3 minute read

Kolumne

Wolken im Kopf

Anekdoten einer Erwachsenen mit diagnostiziertem ADHS

Tina Heiniger Thun

Ein leises «Fuck» entfährt mir und Tränen schiessen sofort in meine Augen, als ich frustriert auf den leeren Platz starre, wo eigentlich mein Fahrrad stehen sollte. Was für eine beschissene und vor allem finanziell kostspielige Woche. Zuerst verlor ich wieder einmal mein Handy und nun, stelle ich fest, dass mein Fahrrad zum X-ten Mal gestohlen wurde. Kann ja passieren, denken sich jetzt die meisten. Ein sich unangenehm oft wiederholendes Muster, weiss ich. Bald werde ich 32 Jahre alt und in Momenten wie diesen fühle ich mich unglaublich weit davon entfernt, eine funktionierende erwachsene Person zu sein. Was das Ganze mit meiner Neurodiversität zu tun hat? Alles!

Vom müssen, sollen, können und machen

Viele von euch denken sicherlich, dass es passieren kann, dass mensch ein Smartphone verliert oder das Fahrrad gestohlen wird. So what? Der Punkt ist, mir passiert das so inflationär, dass es schon lächerlich ist und mich schon öfters finanziell fast in den Ruin getrieben hat. Ich bin nicht «schusselig» ich bin grob fahrlässig im Umgang mit meinen Wertgegenständen. Nicht, dass ich mir keine Mühe geben würde, nicht, dass ich mir dieser Tatsache nicht bewusst wäre. Im Gegenteil, ich Versuche ständig mehr Acht auf meine Dinge zu geben. Trotzdem scheitere ich jedes Mal grandios. Das ist frustrierend und es hilft nicht, wenn Mitmenschen meinen, dass ich doch endlich meinen Scheiss auf die Reihe kriegen soll, da ich ja Erwachsen bin. No shit, Sherlock. Ich weiss, dass ich das hätte besser machen können, es funktioniert halt einfach oftmals immer noch nicht besser. Wollen und können sind leider nicht dasselbe. Zurück zu meinem Fahrrad. Dieses stand für zwei Wochen am Bahnhof, die Chance, dass es in diesem Zeitraum wegkommt, ist also hoch. Verschiedene Beziehungsmenschen haben mich wie immer mehrmals darauf hingewiesen, dass ich doch endlich mein Velo nach Hause bringen soll, wie immer waren ihre Warnungen vergebens. Nicht, dass ich sie nicht hörte oder ernst nahm, nein. Ich vergass es schlichtweg oder fand andere Gründe, warum

«Mit ADHS verbinden viele immer noch schreiende, herumrennende Jungen und nicht stille, verträumte Mädchen. Das ist ein Problem und muss sich ändern.»

Tina Heiniger

ich das Ding nicht heute, sondern morgen endlich wieder an seinen angestammten Platz bringe. Ich bin in allen Lebenslagen, welche mich nicht wahnsinnig begeistern die Königin der Prokrastination. Das Fahrrad wieder nach Hause nehmen? Vielleicht morgen. Die Steuererklärung endlich ausfüllen? Vielleicht in sechs Monaten? Wohnung putzen? Vielleicht in sechs Monaten? Bettwäsche wechseln? Vielleicht nie? Wer weiss.

Gib dir einfach mehr Mühe und du musst es nur richtig wollen

Ich erhielt die Diagnose ADHS mit ca. 14 Jahren nach einer mehrmonatigen Abklärung bei der Psychiaterin. Die Erleichterung war gross, als klar war, dass in meinem Kopf wirklich nicht alles so funktioniert wie beim Durchschnittsmenschen. Ich konnte endlich den Grund für meine Unkonzentriertheit, die Wutanfälle, die Vergesslichkeit, die innere Unruhe, die vielen Flüchtigkeitsfehler und die tausend kleinen Blockaden, welche das Bewältigen des Alltags so massiv erschweren können, benennen. Das Dinge einen Namen erhalten hilft, sie zu akzeptieren. Wie bei allen Diagnosen, welche Mitmenschen nicht visuell direkt erkennen, ist auch ADHS stigmatisiert. Vor allem erwachsene, weiblich gelesene Personen mit ADHS sind kaum sichtbar. Viele von uns erscheinen nicht auf dem Radar, weil die Symptomatik nicht dem klassischen «Zappelphilipp» entspricht. Mit ADHS verbinden viele immer noch. Schreiende, umherrennende Jungen und nicht das stille, verträumte und unruhige Mädchen. Das ist ein Problem und muss sich ändern.

This article is from: