
6 minute read
White Heart
Der Beginn einer grossen Reise
Wenn wir mehr über Tiere lernen wollen – echtes Wissen, keine kalten Fakten –, dann müssen wir raus in die Natur gehen.
Barry Lopez
White Heart
Der Schneesturm an diesem eisig kalten Morgen des 18. Januar 2004 tief im Nationalpark Bayerischer Wald wurde immer stärker. Dichte Schneeflocken fielen vom Himmel. Bald bedeckte eine flauschige weisse Schicht den dunklen Wald, meinen Körper und meine Kamera, die ich auf einem kopfhohen Stativ in der Mitte der Aussichtskanzel beim Wolfsgehege aufgebaut hatte. Ich machte mir keine Sorgen, die Kamera und ich waren gut geschützt. Das schwere Objektiv war auf einen schneebedeckten, von blattlosen Birken umgebenen Hügel gerichtet. Ich beugte mich vor, blickte durch den Sucher und sah zwei pelzige Ohren im frisch gefallenen Schnee. Ich konnte das Gesicht des Tieres nicht erkennen, aber es gab keinen Zweifel. Der Wolf war nah. Ich blieb mucksmäuschenstill. Mein zögerlicher Atem verdampfte rasch in der kalten Morgenluft. Wird er aufstehen? Gibt es noch mehr Wölfe hinter dem Hügel? Meine Gedanken drehten sich. Minuten fühlten sich an wie Stunden.
Schliesslich erhob sich der Wolf und zeigte seine ganze imposante Gestalt. Sein Rücken war mit grossen Schneeflocken bedeckt. Das lange Schutzhaar und das darunter liegende dicke Unterfell isolierten den Wolfskörper so gut, dass die Flocken nicht schmolzen. Der untere Teil des Wolfsbauchs, die Innenseite der Beine, Teile des Brustkorbs und des Ge-
sichts waren schneeweiss. Der Rest des Körpers war in verschiedenen Erdtönen gefärbt, von schwarz zu grau bis hellbraun und Sepia. Die reinweissen Teile des Brustkorbs, der Kehle, der Schnauze und der Wangen bildeten gleichsam die Form eines weissen Herzens, und die hervorstehende schwarze Nase stellte das obere Zentrum des Herzens dar. White Heart sollst du heissen, schoss es mir durch den Kopf. Über diesem weissen Herzen sah ich in hypnotisierende, hellgoldene Augen. Ich konnte dem Blick von White Heart nicht entkommen. All meine Gedanken und Gefühle schienen sich in seinen dunklen Pupillen zu verlieren.
Just in diesem Moment hörte ich Stimmen der Wildnis aus einer anderen Ecke des Geheges. Mehrere Wölfe heulten in der frostigen Morgenluft. Ich konnte die Tiere, die diesen mystischen Klang erzeugten, nicht sehen. Der einzelne Wolf vor mir wirkte davon weniger begeistert und sah mich besorgt an. Seine Körpersprache veränderte sich: Er senkte den massiven Kopf gegen den Boden und legte die Ohren flach an. Dann verstummte das Geheul abrupt. Drei Wölfe traten aus dem Birkenwald hinaus und auf die Lichtung zu. In enger Formation bewegten sie sich entschlossen auf White Heart zu. Dieser zog sich unter dem Hügel zurück und wartete. Die drei Wölfe liessen nicht lange auf sich warten. Als sie beim Hügel ankamen, begannen zwei von ihnen intensiv den Boden zu beschnuppern, während der dritte ohne zu zögern offensiv auf White Heart hinuntersprang. Ein Kampf brach aus.
Die Intensität des Duells überraschte mich. Während ich das Treiben mit meiner Kamera festhielt, wurde mir klar, dass White Heart deutlich grösser war als sein Angreifer. Dessen Aggressivität war jedoch so heftig, dass Grösse keine Rolle mehr spielte. White Heart verteidigte sich so gut er konnte und versuchte den Angreifer in Schach zu halten, während die beiden anderen Wölfe die Kämpfer von oben beobachteten, ohne einzugreifen. Wenige Sekunden später zog sich der Angreifer auf den Hügel zu seinen Gefährten zurück, wo er mit Schnauzelecken und heftigem Schwanzwedeln begrüsst wurde. Obwohl die Szene auf dem Hügel freundlich zu sein schien, konnte ich keine echte Harmonie in ihren Gesichtern erkennen. Kurz darauf verschwand das Trio wieder dorthin, woher es gekommen war.
Wenn ich den vielen TV-Dokumentarfilmen oder den Artikeln über Wölfe, die ich bis anhin gelesen hatte, glauben würde, dann wäre das, was
ich gerade erlebt hatte, wie folgt umschrieben worden: Wölfe haben eine sehr strenge Hierarchie, mit dem Alphamännchen an der Spitze der Hackordnung. Er ist derjenige, der zuerst frisst, der alle Entscheidungen trifft und immer an der Spitze des Rudels läuft. Der Omegawolf ist derjenige, der am Ende dieser Hierarchie steht; eine Art Aschenputteltier, das von den anderen Mitgliedern des Rudels oft gehänselt, gemobbt oder brutal angegangen wird.
Ich fragte mich, ob Wölfe auch in freier Natur so aggressiv zueinander waren wie hier im Gehege. Hatte wirklich nur der männliche Rudelführer, der oft genannte Alphawolf, das Sagen, mussten alle sich ihm unterwerfen? Wurde die Rangordnung innerhalb eines Rudels immer wieder auf gewalttätige Art und Weise ausgefochten? Ich hegte starke Zweifel. Dies schienen vermenschlichte Theorien zu sein. Doch wie sollte ich das beurteilen können? Schliesslich hatte ich bis dahin keinerlei Erfahrung mit wild lebenden Wölfen.
Ich schaute White Heart an und dachte an meine Heimat im Herzen der Schweizer Alpen. Für die einen war der Wolf Zeichen einer intakten Natur, für viele andere aber der Inbegriff des Bösen. Diese Ansicht hat Tradition. Der Wolf wurde, wie so viele grosse Säugetiere mit scharfen Zähnen und Krallen, seit Jahrhunderten von unserer westlichen Kultur als Feind betrachtet, der beseitigt werden muss. Und kaum ein Tier litt mehr



unter der extremen Diskriminierung als er – Canis lupus, der Wolf. Im späten 19. Jahrhundert wurden Wölfe in vielen Industrieländern wie Deutschland, Frankreich und der Schweiz gnadenlos gejagt und vollständig ausgerottet, bis einige Länder, in denen noch Wölfe lebten, begannen, den Wolf zu schützen. So stellte Italien 1971 den Wolf unter partiellen und 1976 unter totalen Schutz und die Wolfspopulation erholte sich langsam.1 Eine Änderung der Gesetze reichte jedoch nicht aus. Noch immer standen Wölfe oft in einem sehr schlechten Licht. Insbesondere die Jäger und Bauern wollten den Wolf in ihren Gebieten partout nicht haben. Für viele von ihnen war der einzige gute Wolf ein toter Wolf – oder einer, der erst gar nicht existierte.
Nichtdestotrotz kamen 1992 zum ersten Mal seit langem Wölfe aus der geschützten italienischen Population nach Frankreich. 1995 erreichte der erste italienische Wolf die Schweiz.
Die Rückkehr der Wölfe in den Schweizer Alpen faszinierte und polarisierte zugleich. Genau aus diesem Grund reiste ich nun nach Bayern, um die Gehegewölfe des Bayerischen Wald-Nationalparks zu fotografieren. Die Fotografien sollten mir als Vorlage für Aquarellbilder dienen. Ich wollte mit meinen Kunstwerken einen inspirierenden Beitrag zu den aufflammenden Diskussionen über die Rückkehr der Wölfe leisten.
Tief in Gedanken versunken, holte mich der stechende Blick von White Heart zurück in die Gegenwart. Sein Gesichtsausdruck schien zu sagen, dass die Geschichten, die ich über seine Spezies gehört hatte, nicht die wahre Natur des Wolfs widerspiegelten. Die Wahrheit war, dass er, White Heart, diesen Ort verlassen wollte. Doch er konnte nicht. Die Zäune waren zu hoch. Er war an einem Ort mit ihm fremden Wölfen eingesperrt, damit Menschen wie ich Canis lupus in aller Ruhe bewundern können.
An diesem Tag, tief im Nationalpark Bayerischer Wald, wuchs in mir der unwiderstehliche Wunsch, mich auf meine eigene Suche zu begeben, auf die Suche nach der wahren Natur frei lebender Wölfe. Die Frage lautete bald nicht mehr, ob und wie, sondern wann und wo ich zu meiner Reise zu den Wölfen in der Wildnis aufbrechen würde.
1 Mech, L. D., & Boitani, L. (2003). Wolves: behavior, ecology, and conservation.
Chicago: The University of Chicago Press, S. 326.