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Die Styx
Jonas Nordmann war kein guter Schwimmer. Er war seit Tagen zu Fuss mit Ella unterwegs. Ein kleiner Rucksack gefüllt mit Ersatzwäsche, Seife und Zahnbürste, Regenschutz, Schlafsack, Streichhölzern, Logbuch, Proviant und Ellas Fressnapf und Leine. Am Schluss packte er noch den Kompass ein, obwohl er noch nicht wusste, wieso. Von ihrem Wohnort aus liefen Ella und er auf der rechten Seeuferseite des Zürichsees Richtung Süden. Sie hatten kein bestimmtes Ziel, sondern viel Zeit, und legten jeden Tag etwa zwanzig Kilometer zurück. In jüngeren Jahren mutete sich Jonas längere Tagesetappen zu, bis an die Grenzen der körperlichen Leistungsfähigkeit. Jetzt gab es Tage, an denen ihm die Glieder und Muskeln schon nach knapp zehn Kilometern zu schmerzen begannen und der Genuss am Weiterwandern verschwand. Mit Ella suchte er dann jeweils nach einem geeigneten Nachtlager und fand es im Schober eines Bauernhofs, mitten im Wald in einer Senke, in Nähe eines Baches oder an einer verlassenen, erkalteten Feuerstelle. Am nächsten Morgen stellte er mit Kompass und Karte die ungefähre Marschrichtung wieder ein. Das Handy benutzte er selten.
Nicht nur das ziellose Wandern faszinierte Jonas, sondern auch, wie wenig Geld für die menschlichen Bedürfnisse notwendig war. Mit jedem zusätzlichen Tag entfernten sie sich etwas weiter von Gesellschaft und Zivilisation, und er wunderte sich über den Stellenwert, den Materielles in seinem Leben hatte. Es war alles bereits da. Am Abend übertrug er die Erlebnisse ins Logbuch. Obwohl körperlich müde, waren sein Geist und seine Sinne hellwach und nahmen Dinge wahr, die
ihm sonst fremd waren. Er ging den Geräuschen des Waldes nach, schaute im Schlafsack auf dem Rücken liegend in den Sternenhimmel und wartete geduldig auf eine Sternschnuppe oder das Positionslicht eines Flugzeuges, in sich froh, nicht darin sitzen zu müssen und durch die Zeitzonen zu fliegen. Er liess wilde Brombeeren auf seiner Zunge zergehen und ersetzte das multiple Fotografieren eines Gegenstandes mit seinem Handy durch Skizzen in seinem Logbuch. Er setzte sich hin und begann zu zeichnen, was er sah. Zum Spass wanderte er eine Strecke so lange rückwärts, bis es Ella zu bunt wurde und sie erst mit Bellen aufhörte, als er sich wieder in Marschrichtung drehte. Die Tage wurden voll, nichts wiederholte sich, und Jonas sog ein, bis ihm schwindlig wurde.
Von Chur wanderten sie weiter nach Trin, wo sie etwas Proviant kauften und auf dem Weg zur Ruinaulta-Hängebrücke einen Bauern fragten, ob sie am Waldrand in der Nähe seines Hofes ihr Nachtlager aufschlagen dürften. Sie durften. Der Abend war milde, der Himmel wolkenlos, und der Sonnenuntergang malte stufenlos unwirkliche Farben, die Jonas zuvor noch nie gesehen hatte. Er hatte sich zuvor am Brunnen auf dem Hof gewaschen, etwas getrunken und seine Wasserflasche aufgefüllt, damit er Ellas Trockenfutter aufweichen konnte. Ellas Verpflegung war zum Ritual geworden, sie wusste genau, was folgen würde. So wich sie Jonas während der Zubereitung ihres Fressens nicht von der Seite und verfolgte jede seiner Bewegungen mit höchster Konzentration. Jonas stellte den gefüllten Napf vor Ella hin, schaute ihr streng in die Augen, hob den Zeigefinger und sagte:
«Warten … warten … warten!»
Ella rang mit sich, verlagerte das Gewicht von der linken zur rechten und wieder zur linken Vorderpfote und begann
ganz langsam zu wimmern. Nochmals hob Jonas den Zeigefinger an. Ellas Blick fixierte Jonas, reglos verharrte sie nun in ihrer Position, denn jeden Moment musste das erlösende Wort fallen. Jonas schaute Ella tief in die Augen, öffnete langsam den Mund, holte etwas Luft und sagte dann ganz schnell:
«E Guete!» 1
Am Schauspiel, das sich danach abspielte, konnte sich Jonas nicht sattsehen. Ellas Kopf schnellte nach unten, die Schnauze tauchte in das Futter ein, und das Schmatzen begann. Alles musste rein, und zwar so schnell wie möglich. Für Ella gab es nur noch diesen Moment: das Fressen des Futters. Die Welt mochte untergehen, die ihre hörte an den Rändern ihres Fressnapfes auf. Nachdem Ella alles aufgefressen hatte, leckte sie unzählige Male über die Innenseite des Napfes, bis auch der letzte Geschmack verwässert sein musste. Nach dieser Höchstleistung stellte sie sich wieder auf die Vorderpfoten und blickte zu Jonas, der damit begonnen hatte, das mächtige belegte Brot auszupacken, das er in Trin gekauft hatte.
«Untersteh dich, auch nur daran zu denken, dass du davon etwas kriegst.» Er wusste, dass sie ihn am Schluss doch erweichen würde. Jonas verfütterte die letzte Brotrinde mit etwas Schinken an Ella, wusch den leergeleckten Napf aus und füllte Wasser nach, damit Ella trinken konnte. Mit dem letzten Tageslicht trug Jonas die Erlebnisse des Tages ins Logbuch ein. «Morgen wird es regnen», hatte ihm der Bauer gesagt, «die Nacht aber sollte trocken bleiben.» Er rief Anne an und berichtete ihr in kurzen Sätzen vom Tagesgeschehen:
«Es gibt noch so viel mehr, was ich dir berichten könnte.»
1 Guten Appetit
«Erzähle!», drängte ihn Anne. «Ich schreibe es auf. Du kannst es dann später nachlesen, wenn du möchtest. Ich spreche nur wenig, und das Schweigen bringt mich aus der Übung. Du fehlst mir, aber sonst ist alles da, und Ella weicht mir nicht von der Seite. Du kennst sie ja.»
Nach ein paar Minuten verabschiedeten sie sich. Jonas stieg in den Schlafsack und zog den Reissverschluss bis unters Kinn. Ella legte sich an seine Seite. Im Licht der portablen Gaslampe beobachte Jonas, wie sie zufrieden schmatzte, ihre Augenlider schwerer wurden und sie kurz darauf mit einem tiefen Atemzug einschlief. Sie war eine noch junge Hündin. Nachdem Luna gestorben war, war es für Jonas unmöglich, sofort wieder einen Hund aufzunehmen. Jonas und Anne warteten lange, bis es für sie wieder stimmte. Vor vier Jahren war es dann so weit. In einem nahe gelegenen Hundeheim wurde eine junge, blonde Labradorhündin abgegeben, die jemand ausgesetzt hatte. Es passte sofort. Jonas und Anne hatten nicht den Anspruch, dass Ella Luna ersetzen musste. Das wäre unmöglich gewesen. Ella war lebendiger und voller Energie, währenddem Luna sich dem Rhythmus der Familie jederzeit problemlos anpassen konnte.
Am nächsten Morgen, nachdem sie ihr Nachtlager geräumt hatten, begann es heftig zu regnen. Sie suchten erst Schutz unter dem Dach des Hofes und schauten zu, wie sich unter den Abflussrohren schnell Pfützen bildeten. Auch nach einer Stunde hörte der Regen nicht auf. Jonas zog die Kapuze seines Regenschutzes über den Kopf und rief Ella zu:
«Los gehts!»
Ellas Fell sog sich rasch mit Wasser voll. Obwohl Jonas’ Wetterschutz regendicht war, hoffte er auf besseres Wetter im Laufe des Tages. Bevor sie nach einer halben Stunde
die Ruinaulta-Brücke überquerten, steckte sich Jonas einen Fünfliber2 in die Hosentasche, eine Gewohnheit, die er als Knabe von seinem Grossvater übernommen hatte: «Bevor du eine Brücke überquerst, halte immer etwas Geld bereit. Es kann sein, dass du in der Not einen Fährmann für die Überfahrt bezahlen musst.» Erst später erfuhr Jonas von seiner Mutter, dass sich sein Grossvater, ein Bauer, in seiner spärlichen freien Zeit in der griechischen Mythologie verlor. Etwas, was wenige wussten, weil er es niemandem sagte. Ein Bauer hatte sich um die Bewirtschaftung seines Hofes zu kümmern. Zeit haben für anderes hätte ihn in den Augen anderer suspekt gemacht. Als Jonas und Ella sich in der Mitte der Ruinaulta-Brücke befanden, scherte die Hündin plötzlich aus. Sie musste etwas gerochen haben und schlüpfte unter den Drähten hindurch auf die abfallenden Seitenträger. Ella verlor die Bodenhaftung, rutschte über die Kante und fiel in den Vorderrhein. Jonas sah, wie sie nach dem Untertauchen wieder auftauchte und sogleich anfing, laut bellend mit ihren Vorderpfoten zu paddeln. Sie ruft mich, dachte Jonas. Nach vielen Tagen des ruhigen Abwägens und Sich-Zeit-Lassens setzte der Reflex ein, etwas tun zu müssen, um die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen. Rasch zog er seinen Rucksack aus, zwängte sich so zwischen den Drähten hindurch, dass er sich die Unterarme aufschürfte. Kurz bevor er sprang, sah er, wie Ella gegen das Ufer trieb, und erst jetzt realisierte er, dass er auf der Brücke hätte zurücklaufen können, um am Ufer des Flusses auf Ella zu warten. Er versuchte noch, der Schwerkraft seines sich vorbeugenden Körpers entgegenzuwirken, aber er hatte den Punkt, an dem es kein Zurück mehr
2 Fünffrankenstück
gab, bereits überschritten. Jonas fiel von der Brücke, im Flug kämpfte er um die Balance und schlug hart auf dem Wasser auf. Er sank wie ein schwerer Stein, bevor er mit kräfteraubenden Bewegungen das Absinken auf den Grund stoppen konnte, um zurück an die Wasseroberfläche zu schwimmen. Als er auftauchte, zog ihn die Strömung zu Ella, aber die sich vollsaugende Kleidung und die Schuhe kosteten viel Kraft. Ella war nur noch wenige Meter vom Ufer entfernt, und als sie Jonas im Wasser sah, machte sie kehrt, um zu ihm zu schwimmen. Er rief Ella mit abwehrender Hand noch zu, dass sie wieder umkehren sollte, was sie zu seiner Überraschung auch tat. Jonas versuchte noch, seine Wanderschuhe loszuwerden und seine Jacke auszuziehen, aber er hatte keine Kraft mehr. Ella rettete sich ans Ufer. Guter Hund, dachte Jonas, bevor er kraftlos unter die Wasseroberfläche sank. Ella begann wieder laut zu bellen und suchte verzweifelt den Vorderrhein nach Jonas ab.