und Mädchen sind keine Individuen, sondern Typen. Im sogenannten Westhaus beobachten wir jedoch den Beginn spezifischer Narrative (Erzählungen) [1.30, 1.31]. Zueinanderpassende „Miniaturfresken“, nur 43 Zentimeter hoch, laufen in Bändern hoch oben an den Wänden entlang. Im Süden findet sich eine Seefahrerszene, im Norden eine Kriegsszene – Themen, die den zwei großen epischen Gesängen des eisenzeitlichen Griechenlands entsprechen, Homers Odyssee und Ilias. Obwohl die Westhausfresken keine bestimmten Szenen aus den Gedichten illustrieren, scheinen sie doch einer gemeinsamen Tradition anzugehören und weisen sogar bestimmte gemeinsame Motive auf. Homers Epen wurzeln in der Bronzezeit, doch sind sie griechisch, nicht minoisch. Wie können wir also die „homerischen“ Abbildungen auf Thera erklären? Hatten die Inselbewohner Kontakte zum Festland? Die Fresken selbst liefern anregende Hinweise. Auf der Südwand verlässt eine kleine Flotte eine kleine Stadt auf der linken Seite und segelt über das offene Meer hinweg zu einer größeren Stadt auf der rechten Seite (1.30). Die Zielstadt besitzt eine Architektur minoischen Stils mit Kulthörnern, Veranden usw. Obwohl die Schiffe Krieger transportieren, wie man an den Helmen sehen kann, die neben ihnen hängen, scheint die Szenerie doch eher festlich denn kriegerisch. Die Einwohner der Stadt haben sich im Hafen versammelt, um die Ankömmlinge zu begrüßen.
1.29 a, b Akrotiri, Xeste 3, Raum 3a. (a) Umzeichnung; (b) Detail. Fresko. Eine Göttin erhält Safran von einer Anbetenden und einem blauen Affen.
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1.30, 1.31 Akrotiri, Westhaus, Fresken aus Raum 5. SK IA.
Oben: Detail aus dem Schiffsfresko von der Südwand: Die Stadtbewohner versammeln sich zur Begrüßung der Schiffe. Unten: Detail aus dem Schlachtenfresko von der Nordwand: mykenische Krieger und schwimmende Leichen.
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Die Details der Darstellung sind außergewöhnlich reichhaltig, angefangen bei Hirten, Wachtürmen und Gipfelheiligtümern in den Bergen bis hin zu den aufgemalten Emblemen und der unterschiedlichen Betakelung der Schiffe. Auf der Nordwand werden erneut Krieger von Schiffen in eine Stadt getragen, doch sind ihre Absichten diesmal feindlich (1.31). Ihrer Waffen beraubte Gefallene schwimmen im Wasser. Die Bürger finden sich zu einer eiligen Beratung auf einer Hügelkuppe zusammen (hier nicht zu sehen). Eine Reihe Speerträger marschiert den Hügel hinauf. Sie tragen Helme desselben Typs, der in dem Schiffsfresko auf der gegenüberliegenden Wand zu sehen ist, und sie haben sich hohe Ochsenhautschilde um den Hals gehangen, die Hände frei lassend. Die Invasoren sind plötzlich erschienen, denn einer Gruppe von Frauen ist der Rückweg in die Stadt vom Wasserholen abgeschnitten worden (oben links); in der Nähe treiben Hirten munter ihre Rinder (oben). An ihren Waffen können wir die Herkunft dieser Krieger ermitteln. Es sind Griechen vom Festland, Kämpfer der mykenischen Zivilisation, die am Ende der mittleren Bronzezeit erschien. Krieger dieses Typs sollten die ägäische Welt bald für immer verändern.
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ZUSAMMENFASSUNG SUMMARY CRETE KRETA AND THE UND CYCLADES DIE KYKLADEN TO THE BISLATE IN DIE BRONZE SPÄTE BRONZEZEIT AGE
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Es gibt drei Hauptkulturgruppen in der Archäologie der ägäischen Bronzezeit: kykladisch (Kykladeninseln), minoisch (Kreta) und helladisch (griechisches Festland).
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Die relative Chronologie der Bronzezeit ist recht zuverlässig; die absolute Chronologie ist kontrovers.
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Schon vor der Ankunft der Griechen lebten Menschen in der Ägäis. Diese vorgriechischen Kulturgruppen hinterließen ihre Spuren in der griechischen Sprache und im archäologischen Befund, besonders auf den Kykladen und auf Kreta.
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Auf den Kykladen gab es mehrere Kulturen während der frühen Bronzezeit. Heute sind sie vor allem für ihre Marmorskulpturen und -gefäße bekannt, besonders für die Kykladenidole mit den verschränkten Armen. Illegale Ausgrabungen für den internationalen Kunstmarkt haben einen Großteil des archäologischen Befundes der Kykladen für immer zerstört. Es wird oft argumentiert, dass das Sammeln illegal ausgegrabener Antiquitäten unmoralisch ist, jedoch bleibt diese Praxis weit verbreitet. Auf Kreta entstanden während der mittleren Bronzezeit große administrative, zeremonielle und wirtschaftliche Komplexe, die als Paläste bekannt sind. Die Paläste hatten üblicherweise einen großen Innenhof, einen repräsentativen Westhof sowie Areale für Handwerksproduktion, religiöse Aktivitäten und Lagerräume.
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Die Paläste wurden von Erdbeben am Ende des Mittelminoikums IIIA (Ende der Altpalastzeit) zerstört, jedoch schnell wieder aufgebaut (Neupalastzeit). Die Neupalastzeit bildete den Höhepunkt der minoischen Zivilisation. Sie entspricht dem Mittelminoikum IIIB – Spätminoikum IB.
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Ab dem Spätminoikum IA dominierte Knossos die Insel Kreta in kultureller und vielleicht auch politischer Hinsicht. Seine Keramik (spezielle
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Palasttradition, Meeresstil) wurde auf der gesamten Insel exportiert und imitiert. Andere wichtige Erzeugnisse waren unter anderem die Steingefäße in Tierkopfform, Rhyta genannt.
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Die Minoer erfanden eine Malereitechnik, die als „echtes Fresko“ bezeichnet wird, wobei Farbe auf nassen Putz aufgetragen wird. Minoische Fresken sind durch fließende Linien und natürliche Formen gekennzeichnet.
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Die minoischen Kunsthandwerker waren im gesamten Ostmittelmeerraum berühmt. Die Entdeckung eines minoischen Freskos in Ägypten war einer der spektakulärsten archäologischen Funde der 1990er-Jahre.
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Die minoische Religion konzentrierte sich auf eine oder mehrere Göttinnen, schloss aber auch männliche Figuren mit ein. Ein gefährlicher Sport, der Akrobatik und Stiere beinhaltete, spielte eine wichtige Rolle im religiösen Leben der Minoer. Abbildungen dieser Stierspiele sind in der minoischen Kunst nicht ungewöhnlich.
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Knossos trat als Ort des Labyrinths in die griechische Mythologie ein, als Irrgarten, der einen stierköpfigen Mann namens Minotaurus beherbergte.
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Auf der Kykladeninsel Thera entwickelte sich eine Kultur, die sehr vom neupalastzeitlichen Kreta beeinflusst war. Ein Vulkan zerstörte die Insel während der Periode Spätminoisch IA / Spätkykladisch IA, jedoch wurde eine kleine Stadt durch den ausfallenden Bimsstein und die Asche fast vollkommen intakt konserviert. Die Stadt ist heute unter dem Namen Akrotiri bekannt. Die Fresken aus den Häusern in Akrotiri sind nicht nur schön anzusehen, sondern bilden auch eine Informationsquelle über die kykladische Gesellschaft. Unter anderem illustrieren sie, wie die Völker des Altertums mittels religiöser Begriffe über Macht, soziale Obliegenheiten und wirtschaftliche Kräfte dachten.
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