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Kolumne

Ritalinkinder – Symptome einer Wohlstandskrankheit

Gestatten, Tina Heiniger, 27 Jahre alt, Arbeitstätig, mag Hunde und ist ADS/ADHS diagnostiziert.

Ich möchte über ein schwieriges Thema schreiben. Ein Thema, welches viele von uns in irgendeiner Art betrifft. Sei es als direkt Betroffene oder als Angehörige. Die Diagnose, von der ich spreche, heisst ADS/ADHS, sprich: Aufmerksamkeitsdefizit- und HyperaktivitätsSydrom. Was vor zwanzig Jahren noch eine eher seltene Diagnose war, entwickelte sich Ende des 20 Jahrhunderts zu einer Wohlstandskrankheit.

Eine Kindheit ohne grosse Auffälligkeiten Ich war vielleicht ein seltsames Kind. Lebte oftmals in einer eigenen Welt, war eine Träumerin. Mochte Bücher und Farben. Liebte es zu zeichnen, las bereits mit 6 Jahren viele Bücher und spielte lieber mit meinen Plüschtieren als mit Kindern. Andere Menschen waren mir des Öfteren suspekt. Ich war die jüngste in der Familie und oft unsicher wo mein Platz war. Meine Eltern oder Geschwister trifft keine Schuld. Ich persönlich denke, dass es zur Familienstruktur gehört, dass man sich seinen Platz erst suchen muss. In der Schule war ich immer ziemlich gut. Ausser im Sport oder

Tina Heiniger Hünibach

Handarbeiten, aber das zählt ja nicht. Ständig machte ich mir Sorgen, dass ich den Leistungen meiner Geschwister ebenbürtig bin. Durch diese Unsicherheiten war ich oft blockiert und schwierig.

Die Pubertät als Auslöser aller Probleme? Wie alle Kinder, kam auch ich mit ca. 12 Jahren in ein schwieriges Alter. Frau lotst Grenzen aus, wird wild und die Regeln der Eltern sind sowieso nur da, um gebrochen zu werden. In diesem Alter denkt, jeder Teenager, er habe die Weisheit mit Löffeln gefressen und er sei eine besondere kleine – Hermann Hesse –Schneeflocke, wo Regeln und Gesetze nichtig sind. Ich behaupte von mir, dass diese Zeit bei mir besonders intensiv war und ich ziehe bis heute meinen imaginären Hut vor meinen Eltern, dass Sie es geschafft haben aus mir einen halbwegs anständigen Menschen zu machen. Die Schule interessierte mich kein bisschen mehr. Gute Noten waren eher ein Zeichen von Strebertum. Ich wurde laut und machte so ziemlich alles, was ein so junges Mädchen nicht tun durfte. Zudem hatte ich einen Hang zum dramatischen und zur Melancholie. Irgendwann wurde der Zustand so schlimm, dass ich eine Psychologin besuchen durfte.

Der Weg zur Diagnose ADHS Nach einem kurzen kennenlernen zwischen der Psychologin und mir, kam schnell das Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitäts-Sydrom zur Sprache. Nun, die nette Dame empfahl uns eine Abklärung. Gesagt, getan. Es folgte eine Odyssee von Tests. Intelligenztests, Verhaltenstests, Befragung von Angehörigen und Lehrern. Für mich fühlte es sich so an, als wäre das Resultat von An-

«Wer nicht in die Welt zu passen scheint, der ist immer nahe dran, sich selbst zu finden.»

fang an klar.

Und so war es auch, nach einer Abklärung, welche sich nach einer Farce anfühlte, stand die Diagnose. ADHS oder ADS. Die Psychiaterin, welche berichtigt war, die Medikation festzulegen. Legte es meinen Eltern ans Herzen, mir das Medikament Ritalin zu verschreiben. Es sei, wie eine Brille für ein Kind, welches nicht gut sehen könne. Das Medikament, helfe einem, im Leben besser zurecht zu kommen. Nun, liebe Psychiaterin, bei einer Brille handelt es sich um einen physischen Gegenstand, welcher auf die Nase gesetzt wird und den Körper eines Menschen nicht weiter beeinflusst. Ritalin ist ein Amphetamin, in der chemischen Zusammensetzung ähnlich wie Speed. Ich weiss nicht, ob dieser Vergleich wirklich passend ist. Man entschied sich dafür, dass ich das Medikament nehme und ja, es half, meine Schulnoten verbesserten sich drastisch und ich war auch nicht mehr so «verhaltensauffällig». All dies passierte in einem wichtigen Lebensabschnitt und meine Schullaufbahn wurde in dieser Zeit geprägt. Die behandelte Ärztin drängte mich dazu, das Gymnasium zu besuchen. Es gab nur leider einen Hacken, ich war unglaublich lernfaul! Lange Rede kurzer Sinn ich absolvierte eine Ausbildung zur Kauffrau und anschliessend die Berufsmatur und dies ohne Medikamente. Nicht immer mit Glanznoten, aber mit der Gewissheit, dass ich auch so die Leistung bringen kann.

Die Gesellschaft trägt eine Mitschuld! Um eins klar zu stellen: Es gibt Kinder, welche an ADHS leiden und bei denen eine Medikation durchaus sinnvoll sein kann. Aber muss man mit dieser Diagnose um sich werfen, wie mit Süssigkeiten an einer Hochzeit? Dass es zu dieser Diagnose kam, war niemandes schuld. Ganz sicher nicht die Schuld meiner Familie oder meines Umfeldes. Ich beschuldige höchstens unsere Gesellschaft. Eine Gesellschaft, welche die Bezeichnung «Norm» so eng schnürt, dass nur noch wenige diesem Anspruch gerecht werden. Eine Gesellschaft, welche krampfhaft Diagnosen für bestimmtes Verhalten sucht, vor allem auch bei Kindern. Eine Gesellschaft, welche es nicht akzeptieren kann, wenn ein Mensch vielleicht nicht dumm ist, aber bestimmten Kriterien einfach nicht entsprechen kann oder will und einer Gesellschaft bei der vor allem eines zählt, Leistung! Meinen Lebensweg beschreite ich soweit es geht autonom. Ich bin immer noch eine Träumerin. Liebe Literatur, Kunst und Geschichte. Bin interessiert an Biologie und Chemie und immer noch bin ich ungenau und zappelig, aber heute habe ich mich so akzeptiert wie ich bin und glaube, dass ist ganz ok so.

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