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Tote Dichter
Nur Ella kehrte zu Anne zurück. Obwohl Jonas unerwartet starb, machte sich seine Familie den Vorwurf, sich nicht besser darauf vorbereitet zu haben. Sie glaubten, dass sich einem die Dinge nach dem Ableben eines geliebten Menschen von selbst aufdrängten: letztwillige Verfügungen, Abmeldungen, Anmeldung zur Beisetzung, Lebenslauf schreiben, Leidzirkulare, Todesanzeigen, Auswahl des Bestattungsinstituts, Kremation, Beisetzung, Abdankungsfeier, Trost spenden, Trost empfangen, Danksagungen. Jonas aber hatte geglaubt, seiner Familie einen Gefallen zu tun, wenn es nach seinem letzten Schritt möglichst wenig zu tun gäbe. Er war sich bewusst gewesen, dass der Tod jederzeit eintreten konnte, und hatte verfügt, in einem Gemeinschaftsgrab seines Wohnortes beigesetzt zu werden, ohne Todesanzeigen und Trauerfeier. Alle amtlichen Dinge hatte er vorbereitet, und auf den Umschlägen an die verschiedenen Adressaten waren bereits Briefmarken aufgeklebt, A-Post. Anne und ihre gemeinsamen Töchter Julia und Paula mussten nur noch das Datum einsetzen, die Briefe in den Umschlag stecken und einwerfen. Für seine Freunde hatte er Karten vorbereitet, mit einem Foto auf der Vorderseite, das einen erinnerungswürdigen Moment festhielt. Diese akribische Vorbereitung nährte in Anne den Verdacht, dass Jonas diesen Unfall unbewusst hatte kommen sehen. Das Testament offenbarte keine Überraschungen. Das Erbe wurde unter den drei Hinterbliebenen aufgeteilt. Für sie gab es so nicht mehr viel zu tun, und sie wussten nicht, ob sie sich über diese Bevormundung hätten ärgern sollen. Aber wie ärgert man sich über jemanden, den man eben verloren hat?
In einem Fall kam Jonas’ vorgeschriebene Karte wieder zurück. Sie war an Jules Werner adressiert, und als die Erben nachfassten, erfuhren sie, dass er einen Tag vor Jonas verstorben war. Werner hätte der Familie in der Verwertung der antiquarischen Büchersammlung behilflich sein sollen. Und nun war er ebenfalls tot, und ein Nachfahre von Werner liess ausrichten, dass sein Geschäft geschlossen werde.
Als junger Familienvater hatte Jonas nach Bezug des Hauses in einem Vorort von Zürich im Untergeschoss eine Bücherwand eingerichtet. Über die Jahre füllte sich diese Wand mit Geschichten, bis sie überquoll. Viele Bücher waren Erstausgaben und führten Widmungen der Schriftsteller auf den ersten Seiten. Sie waren in den wenigsten Fällen an Jonas gerichtet, weil viele der Schriftsteller bereits tot waren, als Jonas begann, sich für ihre Geschichten zu interessieren. Der Gnadenhof der toten Dichter, wie Jonas diese Wand nannte, sollte alles überdauern und auch denen eine Bleibe bieten, für die sich niemand mehr interessierte. «Vergessen zu werden ist schlimmer, als tot zu sein», sagte Jonas zu Paula, als diese sich wunderte, wieso ihr Vater für gebrauchte Bücher Geld ausgab. An einem Buch könne man sich festhalten, und die handschriftliche Widmung sei das Bewahren eines Momentes, in dem sich Schriftsteller und Leser getroffen hätten, so Jonas zu seiner Tochter. Dazu könne man sich seine eigenen Geschichten ausdenken. Jonas nahm eines der Bücher aus dem Regal, schlug es auf und fuhr mit seinen Fingerkuppen über die Prägung, die die Schrift des Schriftstellers auf einer der ersten Seiten hinterlassen hatte. Paula schüttelte den Kopf, und so griff Jonas nach einem anderen Buch. Auf der Titelseite stand auf vier Zeilen je ein Wort: für Walter von Margrit. Walters Name war rot und dick unregelmässig um-
kreist. Margrit musste ihn mit ihren leicht geöffneten und rot geschminkten Lippen geküsst haben. Paula fand das schräg.
«Was glaubst du, was mit dieser Beziehung geschehen ist?», fragte Jonas Paula.
«Keine Ahnung, wieso?»
«Wie und wo hatten sich die beiden kennengelernt? War es eine kurze Episode, oder hatte mit dem Buch etwas begonnen, was heute noch anhält?»
«Glaube nicht, dass die noch zusammen sind.»
«Wieso?»
«Weil dann Walter das Buch behalten hätte.»
«Kann sein, aber vielleicht landete es aus Versehen im Bücherbrocki, oder Walter ist inzwischen gestorben.»
Paula nahm dem Vater das Buch aus der Hand und schaute sich die Seite mit der Widmung nochmals an. In der rechten oberen Ecke hatte jemand mit einem Bleistift den antiquarischen Wert von Fr. 10.– hingeschrieben. Das Buch war wohl nicht gerade ein Renner, dachte Paula, blätterte weiter und triumphierte:
«Da haben wir es!» Vor dem ersten Kapitel stand ein Gedicht von Walter. «Gib beide Namen in die Suchmaschine ein und sieh nach, ob du etwas über ihr Privatleben erfährst. Dann musst du dir keine Geschichten mehr ausdenken.»
«Aber genau darum geht es doch», sagte Jonas und nahm das Buch wieder zurück. Paula zuckte mit den Schultern, drückte ihrem Vater einen Kuss auf die Backe und sagte: «Tschüss.»
Auf einem der unteren Tablare des Gnadenhofs reihten sich Jonas’ Tagebücher in unterschiedlichen Formaten. Seit Anne sich erinnern konnte, führte Jonas immer, wenn er das Haus verliess, ein Notizbuch mit sich. Zuerst waren es
die kleinen schwarzen Moleskines, die in jede Jackentasche passen. Dann wurden sie grösser, dicker und farbiger. Er konnte sich irgendwo hinsetzen, beobachten und schreiben; und er lud auch seine Töchter ein, darin zu zeichnen oder Dinge festzuhalten, die sie interessierten. Die Tagebücher wurden zu einem Sammelsurium an Geschichten, Illustrationen, Zeitungsausschnitten, Fotos, Kinotickets, vertrockneten Schmetterlingen und Visitenkarten von Restaurants. Dann wurden Julia und Paula älter und wechselten auf multifunktionale Handgeräte. Sie hatten keine Wahl, ihre Schonfrist war vorbei, und Jonas schrieb, zeichnete und collagierte allein weiter. Für wen er das machte, begann er erst zu begreifen, als er bereits in der Kurve war. Er schrieb auch noch, als es ihn aus der Kurve hinaus in den Strassengraben trug und er im dichten Nebel den Weg zurück auf die Strasse suchte.
Bargeld als Hinterlassenschaft ist einfacher als Regale voller Bücher mit unklarem Wert. Die Familie entschied, Jonas’ Bibliothek mitsamt seinen Tagebüchern in Julias Stadtwohnung an der Froschaugasse zwischenzulagern, bis man entschieden hatte, was damit zu tun sei.
Nach Jonas’ Tod ging jeder auf seine Art mit dessen Nichtmehr-da-Sein um. Anne kümmerte sich weiterhin liebevoll um Ella und hatte ein dichtes Netz an Freundinnen und Freunden, war aber auch gerne allein. Sie übte sich darin, an anderes zu denken und nach vorne zu schauen. Alles andere würde sich ergeben. Paula wurde durch ihren Beruf und ihre Familie absorbiert und wollte davon überzeugt sein, dass ihr Vater, obwohl zu früh, so gestorben war, wie er sich das gewünscht hatte. Anstelle des Spitals in der Natur, im Vollbesitz seiner Sinne und Kräfte, von einem Moment auf den anderen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Jonas Gefallen
daran gefunden hätte, im Alter auf andere angewiesen sein zu müssen. Das blieb ihm erspart, und das Bild, das Paula von ihrem Vater in Erinnerung behalten würde, würde nie das eines Greises sein. Julia, Projektleiterin eines Architekturbüros in Zürich, ging anders mit dem Tod ihres Vaters um. Sie stürzte sich in ihre Arbeit. Sie war dankbar dafür, dass sie aufgrund eines Auftrags fast ohne Unterbruch arbeiten konnte. Nach über drei Monaten pausenlosen Arbeitens schlug ihr Herz an einem Sonntagabend in alle Richtungen und verlor den Rhythmus. Es raste, setzte aus oder schlug so hart, dass sie meinte, das Rauschen der Blutwellen zu hören. Es war nicht nur die Sorge um ihr Lebenszentrum, die sie erschütterte, sondern die Erinnerung an ihren Vater und an die Phase, als er die Familie das erste Mal verlassen hatte; sie war damals dreizehn Jahre alt, Paula zwei Jahre jünger. Was hatte das alles zu bedeuten? Vaters letzte Nachricht an sie oder beginnende Herzinsuffizienz? In der darauffolgenden Woche, inmitten einer Besprechung mit einem Geschäftskollegen, wurde es Julia übel. Sie entschuldigte sich, hastete aus dem Besprechungszimmer und erbrach sich auf der Toilette. Sie fühlte sich elend und bat den Kollegen um Verschiebung der Sitzung. Sie rief ihren Hausarzt an und fuhr mit dem Taxi in seine Praxis. Er schrieb sie drei Wochen krank. Julia fand eine Stellvertretung, informierte die Kunden und sagte alle weiteren Termine ab. Ihren Lebenspartner Philipp, der unter der Woche in Genf arbeitete, bat sie um Zeit. Sie würde wieder anrufen. Auch Anne und Paula wussten Bescheid. Julia kaufte mit letzter Kraft Lebensmittel und tauchte in ihrer Wohnung unter. Sie stellte alles ab, was sie mit der Aussenwelt verband, und als sie sich ins Bett legte, begann es heftig zu regnen. Kurze Zeit später läuteten zur Freitagsvesper die
Glocken der Predigerkirche. Julias Herz übernahm den regelmässigen Rhythmus der Glockenschläge, und eine bleierne Schwere drückte sie immer tiefer in die Matratze. Das kurz bevorstehende Wegdämmern schaffte ihr Gewissheit, nichts mehr denken zu müssen und die Ereignisse aus ihrem Teenageralter, die sie seit dem letzten Sonntag einholten, loslassen zu können.
Eine Woche lang schlief Julia fast ununterbrochen. Der Körper holte sich die Erholung, die er brauchte. Sie stand nur auf, um zur Toilette zu taumeln, aus dem Wasserhahn zu trinken und etwas Brot und Trockenfrüchte zu essen. Das Zeitgefühl kam ihr abhanden. Nach zwei, drei Tagen öffnete sie einen der Fensterläden im Schlafzimmer, es war draussen so dunkel wie drinnen und regnete immer noch. Sie legte sich ins Bett und schlief sofort wieder ein.
Nach einer Woche begannen sich ihre Glieder von allein zu strecken, der Kopf war leer, und das Herz schlug stetig und verlässlich. Langsam stand Julia auf, zog ihren Bademantel an und öffnete alle Läden und Fenster. Hinter dem Zürichberg begann es zu dämmern. Julia trat auf den Balkon und sog mit einem tiefen Atemzug die kühle, frische Morgenluft ein. Nach den Regentagen kündigte sich ein strahlender Tag an. Zurück im Wohnzimmer, strich sie mit der Hand über die Rücken von Vaters Tagebüchern, die neben den toten Dichtern auf einem eigens dafür gekauften Büchergestell im Wohnzimmer ruhten. In Jonas’ Brief an Jules Werner, der wieder zurückgeschickt wurde, wurden die Tagebücher nicht erwähnt. Was sollte damit geschehen? Wenn Jonas wollte, dass sie vernichtet werden sollen, hätte er jemanden damit beauftragt. Die Neugier packte sie. Von ihrer Auszeit blieben Julia noch zwei Wochen, und sie wusste jetzt, was sie in dieser Zeit tun würde. Aber erst hatte sie Hunger und Durst.
In der Küche liess sie Penne in Wasser aufkochen, raffelte und vermischte Karotten und Äpfel zu einem Salat, beträufelte ihn mit Zitronensaft und gab etwas Salz, Essig, Olivenöl und Walnüsse dazu. Endlich essen! Nach dem Salat war sie bereits satt. Ihr Magen lief auf Sparflamme, und sie stellte die Penne in den Kühlschrank. Dann rief sie Philipp an. Es gehe ihr besser, sie brauche aber die nächsten zwei Wochen für sich. Er war enttäuscht, sie verstand ihn, aber das hier war jetzt wichtig für sie. Ihrer Mutter und Paula schrieb sie eine Textnachricht. Die unzähligen Nachrichten, die in den letzten Tagen in ihrer Inbox astronomische Ausmasse angenommen hatten, liess sie unbeachtet. Ihre Stellvertreterin würde sich darum kümmern. Nach einer warm-kalten Dusche zog sie sich an, füllte einen Krug mit heissem Wasser und gab Ingwer, Zitrone und Honig dazu. Danach räumte sie die Tagebücher aus dem Bücherregal und stellte sie dem Datum nach vor sich auf den Schreibtisch. Sie schenkte sich eine grosse Tasse Tee ein und begann, im ersten Tagebuch zu blättern, das ihr Vater im Jahr 1990 begonnen hatte. Ihre zwei Jahre jüngere Schwester Paula wurde in diesem Jahr geboren. Sie blätterte weitere Tagebücher durch und musste über die Geschichten, Zeichnungen, Rate- und Denkspiele schmunzeln, die sich Paula und sie ausgedacht hatten und die zwischen den Reiseberichten und Tagebucheinträgen ihres Vaters standen. Schon bald aber stellte sie fest, dass sich die Texte veränderten. Zunehmend führte sein Weg einem Abgrund zu, auf den er scheinbar mit offenen Augen zusteuerte, und aus unerklärlichen Gründen war er zum Bremsen nicht mehr fähig. Julia konnte sich nicht daran erinnern, dass sich ihr Vater in dieser Phase verändert hatte. Er war so wie immer, und der Fall aus dem Alltag kam ohne Ansage.
Was hatte dazu geführt, und was war damals im Leben ihres Vaters geschehen? Waren er und mit ihm unzählige andere Menschen auch Teil eines Systems, in dem es darum ging, Normalität vorzutäuschen, auch wenn man sich immer mehr von der gewünschten Lebensgestaltung distanzierte? Weil man gar nicht mehr wusste, wie diese aussehen sollte, und man sich willfährig von aussen leiten liess, sich einredend, es selbst so zu wollen. Julia übertrug die entscheidenden Einträge auf ihr Notebook. Sie ordnete sie nach Datum und fügte jedem Teil einen Titel zu.