Die erste Miete ging an die Mafia

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PETER HOSSLI

DIE ERSTE MIETE GING AN DIE MAFIA WAS ICH BIN: REPORTER

Memoiren



Für Yuki und Vera



Frau Sherman, mögen Sie Journalisten? Cindy Sherman: Nicht alle. Warum? In Ihrem ersten Kinofilm «Office Killer» lassen Sie ein halbes Dutzend Journalisten umbringen. Die meisten Journalisten verachte ich, darum müssen sie in meinem Film sterben. Die Opfer sind aber nicht die Autoren der Artikel, sondern die Redaktoren und die Geschäftsleiter. Menschen, die selber schreiben, mag ich. Interview in «Facts», 14. August 1997


Alle Rechte vorbehalten, einschliesslich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.

© 2018 Werd & Weber Verlag AG, CH-3645 Thun / Gwatt Text: Peter Hossli Fotos Titelseite und Klappe hinten: Stefan Falke Fotos Rückseite und Klappe vorne: Pascal Mora Layout: Catherine Schubiger, PT-6150 Sobreira Formosa Lektorat: Thomas Hirt, Werd & Weber Verlag AG Korrektorat: Lisa Inauen, Werd & Weber Verlag AG ISBN 978-3-85932-939-3 www.werdverlag.ch www.weberverlag.ch


Inhaltsverzeichnis

Die Glückspille

11

Dark Times

22

Ein «Erlebnis» in Somalia

33

Der Puff in Penang

47

Eldorado 54 Für 10 000 Dollar gebe ich dir ein Interview 62 Kalt geschrieben, kalt erwischt

75

Besser als der Huber und der Meier

88

Vielleicht eine halbe Seite

96

BIG STORY, small set

106

Das kaputte Lämpchen im Kronleuchter

126

Die Türe zum Hause Ringier

133

Der Butler

141

Schwarzbrot und Butter

154

The news is you chartered a jet

163

Southampton 174 Ich kaufe deinen Kopf, nicht deinen Arsch Wie fühlen Sie sich?

181 204



Nie hat etwas dichtgehalten

216

Glücksache 234 No es mi problema

250

Der Fluglehrer

271

Das A-Wort

279

Der Kopf

289

Verdammt, wo ist Pascal?

296

Balkan-Express 307 Seitenweise Kulleraugen

326

Droge Donald

333

Warum? 358 Biografie 365 Dank 366 Die Kraft des Erzählens

368



Die Glückspille

«Autoren sollten stehend an einem Pult schreiben. Dann würden ihnen ganz von selbst kurze Sätze einfallen.» Ernest Hemingway

In Las Vegas ist nur das geschehen, was man selber erlebt hat. Das Telefon klingelt, das vertraute «unknown» blinkt auf. Wie beim ersten Anruf unterdrückt er die Nummer. Viel­ leicht aus Vorsicht, vielleicht will er ein wenig kokettieren. Das gehört zu seinem Metier, wo Fakten und Fiktion sich oft vermischen. Die Mafia hat ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt. Wer ihn tötet, erhält eine halbe Million Dollar, und zwar in bar. Er meldet sich, wie vor zwei Wochen telefonisch ver­ einbart. «Seien Sie in Las Vegas, nachmittags um vier rufe ich Sie an», sagte er damals. Er hat meine Nummer, ich seine nicht. «Ich bringe einen Fotografen mit», sagte ich. «Machen Sie, was Sie wollen», sagte er und legte auf. Joe Pistone versteckt sich. Noch immer. Sechs Jahre lang lebte und klaute der Agent der Bundes­ polizei FBI an der Seite skrupelloser Gangster. Unter dem Decknamen «Donnie Brasco» infiltrierte er in den siebziger und achtziger Jahren die Bonannos, einen der fünf Mafia-­ Clans Amerikas. Tiefer als Pistone drang niemand in das organisierte Verbrechen ein. Er sammelte Beweise, mit de­ nen über 200 Mafiosi überführt werden konnten. Die alte Mafia knickte ein. Schauspieler Johnny Depp verkörperte Pistone 1997 im Kino. Es ist Frühling 2007, zehn Jahre nach dem Filmstart von «Donnie Brasco». Charly Kurz, ein schlaksiger deutscher 11


Fotograf mit stillen Augen, baut Licht auf in der Suite 1483 im Hotel Bally’s, direkt am grellen Strip in Las Vegas. Ein Tisch steht zwischen zwei Stühlen. Einer für Pistone, der andere für mich, den Reporter, der Pistone befragen wird, dazu eine Flasche Wasser, zwei Gläser, ein paar Äpfel. Vielleicht mag der Mafiajäger ja frisches Obst. «Sind Sie in Las Vegas?», fragt die Stimme am Telefon, beschlagen mit dem nasalen italienisch-amerikanischen Akzent, zu hören an den Strassenecken in Paterson, New Jersey. «Ja, klar. Wir sind im Bally’s, Suite 1483, bereit für das Interview, wann sind Sie hier?» «Nie, ich komme nicht ins Bally’s.» Was? Sagt er etwa ab? Das Interview ist verkauft, die Mehrfachverkäufe eingeplant im Budget des laufenden Jahres. Brigitte ist schwanger, im Sommer kommt unser zweites Kind, ein Mädchen. Den Namen haben wir schon. Hotel und Flüge sind bezahlt. Charly, der Fotograf, will ein Honorar. «Treffen Sie mich in einer Stunde im South Point Casi­ no.» Wieder legt Pistone auf. «Kommt ja nicht zu spät», sagt er noch. Das möge er nicht. Zeit habe er wenig. Wie naiv von mir. Ist ja klar, der gesuchte Mafiajäger kommt nicht zum Reporter, der Reporter geht dorthin, wo sich der Gejagte versteckt. Sicher nicht mitten in Las Vegas, im Bally’s, sondern 20 Meilen südlich, abseits des Rum­ mels, irgendwo in der Mojave-Wüste. Charly packt die Lampen zusammen, ich rufe ein Taxi. Wasser und Äpfel bleiben in der Suite. Kurz vor 17 Uhr fährt der hellgrüne Ford Crown Victoria mit der Aufschrift «Vegas Cab» im South Point Casino vor, ein pompöser Bau mit vergoldet verspiegelten Fenstern. Im Pool plant­ schen Kinder, alte Damen mit blondierten Haa­ren werfen 12


Münzen in einarmige Banditen, alte Her­ren trinken Whisky on the rocks. Pistone? «Wir haben keinen Gast mit diesem Namen», betont die Rezeptionistin. Pünktlich um fünf steht er da, keine Minute zu früh. Er ist gross, kahl und kräftig, gebräunter Teint. Die Augen ver­ steckt er hinter einer Ray-Ban-Sonnenbrille, Modell: Aviator, wie sie Johnny Depp im Spielfilm «Donnie Brasco» trägt. Schlurfend führt er zum Pool, wo vier Typen in kurzen Hosen und ebenso dunklen Brillen in Liegestühlen warten. Gut sichtbar ist beim kleinsten ein Revolver, der unter dem Kurzarmhemd im Holster steckt. Pistone winkt ihnen, nickt, als wolle er sagen: Richtet eure Augen auf die Reporter. «Meine Freunde», warnt er, «alles Polizisten.» Ex-Cops be­ wachen den ehemaligen FBI-Agen­ten. Das Gespräch beginnt an einem Glastisch, unter freiem Himmel, neben Müttern, die auf ihre spielenden Kinder achten. Inmitten von Touristen fühlt sich Pistone sicher. Hier schiesst niemand auf ihn, zu gross wäre das Risiko, andere zu verletzen. Hier wagt kein als Reporter getarnter Mafioso einen Unsinn. Charly streicht um den Tisch und fotografiert. Lampen benötigt er keine, die Abendsonne wirft perfektes Licht auf Pistone. Die erste Frage gibt die Richtung vor, setzt den Ton, und sie bestimmt, ob das Interview ein Flirt wird, eine Ver­ führung oder ein Verhör. «Unter welchem Namen haben Sie in dieses Hotel ein­ gecheckt? Brasco oder Pistone?» «Wie kommen Sie darauf, dass ich hier abgestiegen bin?» Pistone antwortet mit einer Gegenfrage. Sie erzeugt, worauf ich hoffte: Spannung. Bald tanzen Worte und Sätze, als würden wir einen Dialog für ein Drehbuch schreiben – nicht mit Fiktion, sondern mit Fakten. 13


«Ich wohne nicht in diesem Hotel, ich steige unter stän­ dig wechselnden Namen ab.» «Fürchten Sie sich noch, von der Mafia ermordet zu werden?» «Die Mafia hat das Kopfgeld auf mich nie zurückge­ zogen.» «Die Mafia ist noch immer hinter Ihnen her?» «Ja. Gefährlicher aber ist, wenn irgendein Cowboy mich entdeckt und sich sagt, ‹lege ich Donnie Brasco um, werde ich berühmt›.» «Als Sie mich vor zwei Wochen anriefen, meldeten Sie sich als ‹Donnie Brasco›. Wissen Sie noch, wer Sie sind?» «‹Donnie Brasco› ist ein bekannterer Name als ‹Joe Pistone›, Sie wussten sofort, wer mit Ihnen spricht. Aber ich weiss genau, wer ich bin: Joe Pistone.» «Wie wählten Sie den Decknamen aus?» «Dominic ist mein Mittelname, daraus entstand Donnie. ‹Donnie Brasco›? Ich mag, wie der Name klingt.» Er mag, wie der Name klingt, ein sonderbares, aber ame­ rikanisches Argument. In den USA sind selbst Cops sprach­ liche Ästheten. Im Alltag verankert ist die fiktionale Welt des Kinos und der TV-Serien. Amerikaner richten ihr Leben ein, als wäre es ein langer Abenteuerfilm. Der Alltag und die Unterhaltung würden verschmelzen, schrieb Kulturkri­ tiker Neal Gabler 1998 in seinem Buch «Life: The Movie – How Entertainment Conquered Reality». Heute regiert ein Unterhalter das Land. Später liess ich das Interview in etliche Sprachen über­ setzen und verkaufte es in ein Dutzend Länder. Es war mein Geschäftsmodell als freier Journalist in den USA, fesselnde, aber schwierig zu verwirklichende Geschichten anzubieten. Im besten Fall druckten Magazine sie weltweit. 20 Jahre nach dem Film und zehn Jahre nach dem Interview ist das 14


Pistone-Stück die am häufigsten gelesene Geschichte auf meiner Website, insbesondere die italienische Version. «Pistone ha le palle», notierte einer in die Kommentarspalten. Pistone hat Eier. «Pistone sei un grandissimo!» Als «beste Non-Fiction-Geschichte des 20. Jahrhunderts» wertet einer die Lebensgeschichte des Mafia­jägers. Sie fand mich, rein zufällig. In einem Nebensatz, ge­ sprochen am Radio, fiel sie mir auf, als ich meiner älteren Tochter Yuki ein sauberes Kleid überzog. Sie hatte sich beim Essen mit Spaghetti-Sauce bekleckert. «Das war eine Besprechung von Joe Pistones Autobiografie ‹Donnie Brasco: Unfinished Business›», sagte der Radiomoderator und wechselte zum nächsten Thema. Mich traf es wie ein Blitz. Es gibt diese Millisekunden, die das Gehirn eines Reporters anwerfen und überfluten mit Fragen. Als hätte er eine potente Droge eingeworfen, die Glückspille, von der er im Idealfall ein Leben lang nicht loskommt, die er immer wieder einwerfen muss. Ein Reiz – ein Informationsfetzen – löst den inneren Drang aus, etwas zu erforschen und zu erzählen. Grantig wird der Reporter hingegen, wenn dieser Reiz fehlt, wenn er sie nicht hat, die prickelnde Geschichte. Dann verteufelt er die Branche, re­ det Chefin und Kollegen schlecht, beschwört die Medien­ krise. All das ist vergessen, wenn er sie sieht, die Story, die es unbedingt zu erzählen gilt. Dann glänzt die ganze Welt. Was, Donnie Brasco lebt noch? Für einen Moment ver­ gesse ich das besudelte Kleid der Kleinen. Die echte Figur aus dem Spielfilm, den ich einst als Filmkritiker bespro­ chen hatte? Pistone? Ihn will ich treffen. Weil er eine Figur ist, die mich packt und deshalb die Leser packen wird, die etwas anderes darstellt als die end­ 15


losen Kriege von US-Präsident George W. Bush, etwas anderes als der Terrorismus, über den ich seit sechs Jahren hauptsächlich berichte, etwas anderes als der Hype um ein neues kluges Telefon von Apple, das zwar angekündigt, aber noch nicht erschienen ist. Beim Verlag von «Unfinished Business» hinterlasse ich meine Nummer und eine Nachricht. Ein Schweizer Repor­ ter wolle mit Pistone sprechen. Ein paar Tage später klingelt das Telefon, auf der Anzeige leuchtet der Vermerk «unknown»; damals noch ein Hinweis auf eine verheissungs­ volle Geschichte, heute meist ein Sprecher einer Schweizer Grossbank, der seine Nummer unterdrückt. «Hier spricht Donnie Brasco», meldet sich eine tiefe Stimme. Sie klingt angespannt. Joe Pistone – er wirkt so nervös, wie ich es bin. Er erreicht mich in meinem Büro in Dumbo, dem neu­ erdings schicken Quartier in Brooklyn, berühmt als Kulis­ se für das Mafia-Epos «Once Upon a Time in America». Was ich von ihm wolle, fragt er. Pistone stellt jene Frage, die jeder Reporter beantworten können muss. Die Antwort entscheidet oft, ob ein Treffen stattfindet. Allzu clever darf sie nicht ausfallen, sie muss klar, darf aber nicht aufdring­ lich sein. «Ich möchte wissen, wer Sie sind», sage ich. Er schweigt lange, bis er sagt: «Seien Sie in zwei Wochen in Las Vegas.» Um vier Uhr nachmittags rufe er an. Dann hängt er auf. Klar bin ich da. Noch immer springen Kinder kreischend in den Pool. Seit einer halben Stunde reden wir, Pistone hat Vertrauen gefasst. Mit Fakten statt Pathos erzählt er, wie er sechs Jahre im inneren Kreis der Mafia überlebt hatte. «Mir unter­ liefen keine Fehler. Ich bin Italiener, ich kenne die Mafia. Ich wuchs in einem Quartier auf, das die Mafia kontrollier­ 16


te.» In Paterson, New Jersey, «wo Italo-Amerikaner wie ich entweder Cops oder Gangster werden», sagt er. «Ich war nie versucht, die Seite zu wechseln.» Und doch war er beides. Der Agent tarnte sich als Diamantdieb. Das FBI erlaubte es ihm zu klauen, töten durfte er nicht. Bei Morden schaute er zu. Warum griff der Polizist nicht ein? «Wen tötet die Mafia? Wen verletzt sie? Ihresgleichen!» Dagegen habe er nichts gehabt. Die echte Mafia sei nicht romantisch, das Leben anders als im Kino und am Fernsehen. «Sie lungern zwar in Bars und Clubs herum, aber sie reden nicht wie Shake­ speare und zitieren nicht ständig Aristoteles und Sokrates. Es sind Diebe, Gangster, Killer.» Jäh steht Pistone nach zwei Stunden auf. Er müsse los, zu einer «geschäftlichen Sitzung». Viele Fragen bleiben unbeantwortet. Abgesehen von Schnappschüssen am Glas­ tisch hat Charly trotz Abendlicht noch nichts. Ohne gutes Porträt lässt sich das Interview kaum verkaufen. «Wir brauchen ein Bild, sonst wirkt das im Magazin matt», ver­ suche ich, ihm zusätzliche Zeit abzuschwatzen. Als Kulisse würde sich eine dunkle Gasse in Las Vegas eignen. «Holen Sie mich um 21 Uhr in der Lobby ab», willigt Pistone ein. «Dann gehen wir nach Vegas.» Erneut ist er pünktlich, trägt dasselbe Kurzarmhemd wie am Nachmittag. Gewechselt hat er die Sonnenbrille, wie­ der eine Ray-Ban, aber ein modisches Modell mit feinen Rändern. Obwohl es längst Nacht geworden ist, nimmt er die Brille nie ab. Seine Augen zeigt Pistone nicht. Die vier Typen vom Pool haben sich lange Hosen ange­ zogen. «Wir sind Italiener», grüsst der kleinste, ein lustiger Bursche, der jederzeit explodieren könnte wie Schauspie­ ler Joe Pesci in einem Film von Regisseur Martin Scorsese. «Meine Grossmutter war Italienerin», stelle ich mich vor. 17


«Sie und ihre Familien wanderten vor dem Krieg von Vero­ na in die Schweiz ein.» Stille. Augen rollen, der Fast-Joe-Pesci kichert, ein an­ derer dreht sich ab. Rasch wird mir bewusst: Ich gehöre nicht zu ihnen. «Italiener» bedeutet in diesen Kreisen im­ mer nur «Sizilianer». Verona? Forget about it! Falsch. Fuhgeddaboudit! Pistone zwängt die langen Beine in einen engen Miet­ wagen und setzt sich neben mich auf die hintere Sitzbank. Der kleine Lustige fährt. Ein idealer Ort für ein Interview. Selbst bei einer verstörenden, persönlichen oder angriffigen Frage kann der Befragte nicht aus dem fahrenden Au­to entwischen. Schwierig sei es gewesen, von der Familie ge­ trennt zu leben, sagt Pistone. «Mein Status als Familien­ vorstand schwand merklich, meine Frau und meine Töchter erledigten alles ohne mich. Sie brauchten mich nicht mehr.» Meine zweieinhalbjährige Tochter Yuki spielt daheim ohne mich. In drei Monaten kommt Vera zur Welt. Ein Re­ porter ist oft unterwegs. Er taucht in die Geschichten ande­ rer und in fremde Welten ein. Wie der Mafiajäger ent­ schwindet er dem Alltag, sucht neue Begegnungen, erlebt Nervenkitzel, die anders sind als jene zu Hause. «Ich war überzeugt, die Gesellschaft und mein Land zu verbes­ sern», rechtfertigt Pistone sein Fernbleiben. «Davon wür­ den später meine Kinder profitieren. Hätte ich es getan, um ein Star zu werden, wäre ich sicher daran zerbrochen.» Am Schluss hängte ihm der Staat eine Verdienstmedaille um den Hals und zahlte einen Bonus von 500 Dollar. «Ich tat es weder für Geld noch für den Orden.» Pistone ist ein leidenschaftlicher Handwerker, der sich nicht wichtig nimmt. «Es war mein Job.» Genau wie sich ein Reporter nicht wichtig nehmen sollte. Ein Reporter ist ein Handwerker, im besten Fall ein leidenschaftlicher. 18


Parallel zum Strip von Las Vegas finden wir eine enge Gasse für das Bild. Pistone zündet eine dicke Zigarre an, saugt kräftig daran, bis sie glimmt. Nun wirkt er wie ein Gangster, wie das Klischee, in dem er sich selbst am bes­ ten gefällt. Wie bei einem Verhör richte ich die Lampe in sein Gesicht. Charly macht ein Foto, das er mehrmals ver­ kaufen wird. Oft habe er am New Yorker Fischmarkt gearbeitet, an der Südspitze von Manhattan, sagt Pistone aus dem Nichts. Keine Branche sei mehr von der Mafia durchdrungen als der Fischhandel. «Beim Fischmarkt hatte ich meine erste Wohnung in New York», sage ich. «Wo am Fischmarkt hast du gelebt?» Am 2. April 1998 kam ich mit zwei Koffern in Manhattan an, einen Tag vor meinem 29. Geburtstag. Den sicheren Job beim Schweizer Nachrichtenmagazin «Facts» hatte ich aufgegeben. Der damalige Chefredaktor Jürg Wild­berger besetzte die neu geschaffene Stelle des US-Korresponden­ ten mit einem anderen, auf dem Papier erfahreneren Re­ daktor. Denen werde ich es zeigen, dachte ich und ging auf eigene Faust, ohne Auffangnetz, als freier Reporter. Ein Freund, der kurz zuvor aus Philadelphia nach New York ge­ zogen war, bot mir für ein paar Wochen eine Matratze im fensterlosen Untergeschoss seiner Loft-­Wohnung an. Seine Bleibe lag an der Pearl Street, unweit vom Fisch­ markt. Hier, an der Südspitze der Insel, begannen 1624 holländische Seefahrer Manhattan zu besiedeln. Die Stras­ sen tragen Namen, nicht Nummern. Einige sind nach Slips benannt, nach ehemaligen Landungsstegen der Schiffe. Auf dem Peck Slip – einer breiten Piazza, gesäumt von Back­ steinhäusern – befand sich von 1822 bis 2005 der Fulton Fish Market, nach dem Handelsplatz in Tokio der weltweit 19


zweitgrösste Fischmarkt. An heissen Tagen stank es besti­ alisch, nachts dröhnte es. Piepsende Gabelstapler hievten mit Eis und Fisch gefüllte Kisten umher, Fischhändler schrien, die Motoren der Kühllaster brummten. Am Peck Slip fand ich eine charmante, zahlbare Woh­ nung, im obersten Stockwerk eines rostbraunen Hauses. Mein erstes Daheim in New York. Vom Dach aus waren die Zwillingstürme des World Trade Centers zu sehen, vom Wohnzimmer die Brooklyn und die Manhattan Bridge, dazu der grünlich schimmernde East River, auf dem Schleppkähne verkehrten. Keine schöne Wohnung, aber meine Wohnung. Stube, enge Küche, helles Schlafzimmer, dunkles fensterloses Bad, keine Ta­peten, sondern Back­ steinwände. Ein Ort, wo ich mit 29 anfing, ein neues Leben aufzubauen, zu begreifen, wer ich bin, zu lernen, was es bedeutet, ein Journalist zu sein. Einst war das Gebäude ein Hotel, später ein Puff, nun ein Mietshaus. Seit 1873 bewirtet im Erdgeschoss das Café Paris hungrige und durstige Gäste, es ist ein Fischlokal und ein Pub, das die ganze Nacht offen hat und etliche Sorten irisches Bier anbietet. «Wo am Fischmarkt hast du gewohnt?», fragt Pistone. «Am Peck Slip, vorne am Wasser.» «Da bin ich oft rumgehangen. An welcher Adresse?» «42 Peck Slip, oberhalb des Café Paris.» «Die Mafia und ich trafen uns oft im Café Paris. Dort heckten wir unsere Dinger aus, bereiteten Diebstähle vor, das Haus gehört der Bonanno-Familie.» Jenem Mafia-Clan, den der Mafiajäger unterwandert und zerschlagen hatte. «So viel ich weiss, hat der Besitzer nicht gewechselt.» Meine erste Miete in Amerika ging also an die Mafia. Es waren monatlich 1450 Dollar. Drei Jahre lang trug ich den Scheck pünktlich zur Post, dann zogen wir über den 20


East River nach Brooklyn. Meiner Partnerin Brigitte Schmid war es in den Nächten zu laut, im Sommer zu heiss, den bissigen Gestank toter Meeresfrüchte hielt sie nicht mehr aus. Gleich neben dem Haus liegt die röhrende Autobahn, die um Manhattan führt. Nie hätte sie hier Kinder gehabt. Und wir wollten eine Familie. Als Brasco sah Pistone seine Familie nur alle sechs Monate während zwei Tagen. Trotzdem ist er noch immer verheiratet. «Meine Frau weiss, dass mir enorm wichtig ist, was ich mache.» Mir ist enorm wichtig, was ich mache. Bei einem Reporter überlappen sich Beruf und Alltag. Selten hat er Feierabend. Ständig sucht er Geschichten. Er findet sie, während die Tochter kleckert. Er lebt im Haus der Mafia, die der Cop unterwandert, den er später trifft. Im Griff hat mich die Neugier, dieses heimtückische Biest. Es ist nie satt, will immer mehr. Es lockt und trägt mich an aussergewöhnliche Orte, zu Menschen, die Persönliches, manchmal Intimes preisgeben. Was nicht einfach ist für jene, die ich liebe, mit denen ich lebe, die ich zurücklasse. Sie müssen mich mit jenen teilen, über die ich schreibe. Diese liebe ich nicht, aber gernhaben muss ich sie, mich ihnen öffnen, egal, wo sie weltanschaulich stehen. Nur so geben sie preis, was ich bei ihnen suche: eine Geschichte, die bleibt, die mehr ist als eine schnelle Schlagzeile.

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