Mein Leben ohne mich (Leseprobe)

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JUTTA WINKELMANN MEIN LEBEN OHNE MICH


There is a crack in everything That’s how the light gets in. Leonard Cohen



Leseprobe Jutta Winkelmann Mein Leben ohne mich Ein Bericht Integralband, 361 Seiten Vierfarbig gedruckt, 24,- € (D) ISBN 978-3-86337-112-8 Teil I – Texte (S. 9–S. 130) Teil II – Illustrationen (S. 133–361) Ab 14. November 2016 im Handel Bitte keine Besprechungen vor diesem Termin

Kontakt Anya Schutzbach / Rainer Weiss info@weissbooks.com 069 – 25 781 29-0


walk in one’s sleep

Neue Medikamente bekommen. Afinitor heißt eins, und das andere, Exemestan, ist ein Aromatasehemmer, der noch mehr Hormone weghaut als Tamoxifen. Afinitor, man merkt es am Namen, ist eigentlich so ein Endzeitmedikament, gerade mal ein halbes Jahr auch für Brustkrebs zugelassen und erst seit einigen Jahren für Nierenkrebs etwas erprobt. Für mich klingt es wie Finito oder ab ins Finito, ab ins Finale. finaaale! Tot! Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss. Eigentlich. Afinitor kommt aus der Transplantationschirurgie und man gibt es Leuten, die die zweite Nase oder das neue Herz oder die Niere oder ein Bein nicht aus Fremdheitsgefühlen abstoßen sollen. Es zerschießt das Immunsystem, nennt sich elegant Immunmodulator, und auf dem Waschzettel stehen auch unmittelbar die vielen schweren und schwersten Nebenwirkungen. Haben die letzten mrt-Aufnahmen doch so wenig Gutes zu Tage gebracht, oder warum soll ich Afinitor nehmen? Ich traue mich nicht, es zu nehmen, zeige meinen Freunden den Beipackzettel, aber das nutzt nicht viel, die wenigsten verstehen etwas davon und sind gesund und genervt, die übermäßig vielen Seiten über die vielen und erschütternden Nebenwirkungen zu lesen. Ich verstehe das. Sie können bestenfalls bedenklich mit dem Kopf wackeln. Mir macht das Medikament teuflische Angst, aber dann nehme ich es doch, nachdem ich einige Tage in der Zwickmühle war. Einfach, um nichts ausgelassen zu haben. Da stehe ich Naturapostel nun. Man soll es immer und für immer (wie lange geht das bei mir?) jeden Tag um die gleiche Uhrzeit nehmen. Und keine Minute später oder 


früher. Ich entschließe mich für 14 Uhr. Da bin ich sicher wach und esse wahrscheinlich etwas, denn man soll es zusätzlich zu oder nach dem Essen einnehmen. Am frühen Abend brennt mein Gesicht, als hätte eine unsichtbare Hand mit einer Brennnesselrute darauf eingeschlagen – es ist knallrot. Am anderen Morgen immer noch und am anderen Tag auch. Dann wird mein Mund pelzig, weiß belegt und ich verliere jeglichen Appetit. Noch weniger essen? Meine Geschmacksnerven sind eh durch die Bestrahlungen noch etwas lädiert. Am dritten Tag des Afinitors wird mein Husten und Schleimgespucke zu einem nicht abreißen wollenden Bocksgeschrei meiner Misere. Dann wechseln sich Schüttelfrost und Hitzewallungen einvernehmlich ab. Und zusätzlich bekomme ich einen nesselartigen Ausschlag. Meine Gedanken jagen sich, nicht ohne Grund sind mir die auch noch sauteuren Medikamente (4 000,– für einen Monat – zahlt die Kasse) verschrieben worden. Sie können, falls sie greifen, z. B. drei Monate Lebenszeit auf sechs Monate erhöhen – sagen die Hersteller. Meine Gedanken fiebern. Was ist das für eine Lebensqualität für ein paar Monate länger leben? Ich fühle mich elend. Am zehnten Tag beschließe ich, mit Afinitor Schluss zu machen. Um es zu nehmen, muss man sehr verzweifelt sein, und das sind Krebspatienten in der Regel. Sie müssen folgenschwere Entscheidungen treffen, die nur sie ausbaden, keiner sonst! Es ist russisch Roulette, es kann gut (für eine Weile) gehen oder gleich ganz und gar daneben. Jobs soll am Ende gesagt haben, er bereue es, nicht der Schulmedizin gefolgt zu sein. Aber ich lese in Foren, wie Afinitor und Exemestan eben auch nicht geholfen haben – und die Menschen waren dazu noch hundeelend. Wie ich jetzt. Eventuell drei Monate länger leben – und der Preis: Sofort ab Medikation schon elend sein. Mir geht es zum Teil so schlecht, dass mir alles egal wird. Sogar so schlecht, dass ich weiß, so nicht leben zu wollen. Aber sage ich mir das, weil ich fühle, dass es noch ein bisschen geht? Und gerade ohne Medikament sogar ganz gut. Weil da noch immer eine ziemlich unbegründete, aber wilde Hoffnung besteht, einen Stopp herbeiführen zu können? Vielleicht sogar eine Heilung? Weil mir im Moment der Tod so unfassbar abstrakt erscheint, so unwirklich, dass er für mich überhaupt nicht in Frage kommt? Es ist wohl 


eine no win Situation: Nehme ich es nicht, verkürze ich vermutlich die letzte Phase, nehme ich es, bin ich jetzt schon hinüber, mit dem Lebensgefühl einer dahinsiechenden Greisin. Ich schleppe mich vom Computer zurück auf die Ecke meiner Matratze, die zu meinem wesentlichen Lebensort geworden ist, und meine Gedanken rasen weiter. Also Jobs hat bereut, aber wahrscheinlich hat er zu viel Obst gegessen statt Gemüse. Da steckt zu viel Fruktose drin, was die Krebszellen noch mehr lieben als Glukose. Ich lese, dass Rohkost aussichtslose Fälle geheilt hat, no sugar verlängert auch das Leben, und natürlich keine einfachen Kohlehydrate (die werden im Bauch auch zu Zucker) und keinen Honig, Ahorn, Agavensirup etc. Also, alles was schmeckt, muss weg. In unserer Kultur hart. Seit mehreren Monaten zuckerfrei, habe ich mich gestern allerdings über ein Drittel einer Zotterschokolade hergestürzt, bereit, mein Leben zu verkürzen, hinzugeben für diesen kurzen Genussflash. Total inkonsequent. Aber nur gestern. Meist, fast immer, bin ich konsequent und dazu förmlich gezwungen … das hasse ich! Zucker, du bist die stärkste Droge dieses Planeten! Sitze gerade über den Dächern von Berlin, in einem schönen Hotel und alles, wirklich alles wirkt so normal, gesund und irgendwie für immer. Ich wahrscheinlich auch. Bisschen dünn, die Alte, könnte man denken, wenn man mich anschauen würde. Aber da sollte man realistisch sein, eigentlich interessiert sich niemand für irgendjemand anderen wirklich. Das sage ich ohne jeglichen Zwischenton, so ist das Leben, es sprudelt immer weiter, der Einzelne ist egal, weg damit, der Nächste bitte. Nur das kleine Ego will’s und will’s einfach nicht wahrhaben. Ich, ich bin’s doch! Me! Io! For ever. Lieber Gott, ich habe den ganzen Morgen in meinem großen weichen, weißen Bett mit der großen fluffigen Bettdecke mal wieder ganz bitter mit dir gehadert. Damit du es weißt. Ich weiß, du merkst es einfach nicht. Vielleicht weil es da, wo du bist, einfach schön ist und du nicht mal hier herunterschauen willst. Aber du irrst dich! Hier ist es auch schön und deine Schöpfung hatte mir mehr Lebensjahre zugedacht. Meine Lebenslinie ist so stark und lang, dass sie sich fast um 


mein Handgelenk schlängelt! Und warum knipst du, verdammt noch mal, so verlorenen Seelen wie mir einfach viel früher als geplant das silberne Bändchen ab? (Noch nicht, ich weiß, und dafür bin ich unendlich dankbar!) Und warum richtest du es ein, dass wir uns hier (auch nach einigen Anfangsschwierigkeiten) doch recht wohl, zumindest aber sehr vertraut und sicher fühlen? Dein ganzer blöder Erdball ist auch Staub. Pustet man nur heftig genug, löst er sich blitzschnell auf Nimmerwiedersehen auf. Weißt du das eigentlich, du Ignorant? Ja! Ich bin wütend auf dich, weil deine Krankheitserfindungen einfach eine Zumutung sind. Zu viel für einen. Auch einen für eine relativ kurze Zeit auf die Erde zu schicken, um ihn dann auf unvorhersehbare Weise wieder wegzuknallen. Du spinnst wohl?! Total! Wie soll man das schlucken? Zurzeit geht’s ja immer mal wieder ganz passabel. Dafür danke ich dir! Die Schmerzen und die blöden Nervenkrämpfe folgen mir treu. Sie sind immer da. Aber danke! Sie können schlimmer sein, das weiß ich relativ gut. Du gewissenloser Gott. Deinen Schatten musstest du ja abspalten und Luzifer in die Schuhe schieben, aber ich habe dich durchschaut: Du hast dich einfach aus dem Staub gemacht und wir sind dir egal. Kommt alleine zurecht, waren deine letzten Worte. Oder kommt hierher. Okay. Okay, okay, mir geht es besser. Die letzten Tage hatte ich fast ein Gefühl von Normalität. Normal ist, wenn man sich unsterblich fühlt. Nicht einmal dem Tod von der Schippe gesprungen, sondern einfach normal unausrottbar. So wie alle. Erstaunlich, wie schnell man sich rappelt, wenn die Schmerzen nur ein bisschen weniger sind. Ich lasse mir jetzt von Dr. f. hochprozentiges Vitamin C intravenös verabreichen, alles, was ich darüber gelesen habe, klingt vielversprechend. Und das braucht man, wenn man so rumkrebst. Positive Versprechungen. Irgendwie das Gefühl, dass man was Gutes für sich tut. Wenn es einem besser geht, ist es ja fast ein bisschen langweilig. Man schert sich nicht um seine Sterblichkeit. Das heißt, man kümmert sich nicht um Gott, um Erleuchtung, um Liebe. Aber man muss aufpassen, 



























Erika Burkart, Nachtschicht Ernst Halter, Schattenzone Gedichte Jutta Winkelmann © Weissbooks GmbH Frankfurt am Main 2011 Mein Leben ohne mich. Alle Rechte vorbehalten Ein Bericht Konzept Design © Weissbooks GmbH Frankfurt am Main 2016 Gottschalk+Ash Int’l Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung Gestaltung Julia Winkelmann Borgwardt, borgwardt design Jutta Satz Satz Andreas Töpfer Publikations Atelier, Dreieich Foto Erika Burkart/Ernst Halter Foto © Barbara Davatz Gisela Getty Druck Druck und undBindung Bindung: cpi Clausen & Bosse, Leck Westermann Druck Zwickau Printed in Germany Printed in Germany Erste Auflage 2011 Erste Auflage 2016 isbn 978-3-940888-14-3 isbn 978-3-86337-112-8

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Dieses Buch wurde auf ®-zertifiziertem Papier gedruckt. ® (Forest Stewardship Council®) ist eine nichtstaatliche, gemeinnützige Organisation, die sich für eine ökologische und sozialverantwortliche Nutzung der Wälder unserer Erde einsetzt.


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