futurologie
Entspannt in die Zukunft Deutschlands bekanntester Futurologe und Trendforscher Matthias Horx über Zukunfts-Mythen, die Gründe, weshalb wir ihnen auf den Leim gehen und die wahren Drehmomente der Zeit. T e x t : m a tt h i a s h o r x ; I l l u s t r a t i o n : A n n a P a r i n i
Legen Sie sich auf die Couch. Entspannen Sie sich. Atmen Sie tief durch. Und nun denken Sie an die Zukunft. Was sehen Sie? Sie sehen Metall. Glänzende Formen, stromlinienförmige, rasende Gefährte, die in Schwärmen durch die Luft flitzen. Roboter, die geschmeidig Dinge des Alltags verrichten. Wolkenkratzer bis in den Himmel, leuchtende Computerpanels, Raumschiffe, Kuppelbauten, Sternenhimmel und fremde Planeten. Oder Sie beschreiben eine Idylle, ein Quasi-Paradies: semi-klassische Landschaften, mit Säulen und Veranden und Blicken auf exotische Park-Areale – wie aus Folianten des 19. Jahrhunderts. Bisweilen geht es bis zum Kitsch (das weiße Einhorn ist nicht weit): Da gibt es satte, üppige Hügel mit intensiven Himmeln. Das alles findet durchaus auf fremden Planeten statt, ist aber doch sehr irdisch anmutend. Und dann gibt es da immer wieder auch Dystopien in der Fantasie unserer Probandinnen und Probanden: Radioaktive Wüsten, in denen Zerlumpte umherirren (das Mad-Max-Prinzip), düstere Schrotthalden, auf denen um das letzte Bisschen Nahrung gekämpft wird und sich die »Götter« oder »Reichen« längst in den Orbit verabschiedet haben (Elysium). Bei apokalyptischen Bildern kommt es eher auf das Alter an. Ältere sehen immer noch Atompilze und sterbende Wälder, jüngere eher Monster und Zombies, die die Welt verwüsten.
3 Hohe Luft
V
futurologie
futurologie
e rändern wir nun die
radikal unvorstellbar aussehen, dass wir es gar nicht
oder menschlicher Komfortabilität. Jeder Zukunftsentwurf
Evolutionsgeschichtlich ist unser future sense – die Fähigkeit,
Testanordnung: Stellen
wiedererkennen würden? Was ist mit der Supertechnik, die über
braucht entweder ein prophetisch-utopisches Element oder eine
sich das Morgen vorzustellen – nicht entstanden, damit wir
Sie sich vor, die Zukunft
uns kommen muss?
apokalyptische Dimension. Den einen Pol markiert das
wissen, wie es unseren Ur-Enkeln gehen wird. Evolution
Versprechen des Transhumanismus; Hyper-Technologie wird alles
kümmert sich immer nur um die Weitergabe des Gencodes in
wäre ganz normal. Im
Wozu braucht man Zukunftsforschung, ja überhaupt
Jahr 2100 – der Zeitraum
Zukunft, wenn diese sich nicht radikal und spektakulär vom
menschliche Leid erlösen, wie es der amerikanische Guru Ray
die nächste Generation. Es geht ihr auch nicht um »Wahrheit«.
bis dahin entspricht
Heute unterscheidet?
Kurzweil uns prophezeit. Oder aber, so der heutige Zukunfts-
Der amerikanische Evolutionsbiologe Robert Trivers drückte es
Mainstream, der Weg in den Abgrund ist vorgezeichnet, der
so aus: »Das wichtigste, was wir über das System der Human-
endgültige Zusammenbruch der Zivilisation nur eine Frage der Zeit.
Kommunikation lernen müssen ist, dass es nicht um die
kaum mehr als einer
In Südindien nutzt man seit langer Zeit eine altbewährte
mittleren Lebensspanne
Methode, Affen zu fangen. Man platziert am Strand oder auf
– wird sich unsere Welt
einer Lichtung eine Kokosnuss, in die man ein Loch bohrt, durch
nicht allzu sehr
das genau ein Affenarm passt. Im Inneren befindet sich ein
der Zukunft besteht in der Vermutung, das Neue müsse das Alte
Systeme, mit denen die Individuen ihre Fitness zu maximieren
verändert haben.
Leckerbissen. Der Affe greift durch das Loch und umklammert
(oder Gegenwärtige) vollständig ersetzen. Dieses »neotonische«
suchen, indem sie über Dinge kommunizieren, die wahr oder
Hochhäuser werden
die Beute. Und kann sie nicht mehr loslassen. Durch die schwere
oder »neophile« Denkmuster zielt direkt in unser Neugier-Hirn,
falsch sein können.«
noch kühner leuchten und spektakulärer geformt sein. Autos
Nuss an seinem Arm kann er nicht mehr schnell davonrennen
wobei »Neu-Gier« hier wörtlich zu nehmen ist. Wenn der
bewegen sich immer noch auf vier Rädern, auch wenn einige
oder sich auf Bäume schwingen. Er lässt sich leicht fangen.
Internet-Handel kommt, gibt es, logisch, »demnächst« keine
Aber wieso hat uns die Evolution überhaupt einen
vollautomatisch fahren. Es wird eine Kolonie auf dem Mars und
Der Mythos der Substitution: Das vierte Drehmoment
Verbreitung von Wahrheiten geht. Es handelt sich vielmehr um
physischen Läden mehr. Weil gebloggt wird, müssen Zeitungen
solch üppigen Diskurs- und Phantasieapparat mitgegeben, der
eine auf dem Mond geben, aber das Ganze hat womöglich eher
Etwa so ähnlich geht es uns mit der Zukunft. Unsere
aussterben. Demnächst werden wir alle in Flugautos fliegen und
unentwegt nach vorne schweift? Wäre nicht ein schärferer
den Charakter und die Aufmerksamkeitsintensität einer
Zukunftsbilder basieren auf folgenden Mythen, die wir
mit den Wänden in unseren Häusern kommunizieren und
Sinnesapparat für das Hier und Jetzt viel dienlicher für das
ständigen TV-Reality-Show. Es wird immer noch Kriege und
hartnäckig umklammert halten, ob sie wahr sind oder nicht:
»unsere Kinder genetisch designen und unsere Partner nach
Überleben der Gene?
Terrorismus geben, Menschen streiten sich um die absurdesten
Der Mythos der Beschleunigung: »Future Shock« nannte
genau ausgetüftelten Algorithmen aussuchen«. Zukunft ist in
der amerikanische Schriftsteller und Futurologe Alvin Toffler
Städte werden grüner sein, sauberer und auch nicht allzu
seinen Welt-Bestseller von 1970, in dem er die Zukunft als einen
überfüllt, denn 2100 wird die Weltbevölkerung bereits wieder
Raum reiner Akzeleration zeichnet. Unentwegt tönt der
Diese vier Mythen haben unseren Zukunfts-Diskurs fest im
Vorfahren gegenüber anderen Primaten einen Vorteil. Sie
zurückgegangen sein (nach dem Bevölkerungs-Zenit von 9,5
Fanfarenstoß des Fortschritts: Alles rast, rennt, flüchtet nach
Griff. Und natürlich ist die Zukunftsforschung selbst nicht ganz
konnten nun auf weiteren Flächen nach Beute Ausschau halten.
Milliarden 2060).
vorn. In jeder Talkshow, jedem Kneipengespräch, natürlich in
unschuldig daran. Eine standardisierte Sprache des »Müssen-
Aber Übersicht erfordert auch eine andere Art der Sinnes- und
der Rede des Zukunftsforschers, darf die Formel vom »sich
Müssens« begleitet jede Veranstaltung, in der das Zauberwort
Informationsverarbeitung. Während Tiere an der Oberfläche
18. Jahrhundert, in denen das Parkett knarzt und Paare mit
ständig beschleunigenden Fortschritt« und dem »immer
»Zukunft« vorkommt. Die Nichts-wird-mehr-so-sein-wie-früher-
oder im dichten Geäst sich auf schnelle Reflexe und
Kindern wohnen. Vielleicht sind die Paare noch
schnelleren Innovationen« nicht fehlen. Die Zukunft verweist uns
Rhetorik, in Verbindung mit der strafenden Peitsche – »Wer sich
Tunnelwahrnehmungen (Spuren, Gerüche, Territorien-
verschiedenartiger als heute, die Kinder auf noch variableren
auf die Zuschauerplätze eines unendlichen Rennens, in dem klar
nicht anpasst, wird nicht überleben!« – gehört zum klappernden
Markierungen) verlassen, brauchen aufrecht stehende
Wegen entstanden. Das Licht, das abendlich durch die Fenster
ist, dass wir so langsam sind wie Würmer – primitive Würstchen
Geschäft der Futurologie in all ihren naiven und
Savannen-Primaten ein mentales mapping-System. Weite
scheint, wird vielleicht andere technische Quellen haben. Aber es
in der Morgenwelt. Zukunft definiert sich dadurch, dass wir nicht
wertschöpfenden Varianten. Diese ständige Übertreibung wird
Distanzen erfordern Vorausberechnung. Solche Modelle
ist nicht sehr unwahrscheinlich, das auch Kerzenlicht dabei ist.
mitkommen. Sie raubt uns, symbolisch gesprochen, den Atem.
aber auch von den Kunden (Rezipienten) dringend gefordert. In
brauchen Speicherplatz, und das ist der Grund für das schnelle
den Medien wahrgenommen werden sowieso nur die schrillsten
hominide Hirn-Wachstum vor zwei Millionen Jahren.
Stellen wir uns vor, es gäbe immer noch Häuser aus dem
Der Mythos der Kontrolle: In jedem Zukunfts-Raum steht
erster Linie eine Abschaffungsphantasie.
Unser antizipierendes Bewusstsein entwickelte sich, wie
Dinge. Die meisten Menschen werden in Städten leben, diese
alle Werkzeuge der Evolution, auf dem Wege adaptiver Zufälle. Mit dem aufrechten Gang in den Savannen hatten unsere
Mag sein, dass wir im Treppenhaus Menschen treffen
garantiert ein Kontrollpult, auf dem es unaufhörlich blinkt. Kein
Vermutungen, die dämlichsten Wortschöpfungen, die
würden, die kleidungs- und frisurmäßig ziemlich schrill
Zukunfts-Panorama, das ohne diese Metapher der
unwahrscheinlichsten Szenarien. Sprich: Zukunfts-Blödsinn.
»sechste Sinn« des Menschen, der nicht mit besonderer
aussehen. Es könnte aber auch sein, dass die Menschen der
Wirkmächtigkeit auskäme. Zukunft heißt: Knöpfe drücken statt
Wie formulierte der irische Zukunftssschriftsteller C.S. Lewis
Sehschärfe oder einem Super-Geruchssinn aufwarten kann. Aber
Zukunft konservativer, »normaler« sind als wir Heutigen. Stellen
Mühsamkeit. Jedes Zukunfts-Haus im Fernsehen wird von einem
(1898–1963) schon 1942? »Wir haben trainiert, die Zukunft als
diese Fähigkeit hat enorme System-Anforderungen. Sie kann auf
wir uns aber vor, dass das gar nicht so wichtig wäre, weil die
einzigen Schaltpult aus gesteuert, ohne dass sich die Bewohner
ein versprochenes Land zu empfinden – und nicht als etwas, das
Dauer nicht in Echtzeit verlaufen. Primatenhirne mussten schon
Bewohner der Zukunft uns zutiefst vertraut wären, mit ihren
aus dem bequemen futuristischen Sofa erheben müssen (dass sie
jeder im Tempo von sechzig Minuten pro Stunde erreicht.«
aufgrund ihres sehr hohen Energieaufwands – 40 Prozent der
Sorgen und Nöten und Sehnsüchten und Fehlern und
dabei verfetten müssen, kommt gar nicht vor beziehungsweise
Verrücktheiten und Sterbensängsten. Wäre das nicht eine
wird von den endlich wirksamen Super-Schlankheitspillen
schockierend interessante Idee?
gelöst). Von vornherein ist diese Vision allerdings faustisch
Schildert man eine solche Zukunft probabilistischer
umweht. Schon in Filmen der Zwanziger Jahre explodierten die
Kontinuität, erntet man kopfschüttelnde Ablehnung, oder gar
Kontrollpulte der finsteren Bösewichte unaufhörlich, in endlosen
Entrüstung. Im Wortsinn, denn hier wird die Zukunft ent-rüstet,
Feuerwerk-Kaskaden. Nichts wird pyrotechnisch lustvoller
ihres narrativ-sensationellen Charakters, ihrer kognitiven
zerlegt als die control boards des Raumschiff Enterprise.
Dissonanz beraubt. Und was ist mit den unendlichen
Der Mythos des Bruchs: Zukunft ist nicht denkbar ohne
Katastrophen, die uns bis dorthin erwarten? Muss nicht alles so
die Ruptur, die radikale Überwindung menschlicher Grenzen
Prognostische Mustererkennung ist der entscheidende
»wir glauben, in einer ära ungeheuren wandels zu leben. die wahrheit ist: wir leben in einer periode der stagnation.« M i c h a e l L i n d , Pu b l i z i s t u n d Ö k o n o m
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hohe luft
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futurologie
futurologie
Kalorien nutzt der Körper zum Betrieb der Kognitionsfunktionen
Bildschirme flimmern Tod, Gewalt, Verbrechen, Gefahr,
etwas gebe darauf, die Zukunft sei vorbei. Das klingt ein wenig
– Heuristiken, Meta-Routinen, entwickeln, die ihnen halfen,
Bedrohung, Unsicherheit. Müssen wir eingreifen? Wer ist dafür
albern, wie die These vom Ende der Geschichte. Aber gemeint
awareness, also Aufmerksamkeits-Energie, zu sparen. Sonst
verantwortlich? Wo ist der Feind? Es ist wahrhaft zum
ist natürlich nur DIE Zukunft, die zu meiner Zeit ein Kult, fast
wären unsere Vorfahren schon bald am ständigen Stress
Verrücktwerden! Wie sollen wir uns entspannen?
schon eine Religion war. Menschen in meinem Alter sind das
Amerika gilt als das Land des Fortschritts und der
zugrunde gegangen.
desto weniger ist er davon beeinflusst. Die 15-Jährigen leben
dessen Speicher ein Set von Routinen gespeichert ist. Der
dort kommt nun ein ganz neuer Ton in die Zukunfts-Debatte.
vermutlich in einem endlosen digitalen Jetzt – einem Zustand der
Computer wird nur dann aktiv, wenn er eine Abweichung
Michael Lind, ein amerikanischer Publizist und Ökonom, nennt
Zeitlosigkeit, der durch unsere immer effizienter werdende
wahrnimmt – so, wie es heute schon moderne
unser Zeitalter drastisch »The Boring Age«: »Wir mögen es zu
gemeinschaftliche Gedächtnisprothese ermöglicht wird.«
Überwachungskameras tun. In diesem Sinne evolutionierten
glauben, in einer Ära ungeheuren Wandels zu leben, in einer
unsere Vorfahren ein »neophiles« Hirn. Alles, was gleich bleibt,
erregenden Epoche mit radikalen Disruptionen. Die Wahrheit
nannte das Kind beim Namen: »Present Shock«. Laut Rushkoff
was Kontinuität verspricht, wird nicht als signifikant
ist: Wir leben in einer Periode der Stagnation. Und diese
sind wir längst in einer Welt gelandet, in der technologische
wahrgenommen. Alles, was anders erscheint, versetzt uns in
Stagnation ist auf dem Feld der Technologie besonders sichtbar.
Fortschritte es uns erlauben, in der Realzeit zu leben: »Wir sind
Erstaunen oder Erregung. Diese »Future Bias« erklärt unsere
Die Gadgets der Informationstechnik haben nicht im geringsten
in der Zukunft, die einmal ein fernes Ziel war, angekommen. Wir
Präferenz für Übertreibungen, Alarme, Apokalypsen aller Art.
den transformativen Effekt wie das elektrische Licht vor einem
müssen uns nicht über die Zukunft beunruhigen, denn wir leben
Jahrhundert, der Kühlschrank, Gasöfen und Kanalisation. Ist die
in einer Gegenwart, die für immer andauern wird.«
D
Kombination von Telefon, Bildschirm und Tastatur wirklich so
Obendrein ist dieser Mechanismus (besser: Organismus; vieles verläuft auf der körperlichen Ebene) äußerst nervös eingestellt. Der Mensch ist, wie es meine Großmutter gesagt hätte, ein »nervöses Hemd«. Die Evolution hat mit diesem tuning dafür gesorgt, dass wir uns lieber einmal zu viel erregen,
futurologie Unter Futurologie versteht man die wissenschaftliche Untersuchung von zukünftigen Entwicklungen. Als Begründer der deutschen Futurologie gilt der Politikwissenschaftler Ossip Flechtheim (1909–1998), der den Begriff 1943 eingeführt hat. Von anderen Formen der Zukunftsvorhersage unterscheidet sich die Futurologie unter anderem dadurch, dass sie nicht nur mögliche, sondern auch wahrscheinliche und wünschenswerte Szenarien betrachtet, vor allem in einer langfristigen Perspektive. Dabei werden Ansätze verschiedener Disziplinen herangezogen, darunter Ökonomie, Soziologie und Technik. Der wissenschaftliche Charakter der Futurologie ist allerdings bis heute umstritten, ebenso wie die Abgrenzung zur Trendforschung, die sich mit der Beobachtung und Vorhersage von gesellschaftlichen Veränderungsprozessen befasst.
Produkt dieser Kultur des Zukünftigen. Je jünger jemand ist,
unermüdlichen Fortschritts-Euphorie. Aber ausgerechnet von
Man kann dies mit einem Computer vergleichen, in
b e g r i ffe
Douglas Rushkoff, ein weiterer amerikanischer Publizist,
Sind das alles Abweichler, Nörgler, Ketzer oder
bahnbrechend wie der Buchdruck oder die Schreibmaschine
Verharmloser? Oder könnte etwas dran sein? Könnte die Zukunft
oder das einfache Telefon oder das Fernsehen?«
selbst ihr lineares Momentum verlieren? Sich gewissermaßen in sich selbst krümmen? Gibt es so etwas wie eine rekursive Zukunft?
er Economist griff diese
als einmal zu oft gleichgültig gegenüber einer ernsten Gefahr zu sein. Aber es muss auch einen evolutionären DämpfungsMechanismus geben. Etwas, das uns daran hindert, ständig panisch durch die Gegend zu rennen und irgendwann völlig erschöpft dennoch dem Säbelzahntiger zum Opfer zu fallen. Es ist die Kultur, die diese Dämpfungsfunktion übernimmt. Die emotionale Nähe zu den Unsrigen kann uns vor
Wahrnehmung auf. Auf
Natürlich ist die Formel vom »Ende der Zukunft« genau
einem seiner Titel
so unsinnig wie die Parole »Ende der Geschichte«. Wandel
thront ein Mann in
verschwindet nicht, wenn eine Zeit lang sensationelle
Denkerpose auf einer
Durchbrüche ausbleiben. Die entscheidende Frage bleibt jedoch,
Kloschüssel, mit einer
ob wir dafür neue, klügere Erklärungen schaffen können, woraus
Denkblase, in der steht:
und wie Zukunft entsteht.
»Werden wir jemals
der Überreizung schützen. Rituale, Sprache, Kunst, Religion, das Spiel der Empathie – all das diente immer schon der Angstbannung und Beruhigung, dem Runterkommen. Doch in einer vernetzten Welt trifft die apokalyptische Erzählung auf eine neue Resonanz. Unser antizipierendes Hirn
wieder etwas so
stammt die Formulierung, dass die Zukunft längst da sei –
Sinnvolles erfinden.«
allerdings ungleich verteilt. Auf unserem Planeten existieren
Seit einigen Jahren
immer noch rund 1000 indigene Kulturen, in denen Menschen so
schreibt der Erfinder
leben, wie ALLE Menschen vor 100.000 Jahren. Es gibt uralte
des Cyperspace, William Gibson, keine Science Fiction mehr.
Bauernkulturen, die sich seit tausend Jahren kaum verändert
Sondern nur noch Gegenwartsromane. In seinem jüngsten auf
haben – und sich trotz industriellem Superboom langsamer
Deutsch erschienen Essayband schrieb Gibson: »Alvin Toffler
verändern, als oftmals behauptet wird. Wer in Tokio mit wachem
warnte uns vor dem Zukunftsschock – aber was ist mit der
Blick durch die Straßen geht, sieht beides zugleich: Futurismus
wahren konnte. Doch mit wem sollen wir im gigantischen
Zukunftsmüdigkeit? In den letzten zehn Jahren beharrten
und tiefe Tradition. Die Vermutung, die Welt-Kultur müsse sich
Dschungel der medialen Globalität kooperieren? Über alle
sämtliche Kritiker der Science Fiction, auf deren Meinung ich
»demnächst endgültig« synchronisieren, ist schlichtweg falsch.
wurde in einer Welt überschaubarer Zugehörigkeiten geprägt. Unsere Ur-Vorfahren waren Teil eines Clans mit maximal 60 bis 70 Mitgliedern, der durch Kooperation seine Überlebens-Vorteile
9
Ungleichzeitigkeit und Turbulenz: Von William Gibson
Die steigende Anzahl re-kombinierbarer Elemente bildet vielmehr ständig mehr Vielfalt und Ungleichzeitigkeit aus. Die Reibungsflächen und Spannungen zwischen diesen
»wir müssen uns nicht über die zukunft beunruhigen, denn wir leben in einer gegenwart, die für immer andauern wird.«
verschiedenen Zeitzonen bilden jene Turbulenz, die Zukunft generiert. Rekursion und Hybridisierung: Ebensowenig wie das komplexe Säugetier das einfache Gras, das Buch die Rede, das Fernsehen das Kino, die Beziehung die Liebe ersetzt hat, wird Dou g l a s
das Internet die Wirklichkeit ersetzen, oder die Globalisierung
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hohe luft
futurologie
eine neue philosophie der zukunft müsste die reflexiven räume der orakel neu erschliessen und eine position der gelassenheit einnehmen.
futurologie
l e k t üre
und jede Menge Chaos«. Was zu Ende geht, ist also nicht die Zukunft. Sondern eine bestimmte Art von Zukunfts-Glaube, der in der industriellen Ära als lineare, mechanische Vision des
Alvin Toffler
Kommenden entstanden ist. In diesem linearistischen Denken
Der Zukunftsschock Scherz, 1970
finden sich viele unbewusste Anteile religiösen Denkens: Erlösungsphantasien, Schuldkonstruktionen, biblische
Der Bestseller und Zukunftsklassiker aus den 1970ern, der die kommende Zeit vor allem als Beschleunigungsraum skizzierte
Metaphern. Stattdessen könnten wir Weltvertrauen üben. Vertrauen auf Emergenz, Selbstorganisation und SelbstStabilisierung, die nicht steuerbar, wohl aber moderierbar ist. Wie sollen Zukunftsforscher die ihnen zugewiesenen und das Lokale. Die neuen Medien bringen nicht die alten zum
Systeme stammt aus der frühen Kybernetik, in der
von ihnen längst bereitwillig gespielten Rollen als apokalyptische
Verschwinden, sie variieren lediglich ältere Kulturtechniken,
Evolvierbarkeit so definiert wurde: Die Fähigkeit einer
Droh-Auguste, Handlanger des Marketings oder Übertreibungs-
regen sie zur schnellen Mutation an. Twitter und Facebook
Population (eines Systems), immer neue Varianten
Spezialisten überwinden? Noch deutlicher gefragt: Kann es
helfen zwar bei Tahir- und Gezi-Park, aber am Ende bauen die
hervorzubringen, die evolutionär fitter sind als die Bestehenden.
überhaupt eine intellektuell redliche Zukunftsforschung geben,
9 William Gibson Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack Klett-Cotta, 2013
die nicht längst von anderen Instanzen (Ökonomen, Berater,
Revoltierenden das, was ich in meiner rebellischen Jugend auch
Philosophen, Politiker) besetzt wäre?
baute: Zeltstädte. Aus Altem und Neuen bilden sich ständig
der schlüssel zu einem neuen Zukunfts-Verständnis besteht
Vermischungen, Turbulenzen, die wiederum neue sozio-
also im evolutionären Denken. Evolution basiert auf zwei
Es gibt in der Geschichte Umgangstechniken mit
evolutionäre Pfade ausbilden. Jeder Trend zeugt einen
Grundkomponenten: Varianz und Selektion. Der Gencode
Zukunft, auf die es sich zurückzublicken lohnt. Das antike Orakel
Gegentrend, und Zukunft lässt sich als Synthetisierung
erzeugt laufend winzige Veränderungen, die von der Umwelt
von Delphi lieferte seinen Kunden fünfhundert Jahre lang pure
beschreiben. Aus Globalisierung und dem Gegentrend »Lokale
funktional selektiert werden. Seit einigen Jahren wissen wir:
Rekursion: Es spiegelte die gestellten Fragen zurück, ermunterte
Sehnsucht« wird »GloKALisierung« – wir können regional
Gene stehen über vielfältige molekulare Prozesse mit der
zu Selbstreflexion, Mäßigung und konstruktiven Zweifel. Gnothi
verankert sein, aber trotzdem eine globale Perspektive
Umwelt in Verbindung. Sie können durch Umwelteinflüsse an-
seauton – Erkenne dich selbst – und medem agan – Nichts im
Douglas Rushkoff
entwickeln. Aus Säkularisierung und dem unvermeidlichen
und abgeschaltet werden – die Epigenetik hat gezeigt, dass
Exzess. So lauten die Leitsprüche am Eingangstor des Orakels.
religiösen Backlash entstehen neue Formen der Spiritualität.
solche erworbenen Eigenschaften sogar vererbt werden können.
Die Priester von Delphi, und der anderen Groß-Orakel der
Present Shock Current, 2013
E
Die nicht-aktiven Teile, 97 Prozent des DNA-Code, hielt man bis vor Kurzem für reinen Ballaststoff, unnütze Relikte der
sythetisierten. Dabei standen zwei höchst aktuelle Botschaften
Seit zweihundert Jahren
Evolution, die keine Funktion haben. Heute wissen wir, dass es
im Hintergrund: Wir können nicht alles wissen. Wir können
übertragen wir das Modell der
sich dabei um Varianz-Codes handelt – »Erzählungen«, die
dennoch klüger werden.
Maschine auf »die Welt« und
praktisch die gesamte Evolutions- und Umweltgeschichte
»die Gesellschaft«. In diesem
beinhalten. Unser Gencode ist also kein Programm, das Gestalt
Eine neue Philosophie der Zukunft müsste die reflexiven
Modell muss Zukunft
und Funktion unseres Organismus deterministisch festlegt. Die
Räume der Orakel neu erschließen. Und darin eine Position der
zwangsläufig als Raum
Evolution selbst ist ständig mit der Kultur im Dialog. Die
Gelassenheit einnehmen. Gelassenheit nicht im Sinne der kalten
höchster Gefahr erscheinen
Evolution evolutioniert sich selbst – im Raum des Menschen.
Gleichgültigkeit, sondern der serenitas: Gefestigtheit, die nicht
Der große Evolutionstheoretiker und Universalist Edward O. Wilson beschreibt in seinem neuen Buch »Die soziale
Sie lässt uns das überwinden, was der Journalist und Autor Holm
wenn man einer Maschine
Eroberung der Erde«, wie gerade die Janushaftigkeit des
Friebe treffend das »Kindchenschema des Fortschritts« nannte.
immer mehr Teile hinzufügt,
Menschen, der als Egoist und Gruppenwesen immer neue
Jene Gegenwartseitelkeit, in der wir uns in einer ganz
steigt unaufhörlich die Wahrscheinlichkeit ihres Versagens. Die
Adaptions-Schleifen durchläuft, ständig mehr Freiheit und
besonderen, extrem gefährlichen, nie wiederkehrenden Super-
Maschine entwickelt negative Komplexität, die irgendwann in
Komplexität erzeugt. Der alte Streit, ob Evolution nur auf der
Sonder-Zeit wähnen, einem XXL-Moment der Geschichte, in dem
Entropie kippt. Im Unterschied zu Maschinen verfügen
Ebene des Organismus/ Individuums oder auch als Gruppen-
sich das Schicksal der Menschheit entscheidet.
dynamische Systeme wie Gesellschaften, Kulturen, soziale
Selektion stattfindet, ist der Streit um Kaisers Bart. Die Kultur
Systeme, Ökonomien, Ökologien jedoch über erhebliche Kräfte
übernimmt vielmehr die Rolle des »zweiten Replikators«. Der libanesisch-amerikanische Ökonom Nassim Taleb
Im Gegensatz zu Tofflers »Zukunftsschock« entwirft Rushkoff ein Bild der Gegenwart, die wir nicht so recht zu fassen verstehen, weil alles zu jeder Zeit nur einen Klick entfernt ist.
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Matthias Horx
immer gleich wertet, Betrachtung, die auf Erregung verzichtet.
Grundmodell falsch ist. Denn
der Selbstorganisation – Eigenschaften der Emergenz, die
9
Antike, waren »Mind-Maschinen«, die das Wissen ihrer Zeit
volution statt Determinismus:
– einfach, weil das
Gedanken über das Jetzt – von einem, der jahrelang Science-Fiction-Romane schrieb
zukunft wagen DVA, 2013
Ein Plädoyer für einen gelasseneren Blick auf die Zukunft
Eine Zukunftsphilosophie hat nicht die Aufgabe, Ängste oder Erlösungsbilder zu verstärken oder zu illustrieren. Sondern: Provokation (von pro-vocare – hervorrufen) komplexerer
ständig neue Lösungen und Kombinationen generiert, und
hat mit seiner Anti-Fragilitäts-Theorie eine weitere Komponente
Weltbilder. Die neue Futurologie organisiert Störungen im Sinne
ständig Kompliziertheit in Eleganz transformiert. Diese
neuen Zukunfts-Denkens hinzugefügt. Taleb definiert
der Offenheit für das Geheimnis der Welt. Sie spielt ein Gegen-
Eigenschaften sind nicht zufällig entstanden, sondern als
evolutionäre Fitness als Störungs-Affinität. Zukunftsfähige
Spiel zur Verbissenheit, die sich in der Faust des Affen zeigt, der
Merkmale von Komplexität evolutioniert. Die Idee evolvierbarer
Firmen, Kulturen, Organisationen seien »offen für Ambivalenzen
die Zukunft nicht fassen kann, weil er sie nicht lassen kann.
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