Hausmitteilung 12. September 2011
Betr.: Titel, Griechenland, Fukushima
icht das Sein, sondern der Sitz bestimmt das Bewusstsein: Wer die Welt von einem Fahrradsattel aus erlebt, flucht über Autofahrer. Wer am Lenkrad sitzt, empört sich über Radler. Unter diesen beiden Gattungen der Verkehrsteilnehmerfamilie ist, wie Titelautor Frank Hornig, 42, beobachtete, „ein regelrechter Straßenkampf ausgebrochen“. Zum Team, das Zweirad-Liebhaber Hornig unterstützte, zählen Radfahrer unterschiedlicher Provenienz. Matthias Bartsch, 47, bezeichnet sich als Schönwetter-Radler, Stefan Berg, 47, tritt auf seinem Rennbike in die Pedale, bis ihm die Puste ausgeht. Markus Deggerich, 41, ist der Ansicht, dass zum „Verkehrshindernis“ wird, wer nach Vorschrift fährt. SPIEGEL-Redakteure recherchierten zwischen Freiburg und Berlin, wie der rasant wachsende Fahrradverkehr das Land in eine Rüpel-Republik verwandelt. Sie fanden, so Hornig, Erklärungen für den neuen Kampfsport: „Dass Radfahrer immer aggressiver werden, liegt an der verfehlten Verkehrspolitik vieler Städte mit einem hohen DeHornig, Deggerich in Berlin fizit an guten Radwegen“ (Seite 66).
JULIAN ROEDER
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antras sind unentwegte Wiederholungen des Immergleichen, ihnen wird eine beruhigende, manchmal beschwörende Wirkung nachgesagt. Vorige Woche war zu bestaunen, wie Kanzlerin Angela Merkel und EU-Kommissar Günther Oettinger, beide 57, ihr Mantra von der angeblich alternativlosen Rettung Griechenlands unters Volk brachten: Ein Austritt des Landes aus der Euro-Zone wäre „außerordentlich gefährlich“ (Merkel) oder gar „verheerend“ (Oettinger). Planungen für die Zeit nach einer Pleite wurden dementiert. Die Wahrheit verbarg sich hinter den Formeln: SPIEGEL-Redakteur Christian Reiermann, 49, erhielt bereits vergangenen Dienstag verlässliche Hinweise darauf, dass die Bundesregierung und die EU-Kommission detaillierte Pläne für den Fall des griechischen Staatsbankrotts ausgearbeitet haben. „In Berlin wächst die Überzeugung, dass Griechenland nicht mehr zu retten ist“, sagt Reiermann. Christoph Schult, 39, ging den Indizien in der Brüsseler EU-Zentrale nach, Anne Seith, 34, recherchierte die Lage vor Ort in Athen (Seite 22).
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NORIKO HAYASHI / DER SPIEGEL
ag für Tag versuchen mehr als tausend Arbeiter unter Lebensgefahr, die im März havarierten Reaktoren im japanischen Fukushima unter Kontrolle zu halten. Viele rüsten sich im sogenannten J-Village für ihren Einsatz, sie werden von der Öffentlichkeit abgeschirmt. Die Hauptzufahrt wird streng kontrolliert, SPIEGEL-Redakteurin Cordula Meyer, 40, und Meyer, Arbeiter in Fukushima Fotografin Noriko Hayashi, 27, gelangten über einen unbewachten Nebenweg auf das Gelände. Drei Stunden lang sahen sie sich um, wurden aufgegriffen, hinauskomplimentiert – und schafften es dennoch, das Areal erneut zu betreten. Den Arbeitern ist es untersagt, mit Journalisten zu sprechen. Einige taten es doch. „Sie wollen, dass die Öffentlichkeit von ihrem Schicksal erfährt“, sagt Meyer. Als Helden fühlten sich die Männer nicht: „Die meisten haben einfach keinen anderen Job gefunden“ (Seite 134). Im Internet: www.spiegel.de
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In diesem Heft Titel Der tägliche Kampf zwischen Radlern und Autofahrern wird härter ................................. 66
FABRIZIO BENSCH / REUTERS (GR.); MANFRED WITT / DER SPIEGEL (KL.)
Deutschland Panorama: Berliner Islamisten hatten Kontakt zu afghanischen Terrorgruppen / Hessens Regierungschef Volker Bouffier wirbt für Pkw-Maut / Anklage gegen Spitzenbanker der Sachsen LB ............................................... 17 Währungen: Wie sich die Europäische Union auf eine Pleite Griechenlands vorbereitet ...... 22 Der Rücktritt von EZB-Chefvolkswirt Jürgen Stark düpiert die Kanzlerin und Bank-Präsident Jean-Claude Trichet .............. 24 SPIEGEL-Gespräch mit dem früheren SPD-Finanzminister Peer Steinbrück über einen Umbau der Währungsunion ................. 28 Abgeordnete: Der schwierige Auftrag der Parlamentarier in Zeiten der Euro-Krise ........ 34 Forschungspolitik: Der Bund mischt verstärkt bei der Hochschulfinanzierung mit ................ 36 SPD: Die Parteispitze fürchtet eine Kanzlerkandidatur von Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit .............................................. 38 Parteien: Die Freien Wähler könnten in Bayern zum Königsmacher avancieren .......... 40 Affären: Die HSH Nordbank ließ auch Zeitungsredaktionen überwachen .................. 42 Stuttgart 21: Scheitert der neue Großbahnhof noch an der Verfassung? .......... 44 Integration: Die Verbindungen der Berliner Partei BIG zu Ankaras Regierungschef Recep Tayyip Erdogan .......... 47 Bildung: Deutsche Schüler wollen lieber Spanisch als Französisch lernen ..................... 50
Der Inder von der Deutschen Bank
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Seite 80
Anshu Jain, der künftige Chef der Deutschen Bank, steht für die größten Erfolge und die schlimmsten Exzesse bei dem deutschen Kreditinstitut. Seine Investmentbanker haben in den USA die Finanzkrise mit verursacht.
Wirtschaft
Kampf um Berlin
JULIA ZIMMERMANN / LAIF
Ausland
Seite 36
Die Bundesländer haben die Macht über die Hochschulen, aber nicht die nötigen Mittel. CDU-Bildungsministerin Schavan ringt um mehr Mitsprache, damit Vorzeigeprojekte wie die Exzellenzinitiative nicht verpuffen.
Szene: Wie man mit einer Gartenschere im Kopf überlebt / Kabarettist Ursus Wehrli über die Kunst des Aufräumens ............................. 53 Eine Anzeige und ihre Geschichte – warum ein griechischer Millionär Inserate gegen Angela Merkel schaltet .................................. 54 Berlin: Wie die Hauptstadtbewohner gegen Touristen mobil machen ................................. 56 Gegendarstellung ........................................... 64 Ortstermin: In Worms kommen Militaria aus der Nazi-Zeit unter den Hammer ................... 65
Panorama: Indiens bekanntester Slum soll weichen / Die sambische Expertin Dambisa Moyo über westliche Entwicklungshilfe für Afrika ... 96 Schweiz: Die Republik der Eidgenossen als Bastion inmitten der kränkelnden Euro-Zone ... 98
Seiten 22, 28
Die Euro-Retter verlieren die Geduld mit Griechenland, eine Pleite ist nicht mehr ausgeschlossen. Der einstige Finanzminister Peer Steinbrück plädiert im SPIEGELGespräch für eine Neukonstruktion der Währungsunion.
Teure Exzellenz
Gesellschaft
Trends: Metro-Chef Eckhard Cordes soll gehen / General Motors buhlt um BMW-Motoren / Ehemalige Roland-Berger-Partner verklagen ihren Firmengründer ...................................... 78 Finanzmärkte: Die zwei Gesichter des künftigen Co-Vorstandschefs der Deutschen Bank Anshu Jain ............................................ 80 Geld: NRW-Minister Norbert Walter-Borjans greift das Abkommen mit der Schweiz an ..... 86 Arbeitsmarkt: Politikwende bei Mindestlöhnen? .............................................. 88 Energie: Ausländische Atomkraftwerke freuen sich über den deutschen Strombedarf ............ 90 Handel: SPIEGEL-Gespräch mit StarbucksChef Howard Schultz über seinen Zorn auf die US-Politik und die globale Expansionslust seines Kaffee-Imperiums ................................ 92
Planspiele für die Pleite
Touristen in Kreuzberg D E R
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Seite 56 Zwanzig Millionen Touristen übernachten pro Jahr in der Hauptstadt, es sollen noch viel mehr werden. Und Investoren aus aller Welt haben den Immobilienmarkt entdeckt, die Mieten steigen rasant. Viele Berliner fürchten nun den Ausverkauf ihrer Heimat – und protestieren gegen illegale Ferienwohnungen und Hostels, Partylärm und zu hohe Wohnkosten.
Osteuropa: Warum auch Polen, Ungarn und Rumänen unter dem starken Franken leiden ... 103 Libyen: Der Zorn der Rebellen ..................... 104 Arabien: Das Ende der Potentaten ................ 106 Dänemark: Stimmungstest für die Rechtspopulisten ..................................... 108 Irland: Die einst fromme Insel schämt sich für ihre Kirche .............................................. 110 Global Village: Wie junge Akademiker mit Datteln und Luftballons in den Kampf gegen das Assad-Regime ziehen ................... 112
Serie
Seite 134
Früher trainierten hier Japans beste Fußballer, heute machen sich täglich mehr als tausend Männer auf den Weg zum Katastropheneinsatz an den Reaktorruinen von Fukushima. Im streng abgeschirmten J-Village am Rande der Sperrzone riskieren sie für wenig Geld ihre Gesundheit.
Bollwerk Schweiz
NORIKO HAYASHI / DER SPIEGEL
Basislager der Atomarbeiter
Zehn Jahre nach dem 11. September: In den USA sind einheimische Muslime zu inneren Feinden geworden ........................... 114 SPIEGEL-Gespräch mit dem ehemaligen FBI-Agenten Ali Soufan über Versäumnisse der US-Regierung und seine Begegnungen mit Qaida-Gefangenen .................................. 119 Vorabdruck aus Soufans Buch über höchst spezielle Verhörmethoden ............................ 125
Sport Szene: Ex-Bundestrainer Micky Corucle kritisiert deutsche Sprinter / Kehrt Uwe Schwenker zum THW Kiel zurück? ...... 127 Sportwetten: Das Milliardengeschäft asiatischer Buchmacher ................................ 128
Wissenschaft · Technik Prisma: Gartenbau im Weltall / Zeitgewinn beim Boarding .............................................. 132 Fukushima: Die verbotene Stadt .................. 134 Evolution: Interview mit dem UrmenschenForscher Lee Berger über den von ihm entdeckten Vorfahren des Homo sapiens ...... 138 Automobile: Der mühselige Abschied vom Benzin .................................................. 140 Luftfahrt: Ist Russlands Flugzeugindustrie noch zu retten? ............................................. 142
Seite 98
Vergebens versuchten die Eidgenossen, sich gegen die Schuldenkrise in Europa abzuschotten. Die Notenbank warnt vor der Bedrohung der Wirtschaft. Die Alpenrepublik fürchtet um Wohlstand und sozialen Frieden.
Kultur
Fehlstart der Stromautos
Szene: Kindermalbuch über den 11. September / Ausstellung in Florenz über das Mäzenatentum der Renaissance-Bankiers .... 144 Autoren: Der Sprecher der Literaturnobelpreisjury Peter Englund beschreibt „Schönheit und Schrecken“ des Ersten Weltkriegs ......... 146 Bestseller ..................................................... 151 Essay: Elaine Sciolino über Frankreichs Politiker und die Kunst der Verführung ........ 152 Kunst: Der Pariser Cyprien Gaillard gilt als neuer Star der Berliner Szene ...................... 154 Feminismus: SPIEGEL-Gespräch mit Alice Schwarzer über Politik, Sex und ihr spätes Coming-out .................................. 156 Buchkritik: Edmund de Waals Familienbiografie „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ ............ 161
Seite 140
Auf der diesjährigen IAA wird erstmals eine Ausstellungshalle für Elektromobile reserviert sein. Doch der E-Motor steht noch lange nicht vor dem Durchbruch. Die Batterien müssten um ein Vielfaches besser und billiger werden.
Die Unermüdliche
Seite 156
Seit 40 Jahren schreibt Alice Schwarzer über das Geschlechterverhältnis, ihr Privatleben war dabei immer tabu. Nun erscheint ihre Autobiografie. Im SPIEGELGespräch redet die 68-jährige Feministin zum ersten Mal über ihre Beziehungen zu Männern und Frauen, den Verrat durch Weggefährtinnen und politisch korrekten Sex: „Von mir aus können Sie sich nackt an den Kronleuchter hängen.“ Schwarzer 1964
PRIVATBESITZ ALICE SCHWARZER
Medien Trends: NDR will Til Schweiger als „Tatort“Kommissar / Verbraucherministerin Ilse Aigner fordert Facebook-Askese von ihren Kabinettskollegen ................................ 163 Ethik: Norwegen diskutiert die Rolle der Medien im Fall Utøya ............................. 164 Briefe .............................................................. 10 Impressum, Leserservice .............................. 168 Register ........................................................ 170 Personalien ................................................... 172 Hohlspiegel / Rückspiegel ............................. 174 Titelbild: Fotos Imago, Interfoto Foto Umklapper Schweiz: Look-Foto
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Briefe Nr. 35/2011, SPIEGEL-Gespräch mit Ex-Außenminister Joschka Fischer
„Klarer und treffender hätte es heißen können: Endlich Weltmacht! Wie Rot-Grün Deutschland in den Afghanistan-Krieg schickte.“
Blanker Hohn Es ist unüblich und geradezu stillos, dass ein Ex-Minister seinen Nachfolger öffentlich so abkanzelt, wie es Fischer hier mit Westerwelle gemacht hat. Fischer fehlt bei der Beurteilung politischer Ereignisse oft jegliches Maß; so kann er doch nicht behaupten, dass das Verhalten der Bundesregierung in der Libyen-Frage „vielleicht das größte außenpolitische Debakel seit Gründung der Bundesrepublik“ ist.
Oliver Geldener aus Potsdam zum SPIEGEL-Titel „Als Deutschland in den Krieg zog“
SPIEGEL-Titel 36/2011
LANGENSENDELBACH (BAYERN)
Reife Leistung! Eine spannende und umfassende Chronik, die sich fast wie ein Thriller liest. Amerika war also auch damals schon im Zweifelsfall bereit, ohne Bündnisunterstützung zu handeln. Der deutsche Wille zum zivilen Wiederaufbau des Landes – initiiert durch die Petersberg-Konferenz – zeigt für mich jedoch, dass die „uneingeschränkte Solidarität“ eben keine politische Kurzschlussreaktion war. Dieser Prozess wird sehr lange eine außenpolitische Verpflichtung der Bundesrepublik bleiben. PASSAU
Jetzt geht es darum, den militärischen Rückzug rechtzeitig vorzubereiten. Dazu gehört auch ein humanitäres Aufnahmeprogramm für diejenigen in Afghanistan, die nach dem Abzug um ihr Leben und um ihre Gesundheit fürchten müssen. Diese Lektion sollten wir aus der Endphase des Vietnam-Krieges 1975 gelernt haben. KIEL
Der Katzenjammer von Brunnenbauern, die unter die Krieger gefallen sind! JENS-DIETER LAMP
Das Ziel, in einer archaischen Stammesgesellschaft eine Demokratie aufbauen zu wollen, war naiv und völlig utopisch. Und dennoch war der Einsatz richtig und die uneingeschränkte Solidarität zu den USA ein wichtiges Zeichen. Afghanistan darf nie wieder zur Operationsbasis des globalen Dschihad werden! FREIBURG IM BREISGAU
CHRISTOFER GRASS
Als Soldat, der schon Kameraden in diesem Krieg verloren hat, macht es mich betroffen, dass die zu erwartende Kritik an der damaligen Entscheidung gleich zu Beginn des Artikels so massiv abgeschwächt wird mit einem „Sie wussten es ja nicht besser!“ Das wird dem Andenken der gefallenen Soldaten nicht gerecht. HAMBURG
FLORIAN MÜHLICH
Bei den wenigen Erfolgen sollte man erwähnen, dass sich für die Frauen in Afghanistan schon etwas gebessert hat: kein offizieller Burka-Zwang mehr, Möglichkeit von Schulbesuch und Arbeitsaufnahme, Behandlung, wenn notwendig, in einem Krankenhaus, keine Todesstrafe mehr bei „angeblichem Ehebruch“ und so weiter. BONN
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PUERTO DE LA CRUZ (SPANIEN)
Deutsche Feldjäger in Masar-i-Scharif
Naive und völlig utopische Ziele
Dass die USA sich – ausgerechnet! – von den Deutschen dazu hätten bewegen lassen, „Afghanistan (zu) besetzen, um daraus ein besseres Land zu machen“, ist wohl mehr als eine Übertreibung. Und es gilt nicht nur für Deutschland: in Afghanistan sind ja nicht etwa nur Amerikaner und Deutsche, sondern fast 50 Nationen militärisch engagiert, und jeder Beitrag unterliegt anderen Bedingungen. Apropos: Haben wir Deutsche die auch alle da hingedrängt? Reife Leistung! NEUSS
HANS-PETER WAGNER
PARIS
NAUHEIM (HESSEN)
GÜTERSLOH
‣ Titel Gehört die Zukunft der Städte dem Fahrrad? ‣ Schule Ist die Fremdsprache Spanisch wichtiger als Französisch? ‣ Emanzipation Hat sich die Frauenbewegung überlebt?
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THOMAS ARNOLD
Auch wenn man Merkel und Westerwelle nicht zustimmt oder wählt wie ich: Es war nur richtig, sich aus weiteren militärischen Abenteuern herauszuhalten. Interessant, dass viele Journalisten, Grüne und SPD deutsche Kriegseinsätze fordern und konservative Politiker davor zurückschrecken. Um mal in Fischers Duktus zu bleiben: Wer hat denn da die Richtung verloren?
www.spiegel.de/forum und www.facebook.com/DerSpiegel
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HANSGEORG HERMANN
Ausgerechnet Joschka Fischer, dieses eitle Monument der Selbstgerechtigkeit, beklagt bei Westerwelle, dass dem die Grundüberzeugungen fehlten. Aus Fischers Mund wirkt diese Forderung wie blanker Hohn. Das Schlimmste an seinem Vorwurf ist, dass er spontan Sympathie für Westerwelle erzeugt.
Diskutieren Sie im Internet
VERA ZUMPE
TARIK TELL
Es ist ein Verdienst des SPIEGEL, Fischer mit Hilfe von Interviews in den letzten Monaten immer mal wieder als das enttarnt zu haben, was er war und ist: ein Schwätzer. Wir intelligenten Leser werden allerdings nicht in die vom SPIEGEL aufgestellte Falle tappen und nur Fischers Altherrengehabes wegen den FDP-Spaßvogel Guido Westerwelle in Schutz nehmen. Nein, das werden wir sicher nicht tun.
PHILIPP SCHMAGOLD
MAXIMILIAN HABERECHT
MARKKLEEBERG (SACHSEN)
Fischer versucht, es sich nicht zu sehr anmerken zu lassen, aber es schmeichelt ihm ungemein, sich in einer Liga mit Kohl zu wähnen. Mit seinen Einlassungen zu Europa hat er allerdings zweifellos recht.
MICHAEL KAPPELER / DAPD
Nr. 36/2011, Als Deutschland in den Krieg zog
DR. D. HENNIG
FRANK FARENSKI
Briefe
Am eigenen Leibe erfahren Es ist noch nicht lange her, da gerierte sich die Linke als aufstrebende und nicht übergehbare politische Größe in und für Deutschland, und das Entsetzen stand den Altparteien ins Gesicht geschrieben. Ist es nicht herrlich mitanzusehen, dass – genau wie bei den Reps, der NPD, der Schill-Partei et cetera! – keiner diese Partei so demontieren kann wie sie selbst? BRAUNSCHWEIG
Dürre in Indien
Verbrechen gegen die Menschlichkeit
RALF PETER BOSSE
Wer glaubt, dass der Diktator Fidel Castro besser ist als Gaddafi und andere Diktatoren, irrt sich. Keine Hymne auf Castro! CÁDIZ (SPANIEN)
A. ISHOKON -UNEP / STILL PICTURES
Nr. 35/2011, Auf dem Weg zur Selbstauflösung
CARLOS ALEMAN
Unter der Aufsicht des Fraktionspatriarchen Gregor Gysi verhalten sich die Karrieristen in Berlin und in den Landesverbänden wie das Kaninchen vor der Schlange. Wie der „demokratische Sozia-
Die Hungernden in Kenia und anderswo würden wohl Typen wie den sorglos strahlenden Spekulanten Knuckman an den nächsten Baum aufknüpfen, wenn sie wüssten und könnten. Es ist mehr als beschämend, dass tatenlos zugeschaut wird, wie mit dem Hunger und Elend von Millionen verzweifelter Menschen skrupellose, menschenverachtende Geschäfte gemacht werden. LÖHNE (NRDRH.-WESTF.)
AXEL SCHENK
Pfui, Mr. Knuckman, mit Essen spielt man nicht! SCHÖNWALDE (BRANDENB.)
SABINE GERNER
SOEREN STACHE / DPA
Dieser Artikel hat wieder einmal brutal bestätigt, dass – in zunehmendem Maße – Profit vor dem Menschen kommt. Angeekelt und fassungslos muss ich feststellen: Die Erde ist fruchtbar, die Welt jedoch ist furchtbar. LUXEMBURG
Linke-Parteivorsitzende Lötzsch, Ernst
Kaninchen vor der Schlange
lismus“ in dieser Partei funktioniert, habe ich am eigenen Leibe erfahren müssen. Nach meiner öffentlichen und parteiinternen Kritik an der Nominierung von Klaus Ernst als Parteivorstand organisierte seine „Bayern AG“ im Landesverband im Schnellverfahren einen Sonderparteitag, um mich als Landessprecher der Partei abzulösen. STOCKSTADT (BAYERN)
FRANC ZEGA
Nr. 35/2011, Das Geschäft mit dem Hunger
Angeekelt und fassungslos Ein Artikel, der betroffen macht, der empört. Im Denken und Handeln des Händlers Knuckman zeigt sich exemplarisch die Gefährlichkeit des Markt-Glaubens: Wo in anderen Ideologien Rechte und Gesundheit eines Menschen im Namen der Gemeinschaft oder der Religion geopfert werden, ist es hier der Markt, der solche Unmenschlichkeiten rechtfertigt. RHEINHAUSEN (BAD.-WÜRTT.) CHRISTOPH HÜGLE
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MARC FABER
Die Spekulation mit Nahrungsmitteln ist nichts anderes als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und muss international geächtet, verboten und bestraft werden. Ich hoffe, Ihr Artikel wird dabei helfen. WEIDENBERG (BAYERN) CHRISTOPH VON KNOBELSDORFF
Nr. 35/2011, SPIEGEL-Gespräch mit Jürgen Dehmers über die Odenwaldschule
Himmel und Hölle Der Mitschüler Dehmers hat auf der Odenwaldschule die Hölle erlebt. Ich war vor ihm und der Becker-Ära dort und habe den Himmel auf Erden erfahren – die schönste Zeit meiner Jugend. Mit Eltern und Lehrern voller Mitgefühl. Bis heute zehre ich davon. DÜSSELDORF
KLAUS HYMPENDAHL
Innerhalb der 100-jährigen Geschichte der Odenwaldschule bilden die Jahre 1972 bis 1985 unter der Leitung Gerold Beckers eine absolute Ausnahme angesichts des erfolgreichen Wirkens der Schule in Vergangenheit und Gegenwart. Für die Leitungsphase Gerold Beckers sind diejeni-
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Briefe Nr. 35/2011, Wie die Biografie von FußballKapitän Lahm zum Skandalbuch wurde
Einfältiger Geist ARNE DEDERT / DPA
Harmlos ist Philipp Lahms Buch nur insoweit, als es von einem einfältigen Geist zeugt. Seine Betrachtungen sind kein Ausrutscher, sondern Zeichen erheblicher Charaktermängel. Erst teilt Lahm aus gegen jedermann, dann entschuldigt er sich, um kurz darauf zu sagen, er würde es wieder tun. In der Fußballersprache: keine Eier.
Protestplakat gegen Missbrauch
Absolute Ausnahme?
WARDENBURG (NIEDERS.)
gen verantwortlich, die Becker eingesetzt haben: Hellmut Becker, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, und Hartmut von Hentig, Professor der Universität Bielefeld. Beide waren und sind noch immer hochangesehene Persönlichkeiten und anerkannte Wissenschaftler. Dagegen wird die Odenwaldschule nur noch durch die Vergehen Gerold Beckers und einzelner Lehrer unter seiner Schulleitung wahrgenommen. Jahrzehnte als hervorragende „Reparaturwerkstatt“ und Bildungsstätte für Schüler, die im öffentlichen Regelschulsystem gescheitert waren, zählen nicht mehr.
ALFRED PFEIFFER
Was in dem harmlosen Buch des sympathischen Lahm an Zündstoff fehlt, liefern die nach, die sich betroffen fühlen. Bierhoff, Zwanziger, Löw und Völler stellen sich als Popanz in die öffentliche Diskussion und schießen mit Kanonen auf Spatzen. MÜNCHEN
WOLF-BODO RENK
Lahm hat ja mal kräftig mitgeholfen, Michael Ballack als Kapitän zu demontieren! Jetzt demontiert er sich selbst. Aus Dummheit? Oder ist es die zu Kopf gestiegene Wichtigkeit eines „kleinen Mannes“! NEUENKIRCHEN (MECKL.-VORP.) LOTHAR BRANDT
Nr. 35/2011, Die abenteuerlichsten Fälschungen aus der Welt der Archäologie
Äußerst geschmacklos Das Wortspiel in der Überschrift „Schwindlers Liste“ erachte ich als äußerst geschmacklos. Einerseits mokiert sich der SPIEGEL gern tagelang über die Wortentgleisungen anderer („Wollt ihr den totalen Krieg“ – Heiner Geißler), andererseits setzt er sich selbst eine weniger hohe Messlatte in Stilfragen. DÜSSELDORF
NILS HUBERT
Korrekturen
CLEMENS BILAN / DAPD
BOCHUM PROF. DR. DETLEF K. MÜLLER INSTITUT FÜR ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN AN DER RUHR-UNIVERSITÄT BOCHUM
DFB-Spielführer Lahm
Auf das Wesentliche konzentrieren
Es ist unglaublich, mit welcher gespielten Aufregung die betroffenen Trainer und Funktionäre sich aufführen. Angestellte können sehr wohl die Arbeit ihrer Chefs beurteilen. Das gilt vor allem für einen Spieler wie Lahm, der mit Trainern in der Top-Klasse Vergleichsmöglichkeiten hat. OBERSONTHEIM (BAD.-WÜRTT.) EDGAR HAMALEGA
zu Heft 36/2011 Seite 3, Hausmitteilung: Rolf Lamprecht war nicht 20, sondern über 32 Jahre lang SPIEGEL-Mitarbeiter in Karlsruhe. Seite 124, „Gespenstisch schön“: Nicht Kampfjets, sondern Kampfflugzeuge flogen 1944 den US-amerikanischen Angriff in Mikronesien. Seite 128, „Kantine ins Museum“: Die SPIEGEL-Kantine wurde erst 2011 unter Denkmalschutz gestellt. D E R
Alle Offiziellen des DFB, die in diesen Aufschrei mit einstimmen, machen sich doch nur lächerlich. Sie täten gut daran, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Genau wie Lahm, schließlich will ich als Fan, dass er 2012 die Meisterschale hochreißt und nicht ein Buch, in dem steht, dass die Stimmung in der Kabine mal schlecht war. OLCHING (BAYERN)
SEBASTIAN LUBERSTETTER
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt und auch elektronisch zu veröffentlichen. Die E-Mail-Anschrift lautet: leserbriefe@spiegel.de In einer Teilauflage befindet sich im Mittelbund ein zwölfseitiger Beihefter der Firma Peek & Cloppenburg (P&C).
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Deutschland
OLAF WAGNER / IMAGO
MICHAEL GOTTSCHALK / DDP IMAGES / DAPD
Panorama
Polizeieinsatz gegen zwei Islamisten in Berlin T E R RO RV E R DÄC H T I GE
Kontakte nach Afghanistan D
ie beiden in Berlin festgenommenen Islamisten gehören offenbar zum Umfeld terroristischer Gruppen in Afghanistan. Den Deutsch-Libanesen Samir M. hatten die Sicherheitsbehörden bereits vor zwei Jahren auf dem Flughafen Tegel an der Ausreise nach Iran gehindert und ihm seinen Pass entzogen. Nach Angaben eines Zeugen kann man Samir M. zur sogenannten Berliner Gruppe von Islamisten zählen, die die in Afghanistan aktiven „Deutschen Taliban-Mudschahidin“ unterstützten, heißt es in Ermittlungsakten. Der 24Jährige unterhielt zudem gute Kontakte zu den beiden Berlinern Alican T. und Fatih K., die mittlerweile zu Haftstrafen wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland verurteilt wurden. Bei der verhinderten Ausreise am 30. September 2009 führte Samir M. eine Stirnlampe, Trekkingschuhe und Wasserbeutel bei sich. Gegenüber der
Polizei gab er an, dass „er und seine Begleiter in den Bergen der Türkei und Irans wandern wollten“. Die Staatsschützer glauben dagegen, dass sich M. bewaffneten Gruppen in Afghanistan anschließen wollte. Im Fall des zweiten Festgenommenen, Hani N., 28, gehen die Ermittler Hinweisen nach, dass er in einem Terrorlager am Hindukusch ausgebildet worden sei und mit einem bekannten Schleuser in Iran in Kontakt gestanden habe. Der Palästinenser hatte versucht, große Mengen Chemikalien zu bestellen, darunter angeblich 12 Kilogramm Schwefelsäure sowie 100 Trockeneis-Kompressen, die jeweils 100 Gramm Ammoniumnitrat beinhalten. Die Materialien können zur Herstellung von Sprengstoff dienen. Seit Ende Juli hatte die Polizei Hani N. als Gefährder eingestuft. Allerdings gehen die Ermittler nicht davon aus, dass die beiden bereits einen Anschlagsplan ausgearbeitet hatten.
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CSU-Modell bringt kaum zusätzliches Geld das Seehofer am Montag im Parteivorn der Union verschärft sich die Destand diskutieren will, sieht sein Parbatte um die Einführung einer PKWteifreund, Bundesverkehrsminister PeMaut auf Autobahnen. Hessens Minister Ramsauer jedoch kritisch. Der terpräsident Volker Bouffier (CDU) hat sich auf die Seite von Bayerns Regierungschef Horst Seehofer (CSU) geschlagen. „Ich bin ein Anhänger einer Maut für Pkw, unter der Bedingung, dass sie für deutsche Autofahrer aufkommensneutral gestaltet wird“, sagt Bouffier. „Als Transitland Nummer eins in Europa hat Deutschland ein großes Interesse daran, ausländische Autofahrer an der Finanzierung seiner Straßen zu beteiligen.“ Genau dieses Modell, Mautbrücke auf Autobahn D E R
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VOLKMAR SCHULZ / KEYSTONE PRESSE
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Grund: Bei einer Kompensation der Kosten deutscher Autofahrer kommt kaum zusätzliches Geld für den Straßenbau herein. Nach einer internen Berechnung belaufen sich die Einnahmen bei einer Jahresvignette in Höhe von 100 oder 120 Euro auf etwa 3,5 bis 4 Milliarden Euro. Werden die in Deutschland zugelassenen Autos von der Kfz-Steuer jedoch befreit, bleiben davon als Überschuss nur jene 300 Millionen Euro übrig, die ausländische Pkw-Fahrer beisteuern. Angesichts eines jährlichen Defizits im Straßenbau von rund 2,5 Milliarden Euro erscheint der Betrag sehr gering. Zumal auch noch die Erhebungskosten für die Maut abgezogen werden müssten. 17
Panorama BERLIN
Unsaubere Geschäfte bei der Stadtreinigung
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Offshore-Windpark
ENERGIEPOLITIK
Windpark zum Schnäppchenpreis W
eil das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) keine angemessenen Gebühren für die Genehmigung von Offshore-Windparks erhebt, entgehen der Bundesregierung Millioneneinnahmen. Zwar hat die Behörde in den vergangenen Jahren bereits 27 solcher Parks in Nord- und Ostsee die Zulassung erteilt, in den Bescheiden musste sie sich aber an eine Kostenverordnung aus dem Jahr 2001 halten. Deshalb seien pro Anlage maximal 50 000 Euro erhoben worden, bestätigt das BSH. Bereits im Jahr 2009 hatte das Bundesverwaltungsamt eine Unternehmensberatung beauftragt, den behördlichen Aufwand für die komplizierten Genehmigungsverfahren neu zu berechnen. Demnach sollten ein Grundbetrag von 200 000 Euro für Genehmigung und Baufreigabe sowie ein von der Investitionssumme abhängiger flexibler Beitrag von maximal einer Million Euro erhoben werden. Der entsprechende Entwurf einer neuen Verordnung liegt seit über einem Jahr im Bundesverkehrsministerium, wurde bislang aber nicht erlassen. Zuletzt genehmigte das BSH Ende August den Windpark Albatros – für maximal 50 000 Euro.
chen Posten abgeschoben wird“, kritisiert der Vorsitzende des Parlamentarischen Kontrollgremiums, Thomas Oppermann (SPD). Vorbeck, der der CDU angehört, habe „hervorragende, an der Sache orientierte Arbeit geleistet“. Auch bei den Liberalen und in Teilen der Union stößt die Entscheidung auf Unverständnis. Im Kanzleramt heißt es offiziell, Vorbeck solle große Teile seiner bisherigen Tätigkeit fortsetzen und bleibe in die Arbeit der Abteilung eingebunden.
KANZLERAMT
Seltsames Signal
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ine Personalentscheidung von Kanzleramtschef Ronald Pofalla sorgt für Unmut im Parlament. Anfang September hatte Pofalla angeordnet, den für die Terrorismusabwehr im Kanzleramt zuständigen Gruppenleiter Hans-Josef Vorbeck zu versetzen – und dessen Stelle nicht neu zu besetzen. Begründet wird die Entscheidung mit Sparzwängen. Dabei hatte Angela Merkel vergangene Woche noch gemahnt, die Sicherheitsbehörden müssten „jede Stunde wachsam sein“, der Terrorismus bleibe eine der großen Herausforderungen der Gegenwart. Vorbeck wird künftig als Beauftragter für das Archiv des Bundesnachrichtendienstes tätig sein. Es sei ein „seltsames Signal der Bundesregierung, wenn ein bewährter Koordinator der Terrorismusbekämpfung auf einen solD E R
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JÜRGEN HENKELMANN / ULLSTEIN BILD
JÖRG CARSTENSEN/PICTURE ALLIANCE/DPA
urz vor der Berliner Wahl belastet eine seit Jahren schwelende Korruptionsaffäre bei der Berliner Stadtreinigung den Spitzenkandidaten der Linken, Wirtschaftssenator Harald Wolf. Das Berliner Kammergericht ließ vor drei Wochen die Anklage gegen den Finanzvorstand des landeseigenen Stadtreinigungsunternehmens BSR, Lothar Kramm, und einen Lobbyisten der Müllbranche zu und kassierte damit einen gegenteiligen Beschluss des Landgerichts. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Manager vor, zwischen 2004 und 2007 Interna über die Modernisierung einer BSR-Müllverbrennungsanlage – ein 120-Millionen-Euro-Projekt – an den Lobbyisten verraten zu haben. 600 000 Euro sollte Kramm für die vertraulichen Informationen über Kostenplanungen, Budgets und Bauspezifikationen bekommen. Das ergibt sich nach Ansicht der Ermittler zumindest aus einem Vertragsentwurf, den sie bei dem BSR-Manager entdeckten. Die Anwälte der Beschuldigten wollen derzeit zu den Vorwürfen keine Stellung nehmen. Der nichtöffentliche Beschluss des Kammergerichts zur Prozesseinleitung nimmt auch die Rolle von BSR-Vorstand und Aufsichtsrat während der Ermittlungen unter die Lupe. Vorsitzender des BSR-Aufsichtsrats ist Wirtschaftssenator Wolf, der von Kramms Unschuld bis Wolf heute überzeugt ist. Bereits 2007 hatten Wolf und der Vorstand den Berliner Anwalt Joachim Erbe beauftragt, parallel zur Strafverfolgungsbehörde eigene Ermittlungen anzustellen. Erbe stellte im Juli 2007 eine Anzeige gegen unbekannt, die Kramm entlasten sollte. Die Staatsanwaltschaft prüfte die Hinweise, hielt sie aber offenbar nicht für stichhaltig. Mehrmals intervenierte Erbe danach im Auftrag seiner BSR-Mandanten, die Ermittlungen gegen unbekannt wieder aufzunehmen: erst bei der Staatsanwaltschaft direkt, dann im Juli 2009 mit einer Dienstaufsichtbeschwerde bei Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD). Schon das Berliner Landgericht fand derartige Aktivitäten der BSR zugunsten des Angeklagten „weit überobligatorisch“ und teilweise in der Sache und im Stil völlig unangemessen.
PAUL LANGROCK / ZENIT
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Bundeskanzleramt
Deutschland SACHSEN LB
Anklage gegen Ex-Vorstände
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desbank LZB“ auf, mal als „Barreserve, Guthaben bei Zentralnotenbanken“, später als „Forderungen an Kunden“. Doch diese seltsamen Forderungen, glauben die Ermittler, waren nie werthaltig. Auf dem Papier allerdings waren sie Gold wert. Ohne diese dubiosen Millionen hätte die Bank in jenen Jahren Verluste ausweisen müssen. Wertberichtigungen in dreistelliger Millionenhöhe wären ein Desaster gewesen – auch politisch. Zudem zahlte die Bank erfolgsabhängige Vergütungen, deren Grundlage der Gewinn war. Die drei Vorstände kassierten 2003 zwischen 142 000 und 68 000 Euro Prämie, 2004 zwischen 134 400 und 60 000. Die Bank führte Gewerbesteuer, Körperschaftsteuer und Soli-Zuschlag ab. All das, glauben die Ermittler, wäre unnötig gewesen, wenn das ungeklärte Guthaben abgeschrieben worden wäre. Die Betroffenen weisen die Anschuldigungen zurück und sehen sich im Zentrum einer politischen Intrige. Ex-Vorstandschef Weiss erklärt über seinen Anwalt, die Anklage sei „ausschließlich politisch motiviert“. Es solle von jenen abgelenkt werden, die tatsächlich für die Krise bei der einstigen Staatsbank verantwortlich gewesen seien. Gemeint sind damit offenbar damals handelnde CDU-Politiker. Die Staatsanwaltschaft, so Weiss, habe „keine Beweise für das angeblich kriminelle Handeln der jetzt angeklagten Vorstände vorgelegt“. Helaba-Vorstand Raupach will sich nicht zu den Ermittlungen gegen ihn äußern. JAN WOITAS / ACTION PRESS
um ersten Mal seit dem Beinahezusammenbruch der Landesbank Sachsen 2007 müssen sich ehemalige Vorstände strafrechtlich verantworten. Die Staatsanwaltschaft Leipzig erhebt Anklage gegen die Ex-Vorstände Michael Weiss, Rainer Fuchs und HansJürgen Klumpp wegen unrichtiger Darstellung der Jahresabschlüsse, Untreue beziehungsweise Beihilfe dazu. In der Anklage wird auch der heutige Vorstand der Landesbank Hessen-Thüringen, Gerrit Raupach, von Ermittlern
Vorstände Fuchs, Klumpp, Weiss 2004
belastet und als gesondert Verfolgter geführt. Raupach war bis 2006 Vorstand der Sächsischen Landesbank. Die Ankläger stießen bei ihren Ermittlungen auf Salden in dreistelliger Millionenhöhe, deren Herkunft und Zusammensetzung sie nicht klären konnten. Die Summen schwankten zwischen 142,7 Millionen und 155,6 Millionen Euro und tauchten zwischen 2003 und 2006 mal als „Guthaben Deutsche Bun-
IN ZAHLEN
20000
Euro hat die Piratenpartei vergangene Woche als Spende des IT-Unternehmens Jurasoft AG erhalten. Es ist die erste Firmengroßspende in der Geschichte der Partei – und für deren Bundesschatzmeister René Brosig der Beleg, „dass neben unseren Mitgliedern und Sympathisanten auch immer mehr Unternehmen die Ziele der Piratenpartei unterstützen“. Bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus am kommenden Sonntag könnte der Piratenpartei erstmals der Einzug in ein Landesparlament gelingen: In einer Umfrage von Infratest dimap erreichte sie vergangene Woche 6,5 Prozent der Wählerstimmen. Der stellvertretende Bundesvorsitzende Bernd Schlömer sieht im allgemein gestiegenen Spendenaufkommen einen Grund für diesen Erfolg: „Weil wir ein höheres Budget haben, konnten wir stärker auf klassische Wahlkampfmittel wie Plakatwerbung und Straßenstände setzen.“
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Deutschland
Panorama
CDU
Schärferes Profil
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BISCHÖFLICHE PRESSESTELLE / PICTURE ALLIANCE / DPA
ie erheblichen Verluste der CDU bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern haben die Debatte um den Kurs der Partei neu befeuert. Der thüringische Fraktionschef Mike Mohring ermutigt die Landesverbände der CDU, auf das Profil der Gesamtpartei mehr Einfluss zu nehmen. Vor allem in der Schulpolitik habe die CDU „in den letzten Jahren an Kompetenz eingebüßt, unter anderem, weil sie in Koalitionsverhandlungen regelmäßig auf die Kultusministerien verzichten musste, während das Thema in Landtagswahlen eine immer entscheidendere Rolle spielt“. Mohring kritisiert, dass die Berliner Parteizentrale allein nicht in der Lage sei, „das Koordinatensystem der Partei wieder stärker zur Geltung zu bringen“.
Handwerkerfest in Hildesheim
Spanferkel im Dom KAY NIETFELD / DPA
Wie ein Bischof Gläubige gegen sich aufbrachte
Erkundungsbergwerk Gorleben AT O M M Ü L L
Gemeinsame Suche
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ie Bundesregierung will die weitere Suche nach einem Atomendlager im Herbst bei einem Spitzengespräch zwischen Bundeskanzlerin Merkel und allen Ministerpräsidenten abstimmen. Dabei geht es um Alternativen zur bisher einzigen potentiellen Lagerstätte in Gorleben. Obwohl Wissenschaftler solche Alternativen bisher vorwiegend in Bayern, BadenWürttemberg und Niedersachsen geortet haben, sollen die Regierungschefs aller Länder an dem Treffen teilnehmen. Brisant ist allerdings, dass die Bundesregierung bei Gorleben das alte Planungsverfahren nach dem Bergrecht fortführen will, das kaum Öffentlichkeitsbeteiligung vorsieht und nur bei Alternativstandorten mehr Transparenz zulassen möchte. Neben norddeutschen Salzstöcken haben Experten der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe Tonregionen in Niedersachsen und BadenWürttemberg als mögliche Lagerstätten für Atommüll identifiziert. 20
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andwerker wollen gut behandelt sein – das weiß jeder Bauherr. Da darf es gern auch mal etwas mehr sein als ein warmer Händedruck oder ein lobendes Wort. So dachte auch Norbert Trelle, 69, Hildesheimer Bischof und zuständig für die 30 Millionen Euro schwere Sanierung des altehrwürdigen, 1000-jährigen örtlichen Doms. Kürzlich wollte er danken: seinem Gott im Himmel, dass bei den Arbeiten bislang niemand ernsthaft zu Schaden gekommen ist, und den Handwerkern für einen guten Job. „Kölsch statt Kelch, Kartoffeln statt Kommunion“, ließ man einen bischöflichen Alliteraten dichten und lud ein – rund hundert Bauleute und Planer kamen gern und feierten ein wenig. „Der Anblick war gewöhnungsbedürftig, nicht nur für fromme Katholiken“, so das Bistum in einer Mitteilung an die Gemeinde, „wo einst die Orgelempore stand, wälzte sich ein Spanferkel im eigenen Sud. Wo früher Beichtstühle Vergebung verhießen, sorgten lange Biertische für Gemütlichkeit.“ Es gab sogar vier Ferkelchen, die sich aufgespießt unter der Domkuppel drehen mussten, dazu wurden 140 Liter Kölsch gereicht – schließlich hat der Bauherr lange im Rheinland gelebt. Alles in allem eine gelungene „wohlige Unterbrechung“ eben, wie Bischof Trelle befand.
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Gut möglich, dass er sich geirrt hat. Denn jetzt herrscht großer Aufruhr im Bistum. Wie konnte man nur dieses Nichtbier Kölsch servieren, wo doch der heimische Einbecker Trunk so viel leckerer schmeckt, fragen die einen, und anderen ist es richtig ernst: Wer zum Teufel hat den Bischof auf die Idee gebracht, das Gotteshaus als eine „Würstelbude“ zu verunehren? Ein Sturm der Entrüstung fegt durch radikalkatholische Blogs und Internetforen über diese „widerliche respektlose Sause“. „Warum konnte die Saubande denn kein Bierzelt außerhalb des Doms aufstellen, wenn schon gefressen und gesoffen werden musste?“, möchte ein schockierter Gläubiger wissen. Gute Frage. Findet jetzt auch das Bischofsamt und hat ganz schnell Festreportage und Fotos von der Homepage entfernt. Zwar sei doch das Gotteshaus während der Bauarbeiten vorübergehend entweiht worden – gleichwohl: „Es war ein Fehler“, räumt ein Sprecher kleinlaut ein. Aber es gibt auch Stimmen, die dem geprügelten Bischof (Lebensmotto: „Leben und leben lassen“) beistehen. Eine Ursula im Internetforum der „Hildesheimer Allgemeinen Zeitung“ findet: „Warum freut ihr euch nicht über einen frohen und lebensbejahenden Bischof?“ Auch eine gute Frage.
Deutschland
Kanzlerin Merkel, Euro-Gruppen-Chef Juncker FRANCOIS LENOIR / REUTERS
WÄ H R U N G E N
Viel Geld für nichts Die Euro-Retter verlieren die Geduld mit Griechenland. Finanzminister Schäuble zweifelt daran, dass Athen vor einer Pleite bewahrt werden kann. Seine Experten spielen unterschiedliche Krisenszenarien durch, einen griechischen Ausstieg aus der Währungsunion inklusive. 22
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YIORGOS KARAHALIS / REUTERS
Premierminister Papandreou
Vor dem Ruin
Griechische Wirtschaft im Vergleich zu anderen europäischen Krisenländern
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für zehnjährige Staatsanleihen in Prozent
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Monatswerte 1. Halbjahr 2011; Veränderungen gegenüber dem Vorjahresmonat in Prozent
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UMSÄTZE IM EINZELHANDEL
Quelle: Eurostat, Thomson Reuters Datatsream
1. Juli
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erman Van Rompuy ist ein einflussreicher Mann in Europa. Als EU-Ratspräsident steht er der Versammlung der Staats- und Regierungschefs vor, bald soll er zudem als oberster Repräsentant der Euro-Zone wirken. Er ist der Mister Euro, und als solcher genießt er großes Ansehen. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hält große Stücke auf den unscheinbaren Belgier, der hinter bescheidenem Auftreten einen Hang zu Härte und Effizienz verbirgt. Ein Kollege Merkels bekam den eigenwilligen Charme des Mannes am vergan-
zum Vergleich:
Deutschland 8. Sept.
genen Montag zu spüren. Da nahm sich Van Rompuy den griechischen Ministerpräsidenten Georgios Papandreou am Telefon vor. Die Vertreter der EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank (EZB) und des Internationalen Währungsfonds (IWF), die sogenannte Troika, hatten das krisengeschüttelte Land ein paar Tage zuvor unter Protest verlassen, weil die griechische Regierung ein ums andere Mal die Absprachen unterlaufen hatte. Es gebe da ein Problem, eröffnete Van Rompuy das Gespräch. Wenn Griechenland nicht liefere, dann komme die nächsD E R
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te Tranche nicht. Papandreou verstand sofort: Die Europäer stehen kurz davor, seinem Land den Geldhahn zuzudrehen. Der Ärger über die Hellenen ist groß. „Wir können nicht zufrieden sein mit den neuesten Meldungen aus Griechenland“, schimpfte Kanzlerin Merkel in der vergangenen Woche. „Die Troika-Mission muss fortgesetzt werden und zu einem positiven Abschluss gebracht werden“, sagte Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU). Selbst Euro-Gruppen-Chef JeanClaude Juncker, der nicht zur Panikmache neigt, nahm am Telefon Griechenlands Premierminister ins Gebet. „Die Dinge in Griechenland bewegen sich nicht im richtigen Tempo“, gab er später zu Protokoll. „Es gibt keine Resultate.“ Die Verschärfung in Text und Ton ist keineswegs nur Show. Die Rettungs-Europäer verlieren die Geduld mit den Griechen. Nach 18 Monaten Krise ist immer noch keine Besserung in Sicht. Wichtige Kennziffern verschlechtern sich, und der Eindruck wächst, dass die griechische Regierung den Ernst der Lage noch immer nicht begriffen hat. In den Hauptstädten und bei der EUKommission keimt der Verdacht, dass die Anstrengungen der letzten anderthalb Jahre vergeblich waren. 110 Milliarden Euro stellten die Partnerländer für Griechenland zu Verfügung, in Kürze soll der Betrag noch einmal aufgestockt werden. Nun macht sich die Erkenntnis breit: Es war viel Geld für nichts. Besonders tief sitzt die Enttäuschung in Berlin, wo die Krisenpolitik offenkundig im Kreis verlaufen ist. Am Anfang stand das Wort der Kanzlerin, dass sich die Griechen gefälligst selbst aus der Krise helfen sollten. Dann folgten das erste und das zweite Hilfspaket, und es galt die Maxime: „Wir retten Griechenland, damit die anderen Schuldenländer verschont werden.“ Nun ist der Ausgangspunkt wieder erreicht, und es überwiegt die Angst vor dem endlosen Schrecken in Athen. „Das Maß ist voll“, sagt ein ranghoher Regierungsbeamter. Die Geduld mit den Griechen sei erschöpft. Mit einer Mischung aus Resignation und Fatalismus schicken sich Merkel und Schäuble ins Unvermeidliche – und denken das bisher Undenkbare: Griechenland geht pleite, nicht einmal ein Ausstieg des Landes aus der Währungsunion ist ausgeschlossen. Die Planspiele für den Tag X sind längst angelaufen, in den Referaten des Berliner Finanzministeriums genauso wie in den Arbeitsgruppen des Brüsseler EUApparats. Ein Bankrott des Landes, so hoffen Schäubles Beamte, sei beherrschbar, wenn Europas Politiker die Nerven behalten und die Rettungsschirme wie geplant aufgestockt werden. Es geht um ein Signal, gerichtet nicht nur an die europäischen Partnerländer, 23
Deutschland
Peinlicher Verlust Der Rücktritt von Jürgen Stark düpiert Kanzlerin Merkel und EZB-Präsident Trichet.
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Schon bei der ersten Aufkaufaktion im Frühjahr 2010 stimmte Stark dagegen, vor einigen Wochen, als die EZB wieder kaufte, erneut. Stark fürchtet, die Maßnahme unterhöhle die Stabilität des Euro. Schlimmer noch, die Notenbank gebe ihre Unabhängigkeit auf und stelle sich in den Dienst der Politik. Das widerspricht der BundesbankTradition, die Stark in seiner Zeit als deren Vizepräsident verinnerlichte. Aus den gleichen Gründen gab Axel Weber sein Amt als Bundesbank-
BERT BOSTELMANN / GETTY IMAGES
urz nach seinem Rücktritt als Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank (EZB) machte Jürgen Stark weiter, als wäre nichts geschehen: Er führte eine Besuchergruppe durch den Euro-Tower in Frankfurt. In ihrer offiziellen Mitteilung gab die EZB „persönliche Gründe“ für den Schritt an. Für einen Vollblut-Zentralbanker ist Persönliches stets auch fachlich. Es war bekannt, dass Stark schon länger am Kurs der EZB und
EZB-Volkswirt Stark, Präsident Trichet: Schon länger am Kurs gezweifelt
ihres Präsidenten Jean-Claude Trichet zweifelte, in großem Umfang Staatsanleihen angeschlagener Euro-Staaten aufzukaufen. Nur mit Mühe verbarg er seine Abneigung gegen das Vorgehen des Franzosen. Anfang August, die Mehrheit im EZB-Rat stimmte für den Kauf italienischer und spanischer Staatsanleihen, war er zum Rücktritt entschlossen, berichtet ein Freund. Trichet und seine Leute reagierten bestürzt, als Stark intern seine Rücktrittsabsicht kundtat. Inständig baten sie ihn, wenigstens noch bis zur EZBRatssitzung am vergangenen Donnerstag zu bleiben. Die Pressekonferenz im Anschluss daran nutzte der Franzose für eine theatralische Tirade gegen die unflexiblen Deutschen.
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Präsident auf und verzichtete darauf, Nachfolger von Trichet an der Spitze der EZB zu werden. Bitter ist die Botschaft vor allem für den jetzigen Bundesbank-Präsidenten Jens Weidmann, der die Ankäufe ebenfalls ablehnt. Er verliert einen Verbündeten im Ringen um den richtigen geldpolitischen Kurs. Für deutsche Notenbanker besteht dieser traditionell darin, mit allen Mitteln Inflationsgefahren zu bekämpfen. Die Notenpresse anzuwerfen, um damit Anleihen zu kaufen, gehört eindeutig nicht dazu. Auch für Kanzlerin Angela Merkel und ihren Finanzminister Wolfgang Schäuble (beide CDU) ist der Verlust peinlich. Zum zweiten Mal geht ihnen ein namhafter Geldpolitiker von
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der Fahne, weil er den Kurs in der Euro-Rettung, der von Merkels Regierung geprägt wird, nicht mehr mittragen will. Zudem ist die Koalition nicht eben gesegnet mit Talenten, die sich komplikationslos nach Frankfurt schicken ließen. So kamen Merkel und Schäuble nicht umhin, mit Finanzstaatssekretär Jörg Asmussen einen Sozialdemokraten zu nominieren. In den Reihen der Unionsfraktion dürfte die Wahl gleichermaßen für Empörung wie Erleichterung sorgen; Empörung, weil wieder ein wichtiger Posten an einen SPD-Mann geht, Erleichterung, weil sie froh sind, ihn in Berlin los zu sein. Für gute Laune sorgte die Kür nicht. „Ein SPD-Mann auf dem wichtigsten Posten, den Deutschland in der internationalen Finanzwelt zu vergeben hat, ist mindestens so falsch wie ein Genosse als Staatssekretär im CDUgeführten Finanzministerium“, sagt Georg Nüßlein, wirtschaftspolitischer Sprecher der CSU-Landesgruppe. Die FDP-Spitze stimmte der Personalie zu. Fraglich ist, ob Asmussen die Rettungspolitik geschmeidiger mittragen wird als sein Vorgänger. Grundsätzlich findet er die Ankäufe ebenfalls bedenklich, in der derzeitigen Situation aber vertretbar. Obwohl die Nachfolgersuche reibungslos verlief, hat sie für Deutschland einen Haken. Asmussen kann nur Starks angebrochene Amtsperiode zu Ende führen. Von acht Jahren bleiben ihm nur noch drei. Danach darf er nicht erneut kandidieren, das verbieten die Statuten der EZB. Die Beförderung Asmussens verschärft zudem die Personalprobleme im Finanzministerium. Ressortleiter Schäuble hat seit Monaten Schwierigkeiten, vakante Posten zu besetzen. So sucht er nach einem Leiter seiner Grundsatzabteilung und einem für die Finanzmarktabteilung. Immerhin fand er schnell Ersatz für Asmussen. Neuer Staatssekretär wird der bisherige Leiter der EuropaAbteilung, Thomas Steffen. Jetzt muss Schäuble drei Abteilungsleiter suchen. PETER MÜLLER, CHRISTOPH PAULY, CHRISTIAN REIERMANN
ORESTIS PANAGIOTOU / DPA
sondern auch an die zweifelnden Koalitionspolitiker daheim. Europa kann nicht nur helfen, so lautet die Botschaft, es kann, wenn nötig, auch Hilfe entziehen. Das Thema spielte bei einem Abendessen am vergangenen Dienstag im Finanzministerium eine Rolle. Hausherr Schäuble hatte seine Kollegen Jutta Urpilainen aus Finnland und Jan Kees de Jager aus den Niederlanden zu Gast. Offiziell ging es um das Pfand, das die Finnen von den Griechen für weitere Hilfen verlangen. Tatsächlich stand ein anderes Thema im Vordergrund: die zugespitzte Krise in Athen. Bei den Teilnehmern war die Einsicht gewachsen, dass die Lage in Griechenland zwischen aussichts- und hoffnungslos changiert. Die Pleite lasse sich kaum mehr vermeiden. Meinungsverschiedenheiten gab es nur über die Konsequenzen. Schäuble plädierte dafür, dass die Griechen auch nach einem Schuldenschnitt in der Währungsunion verbleiben sollten. De Jager hätte nichts dagegen, wenn sie die Euro-Zone verließen. Was am Ende geschieht, darin waren sich die Teilnehmer einig, liege ohnehin in der Hand der Griechen. Eine Möglichkeit, sie aus der Währungsunion zu weisen, gibt es nicht. Schäuble ist überzeugt, dass es nicht mehr so weitergehen könne wie bisher. Mehrfach teilte er in der vergangenen Woche seine Sorgen und Erkenntnisse mit Vertrauten. Jedes Mal lautete seine Botschaft, er glaube nicht mehr daran, dass die Griechen es noch schafften, die vereinbarten Auflagen zu erfüllen. Schon im Oktober gehe ihnen das Geld aus. Was das bedeutet, haben Schäubles Beamte längst durchgerechnet. Ein Emissär aus Berlin präsentierte die Überlegungen vergangene Woche den Partnern in Brüssel. Grundsätzlich gebe es zwei Möglichkeiten einer Griechen-Pleite, trug der Mann vor. In Variante eins verbleibt das Land in der Währungsunion, in der anderen scheidet es aus. In beiden Fällen käme es zu einem sogenannten Schuldenschnitt: Griechenland würde seine Kredite nur noch zu einem bestimmten Anteil von zum Beispiel 50 Prozent bedienen. Entsprechend groß wären die Verluste für Athens Gläubiger, zu denen die Europäische Zentralbank, andere EU-Länder sowie Banken, Versicherungen und Finanzinstitute in ganz Europa zählen. Es gelte, die Folgen dieser Verluste zu begrenzen, befand der Schäuble-Emissär und trug seinen Zuhörern die entsprechenden Planspiele der Berliner Beamten vor. Eine Schlüsselrolle in ihren Überlegungen spielt der europäische Rettungsschirm EFSF. Die Einrichtung unter Leitung des Deutschen Klaus Regling mit Sitz in Luxemburg soll so schnell wie möglich mit den neuen Kompetenzen ausgestattet
Demonstrierende Studenten in Athen: Beim Sparprogramm hoffnungslos im Verzug
werden, die ihr der Krisengipfel Ende Juli zugedacht hat. Dann könnte die restliche Euro-Zone mit einiger Aussicht auf Erfolg vor den Verwerfungen einer Griechenland-Pleite geschützt werden. Zwei Instrumente stehen bei den deutschen Plänen im Vordergrund: Zum einen setzen Schäubles Beamte auf vorbeugende Kreditlinien, mit denen Reglings Behörde finanzschwachen Ländern Überbrückungskredite gewähren darf. Zum anderen wollen sie Geldspritzen für Banken bereitstellen, um deren Schieflage abzuwenden. Mit beiden Instrumenten ließen sich komplette Länder und ihre Bankensektoren abschirmen, argumentierte Schäubles Mann in Brüssel. Die Kredite sollen Ländern wie Italien, Spanien, aber auch Zypern helfen, denen Anleger aus Angst um ihr Geld nach einer Insolvenz Griechenlands nichts mehr leihen würden. Banken in zahlreichen Euro-Ländern könnten schließlich auf Milliarden aus Luxemburg angewiesen sein, weil sie ihre Bestände an griechischen Staatsanleihen abschreiben müssten. Am schlimmsten dürften griechische Banken von den Folgen einer Staatspleite betroffen sein. Durchaus denkbar sei es deshalb, dass sie noch Hilfe bekommen, während die griechische Regierung längst von Reglings Hilfstopf abgeschnitten ist. Banken sind, das lehrt die Finanzkrise, über Ländergrenzen hinweg miteinander verflochten. Stürzt ein wichtiges Kreditinstitut, reißt es leicht andere mit. Solche Folgen sind zu erwarten, gleichgültig ob Griechenland den Euro behält oder aussteigt. In Wahrheit hätte Athen ohnehin keine Wahl. Denn die Regierung D E R
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könnte nur dann einen Schub für die darniederliegende Wirtschaft erwarten, wenn Griechenland wieder eigenes Geld einführt und die neue Währung im Vergleich zum Euro kräftig abwertet. Selbst wenn die griechische Regierung diesen ultimativen Schritt wählen würde, wären die Folgen beherrschbar, glauben Regierungsexperten. Anfang Mai hörte sich das noch anders an. Damals versammelten sich die Finanzminister der großen Euro-Länder mit ihrem griechischen Kollegen und Euro-Gruppen-Chef Juncker zu einem Geheimtreffen in Luxemburg. Auf der Tagesordnung schon damals: ein möglicher Austritt Griechenlands aus der Währungsunion. Damals hatten die Experten vor den Folgen eines solchen Schrittes noch gewarnt, nun erscheinen sie den Euro-Rettern hinnehmbar. Selbst für ein Problem, das Schäubles Beamte damals noch umtrieb, haben sie mittlerweile eine Lösung gefunden. Kapitalverkehrskontrollen, mit denen Griechenlands Bürger gehindert werden könnten, ihr Geld ins Ausland zu schaffen, seien mit EU-Recht vereinbar – anders als damals angenommen. Ein Schlupfloch bietet Artikel 143 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU. Er erlaubt bestimmten Ländern, „Schutzmaßnahmen zu treffen“. Unumstritten ist die neue Linie dennoch nicht. Offensichtlich wurde das am Montag vergangener Woche bei der Sitzung der stellvertretenden Finanzminister der Euro-Zone. Die Runde der Spitzenbeamten ließ sich von der Troika über die Lage in Griechenland Bericht erstatten. Am Ende war die Versammlung gespalten. Erstmals sprach sich eine Mehrheit 25
dafür aus, bei Griechenland die Reißleine zu ziehen. Angeführt wurde das Lager von Deutschen, Niederländern und Finnen. Die Südländer, Frankreich inklusive, verhielten sich deutlich zurückhaltender. Sie fürchten, dass es auch für sie bald kein Geld mehr geben könnte, wenn die Mittel für Griechenland gekappt werden. Die Sorge will Schäuble ihnen nehmen. Griechenland sei, im Gegensatz zu den anderen Schlingerstaaten, ein hoffnungsloser Fall. Oder, wie es Athens Wirtschaftsminister Michaelis Chrisochoidis im Berliner „Tagesspiegel“ ausdrückte: „Die griechische Wirtschaft stirbt.“ Da ist etwas dran. Immer mehr Unternehmen gehen in Konkurs, und bei ihrem Sparprogramm sind die Griechen inzwischen hoffnungslos in Verzug, beim Verkauf von Staatsbesitz ebenso wie bei den vereinbarten Reformen. „Das ist wie bei Kindern, denen man immer wieder sagen muss, dass sie ihr Zimmer aufräumen sollen“, klagt ein Delegationsmitglied. Vor allem die Troika-Mitglieder aus Europa waren erbost, während die IWF-Vertreter sich nachsichtiger gaben. Alle sind jedoch genervt über die mangelnden Fortschritte. Die vor über einem Jahr begonnene Privatisierung kommt nur zäh in Gang. 50 Milliarden Euro soll Griechenland dadurch bis 2015 einnehmen. Doch erst vor einigen Wochen stellten Beamte eine Liste mit staatlichen Unternehmen und Immobilien zusammen. Kostas Mitropoulos soll das Projekt führen. Der 56-Jährige, bis vor wenigen Wochen noch Investmentbanking-Chef der griechischen Eurobank, ist Boss der neuen Privatisierungsgesellschaft. Mitropoulos sagt, er habe sich wie ein Soldat einem „Kampf“ um Glaubwürdigkeit verschrieben, einem „echten Krieg“. Sein Büro ist karg möbliert: Ein Schreibtisch, ein kleiner Konferenztisch, auf dem Schrank stehen Sportpokale. Einen Teil seiner Mannschaft muss Mitropoulos sich noch zusammensuchen. Er brauche spezielle Charaktere, sagt er, mit dem nötigen Feuer für „etwas fast Unmögliches“, wie er ironisch hinzufügt. Den größten Erfolg verspricht wohl der Verkauf der lukrativen Erdölgesellschaft Hellenic Petroleum, der Nutzungsrechte für den Athener Flughafen und der Lizenzen für die staatliche Glücksspielgesellschaft OPAP. Allerdings stehen auch Firmen auf der Verkaufsliste, für die sich derzeit kein Interessent finden dürfte: die griechische Staatsbahn, die über Jahre hinweg Milliardenverluste schrieb, oder die Postbank. Bei vielen Staatsbetrieben schrecken zudem die mächtigen Arbeitnehmervertreter potentielle Investoren ab. Als besonders radikal gelten Gewerkschafter des Strommonopolisten DEI. Sie drohten schon mal damit, den Strom zu kappen, sollte das Unternehmen privatisiert werden. 26
NIKOS PILOS / DER SPIEGEL
Deutschland
Yachthafen in Vouliagmeni
Flughafen Athen
Braunkohlekraftwerk in Florina
Potentielle griechische Verkaufsobjekte: Spezielle Charaktere für „etwas fast Unmögliches“
Die Gewerkschaften kämpfen um ihre Pfründen. Die staatlichen Betriebe sind Versorgungsparadiese, in denen zuweilen sogar Zulagen für das Händewaschen bezahlt werden. Die gut 20 000 Mitarbeiter der DEI verdienen im Schnitt das Doppelte einer Gymnasiallehrerin. Fachleute von RWE haben sich den griechischen Energieversorger schon einmal angesehen, sie winkten aber ab. Das Unternehmen war nach ihrer Ansicht nicht reformierbar. Bis Ende September soll Banker Mitropoulos Investitionsverträge über 1,7 Milliarden Euro unter Dach und Fach haben. Das ist der Plan. Aber in der Realität ist das schon rein technisch unmöglich. Ob er Angst habe, dass die Troika die nächste Kredit-Tranche verweigert? Nein, sagt er. „Ich lebe für den nächsten Tag.“ D E R
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Ein weiteres Reformprojekt, das pünktliche Eintreiben aller Steuern, kommt ebenfalls nicht voran. „Wir haben den Eindruck, dass der Verwaltungsapparat das nicht kann“, sagt Premierminister Papandreou. Insgesamt schulden Bürger und Unternehmen dem griechischen Staat fast 40 Milliarden Euro Steuern. Mit dieser Summe könnte das Haushaltsdefizit für 2011 mehr als gedeckt werden. Doch viele Behörden gelten als ineffizient und korrupt. Die Finanzbeamten absolvieren, nachdem ihnen im Rahmen mehrerer Sparrunden die Gehälter um 20 Prozent oder mehr beschnitten wurden, oft nur noch Dienst nach Vorschrift, und manchmal nicht einmal das. 17 Finanzämter haben in den ersten sieben Monaten des Jahres keine einzige
NIKOS PILOS / DER SPIEGEL THANASSIS STAVRAKIS / AP
Privatisierungs-Chef Mitropoulos
Steuerkontrolle durchgeführt. In Korinth trieb die Behörde in sechs Monaten lediglich 18 000 Euro Mehrwertsteuer ein, obwohl in der Region eines der größten Casinos Europas steht und etliche Unternehmen dort ihren Sitz haben. Der Abbau von 150 000 Stellen im Öffentlichen Dienst kommt nicht voran, wohl auch, weil die Regierungspartei Pasok unter den Betroffenen ihre Stammwähler hat. Der Mann, der die ersten Sparmaßnahmen mit der Troika vereinbarte, fordert Geduld. Der frühere Finanzminister Giorgios Papakonstantinou warnt davor, die Abreise der Troika zu dramatisieren. „Die Verhandlungen waren nie leicht“, sagt er. Griechenland habe sein Defizit vergangenes Jahr stärker reduziert als jedes andere Land. Auf seinem Schreibtisch steht eine Kaffeetasse mit
dem Spruch: „Arbeite hart, sei nett zu den Leuten.“ So groß ist die Misere, dass die Retter die Geduld verlieren. Bei einem Griechenland-Bankrott müsse sich Europa „warm anziehen“, warnt der frühere Finanzminister Peer Steinbrück im SPIEGEL-Gespräch (Seite 28). Dennoch ist auch er überzeugt: „Wenn die Anforderungen nicht ernst genommen werden“, dürfe die nächste Tranche „nicht ausgezahlt werden“. Griechenlands Pleite rückt näher, auch deshalb, weil die übrigen Problemländer in den vergangenen Monaten auffällige Fortschritte erzielt haben. Dadurch, so kalkulieren Schäubles Beamte, sinke die Ansteckungsgefahr. Vor allem die Iren wecken neuerdings Hoffnungen, dass sie die Kurve kriegen. Das Land gewinnt wieder Vertrauen an den Finanzmärkten. Ablesbar ist dies an den Risikoprämien für Staatsanleihen, sie sind in den vergangenen Wochen deutlich gesunken. Den Iren hilft ihre intakte Exportwirtschaft. Viele internationale Konzerne haben ihre Europa-Dependance auf der Insel angesiedelt, darunter Apple, IBM und Google. Dank der Ausfuhren wächst die Wirtschaft wieder, im ersten Quartal verzeichnete sie ein Plus von 1,3 Prozent zum Vorquartal. Irland setzt darauf, sich gleichsam aus der Krise zu exportieren. Diesen Weg würde auch Portugal gern einschlagen – doch über allzu viele weltmarktfähige Güter verfügt das Land nicht. Die Mitte-rechts-Regierung von Ministerpräsident Pedro Passos Coelho muss deshalb die harte Tour einschlagen. Sie kürzt im Gesundheitswesen und bei den Beamtengehältern, kaum ein Ausgabenposten bleibt verschont. Zugleich erhöht Coelho Steuern auf Spitzeneinkommen, auf Strom und Erdgas, selbst auf das Weihnachtsgeld. Es sind große Opfer, die Portugals Bürger erbringen. Bislang murren sie zwar, aber sie erdulden die Beschlüsse. Coelho stimmt sie auf „zwei schwere Jahre“ ein. Entsprechend positiv bewertet die Troika die Anstrengungen. Das Land liege im Zeitplan. Auf der Rangliste der wettbewerbsfähigsten Länder, die das World Economic Forum vergangene Woche vorstellte, holte Portugal leicht auf. Nachbar Spanien vollführte in der Aufstellung einen Sprung nach vorn, vom 42. auf den 36. Platz. Die Spanier haben bereits zwei ihrer Flughäfen zum Verkauf ausgeschrieben und eine Schuldenbremse in der Verfassung verankert. Damit wird die Kreditaufnahme gesetzlich auf 0,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts begrenzt, allerdings erst ab 2020. Während sich die meisten Randstaaten also auf den Wege der Besserung machen, droht Griechenland in den Bankrott zu schlittern. In der schwarz-gelben Koalition ist das Mitleid begrenzt, denn eine Pleite des Landes würde auch manche inD E R
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nenpolitische Verwerfung begradigen. Berlins harte Linie soll vor allem denjenigen Parlamentariern in Union und FDP, die Griechenland für ein Fass ohne Boden halten, die Zustimmung zu dem aufgemöbelten und mit neuen Kompetenzen versehenen Rettungsschirm EFSF Ende September erleichtern. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion Peter Altmaier spaltet das Pleite-Land schon mal rhetorisch vom Rest der Eurozone ab. „Griechenland ist ein absoluter Sonderfall. Kein anderes Land ist so in der Patsche.“ Das Kalkül könnte aufgehen. Mancher Abgeordnete, der Anfang der vergange-
Entscheidungsstress Abstimmungen im Bundestag zu EuroRettungspaketen DEUTSCHER ANTEIL 7. Mai 2010
Erstes Rettungspaket für Griechenland
22,4 Mrd. €
Das strauchelnde Griechenland beantragt im April 2010 Finanzhilfen. Die Euro-Länder und der Internationale Währungsfonds (IWF) geben Kreditzusagen in Höhe von 110 Mrd. €. Griechenland muss im Gegenzug ein strenges Sparprogramm umsetzen. 21. Mai 2010
Euro-Rettungsschirm
123 Mrd. €
Der vorläufige Stabilisierungsmechanismus, der bis 2013 gilt, hat einen Umfang von 750 Mrd. €. Der IWF ist mit 250 Mrd. € beteiligt. 60 Mrd. € können über den EU-Haushalt zur Verfügung gestellt werden. 440 Mrd. € stammen von einer Zweckgesellschaft (EFSF), die sich mit Anleihen am Kapitalmarkt finanziert. Die Haftung für die EFSF liegt gemeinschaftlich bei den Euro-Ländern. Im November 2010 begibt sich Irland unter den Rettungsschirm, im April 2011 folgt Portugal.
ANSTEHENDE ENTSCHEIDUNGEN 29. September 2011
Aufstockung der EFSF
88
Mrd. €
Das Ausleihvolumen der EFSF wird erhöht. Außerdem erhält sie neue Befugnisse. Künftig sollen auch Staatsanleihen von Euro-Krisenländern aufgekauft und Mittel zur Bankenstabilisierung eingesetzt werden dürfen. voraussichtlich Oktober 2011
Zweites Rettungspaket für Griechenland Weitere 109 Mrd. € bis 2014 für die Griechenland-Rettung. 54 Mrd. € fließen dem griechischen Staat zu, der Rest dient der Absicherung einer privaten Gläubigerbeteiligung. Das Geld sollen die EFSF sowie der IWF zur Verfügung stellen. voraussichtlich bis Ende 2011
Europäischer Stabilitätsmechanismus (ESM) Der Euro-Rettungsschirm wird ab Juli 2013 zu einer dauerhaften Einrichtung. Die Euro-Länder zahlen ein Grundkapital von 80 Mrd. € ein, davon Deutschland allein 22 Mrd. Dieser Kapitalstock soll in den kommenden Jahren schrittweise aufgebaut werden. 27
Deutschland
DIETMAR HAWRANEK, ALEXANDER JUNG, PETER MÜLLER, CHRISTIAN REIERMANN, CHRISTOPH SCHULT, ANNE SEITH
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SPI EGEL-GESPRÄCH
„Natürlich müssen die Deutschen zahlen“ Der SPD-Politiker und frühere Finanzminister Peer Steinbrück, 64, plädiert für eine Neukonstruktion der Währungsunion – mit Euro-Bonds, festen Regeln und harten Sanktionen.
MANFRED WITT / DER SPIEGEL
nen Woche noch gegen die EFSF-Reform stimmte, ist nun dafür. „Wir brauchen die neuen Instrumente der EFSF gerade im Falle einer Pleite Griechenlands“, sagt der wirtschaftspolitische Sprecher der CSU-Landesgruppe Georg Nüßlein. Die hält der CSU-Mann für unausweichlich, genauso wie einen Austritt des Hellenenstaates aus der Euro-Zone. „Die Griechen müssen austreten, sie kommen in der EuroZone nicht mehr auf die Beine.“ Diese Einschätzung wird inzwischen geteilt in der Koalition. Der hessische Ministerpräsident und stellvertretende CDU-Vorsitzende Volker Bouffier drängt darauf, möglichst rasch Austrittsmöglichkeiten für die Griechen aus der EuroZone zu schaffen. „Wenn die Spar- und Reformanstrengungen der griechischen Regierung nicht erfolgreich sind, müssen wir uns auch die Frage stellen, ob wir nicht neue Regeln brauchen, die den Austritt eines Eurolandes aus der Währungsunion ermöglichen.“ Auch Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich hatte vergangenen Montag in der CSU-Landesgruppe klargestellt, dass Griechenland auf diesem Wege seine Probleme am besten lösen könne. Der FDP-Finanzexperte Hermann Otto Solms fordert dies schon länger. Sollte Griechenland die Auflagen nicht erfüllen, „ist es womöglich der bessere Weg, dass das Land aus der Euro-Zone aussteigt.“ Die Turbulenzen werden nicht so schnell vorbei sein – im Gegenteil: Spätestens im Dezember steht die Abstimmung über den permanenten Rettungsschirm ESM an, der die EFSF ab 2013 ersetzen soll. Dann wird Merkels Parlamentsmehrheit erneut getestet. Die Gegner der Euro-Rettung in der FDP rüsten schon jetzt zur Entscheidungsschlacht. Noch bevor der Bundestag über den ESM abstimmt, sollen die rund 66 000 Mitglieder der Partei dazu befragt werden. „Die Diskussion in der FDP über weitere Rettungsmaßnahmen für überschuldete Staaten in Europa ist eine wichtige politische Frage und erfordert eine breite Diskussion in der FDP“, heißt es in einem Schreiben, das Generalsekretär Christian Lindner vergangenen Freitagnachmittag zugestellt wurde. Zu den Unterzeichnern des Briefes gehört nicht nur der unermüdliche EuroSkeptiker Frank Schäffler, sondern auch das liberale Urgestein Burkhard Hirsch. Wenn sich ein Drittel der Mitglieder an der Befragung beteiligt und sich die Mehrheit davon gegen den ESM ausspricht, wäre das die offizielle Beschlusslage der Partei. Dann wäre die Euro-Rettung der schwarz-gelben Regierung am Ende – und die Koalition gleich mit.
Finanzpolitiker Steinbrück: „Das Geld ist gut investiert in unsere Zukunft“ SPIEGEL: Herr Steinbrück, bisher sind alle
Bemühungen, die Euro-Krise zu beenden, gescheitert. Warum sagt eigentlich kein Politiker, dass die Gemeinschaftswährung, so wie sie einmal konzipiert und den Bürgern verkauft wurde, gar nicht zu retten ist? Steinbrück: Wie kommen Sie denn auf die Idee, dass der Euro nicht zu retten sei? SPIEGEL: Weil sich gezeigt hat, dass in der Währungsunion zu unterschiedliche Volkswirtschaften zusammengeschweißt wurden und dass diese Unterschiede durch den Euro nicht kleiner, sondern größer wurden. Steinbrück: Das ist unbestritten. Die Verschuldung und die Wettbewerbsfähigkeit sind auseinandergedriftet. Aber deshalb wird der Euro nicht verschwinden. Wir können lange darüber streiten, wie viele und welche Mitgliedstaaten die EuroZone Ende dieses Jahrzehnts umfassen D E R
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wird, wenn wir diese Drift nicht in den Griff kriegen. Aber dass der Euro weiter existieren und in seiner Bedeutung als Weltwährung eher zunehmen wird, darauf würde ich wetten. SPIEGEL: Fragt sich nur, in welcher Form. So wie er in den Europäischen Verträgen festgeschrieben wurde, wird er jedenfalls nicht überleben. Steinbrück: Wenn Sie meinen, dass sich die Konstruktion des Euro, seine Verankerung in einem europäischen Regelwerk, ändern wird, dann stimme ich Ihnen zu. SPIEGEL: Er wird eine Haftungs- und Transferunion sein – und damit etwas ganz anderes, als einmal beschlossen wurde. Kein Land, so steht es in den Verträgen, solle für die Schulden eines anderen eintreten. Steinbrück: Das war ein Irrtum, der an den Realitäten der Krise zerschellte. Diese
Institutionen abgeben müssen. Es wird seine nationalen Haushaltsentwürfe genehmigen lassen und sich einer makroökonomischen Überwachung unterwerfen müssen. SPIEGEL: Das Haushaltsrecht des jeweiligen Landes wird also stark eingeschränkt. Steinbrück: Ja, aber das ist nichts anderes als das, was auch der Internationale Währungsfonds in Krisenländern macht. SPIEGEL: Und wenn sich die jeweiligen Regierungen diesem Regime nicht unterwerfen, weil etwa die strengen Sparauflagen zu Unruhen in der Bevölkerung führen? Steinbrück: Dann bekommen sie keine Euro-Bonds.
kurven gibt, müssten wir morgens im Bett bleiben und uns die Decke über den Kopf ziehen. SPIEGEL: Dennoch: Wie wollen Sie sicherstellen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt? Steinbrück: Die europäischen Institutionen, die Auflagen aussprechen und deren Einhaltung überwachen, müssen unabhängig sein, sie dürfen auch nicht politisch ausgehebelt werden. SPIEGEL: Bedarf es dazu einer Änderung der Europäischen Verträge? Steinbrück: In vielen Fällen ja. Wir müssen genau unterscheiden, welche Überlegun-
HARTMUT SCHWARZBACH / ARGUS
politische Lebenslüge hätte schon vor eineinhalb Jahren eingestanden und erklärt werden müssen. SPIEGEL: War es eine Notlüge, weil die Politik glaubte, ansonsten die Währungsunion nicht durchsetzen zu können? Steinbrück: Man hat damals zu sehr auf innenpolitische Stimmungen und Ressentiments Rücksicht genommen – nach dem Motto: Die Deutschen sollen nicht der Zahlmeister Europas sein. SPIEGEL: Und künftig sollen sie es sein? Steinbrück: Man muss den Menschen erklären, dass dieses Europa die Antwort ist auf 1945 und auf das 21. Jahrhundert in
Handelssaal der Deutschen Börse in Frankfurt: „Einzelne ahnen möglicherweise, dass sie an dem Ast sägen, auf dem sie sitzen“
einer sich dramatisch verändernden Welt mit neuen Schwergewichten. Und dass Deutschland politisch, ökonomisch und gesellschaftlich von der weiteren Integration Europas profitiert. Das bedeutet: Natürlich müssen die Deutschen zahlen. Aber das Geld ist gut investiert in unsere und die Zukunft Europas, in Frieden und Wohlstand. Dieses Erklärungsmuster fehlt. Die Politik hätte eine neue Erzählung über Europa erfinden müssen, die nicht zuletzt auch den deutschen Zahlungsbeitrag gegenüber der eigenen Bevölkerung rechtfertigt. SPIEGEL: Wie soll die künftige Währungsunion konstruiert sein? Steinbrück: Ein Land, das zum Beispiel von Euro-Bonds … SPIEGEL: … also von Anleihen, für die die ganze Euro-Zone bürgt … Steinbrück: … profitieren will, wird einen Teil seiner Budgethoheit an unabhängige
SPIEGEL: Und dann? Steinbrück: Dann werden diese Länder auf
sich selbst zurückgeworfen und müssen sich allein helfen. Man darf mit keiner Sanktion drohen, wenn man nicht bereit ist, sie auch zu vollziehen. SPIEGEL: Mit der Konsequenz, dass ein Euro-Mitglied zahlungsunfähig wird? Steinbrück: Im Extremfall geht es dann um ein geordnetes staatliches Insolvenzverfahren. SPIEGEL: Wenn wir Sie richtig verstehen, soll es eine Art Währungsunion 2.0 mit neuen, strengen Regeln geben. Warum soll jemand glauben, dass – im Gegensatz zur alten Währungsunion – die Regeln und Versprechungen in der neuen eingehalten werden? Steinbrück: Der Knall war ja ziemlich laut, jeder hat ihn gehört. Wenn wir nicht überzeugt wären, dass es auch politische LernD E R
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gen auf eine Änderung der Europäischen Verträge hinauslaufen. Die können Sie erst mal vergessen. Was viele Politiker zurzeit leichtfertig mit wohlklingenden Begriffen in die Debatte werfen, ist nicht schnell zu haben, weil Ratifizierungsverfahren und Volksabstimmungen – vor dem Hintergrund einer europaskeptischen Grundstimmung in vielen Ländern – der schnellen Verwirklichung dieser Ideen entgegenstehen. SPIEGEL: Gilt das auch für die Euro-Bonds? Steinbrück: Sie können Euro-Bonds auch durch das De-facto-Handeln der Regierungschefs einführen, aber dann haben Sie keine europäische Institution, die diese emittiert und die damit verbundenen Auflagen kontrolliert und bei Verletzungen sanktioniert. Und das wäre eine ganz wichtige Voraussetzung für die Zustimmung zu Euro-Bonds. 29
Deutschland
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die nationalen Parlamente abgesegnet werden, muss die EZB weiter einspringen. Mancher Politiker mag das sogar für die schönste aller Welten halten, denn die EZB hat eine unbegrenzte Feuerkraft, sie kann sich das Geld notfalls selbst drucken. Steinbrück: Wenn wir Ende September tatsächlich keine Legitimierung der Beschlüsse des Europäischen Rates vom 21. Juli haben, würde ein ganz anderes Szenario Wirklichkeit: Dann kriegt Griechenland kein Geld mehr. Es kann keine Gehälter und keine Renten mehr zahlen, griechische Banken fallen, viele Griechen schaffen ihr Geld ins Ausland. Dann müssen wir uns ganz warm anziehen. SPIEGEL: Halten Sie dieses Szenario für wahrscheinlich? Steinbrück: Nein. Es kommt nicht so weit, weil es nicht so weit kommen darf. SPIEGEL: Und was ist, wenn die sogenannte Troika, die Vertreter des IWF, der EZB und der EU, in den nächsten Tagen zu dem Ergebnis kommt, dass die Griechen sich nicht ernsthaft genug anstrengen, die mit den Hilfszahlungen verbundenen Auflagen zu erfüllen? Soll dann die nächste Tranche der Griechenland-Hilfe dennoch ausbezahlt werden? Steinbrück: Wohlwollende Nachlässigkeit im Umgang mit Defiziten und Versäumnissen in der Euro-Zone gilt nicht mehr. Wenn die Anforderungen an Griechenland nicht ernst genommen werden, landen wir im Treibsand. Im schlechtesten Fall wird deshalb eine Tranche nicht ausgezahlt werden dürfen. Das sollten die Griechen in eigenem Interesse nicht testen. SPIEGEL: Kann Griechenland auf Dauer in der Währungsunion bleiben? Steinbrück: Das entscheidet Griechenland selbst. SPIEGEL: Auch in Italien scheint es am politischen Willen zu fehlen, den Haushalt in Ordnung zu bringen. Ist Italien ein neuer Fall Griechenland? Steinbrück: Italien hat jedwedes Potential, um mit den Schwierigkeiten fertig zu werden. Sein Problem ist ein rein politisches – und das hat einen bekannten Namen. SPIEGEL: Größere Rettungsschirme, EuroBonds, Aufkauf von Staatsanleihen und
MANFRED WITT / DER SPIEGEL
SPIEGEL: Euro-Bonds werden doch von Ihrer Partei als Lösung der Euro-Probleme angepriesen … Steinbrück: … das ist ja nicht falsch. SPIEGEL: … ohne zu sagen, dass dieses Mittel in absehbarer Zeit gar nicht zur Verfügung stehen kann. Steinbrück: Deshalb differenziere ich ja hier als Vertreter der SPD. Keiner von uns behauptet, sie wären das Allheilmittel. SPIEGEL: Wenn also Euro-Bonds, über deren Vor- und Nachteile sich lange streiten ließe, auf absehbare Zeit gar nicht zur Verfügung stehen: was dann? Steinbrück: Die Regierungen haben ja bereits etwas beschlossen, was Euro-Bonds sehr nahekommt, sie gestehen es bloß nicht ein: Der Rettungsfonds EFSF soll direkt bei Banken Staatsanleihen aufkaufen können … SPIEGEL: … um deren Kurse zu stützen und die Märkte zu beruhigen. Steinbrück: Aber was passiert, wenn eines der Länder diese Staatsanleihen nicht zurückzahlen kann? Dann haften die EuroLänder pro rata. Das ist der Eintritt in eine Haftungsunion. Die Kanzlerin kann das nur nicht zugeben, weil sonst die Hälfte ihrer Fraktion durch die Decke des Bundestags gehen würde. Mich stört diese Doppelzüngigkeit. SPIEGEL: Ist denn mit den bisherigen Mitteln die Krise so lange zu meistern, bis die Europäischen Verträge geändert sind und die auch von Ihnen propagierten EuroBonds für Entlastung sorgen können? Steinbrück: Die offene Antwort lautet: Das weiß ich nicht. SPIEGEL: Würden Sie denn zur Not auch für Euro-Bonds ohne Änderung der Verträge plädieren? Steinbrück: Wenn wir mit den bisherigen Maßnahmen keine Stabilisierung der Verhältnisse erreichen, werden wir auf jeden Fall diese Debatte bekommen. SPIEGEL: Wird dann auch der Aufkauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank, die EZB, weitergehen? Steinbrück: Ich war immer dagegen, weil sich die EZB auf ihre geldpolitische Funktion beschränken sollte. Aber ich kritisiere die EZB nicht: Sie ist durch das Versagen der politischen Akteure im Mai 2010 zum Handeln gezwungen worden. Aber sie hat jetzt Staatsanleihen für 129 Milliarden Euro auf der Bilanz – und damit auch entsprechende Risiken. Ich bin dafür, dass diese Staatsanleihen auf die Gesellschaft EFSF übertragen werden. SPIEGEL: Wenn die EFSF diese 129 Milliarden übernimmt und weiterhin Staatsanleihen aufkauft, wird auch sie bald an ihre Grenzen stoßen. Muss sie dann weiter aufgestockt werden? Steinbrück: Ich werde jetzt keinen Stein ins Wasser werfen, der so hoch spritzt, dass sich alle wieder aufregen. SPIEGEL: Wenn die Gipfelbeschlüsse vom 21. Juli bis Ende September nicht durch
Steinbrück beim SPIEGEL-Gespräch*
„Die Politik ist erpressbar geworden“ D E R
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Protest gegen Sparmaßnahmen der italienischen
was noch alles kommen mag: Kann es sein, dass der Preis, den Deutschland für Europa zahlen muss, am Ende zu hoch sein wird? Steinbrück: Das weiß keiner. Bisher haben wir noch keinen Cent gezahlt, aber Garantien gegeben. Wir müssen unter höchster Unsicherheit politisch verantwortlich handeln – im Interesse Deutschlands und Europas. Nur muss die Regierung den Deutschen das erklären. Die deutsche Wiedervereinigung hat innerhalb von 20 Jahren 2000 Milliarden Euro gekostet, im Durchschnitt also 100 Milliarden jedes Jahr. Deshalb sollten wir uns fragen: Sind wir nicht bereit, für die Einheit Europas über mehrere Jahre ein Zehntel davon zu bezahlen? SPIEGEL: Mit einem Zehntel wird man nicht hinkommen. Steinbrück: Woher wollen Sie das wissen? Mich stört, dass irgendwelche Wirtschaftsinstitute behaupten, die Einführung von Euro-Bonds koste Deutschland über zehn Jahre 20 bis 25 Milliarden … SPIEGEL: … das Münchner Ifo-Institut spricht langfristig sogar von 47 Milliarden – pro Jahr. Steinbrück: Das ist doch Schwachsinn. Werfen Sie diese Studien in den Ascheimer! Die berücksichtigen nicht, wie sich die Nachfragestrukturen verändern. Ein Euro-Bond-Markt wäre der zweitgrößte und neben dem Dollar der liquideste Markt für Staatsanleihen. Er wäre * Mit den Redakteuren Georg Mascolo und Armin Mahler in der Hamburger Redaktion.
STEFANO RELLANDINI / REUTERS
Steinbrück: Einzelne ahnen möglicherwei-
Regierung in Mailand: „Das Problem hat einen bekannten Namen“
etwa für die Chinesen attraktiv, die ihre Anlagestrategie sehr wohl differenzieren könnten. Das würde auf die Zinsen drücken. SPIEGEL: Hätte die Spekulation dann keine Chance mehr? Steinbrück: Es gibt nicht die eine Maßnahme, die alle Probleme löst. Wenn Europa neben Euro-Bonds und allen anderen Maßnahmen nicht das zentrale Problem der Staatsverschuldung angeht, dann werden die Märkte nicht zur Ruhe kommen. SPIEGEL: Ist es realistisch, dass sich Ihre Forderungen durchsetzen lassen? Steinbrück: Ich halte es für realistisch, weil der Problemdruck so groß ist und vielen Beteiligten klargeworden ist, dass sich durch ein Durchwursteln die Situation nicht in den Griff kriegen lässt. Wir haben viel Zeit verloren, auch weil die Bundeskanzlerin auf der ganzen Wegstrecke viele Pirouetten gedreht hat – angefangen mit dem Satz: Die Griechen kriegen keinen Cent. SPIEGEL: Frau Merkels Umfeld erklärt deren zögerliche Haltung bei der Griechenland-Hilfe damit, dass die Griechen nur auf diese Weise zu Zugeständnissen hätten gezwungen werden können. Steinbrück: Da wird ein Finassieren und Stolpern im Nachhinein zur Strategie erklärt. SPIEGEL: Was hätten Sie anders gemacht? Steinbrück: Es hätte ein sehr frühes Signal geben müssen, dass die europäische Staatengemeinschaft die gemeinsame Währung nicht kaputtschießen lässt.
Mich hat sehr gewundert, dass die Regierung damals nicht einen Auftritt inszeniert hat, wie Frau Merkel und ich es bei der Garantie für die deutschen Spareinlagen im Oktober 2008 gemacht haben. Die Bundeskanzlerin, der französische Staatspräsident, der EZB-Präsident, der Vorsitzende der Euro-Gruppe, der Kommissionspräsident – sie alle hätten sich an einem Sonntag im Mai 2010 hinstellen und erklären müssen: Wir lassen die Euro-Zone nicht angreifen. Die begebenen Staatsanleihen sind sicher. Und dann hätten sie ein Konstrukt liefern müssen, wie diese Zusage unterfüttert wird. SPIEGEL: Also eine generelle Garantie für Staatsanleihen? Steinbrück: Ja, aber natürlich wäre diese Garantie mit strengen Auflagen für die betroffenen Länder verbunden gewesen. SPIEGEL: Haben Sie eine Erklärung dafür, dass das Krisenmanagement der Regierung in Teil zwei der Finanzkrise so viel schlechter als im ersten Teil ist? Steinbrück: Eine für die SPD zugegebenermaßen schmeichelhafte Erklärung ist, dass das Personal damals besser war. Es gab etliche starke Mitglieder im Kabinett der Großen Koalition – im Gegensatz zur heutigen Aufstellung. SPIEGEL: Ist eigentlich die Finanzkrise schuld an der Staatsschuldenkrise? Steinbrück: Nein, aber sie hat sie verschärft, sie war wie ein Katalysator. SPIEGEL: Sehen Sie bei den Akteuren der Finanzmärkte so etwas wie Einsicht in das, was sie angerichtet haben? D E R
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se, dass sie an dem Ast sägen, auf dem sie sitzen. Aber die Mehrheit hat kein Gefühl dafür, dass jede Übertreibung und jede krasse Benachteiligung eine Gegenbewegung auslöst. Die kann sogar gewalttätig werden, wie man in England sehen konnte. Den Protagonisten, die von diesem System teilweise mit schwindelerregenden Summen profitieren, nehme ich übel, dass sie keinen Sinn für Maß und Mitte, für Balance und Fairness haben und weitermachen wie bisher. SPIEGEL: Muss nicht der Staat die Grenzen setzen, um solche Exzesse zu verhindern? Steinbrück: Natürlich. Aber ich vermisse, dass die Organisationen des Finanzkapitalismus bis hin zum Internationalen Bankenverband selbst ehrgeizig und proaktiv daran arbeiten, Regeln zu entwerfen, die mäßigend und stabilisierend wirken. Die dahinterliegende Frage ist doch: Bewegt sich diese Art des Finanzkapitalismus nicht in eine moralische Krise? Und bei wem liegt der Primat: bei der Politik? Oder bei völlig anonymisierten entgrenzten Finanzmärkten, die darauf hinwirken, dass Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden? SPIEGEL: Wie lautet Ihre Antwort? Steinbrück: Die Politik ist erpressbar geworden. Ständig sagen uns die Akteure der Finanzmärkte: Wenn wir nicht hohe Boni zahlen, verlieren wir die besten Leute. Wenn Sie uns nicht stützen, wird es Erschütterungen geben, die Ihnen die Beine wegfegen. So wird Politik diszipliniert und der Status quo festgeschrieben. SPIEGEL: Warum gibt es in einer solchen historischen Stunde keine Große Koalition? Steinbrück: Weil die SPD für ihre gute Arbeit in der Großen Koalition keine politische Rendite bekam. SPIEGEL: Das ist kein gutes Argument, wenn es sich wirklich um eine historische Stunde handelt. Steinbrück: Wir haben es nicht mit einer Staatskrise zu tun, in der die SPD dem Grundsatz „Erst das Land, dann die Partei“ folgen müsste. Wenn diese Regierung vor einem Offenbarungseid steht, soll sie sich dem Votum der Bürger stellen. SPIEGEL: Glauben Sie, dass die Bundesregierung bei der Abstimmung über den erweiterten Rettungsschirm eine eigene Mehrheit haben wird? Steinbrück: Ja, die disziplinierende Wirkung wird sehr groß sein. Denn wenn sie keine eigene Mehrheit hätte, würde die Regierung ja noch näher an die Wand geraten. SPIEGEL: Eine Frage haben wir noch: Wenn es Neuwahlen gäbe, wer wäre dann Kanzlerkandidat der SPD? Steinbrück: Wir wollten doch jetzt zum Mittagessen gehen. SPIEGEL: Herr Steinbrück, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. 33
Abstimmung im Bundestag
MARC-STEFFEN UNGER
Deutschland
ABGEORDNETE
Niemand ist unerschrocken Für die Lösung der Euro-Krise gibt es keine Vorbilder.
J
emand geht zur Arbeit, und der Auftrag ist: Europa retten. Jemand geht zur Arbeit, und der Auftrag ist: Deutschland abschaffen. Jemand geht zur Arbeit, und das Risiko seines Wirkens ist: Griechenland wird ruiniert. Jemand geht zur Arbeit, und das Risiko seines Wirkens ist: Der Euro zerfällt, und die Welt stürzt in eine neue Wirtschaftskrise. 620 Deutsche gehen derzeit mit solchen Aufträgen und Risiken zur Arbeit. Sie sind Lehrer, Elektrohandwerksmeister, Tischlerin, Journalist, Anwalt, Bauer. Sie sind Abgeordnete des Deutschen Bundestags und sollen in den kommenden Wochen und Monaten darüber entscheiden, was mit dem Euro wird, was mit Europa wird. Manche überlegen, ob sie die Vereinigten Staaten von Europa gründen sollen und damit Deutschland als Nationalstaat auflösen. Manche überlegen, ob sie dem größeren Rettungsschirm ihre Zustimmung verweigern sollen und damit womöglich den Euro preisgeben. Manche überlegen, ob sie Griechenland fallenlassen sollen, auch wenn dann Europa versagt hätte vor den Augen der Welt und sich die Finanzmärkte womöglich Portugal oder Irland vorknöpfen. Niemand bleibt da unerschrocken. 620 Deutsche können derzeit Fehler machen, über die man noch in hundert Jahren Bücher schreiben wird. Sie haben Angst davor. Angst ist derzeit einer der stärksten Faktoren der Politik. Es gibt einen gna34
denlosen Richter für all diese Entscheidungen. Das ist nicht Gott, das sind die Finanzmärkte. Sie lassen die Politiker flüstern und zittern. Nur nichts Falsches sagen, nur nichts Falsches tun. Wohin bewegt sich der Dax? Wie sind die Renditen für Staatsanleihen? Wo stehen die Wechselkurse? Ängstliche Augen vor Bildschirmen und über Handy-Displays. Nach welchen Kriterien sollen die Politiker entscheiden? Jede Entscheidung beginnt mit einem Blick nach vorn, mit einer Vorstellung von den Folgen der Entscheidung. Diese Vorstellung speist sich fast immer aus einem Blick zurück. Wie war es in ähnlichen Fällen? Aber das geht diesmal nicht. Die 620 Abgeordneten bekommen zwar Ratschläge alter Kämpen wie Helmut Kohl, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder, aber die haben nicht erlebt, was jetzt passiert. Eine Schuldenkrise in einer Währungsunion unter der Aufsicht hochvernetzter Finanzmärkte hat es nie gegeben. Die Politiker müssen ohne Vergangenheit entscheiden, ohne Verankerung also. Das macht Angst. Sie müssen auch ohne brauchbare Hilfe von Experten entscheiden. Ein Experte ist jemand, der viel weiß über das, was war und ist, und daraus Schlüsse für die Zukunft zieht. Da es keine Vergangenheit in dieser Sache gibt, gibt es auch keine verlässlichen Experten. Niemand kann den Politikern einen guten Rat geben, ob es besser ist, Griechenland ewig durchD E R
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zuziehen oder Griechenland sofort fallenzulassen. Die Abgeordneten sind allein mit ihrer Entscheidung. Auch das macht Angst. Die Folgen eines Fehlers können unermesslich sein. Wenn es falsch gewesen sein würde, Griechenland fallenzulassen, dann kippt bald Spanien, dann kippt Italien und so weiter und so fort. Dann drohen Bankenpleiten, Chaos und Rezession, und Europa würde in der Welt nicht mehr ernst genommen. Verantwortlich dafür wären die Abgeordneten des 17. Deutschen Bundestags. Wenn es falsch gewesen sein würde, Griechenland weiter mit durchzuziehen, dann machen vielleicht bald die Finnen oder die Niederländer nicht mehr mit, dann muss Deutschland noch mehr zahlen, und die Inflation steigt. Vielleicht findet sich ein Rechtspopulist, der deutschen Zorn gegen die Griechen in Stimmen umwandelt. Verantwortlich dafür wären die Abgeordneten des 17. Deutschen Bundestags. Und wenn sie demnächst das tun, was beispielsweise Ursula von der Leyen fordert, und die Vereinigten Staaten von Europa bauen, dann würde der recht annehmbare Staat Bundesrepublik Deutschland verschwinden. Er würde durch einen Staat ersetzt, von dem niemand weiß, ob er ähnlich annehmbar sein kann. Aber dann gibt es nur schwerlich ein Zurück, eine Sezession. Es muss so schlimm nicht kommen. Aber es kann. Und das ist in den Köpfen der 620 Parlamentarier, und zu denen gehört auch die Abgeordnete aus dem Wahlkreis 15, Angela Merkel, Diplomphysikerin und Bundeskanzlerin. Sie ist genauso ratlos und ängstlich wie die anderen. Muss das den Bundesbürgern Angst machen? Es wäre beruhigend, eine Bundeskanzlerin und ein Parlament zu haben, die Durchblick vorgeben, die eine Lösung kennen und diese einig und entschlossen durchsetzen. Aber es kann sie nicht geben, auch wenn die Politiker das eine oder andere besser machen könnten. Wenn jetzt jemand entschlossen führt, kann er mit hoher Wahrscheinlichkeit in die falsche Richtung führen, denn er führt ohne Gewissheiten. Worauf Deutschland vertrauen muss, das ist etwas, was gerade bei schwachen, also ängstlichen Wesen vorkommt: Schwarmintelligenz. Demokratien sind umständlich, sind langsam, aber sie sind auch ein großer Erfolg. Die Debatten der Vielen haben oft gute Ergebnisse hervorgebracht. Man kann nur hoffen, dass die Abgeordneten in diesen Debatten einen Sinn für das entwickeln, was sich einmal als das Richtige herausstellen kann. Dies ist nur ein kleiner Trost, stimmt, aber mehr gibt es in dieser Lage nicht. DIRK KURBJUWEIT
Bundesbildungsministerin Schavan (M.) in einem Versuchsbergwerk in Freiberg
FORSCHUNGSPOLITIK
Geld oder Macht Hochschulen sind Ländersache, doch in wachsendem Maß finanziert sie der Bund. Bildungsministerin Schavan (CDU) will ihren Einfluss ausdehnen, Kultusminister wehren sich.
S
o eine Gelegenheit bekommt Annette Schavan selten. „Jetzt kann ich endlich mal etwas in die Luft sprengen“, sagt die Bundesministerin für Bildung und Forschung. Es ist der vorvergangene Montag, Schavan eröffnet an der Technischen Universität in Freiberg das „Helmholtz-Institut für Ressourcentechnologien“, das hauptsächlich der Bund finanziert. Die Ministerin steht in einer Kammer 150 Meter tief in der Erde und drückt auf einen Knopf. Schon knallt es im sächsischen Versuchsbergwerk, Schavan schaut zufrieden drein. Wenn sich in der Politik nur immer so einfach Erfolge erzielen ließen, doch meistens können hier die Probleme nicht per Knopfdruck beseitigt werden. Das „Kooperationsverbot“ im Grundgesetz zum Beispiel verbietet es dem Bund seit 2006, Universitäten ohne Zustimmung aller Bundesländer zu fördern. Schavan dagegen hält Hochschulunterstützung für eine ihrer wichtigsten Aufgaben, und so muss sie die Regel, wie im Fall des Freiberger Instituts, aufwendig umkurven. Jedes einzelne Engagement des Bundes erfordert viele Diskussionen und manche Tricks, auf Dauer angelegt sein darf fast nichts. Manche Vorhaben finden Zustimmung, aber oft bleibt es bei Pilotprojek36
ten ohne Fortsetzung. Zum abschreckenden Beispiel dafür droht ausgerechnet die „Exzellenzinitiative“ zu werden. Der Wettbewerb der Universitäten geht gerade als größtes Gemeinschaftswerk in der Hochschulförderung in seine dritte Phase. Anfang September haben 16 deutsche Universitätsrektoren ihre „Zukunftskonzepte“ für die neue Wettbewerbsrunde eingereicht. „Ambitioniert und agil“, lautet der Slogan der Universität Bremen. Dresden feiert sich als „Synergetische Universität“, Mainz beschwört „The Gutenberg Spirit“ und Tübingen setzt auf „Research – Relevance – Responsibility“. 2,7 Milliarden Euro stellen Bund und Länder zwischen 2013 und 2017 bereit, um Nachwuchswissenschaftler in Graduiertenschulen und Forschungsgruppen in „Exzellenzclustern“ zu fördern – und eine kleine Gruppe von „Spitzenuniversitäten“ zu küren. Auch bei der Exzellenzinitiative zahlt der Bund einen Großteil der Kosten. Das hat inzwischen System. Seit Gründung der Republik sind die Bundesländer vollständig für die Hochschulen verantwortlich, die Kultushoheit zählt zum Kern ihrer Macht. Doch chronischer Geldmangel macht es ihnen schwer, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Diese KonstellaD E R
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ARNO BURGI / DPA
Deutschland
tion schafft nun die Gefahr, dass nach 2017 die Erfolge des Wettbewerbs wieder zunichtegemacht werden, weil die Länder die Projekte nicht allein bezahlen können. „Eine weitere Runde des Exzellenzwettbewerbs mit demselben Zuschnitt wird es nicht geben“, sagt Schavan. Zum „Herbst der Debatten“, den die Ministerin in der Bildungspolitik erwartet, wird deshalb die Frage zählen, wie es langfristig mit der Hochschulfinanzierung und der Eliteförderung weitergehen soll. Die Zwischenbilanz des Exzellenzwettbewerbs fällt durchaus positiv aus. Zwar gibt es Kritik, dass die politisch verordnete Leistungsschau eine Zweiklassengesellschaft entstehen ließ, in der auch gute Hochschulen leer ausgingen. Die Struktur ganzer Hochschulen sei mit Schönheitsoperationen verändert worden, nur um im Wettbewerb Erfolg zu haben, sagen Gegner. Doch der „tiefgreifende Umbau des deutschen Wissenschaftssystems“, von dem der Vorsitzende des Wissenschaftsrats, Wolfgang Marquardt, spricht, hat viele positive Folgen, wie zum Beispiel an der FU Berlin. Im Chemie-Bau, errichtet im kalten Siebziger-Jahre-Stil, haben die Professoren Rainer Haag und Stephanie Reich in den vergangenen Jahren einen Forschungsschwerpunkt namens NanoScale aufgebaut. Es geht um eine avantgardistische Technologie, bei der neuartige Materialien zum Beispiel für die Medizin aus winzigen Bauteilen erzeugt werden. Geforscht hätten Haag und Reich daran ohnehin. Doch erst der Exzellenzwettbewerb hat es ihnen erlaubt, überkommene Fächergrenzen zu sprengen und potente Partner aus ganz Berlin zusam-
menzuführen: „Wir heißen Jungforscher, fächerübergreifende Ideen und wilde Träume willkommen“, heißt es in ihrer Projektdarstellung. Viele Hochschulen haben zum ersten Mal überhaupt ihre Doktoranden gezählt und sich überlegt, mit welchen Forschungsthemen sie in Deutschland und der Welt bekannt werden wollen. Sie arbeiten nun mit großen Forschungsorganisationen wie der MaxPlanck-Gesellschaft zusammen. Allein neun neue Professuren konnte sich zum Beispiel die Uni Frankfurt am Main leisten, nachdem sie den Zuschlag für einen Exzellenzcluster im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften bekommen hatte. Die Gelehrten erforschen fächerübergreifend und weltweit die Folgen der Globalisierung. „Ohne die Mittel des Bundes wäre das alles gar nicht möglich gewesen“, sagt Rainer Forst, Professor für politische Philosophie ANZEIGE und Sprecher des Clusters. Vor allem hat der Exzellenzwettbewerb deutlich gemacht, wer in Deutschlands Hochschulpolitik noch Gestaltungsspielraum hat – der Bund. „Ich sehe die Bundesländer in Schwierigkeiten, wenn sie die Folgefinanzierung des Exzellenzwettbewerbs übernehmen sollen“, sagt Erich Thies, Generalsekretär der Kultusministerkonferenz. Er fordert deshalb eine Abschaffung des Kooperationsverbots. Wie fragil die Erfolge des Exzellenzwettbewerbs sind, wenn es keine langfristige Strategie und keine stärkere Rolle für den Bund gibt, zeigt das Beispiel Konstanz. Es hat sich viel getan auf dem Campus der Universität, seit sie 2007 zu den Siegern zählte. Schöner liegt kaum eine Universität in Deutschland, der Blick reicht bei guter Sicht bis zu den nahen Alpen. Hier läuft Wissenschaft de luxe. Auf dem Konstanzer Campus steht nun unter anderem das „Zukunftskolleg“. Rund 40 „Fellows“, junge Forscher aus der ganzen Welt, sind in schicken, lichtdurchfluteten Räumen versammelt und versuchen, das Reich des Nichtwissens zu verkleinern. Die Universitätsvertreter betonen, auch auf eine Niederlage in der neuen Runde sei die Hochschule selbstverständlich vorbereitet. Im Etat stammen aber von gut 130 Millionen Euro Einnahmen pro Jahr mehr als 20 Millionen Euro aus der Exzellenzinitiative – ein erheblicher Teil. Wenn er wegbricht, wird es schwer sein, die Aktivitäten fortzusetzen. Baden-Württembergs Wissenschaftsministerin Theresia Bauer (Grüne) fordert bereits, dass „die positiven Wirkungen der Exzellenzinitiative nicht verpuffen dürfen, sondern nachhaltig bleiben
müssen“. Zugleich spricht sie von der Absicht der baden-württembergischen Regierung, den Landesteil auch nach 2017 zu zahlen. Aber das wären eben nur 25 Prozent. Auch in Konstanz entfiele ein Großteil der Mittel, springt der Bund nicht ein. Philosophieprofessor Forst ist zwar optimistisch, dass das Frankfurter Projekt nach 2017 fortgesetzt werden kann. Es gebe bereits Absichtserklärungen des Landes und Zusagen der Universität. „Alle Professuren sind unbefristet finanziert, aber das derzeitige hohe Gesamtniveau der Förderung kann uns niemand dauerhaft garantieren“, sagt Forst. Grundsätzlich hält der Frankfurter Philosoph die Finanzierung durch den Bund für vernünftig. „Es entstehen doch keine Fremdkörper, sondern Einrichtungen, die eindeutig einen lokalen Bezug haben“,
sagt er. „Unser Exzellenzcluster knüpft an Frankfurter Traditionen an.“ In Bundesländern, die ärmer sind als Baden-Württemberg und Hessen, könnte im Extremfall allerdings alles zusammenbrechen, was mit dem Exzellenzwettbewerb mühsam aufgebaut worden ist. Bundesbildungsministerin Schavan ist guten Willens, das zu verhindern. Aber sie will nicht dauerhaft akzeptieren, dass der Bund die Sparkasse der Nation abgibt, ohne in der Hochschulpolitik eigenständig agieren zu können. Schavan weist weit von sich, dass sie den Ländern Kompetenzen wegnehmen wolle. „Es geht um produktive Kooperation in einem guten Geist“, sagt sie. Sie will aber deutlich mehr Macht und Spielraum für den Bund. Das bereitet sie Schritt für Schritt vor. Zusammen mit Kanzlerin Merkel hat Schavan es geschafft, den Etat des Ministeriums für Bildung und Forschung seit D E R
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2005 gegen den Spartrend um fast die Hälfte zu erhöhen. Egal wo in letzter Zeit Geldnot herrschte, ob beim Aufbau von Ganztagsschulen, bei der Rettung der Lübecker Medizinfakultät oder beim „Deutschlandstipendium“ für begabte Studenten, sie sprang ein. Schavan schafft Präzedenzfälle. Ab dem Wintersemester überweist sie Geld direkt an die Hochschulen, damit sie die Lehre verbessern können. Eine Milliarde Euro sind für den „Qualitätspakt“ bis 2016 vorgesehen. Die Ministerin hat „Deutsche Zentren der Gesundheitsforschung“ gegründet, mit denen die bundesnahe Helmholtz-Gemeinschaft Einfluss auf die Universitätsforschung ausübt. Sie hat dem chronisch überschuldeten Land Berlin angeboten, das landeseigene Charité-Klinikum in das Helmholtz-Zentrum BerlinBuch zu integrieren. Die Bundesbildungsministerin und stellvertretende CDUVorsitzende wird mit einer konkreten Initiative für eine Verfassungsreform wohl noch warten, bis sie den unionsinternen Streit um die Hauptschulen ausgestanden hat, vielleicht auch, bis die zehn bis zwölf Spitzenuniversitäten der letzten Wettbewerbsrunde gekürt sind. Aber dann will sie die Länder davon überzeugen, dass allen Seiten mit einer Reform der Föderalismusregeln gedient wäre. Viele Länderminister stemmen sich schon jetzt dagegen. „Ich glaube nicht, dass der Bund mehr Kompetenzen für die Hochschulen braucht“, sagt etwa der Wissenschaftssenator von Berlin, Jürgen Zöllner (SPD). Tatsächlich versuchen die Landespolitiker vor allem, das Problem zu verdrängen. Sie würden vor der schmerzlichen Wahl stehen, entweder auf Geld oder auf Macht verzichten zu müssen. Eine Entscheidung ist unausweichlich. Falls der Bund den Hochschulen auch nach dem Ende des Exzellenzwettbewerbs unter die Arme greifen wollte, wäre das aufgrund des „Kooperationsverbots“ kaum mehr möglich. Was dagegen getan werden muss, darüber ist sich Schavan ausnahmsweise mit ihrer Amtsvorgängerin einig, der SPDPolitikerin Edelgard Bulmahn, die den Exzellenzwettbewerb initiiert hat. Die beiden verbindet wenig bis gar nichts. Aber in der Frage der Bund-Länder-Kompetenzen und der Lehren aus dem Exzellenzwettbewerb sind sie einer Meinung. „Das Kooperationsverbot war eine der dümmsten politischen Weichenstellungen der letzten Zeit, es muss weg“, sagt Bulmahn. CHRISTIAN SCHWÄGERL, MARKUS VERBEET
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Troika Steinbrück, Gabriel, Steinmeier
STEPHANIE PILICK / DPA
Jeder ist einmal angetreten
SPD
Die Gezeichneten Die möglichen Kanzlerkandidaten Steinbrück, Steinmeier und Gabriel haben noch nie eine Wahl gewonnen. Doch was haben sie aus ihren Niederlagen gemacht?
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ür Olaf Scholz ist der Auftritt vorbei, als sich von rechts ein Schatten ins Bild schiebt. Scholz ist Hanseat, Erster Bürgermeister der Stadt Hamburg, eher leise, zurückhaltend, er steht in einer kleinen Gruppe und plaudert, als der Schatten stehen bleibt. Er gehört zu Peer Steinbrück, Hanseat, Bundestagsabgeordneter, eher laut und eher nicht so zurückhaltend, er kräht: „Stör ich?“ Kopfschütteln, gemurmelte Neins. Scholz weiß, was jetzt kommt. Es ist ein warmer Abend in Berlin, kurz vor der Sommerpause, die SPD-Bundestagsfraktion hat zu einem Fest ins Haus der Kulturen der Welt geladen, Steinbrück übernimmt das Gespräch. Die Gruppe um ihn herum wird schnell größer, es sind vor allem Reporter, sie bilden einen Halbkreis, richten sich auf Steinbrück aus wie Nadeln auf einen Magneten. Scholz steht jetzt am Rand. Steinbrück scherzt, trinkt, raucht. Steinbrück ist das Ereignis des Abends. 38
Er sagt, dass er jetzt mal in den Urlaub fahren und ein paar Wochen lang die Klappe halten werde. Ein Reporter bringt ihm ein neues Glas Wein. Er erzählt, welche Bücher er im Urlaub lesen werde. Ein Reporter bringt ihm eine Zigarette, die er eigens außerhalb des Halbkreises besorgt hat. Und eine Reporterin fragt Steinbrück, ob er nicht auch finde, dass die frühen Romane des John le Carré besser seien als die späteren. „Ab-so-lut“, näselt Steinbrück. Das ist der Moment, in dem Olaf Scholz sich auf den Heimweg macht. Scholz hat vor einem halben Jahr bei der Wahl in Hamburg die absolute Mehrheit geholt. Steinbrück hat noch nie eine größere Wahl gewonnen, er hat 2005 Nordrhein-Westfalen an die CDU verloren, nach fast vier Jahrzehnten sozialdemokratischer Regierung. Scholz ist ein Wahlsieger, Steinbrück ein Wahlverlierer, man merkt davon an diesem Abend nichts. In den kommenden Wochen aber wird davon die Rede sein. D E R
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Am nächsten Sonntag wählen die Berliner ihr Abgeordnetenhaus, alles deutet darauf hin, dass Klaus Wowereit nach dieser Wahl weiterhin Regierender Bürgermeister sein wird. Es wäre sein dritter Wahlsieg in Folge, und es gibt in der SPD einige Leute, die den Wahlsonntag kaum abwarten können. Sie wollen der Debatte um die Kanzlerkandidatur endlich eine neue Wendung geben und Wowereit ins Spiel bringen. Ihnen geht es vor allem darum, Steinbrück zu schaden. Wie man das macht, zeigte in der vergangenen Woche Michael Sommer: Der nächste SPD-Kanzlerkandidat solle möglichst schon mal eine Wahl gewonnen haben, sagte der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Das hat bisher weder Steinbrück geschafft noch die beiden anderen Aspiranten, Parteichef Sigmar Gabriel und Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier. Sie bilden die aktuelle SPDTroika, und sie alle sind Wahlverlierer. Jeder von ihnen ist genau einmal als Spitzenkandidat angetreten. Steinbrück hat Nordrhein-Westfalen verloren, das gelobte Land der Sozialdemokratie. Gabriel hat Niedersachsen verloren, das Erbe Gerhard Schröders. Steinmeier hat bei der Bundestagswahl vor zwei Jahren 23 Prozent eingefahren. Danach hieß es, dies sei das Ende der SPD als Volkspartei. Für einen Kandidaten Wowereit sprechen die Siege. Aber können auch Niederlagen für eine Kandidatur sprechen? Frank-Walter Steinmeier leidet. Es ist das Ende eines langen Tages in Mecklenburg-Vorpommern, kurz vor der Landtagswahl dort, im Schweriner Seglerheim hat sich die örtliche SPD versammelt, um gemeinsam das Fernsehduell der Spitzenkandidaten anzusehen. Bratwurst, Nackensteak, Kartoffelsalat, Bier. Steinmeier sitzt in der ersten Reihe und hat Mitleid mit dem Spitzenkandidaten der CDU. Der heißt Lorenz Caffier und ist immerhin Landesinnenminister in der Großen Koalition, wird aber gerade von seinem Chef Erwin Sellering vorgeführt. Steinmeier zieht einen kleinen Stapel Organspendeausweise aus der Tasche, die er vorhin verteilen wollte. Er fächert sie auf, schiebt sie wieder zurück, auf, zurück. Caffier sieht immer schlechter aus, er greift seinen Chef nicht einmal an, als der mit der Linken kokettiert. Steinmeier sagt leise: „Das tut weh.“ Er hat jetzt seinen Autoschlüssel aus der Tasche gezogen, er drückt auf den Knopf, der Schlüssel klappt auf, er biegt ihn zurück, drückt wieder. Klick, klack, klick, klack. Irgendwann sagt er: „Der hat doch gar keine Chance, der andere, ne.“ Klick, klack. Der Sozialdemokrat Steinmeier sieht dabei fast so traurig aus wie der traurige CDU-Mann Caffier.
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in seinem politischen Leben so entscheidend, jener Februar 2003. Wie Steinbrück hatte auch er das Amt des Ministerpräsidenten geerbt, von seinem Vorgänger Gerhard Glogowski, der es von Gerhard Schröder geerbt hatte. Und auch bei Gabriel spielten die Umstände eine große Rolle. In Berlin stolperten SPD und Grüne durch die ersten Monate ihrer zweiten Legislaturperiode, und als Gabriel die Vermögensteuer zu seinem Wahlkampfschlager machen wollte, grätschte Schröder ihm dazwischen: Die werde es unter ihm nicht geben. Gabriel verlor die Wahl, er war Anfang vierzig, er zweifelte, haderte, wollte raus aus der Politik. Ließ sich überreden, doch den Fraktionsvorsitz im Landtag zu übernehmen, machte ein bisschen Opposition, gründete eine Firma und ließ es wieder bleiben, wurde zum Pop-Beauftragten der SPD gemacht. Das war der Tiefpunkt, man lachte über Gabriel. Erst als Umweltminister erarbeitete er sich wieder Respekt. Er lernte Ernsthaftigkeit, vier Jahre lang, er war dazu gezwungen. Und er weiß seither ziemlich genau, wie tief man fallen kann. Beides ist gerade bei einem wie ihm wertvoll, auch wenn er seine Lektionen in Ernsthaftigkeit immer wieder vergisst. Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass er ohne die Niederlage nicht mehr in der Politik wäre. Er wäre hoch geflogen und irgendwann abgestürzt, berauscht von sich selbst. In seiner Kurve nach der Niederlage gibt es viele Dellen, sie verläuft wie eine Welle, auf und ab. Immerhin. Politiker ohne Niederlagen sind nicht gezwungen, mit dem Verlieren umzugehen, daran zu wachsen. Helmut Kohl hat verloren, Willy Brandt brauchte drei Anläufe, bis die Zeit reif war. Frank-Walter Steinmeier ist gewachsen, Peer Steinbrück hat die Unerschütterlichkeit einer Panzerechse bewiesen, Sigmar Gabriel hat den Dämpfer bekommen, den er brauchte. Sie alle sind auf ihre Weise gezeichnet von der Niederlage. Und dadurch stärker als zuvor. Sie haben verloren, aber sie sind keine Verlierer mehr. In Berlin hängen seit ein paar Tagen neue Plakate von Klaus Wowereit. Zu sehen ist, ganz klein, das SPD-Logo, ansonsten nur das Gesicht des Bürgermeisters. Es sind die Plakate eines Siegers, er ist die Botschaft, sonst nichts. In Berlin mag das funktionieren, doch im Grunde ist es eine politische Bankrotterklärung. Es sind die Plakate von einem, dem es ganz gut getan hätte, auch mal zu verlieren. CHRISTOPH HICKMANN HENNING SCHACHT
Steinmeier weiß, wie das ist, Wahl- Agenda 2010 hingeknallt hatte? Es waren kampf in einer Großen Koalition zu ma- die Umstände, da waren sich Steinbrück chen, keine Chance zu haben. Auch er und seine Leute sicher. Er blieb noch für konnte Angela Merkel 2009 nicht richtig eine Weile Landtagsabgeordneter, las Büangreifen. Seine Themen zogen nicht, am cher, hatte Zeit für die Familie, am Ende Ende standen die 23 Prozent. Er war nicht des Jahres war er Bundesfinanzminister. Die Niederlage hat nichts mit Steinirgendein Verlierer. Er war der größte Verlierer aller Zeiten. Und wurde Fraktions- brück gemacht, weil er nichts mit sich hat machen lassen. Es gibt viele Menschen, chef im Bundestag. Die Niederlage ist immer noch da, man die unter der Last eingeknickt wären, der merkt das in Momenten wie in Schwerin vorerst letzte SPD-Ministerpräsident in vor der Leinwand, wo er mit dem politi- Nordrhein-Westfalen gewesen zu sein. schen Gegner leidet. Sie ist zu frisch und Steinbrück läuft noch heute sehr aufrecht war zu heftig, um schon vergessen zu sein, durch die Gegend. Müsste man seine Niederlagenkurve aufmalen, ergäbe sich keier wird noch oft danach gefragt. Die Zahl 23 klebt an Steinmeier, doch ne Kurve, sondern eine Gerade. Goslar, Sigmar Gabriel trägt Sonnenallmählich löst er sich von ihr. Er spricht vergleichsweise offen über die Zeit nach brille. Er sitzt in seiner Heimatstadt vor dem Absturz, er versucht nicht mehr, einem Café, hat über die SPD geredet krampfhaft zu verbergen, wie tief sein Tal und drei Tassen Kaffee getrunken. Jetzt stellt die Bedienung ihm ein Wasser hin. war. Er hat das auch nicht mehr nötig. Steinmeier hat seine Niederlage auf preußische Art verarbeitet. Er hat sich nicht allzu lang in die Depression fallen lassen, sondern angefangen zu arbeiten. Er ist zum Parlamentarier geworden, zum echten Politiker, nach einem Berufsleben in der Administration. Müsste man seine Entwicklung nach der Niederlage in einem Diagramm zusammenfassen, ergäbe sich eine Aufwärtskurve, nicht allzu steil, aber stetig. Mittwochnachmittag vergangener Woche, Berlin, FriedrichEbert-Stiftung, Peer Steinbrück hat mal wieder über die Krise geredet, die Finanzmärkte, die Zukunft. Jetzt hat jemand nach dem neuen Steuerkonzept der SPD gefragt, ein Spitzensteuersatz von 49 Prozent ist vorgesehen, Steinbrück sagt, das sei „absolut vertretbar“. Über das Konzept sagt er, es enthalte „richtige Ansätze“. Es klingt, als lobe ein Professor Bürgermeister Wowereit: Die Siege sprechen für ihn die Arbeit eines mittelmäßig beGabriel grinst und sagt: „Das hab ich gabten, immerhin fleißigen Seminaristen. nicht bestellt.“ Das Konzept ist Gabriels Produkt. „Du kannst aber nicht nur Kaffee trinMan muss sich bei Steinbrück immer wieder in Erinnerung rufen, dass er etwas ken, das ist ungesund.“ Ob seine Freundin angerufen habe, von seiner Partei will: Kanzlerkandidat werden. Bei ihm klingt es immer, als wol- fragt Gabriel und grinst noch breiter. „Nee, da bin ich von allein draufgele ausschließlich die Partei etwas von ihm. kommen.“ Er findet sich selbst ja ziemlich gut. Die beiden kennen sich ganz offensichtDas war schon 2005 so. Als am Wahlabend im Mai feststand, dass die sozial- lich, am Ende fasst Gabriel die Frau am demokratische Ära in Nordrhein-West- Arm: „Willst du mich heiraten? Ach nee, falen vorbei war, machte sich Steinbrück du bist ja schon verheiratet.“ Sie lachen. Gabriel mag solche Frotzeleien, er will sehr gefasst auf seine Tour vor die Kameras: Niederlage eingestehen, Verant- immer ein bisschen balgen, er braucht wortung übernehmen, er war ein guter Reibung, es geht nicht ohne eine Portion Verlierer. Es sprach kein gebrochener Hallodri. Das Problem ist, dass dies auch für die Politik gilt. Mann. Wenn Gabriel einen guten Tag hat, Steinbrück war der Meinung, alles getan zu haben. Wie sollte man das sozial- meint er, die Welt gehöre ihm und seinen demokratische Stammland halten, nach- Ideen. Bremst ihn dann niemand, kann dem die SPD ihren Stammwählern die das fatal enden. Deshalb war der Bruch
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Göttlicher Gedanke Die Freien Wähler in Bayern könnten Ministerpräsident Horst Seehofer 2013 aufs Altenteil schicken. Die CSU hat die Landtagsneulinge nachhaltig verprellt.
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eldscheine sind der jüngste Coup. Überdimensionale 500-Euro-Banknoten mit dem Aufdruck „Zukunft statt Größenwahn“. Eine ältere Dame im Dirndl verteilt die wertlosen Drucke als Protest gegen die dritte Startbahn in München auf dem Karpfhamer Fest in Niederbayern, zusammen mit einem Kugelschreiber der Freien Wähler. „Nehmen S’ nur“, sagt sie, „allein der Stift ist etwas wert.“ Der ist weiß-orangefarben, aus Plastik und mit einem Porträtfoto samt Aufschrift bedruckt: „Hubert Aiwanger, Freie Wähler“. Natürlich ist Aiwangers Gesicht auch großflächig auf dem Plakat an der Bühne zu sehen. Er mag diese biedere Art der Präsentation, über die die „Frankfurter Allgemeine“ einst stichelte, ihre Anmutung erinnere „an die späte Ära von Enver Hodscha in Albanien“. Mit Spott kennt sich der Landes- und Bundesvorsitzende der Freien Wähler aus. Allein schon wegen seines niederbayerischen Akzents, der aus jedem A ein O macht. In München biegen sie sich, wenn Aiwanger „Opfelstrudel“ sagt und sich seine geliebte „Opfelschorle“ bestellt. Der Bauer. Der jetzt im Festzelt in Karpfham prompt „a Wosser“ im Bierglas ordert statt des Aldersbacher Festbiers. Die CSU-Profis trinken auch mal Wasser auf den Volksfesten, das merkt aber keiner, weil sie nur undurchsichtige Keramikkrüge stemmen. Aiwanger verbiegt sich nicht. Er hat es auch nicht nötig. Jüngsten Umfragen zufolge könnten seine Freien Wähler bei der Landtagswahl 2013 die CSU aus der Regierung werfen. Forsa und Emnid sehen dank der Schwäche der FDP eine Mehrheit für SPD, Grüne und Aiwangers Truppe in Bayern. Der Landwirt, der mit seinen Eltern zu Hause in Rahstorf 20 Mastrinder und 50 Zuchtsauen betreut, könnte also zum Königsmacher in Bayern avancieren und aus dem Münchner NochOB Christian Ude den ersten SPD-Ministerpräsidenten seit 1957 machen. Für die Christsozialen rächt sich jetzt, dass sie die Freien lange Zeit belächelt und später mit heiliger Inbrunst bekämpft haben. Schon Edmund Stoiber klagte, die Freien Wähler seien „Trittbrettfahrer unserer Politik“, Erwin Huber glaubte, de40
ren Wahlprogramm sei so ergiebig, „dass rian Streibl gehandelt. Der war nicht nur es auf einer Briefmarke locker geschrie- bis 1993 Mitglied der CSU, sondern ist ben werden kann“. Dann nahmen sie auch noch Sohn des berüchtigten Amigo2008 der CSU 190 000 Stimmen bei der Ministerpräsidenten Max Streibl. Eine Abgeordnete widmet sich vor alLandtagswahl ab. Doch der Kampf ging weiter. Minister- lem dem heimischen Festzeltbetrieb, eine präsident Horst Seehofer sieht in der bun- andere trällert am Timmendorfer Strand ten Truppe den „Wurmfortsatz der linken ihren Gassenhauer „Geliebt, gelacht, gepolitischen Kräfte“, und Alexander Kö- weint“. Die Schlagersängerin Claudia nig, stellvertretender CSU-Fraktionschef, Jung dient der Fraktion als Abgeordnete hält Aiwanger für einen gefährlichen im Sozialausschuss und berichtet stolz Populisten, „dessen hinterfotzige Art zu auf ihrer Homepage, ihre Lieder hätten reden und zu formulieren mir immer wie- „selbst auf dem Ballermann unüberhörder einen Schauer den Rücken hinunter- bar Kultstatus“. Der Rechtsexperte Bernhard Pohl geriet in die Schlagzeilen, weil laufen lässt“. Da gibt es nicht mehr viel zu kitten. er der Polizei zweimal bei Verkehrsdelik„Wenn es menschlich nicht passt“, sinniert ten auffiel, aber immer einen anderen Aiwanger über seinem Wosserglas, „dann Fahrer angegeben hatte. Natürlich aus wird es schwer mit einer politischen Versehen. Die Folge war ein Strafbefehl. In einer Regierung müssten die Freien Zusammenarbeit.“ Und überhaupt: Die Demokratisierung Bayerns müsse weiter- auch Minister stellen, doch die ließen sich
Freie-Wähler-Chef Aiwanger: Attacke auf die Spezlwirtschaft der Christsozialen
gehen, die Postenschacherei und Spezlwirtschaft der CSU endlich ein Ende haben. Der SPD-Fraktionschef Markus Rinderspacher begrüßt Aiwanger, der einst mit einem Stipendium der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung Agrarwissenschaft studierte, neuerdings mit einem zünftigen „Grüß Gott, Herr Koalitionspartner“. Aiwanger kündigt im Gegenzug schon mal an, 2013 mitregieren zu wollen, und schlägt vor, die SPD solle die Städte abdecken und er das Land. Die landespolitische Kompetenz der Freien, die in Bayern immerhin 600 Bürgermeister und 14 Landräte stellen, wurde lange angezweifelt. Zu bunt mutete die 20-köpfige Fraktion an. Dort sitzt der Zahnmediziner neben dem Sportlehrer, der Studiendirektor neben dem Augenoptiker und dem Orthopäden. Als eine Art Trophäe wird der Abgeordnete FloD E R
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in der kommunalpolitischen Garde wohl relativ gefahrlos finden. Der Abgeordnete Manfred Pointner etwa kann auf eine zwölfjährige Erfahrung als hochgeschätzter Freisinger Landrat zurückblicken. Zu ihrem großen Glück haben die Freien Wähler ihr omniministrables „Funkenmariechen“ (Erwin Huber) schon 2009 eingebüßt. Gabriele Pauli, heute Dr. Gabriele Maud Pauli, quält sich seit der Trennung im Streit fraktionslos durch die Niederungen des Parlamentarismus. Zuletzt wurde sie auffällig bei der Haushaltsdebatte im April. Da stellte sie in wirrem Vortrag fest, dass „unserem Staat“ etwas fehle. „Es ist etwas, das wir in uns nicht mehr erreichen können. Es ist etwas wie die Sprache in uns.“ Kurz gesagt: Sie beklage „die Abwesenheit eines liebevollen und letztendlich göttlichen Gedankens“. STEFFEN WINTER
FOCKE STRANGMANN / DAPD
HSH-Nordbank-Zentrale in Hamburg, Vorstandschef Nonnenmacher 2010: Das Schweigekartell hat fast ein Jahr gehalten A F FÄ R E N
Lügen aus London Ein Geheimbericht enthüllt: Die HSH Nordbank hat Detektive auf Redaktionen angesetzt und Staatsanwälte offenbar in die Irre geführt.
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anz oben steht „Streng vertraulich“. Es ist die übliche Floskel, wenn Wirtschaftsanwälte einen Bericht verschicken, in dem ein paar Geschäftsinterna ihrer Mandanten auftauchen. Zahlen, Business-Pläne, solche Dinge eben. Aber deshalb trifft es „streng vertraulich“ in diesem Fall nicht ganz. Weil „streng vertraulich“ in der Sprache der Nichtjuristen bedeutet: Das hier ist so brisant, so belastend, so peinlich, wehe, wenn es in die falschen Hände fällt. Keine 20-mal ließ die HSH Nordbank deshalb im Oktober 2010 den „Untersuchungsbericht Projekt Hamburg“ kopieren, den die US-Kanzlei WilmerHale im Auftrag des Aufsichtsrats erstellt hatte. Und auf jeder Seite stand im Schattendruck der Name des Empfängers; so lassen sich Spuren verfolgen, falls das Papier doch durchsickert. Dieses Schweigekartell hat nun fast ein Jahr gehalten. Bis jetzt. Und schon nach ein paar Seiten wird klar, warum die Bank alles daran gesetzt hat, dass das Dossier nicht nach draußen dringt. Nach dem ersten WilmerHale-Bericht aus dem August 2010, der sich mit dem mutmaßlichen Versuch befasst hatte, den 42
New Yorker Niederlassungsleiter Roland K. mit einer falsch gelegten Kinderporno-Spur fristlos zu feuern, seziert nun WilmerHale II den anderen Schmuddelfall der Bank: Wie es dazu kommen konnte, dass Vorstand Frank Roth im April 2009 geschasst wurde. Top-Manager sollten angeblich HSH-Interna an die Presse durchgesteckt haben. Doch wie in New York wurde auch hier mit Beweisen gearbeitet, die keine waren. Der englischsprachige Report, zu dem es eine deutsche Zusammenfassung gibt, belastet nun den in diesem Frühjahr gefeuerten HSH-Chefjustitiar Wolfgang Gößmann schwer und rückt den ExChef der Bank, Dirk Jens Nonnenmacher, weiter ins Zwielicht. Er enthüllt zudem, dass die von der Bank angeheuerte Sicherheitsfirma Prevent nicht nur in den New Yorker Skandalfall verwickelt war, sondern auch in Roths Entlassung. Vor allem aber kommt der zweite WilmerHale-Bericht fast schon beiläufig zu dem Schluss, dass die Bank, die zu 83,3 Prozent den Ländern Hamburg und Schleswig-Holstein gehört, über Monate hinweg Zeitungsredaktionen ausforschen ließ. D E R
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Es war im November 2008, als Nonnenmacher an die Spitze der Bank rückte und mit ihm offenbar die Paranoia. Am 9. Januar trafen sich Nonnenmacher und Justitiar Gößmann im sogenannten Nostalgiezimmer der Bank mit dem damaligen Prevent-Vorstand Thorsten Mehles. Thema der Runde: Zeitungsartikel mit Interna aus der Bank. Dazu heißt es bei WilmerHale: „Professor Nonnenmacher und Dr. Gößmann beauftragten diesen (Mehles –Red.), in Medienkreisen zu ermitteln, wer die vertraulichen Informationen weitergegeben hatte.“ Die Aktion lief in der Bank laut WilmerHale unter dem Codenamen „Haubarg“, dauerte von Februar bis November 2009 und kostete „mehr als 640 000 Euro“. Worum genau es bei „Haubarg“ gegangen sein soll, ist im englischen Teil des Berichts nachzulesen. Prevent habe Redaktionen deutscher Zeitungen überwacht („had monitored editorial offices of German newspapers“) und in der deutschen Presseszene ermittelt („investigated the German press scene“). Wie Gößmann den WilmerHale-Anwälten gestand, habe Mehles schon bald Ergebnisse der Schnüffelei geliefert: Prevent habe gemeldet, die Vorstände Peter Rieck und Jochen Friedrich sowie der frühere Kommunikationschef Bernhard Blohm hätten sich mit Journalisten in Frankfurt, Hamburg und andernorts getroffen. Auch Nonnenmacher bestätigte dem Bericht zufolge, dass Prevent ihn über Gerüchte informiert habe. Angeblich sei Blohm gerade dabei, interne Dokumente an die Presse zu spielen, die ihm wohl Rieck geliefert habe. Auf An-
frage weisen Rieck und Blohm das als „böse Unterstellung“ zurück. „Ich bin sehr irritiert darüber, welch dubiose Aktivitäten von einigen in der Bank entfaltet wurden, ohne dass die restlichen Vorstände davon auch nur einen blassen Schimmer hatten“, sagt Rieck. Die kolportierten Pressekontakte von Rieck, Blohm und Friedrich blieben ohne Konsequenzen. Doch die Jagd ging weiter. Um das Informationsleck zu finden, so Nonnenmacher und Gößmann, verschickten sie im Februar 2009 ein Strategiepapier an die übrigen Vorstände. Jedes Exemplar war, für das Auge kaum erkennbar, anders markiert. Doch in den folgenden Wochen tauchte der Bericht in der Presse nicht auf. Nun versuchten es Nonnenmacher und Gößmann noch mit einer markierten E-Mail, die ebenfalls an die anderen Vorstände ging. Tatsächlich trudelte bald ein anonymer Brief bei Nonnenmacher ein. Er enthielt gleich beides: eine Seite des Berichts und eine Kopie der Mail. Die Absenderadresse stimmte auffällig mit dem Sitz der britischen Tageszeitung „Guardian“ in London überein. Kurz danach, am 16. April 2009, wurde Roth freigestellt, bald darauf fristlos entlassen. Ein Ergebnis, das Nonnenmacher wohl nicht ungelegen kam; angeblich hielt er nichts von Roth. Wie Justitiar Gößmann im Präsidialausschuss des Aufsichtsrats referiert hatte, befanden sich in dem Brief Dokumente, die sich „eindeutig“ Roth zuordnen ließen. Das ergebe sich aus den Markierungen, die ein Grafologe im Auftrag der Bank vorgenommen habe. So stellte es Gößmann später auch bei der Staatsan-
waltschaft Kiel dar – die Bank hatte Roth Report in noch größere Erklärungsnot. dort wegen Geheimnisverrats angezeigt. Vor allem wegen des anonymen Briefs. Dass Prevent in den Versand der marWie WilmerHale ermittelt hat, wurde kierten E-Mail verwickelt war, ver- das Schreiben mit dem Belastungsmateschwieg er. Im WilmerHale-Report heißt rial gegen Roth anscheinend am 25. März es dazu: „Dr. Gößmann unterrichtete den in London aufgegeben und ging als sogePräsidialausschuss weder über den Um- nanntes Airsure-Einschreiben auf die Reistand, dass Prevent bereits seit Januar se. Dann aber, so WilmerHale, hätte ne2009 mit der Aufklärung der Leckagen ben einem englischen Aufkleber auch beauftragt war, noch über die Ergebnisse, noch ein deutscher Sticker auf der Sendie Prevent eventuell erzielt hatte. Die dung pappen müssen. Den nämlich bringt Einschaltung von Prevent erwähnte er im die Deutsche Post an, bevor sie einen Übrigen auch nicht bei seiner Ver- „Airsure“-Brief ausliefert. nehmung durch die Staatsanwältin in Dieser deutsche Aufkleber aber fehlte dem Ermittlungsverfahren gegen Herrn auf dem Umschlag. Einen EingangsstemRoth … Die Staatsanwältin hatte ihn aber pel der HSH Nordbank gab es auch nicht. ausdrücklich gefragt, wer neben Professor Noch merkwürdiger: „Airsure“-Briefe erNonnenmacher“, dem Grafologen „und reichen, WilmerHale zufolge, normalerihm noch von dem Versand der präpa- weise frühestens nach zwei Werktagen rierten Unterlagen wusste“. ihr Ziel. Die für Roth so verhängnisvolle Warum Gößmann die Prevent AG nicht Post aus London will Nonnenmacher nannte? Gegenüber WilmerHale behaup- aber schon am nächsten Tag, dem 26. tete er, die Prevent habe er bei der Verneh- März, zwischen 9 und 10 Uhr morgens, mung schlicht vergessen. Erst später sei ihm geöffnet haben. War der Brief also nie wieder eingefallen, dass die Mail zuerst bei auf dem Postweg gewesen? Warum aber der Prevent gelandet war, bevor sie an Roth dann der stümperhafte Versuch, es so aussehen zu lassen? und die anderen Vorstände ging. „Wir wissen nicht genau, wie und von Doch eine Gößmann-Notiz vom 9. Juli 2009, gut zwei Monate vor seiner Aussage wem die Dokumente an Professor Nonbei der Staatsanwaltschaft, rückt die Sa- nenmacher übergeben wurden“, schreiche in ein anderes Licht. Er habe nach ben die Anwälte, listen dann aber eine der Anzeige gegen Roth „keine Veranlas- Reihe von Punkten auf, die für sie eine sung gesehen, die Firma Prevent bei der deutliche Indizienlage ergeben. Punkt Nummer eins, eine E-Mail, die Staatsanwaltschaft oder sonst wo zu erwähnen“, schrieb Gößmann. „Das halte Gößmann am 25. März an Nonnenmacher schickte, dem Tag, der auf dem Aufich auch heute noch für richtig.“ Hat Gößmann also die Firma und ihre kleber der Royal Mail steht: „Heute 22 Rolle bei Roths Entlassung bewusst ver- Uhr steht Besuch vor Ihrer Tür!“ Punkt schwiegen? Und nicht nur er, sondern Nummer zwei kam bei Nonnenmachers auch Nonnenmacher im Präsidialaus- Befragung durch die WilmerHale-Anwälschuss? Fest steht: Mittlerweile musste te ans Licht. Es sei möglich, dass der Bedie Bank Roth um Entschuldigung bitten, sucher an diesem Abend Prevent-Chef und die Staatsanwaltschaft Kiel ermittelt Mehles gewesen sei. Er könne sich jedoch stattdessen gegen Gößmann. Er steht im nicht erinnern, ob Mehles ihm einen anVerdacht, daran beteiligt gewesen zu sein, onymen Brief ausgehändigt habe. Punkt Nummer drei: Tage später, bei falsche Spuren zu Roth gelegt zu haben. Gößmann bestreitet dies. Und auch Non- der nächsten Befragung, berief sich Nonnenmacher, gegen den in dieser Sache nenmacher zwar immer noch auf eine nicht ermittelt wird, kommt durch den Gedächtnislücke, wollte nun aber laut
VOLKER HINZ / PICTURE PRESS
TIM RIEDIGER / DAPD
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Prevent--Rechnung (Ausriss), Prevent-Gründer Mehles: Mehr als 640 000 Euro für „Haubarg“ D E R
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Deutschland WilmerHale nicht ausschließen, „dass Herr Mehles ihm den anonymen Brief in STUTTGART 21 dieser Nacht ausgehändigt habe“. Zu einem Zeitpunkt also, als er laut Post-Aufkleber noch hätte unterwegs sein müssen. Die Anwälte resümieren, dass das Schreiben „nach den uns vorliegenden Indizien am späten Abend des 25. März An diesem Freitag soll der baden-württembergische Landtag von Mehles übergeben worden war“. den Volksentscheid über den Stuttgarter Hauptbahnhof einleiten. Umso bemerkenswerter finden die Anwälte dann aber Nonnenmachers Auftritt Doch das Großprojekt könnte an der Verfassung scheitern. vor dem Präsidialausschuss, als es um die under sind für Winfried Kretsch- Grüne (gegen den Bahnhof) und SPD (teilFreistellung Roths ging. Dort nämlich mann die Fortsetzung der Poli- weise dafür, teilweise dagegen) nicht mal habe der Vorstandschef mit keinem Wort tik mit anderen Mitteln. „Dinge gemeinsam in die Regierungskoalition einerwähnt, dass „ihm der anonyme Brief möglicherweise nicht per Post“ zugegan- geschehen, die man nicht erwartet“, sagt bringen können. Eine Niederlage für die gen war. Vieles hätte sonst schon damals der grüne Ministerpräsident von Baden- grünen Bahnhofsgegner scheint sicher. Doch Kretschmanns Orakel über das für einen Fake-Brief und gegen eine be- Württemberg. Allerdings glaubt auch er nicht, dass sie von selbst geschehen: „Man Unerwartete in der Politik bezieht sich in rechtigte Entlassung gesprochen. Dennoch: Richtig festlegen wollten sich kann etwas dafür tun, dass Wunder ein- Wahrheit auf etwas ganz anderes: auf einen GAU in der komplizierten Versuchsdie WilmerHale-Anwälte am Ende nicht. treten.“ Sie hätten keinen Beweis dafür gefunden, dass Nonnenmacher oder Gößmann sich „wissentlich oder willentlich an einer möglichen Manipulation von Beweismitteln beteiligt haben“. Nonnenmacher antwortete nicht auf Fragen des SPIEGEL. Dagegen ließ der frühere HSH-Jurist Gößmann über seinen Anwalt alle Vorwürfe zurückweisen. Er habe von illegalen Aktionen nichts gewusst und sie schon gar nicht unterstützt. So habe der „Haubarg“-Auftrag auch nicht die Bespitzelung von Journalisten umfasst. Prevent habe ausschließlich „den Kontakt zu Journalisten suchen und durch Gespräche herausfinden“ sollen, „von wem geheimhaltungspflichtige Informationen aus der HSH Nordbank herausgegeben wurden“. Dieser Auftrag sei auch nicht von Gößmann gekommen, sondern von Nonnenmacher, so sein Anwalt schon früher. Ex-Prevent-Chef Mehles bestritt die Darstellung von WilmerHale, er habe von Nonnenmacher und Gößmann den Auftrag zu Ermittlungen in Medienkreisen erhalten. Auch den anonymen Brief in Sachen Roth habe er nicht an Nonnenmacher übergeben. Demonstranten in Stuttgart, umstrittener Kopfbahnhof, Koalitionäre Schmid, Kretschmann: Stets Die neue Führung der HSH Nordbank bezeichnete dagegen die „Vorkommnisse Am Freitag dieser Woche wird der ba- anordnung zur Schlichtung des Stuttgarter im Zusammenhang mit Prevent“ als den-württembergische Landtag in öffent- Bahnhofsstreits. Nicht nur das Plebiszit, „sehr bedauerlich“. Aus Sicht der Bank licher Sitzung die Einleitung eines grünen das ganze Jahrhundertprojekt könnte unsei es „unbefriedigend, dass trotz intensi- Wunders versuchen. Das Parlament be- ter juristischem Beschuss verzögert werver Aufklärungsarbeit einige Fragen bis schäftigt sich dann mit dem von Kretsch- den – und schließlich platzen. „Ich finde das spannend, aber auch heute ungeklärt blieben“. Für Klarheit manns Kabinett initiierten Versuch, den müsse nun die Staatsanwaltschaft sorgen. Neubau des Stuttgarter Hauptbahnhofs schwierig“, kommentiert Kretschmann Den Präsidialausschuss und seinen Vor- (Stuttgart 21) unter der Erde doch noch den Streit um den Stuttgarter Bahnhof. Die wahre Lage ist dramatischer: Die Dissitzenden Hilmar Kopper hatten die Be- zu verhindern – per Volksentscheid. funde des Geheimberichts offenbar trotzWenn das in der Landesgeschichte ein- kussion um ein Verkehrsprojekt der Bahn dem nicht irritiert. Am 21. Oktober 2010, malige Experiment gelingt, wäre es tat- in einer mittelmäßig interessanten deut„nach ausführlichen Beratungen“ über sächlich ein Wunder. Mehr als 2,5 Millio- schen Großstadt ist mittlerweile zum Prüfden WilmerHale-Bericht, meldete damals nen Stimmen gegen das heißumstrittene stein für die Glaubwürdigkeit grüner Polidie HSH-Pressestelle: „Präsidialausschuss Jahrhundertprojekt müssten die Landes- tik geworden Denn Kretschmann ist auch deshalb und Aufsichtsrat können kein schuldhaf- Grünen laut Verfassung bei der für Entes Verhalten von Mitarbeitern und Vor- de November vorgesehenen Volksab- der erste grüne Ministerpräsident der standsvorsitzenden feststellen.“ stimmung im Zehn-Millionen-Einwohner- Republik, weil er versprach, die geplante JÜRGEN DAHLKAMP, GUNTHER LATSCH, Ländle zusammenbringen. So viele Stim- Untertunnelung der Stadt und den TeilJÖRG SCHMITT men haben bei der Landtagswahl im März abriss des geliebten Bahnhofsklotzes zu
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beim Staatsgerichtshof zu beantragen. Und der ist der Union immer noch treu ergeben. Das Gesetz, das da dem Volk vorgelegt werden solle, tönt auch Stuttgarts CDUOberbürgermeister Wolfgang Schuster, sei rechtswidrig, denn es zwinge die Regierung zu etwas, das rechtlich nicht möglich sei. Ein Kündigungsrecht sieht der BahnVertrag nicht vor. Die Juristen aus dem SPD-geführten Stuttgarter Justizministerium halten einen Ausstieg dennoch für möglich. Sie verweisen auf eine Reihe von rechtswissenschaftlichen Gutachten, die ein außervertragliches Kündigungsrecht kraft geänderter demokratischer Verhältnisse sehen. Neue Mehrheiten im Land könnten es der Regierung unzumutbar machen, an einem Vertrag festzuhalten, den noch die alte, abgewählte schwarz-gelbe Koalition geschlossen hat.
grüne wäre nun frei zu tun, was er für richtig hält. Das kann die CDU nicht mögen und die bahnhofstreue SPD ebenfalls nicht. Doch einfach ist nicht einmal das. Denn der für Recht und Ordnung beim Regieren verantwortliche Hausherr im Justizministerium, Rainer Stickelberger, ist einerseits SPD-Mann, andererseits bekennender S-21-Gegner. Und die Konfliktparteien häufen immer neue rechtliche Brocken auf. Was ist zum Beispiel mit dem Wunsch der Stuttgarter Netz AG, auf den nicht mehr benötigten oberirdischen Gleisen private regionale Zugverbindungen mit Diesellokomotiven einzurichten? Das Projekt klingt witzig und bürgernah. Es würde allerdings den Clou des Projekts in Frage stellen: die Jahrhundertchance für die zu eng gewordene Großstadt im Talkessel,
FRANZISKA KRAUFMANN / DPA (L.); EUROLUFTBILD.DE / IMAGO (M.); DANIEL KOPATSCH / DAPD (R.)
verhindern. Nur um das Bündnis mit den hartleibigen Bahnhofsbefürwortern von der SPD nicht zu gefährden, hat der Grüne sich auf das aussichtslose Verfahren der Volksbefragung eingelassen. Spannend, aber schwierig ist das Spiel, auf das sich Kretschmann da eingelassen hat: das im Ländle nie zuvor geprobte Verfahren, das vom Freitag an zunächst den Landtag beschäftigen wird. Die Regierung muss das Parlament darum bitten, sie zu zwingen, den Finanzierungsvertrag mit der Bahn zu kündigen. Nur wenn der Landtag – wie im Koalitionsvertrag vorgesehen – die Bitte ablehnt, macht er den Weg frei, statt seiner das Volk zu Hilfe zu rufen. Denn nach der Landesverfassung dürfen solche Gesetze dem Volk zur Entscheidung vorgelegt werden, die zuvor vom Parlament verworfen wurden.
genügend Geld für den Anschluss an die weite Welt
Das „S-21-Kündigungsgesetz“, um das es so zunächst im Parlament und ab Ende November im ganzen Land gehen wird, regelt alles Wichtige in einem einzigen Paragrafen. Die Landesregierung wird verpflichtet, die Zusage zu kündigen, dem Bauherrn Bahn für das 4,5-MilliardenMonsterprojekt rund 1,4 Milliarden Euro zuzuschießen. Ohne Zuschuss, so das Kalkül der Bahnhofsgegner, wird der ohnehin klammen Bahn nichts anderes übrig bleiben, als das verhasste Unternehmen abzubrechen. Klingt einfach. Doch die Koalitionäre haben ihre Rechnung ohne die Opposition gemacht. Union und FDP laufen Sturm gegen das Spiel mit dem Volk. Schon steht die Drohung der Ex-Koalitionäre im Raum, gegen das Plebiszit eine einstweilige Anordnung
Was gilt mehr: Vertragstreue oder Demokratie? Der gute alte Bahnhof im Südwesten der Republik wirft Fragen auf, deren Antworten für die Verfassung der Wirtschaftsmacht Deutschland von entscheidender Bedeutung sein könnten. Weil die Dinge aber noch viel komplizierter liegen, ist so eine Antwort wohl eher nicht vom Stuttgarter Staatsgerichtshof zu bekommen. In der CDU, hoffen Sozialdemokraten, werde man sich gut überlegen, ob man wirklich gegen den Volksentscheid klagt. Würde das Gericht nämlich die Bedenken der Opposition teilen und den Volksentscheid verbieten, wäre das wundervoll für Kretschmann. Die Vereinbarung im Koalitionsvertrag wäre kraft höchstrichterlichen Verbots unwirksam, der OberD E R
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auf dem ehemaligen Gleisfeld einen ganz neuen Stadtteil zu errichten. Bahnhofsgegner jubeln: Nach dem Allgemeinen Eisenbahngesetz des Bundes darf ehemaliges Bahngelände nicht einfach zugebaut werden, wenn Privatbahner das Gelände nutzen wollen, um ihrerseits Verkehrsbedürfnisse zu erfüllen. Aber, sagen die Bahnhofsfreunde: Wenn die Bahn erst unterirdisch fährt, gibt es oben ja kein Verkehrsbedürfnis mehr. Den juristischen Sprengsatz, der jeden weiteren Streit und auch das Volksbegehren obsolet machen könnte, hat allerdings Kretschmann selbst ins Land geholt. Der Berliner Staatsrechtsprofessor Hans Meyer, einer der führenden Spezialisten für Bund-Länder-Finanzen, kommt in einem 55-Seiten-Gutachten für die Landtags45
TIM WEGNER
Grünen zu dem Ergebnis, dass die ganze Finanzierung für den Bahnhofsumbau gegen das Grundgesetz verstößt. Mit „seltener Eindeutigkeit“, so Meyer, verbiete die Verfassung den Ländern, Bahn-Projekte mitzufinanzieren. Es sei „kein Zweifel möglich“, dass die Aufgabe, den Stuttgarter Hauptbahnhof umzubauen, „eindeutig dem Bund zuzuordnen ist“. Da Bund und Länder ihre Aufgaben jeder für sich bezahlen müssen, könnten nicht einfach per Vertrag ein paar Milliarden aus der Landeskasse an das Bundesunternehmen Bahn bezahlt werden. Finanzmauscheleien dieser Art, so der Staatsrechtler, seien nicht nur ein Schönheitsfehler. Das „Trennsystem“ bei den Gutachter Meyer Finanzen sei die „Grundlage für den kom- „Kein Zweifel möglich“ plizierten Bund-Länder-Finanzausgleich“, mit dem kraft Verfassung die unterschied- der Stuttgarter Verwaltungsrechtsanwalt liche Wirtschaftskraft der Bundesländer Klaus-Peter Dolde das passende Verfasausgeglichen werden soll. Gerade das rei- sungsrecht. Eine „unechte Gemeinschaftsche Baden-Württemberg hat mehrfach Kla- aufgabe“ von Bund und Land, so der regen vor dem Bundesverfassungsgericht an- nommierte Experte, sei so ein Mammutgedroht, um bei der Milliardenverschie- Projekt. Das dürfe das Land auch zahlen. bung zwischen den Ländern einen größe- Das klingt vernünftig, in der Verfassung ren Teil für sich behalten zu dürfen. Meyer allerdings findet sich nichts davon. Geht es streng nach dem Grundgesetz, argumentiert spitz: „Baden-Württemberg dokumentiert mit erheblichem finanziel- sind die umstrittenen Finanzierungsverlem Einsatz für eine landesfremde Ange- träge für das Projekt wegen Verfassungslegenheit, dass es für eigene Aufgaben of- verstoßes unwirksam – das Land braucht fenbar erheblich mehr als genug Geld hat.“ sie nicht mal zu kündigen. Als Gutachter Gerade bei der Planung für die Eisen- Meyer mitten im Wahlkampf seine Studie bahn, so der Jurist, habe das Verfassungs- feierlich den Grünen in Stuttgart übergab, verbot der Länder-Finanzierung seinen war auch Kretschmann selten eindeutig: guten Sinn: „Die Bahn muss so fahren, „Falls die Grünen Regierungsverantwordass es überregional dem Gemeinwohl tung tragen, werden wir die Zahlungen dient. Kein reiches Land soll sich eine sofort einstellen und bereits gezahlte Beträge zurückverlangen. Mit uns wird es Strecke kaufen können.“ Meyers Verdikt trifft eine Praxis, die keine Fortsetzung des Verfassungsbruchs nicht nur im Ländle um sich greift. Weil geben.“ So verbreitet er es noch immer die Bahn kaum genügend Mittel hat, um auf seine Homepage. Im Koalitionsvertrag findet sich dann auch nur ihre alten Strecken zu renovieren, ist sie nur zu gern bereit, sich bei allerdings kein Hinweis mehr auf derlei der Finanzierung kühner neuer Trassen Bedenken. Kein Wunder: Man kann keihelfen zu lassen. Ähnliche Projekte wie nen Volksentscheid planen über einen in Stuttgart wurden auch in Frankfurt am Finanzierungsvertrag, der verfassungswidMain und München diskutiert. Stets war rig und folglich unwirksam ist. „Das Gutdie Mitfinanzierung durch Stadt und Land vorgesehen, scheiterte allerdings an den knappen Länder-Finanzen. Im Ländle war schon stets genügend „Sind Sie grundsätzlich für oder gegen Geld für den Anschluss an die weite Welt das Projekt ,Stuttgart 21‘?“ da. Um die Gefahr abzuwenden, dass die Befragte in Baden-Württemberg neue Schnelltrasse Bratislava–Paris im 53 weiten Bogen um den Stuttgarter Talkes- dafür sel und seinen langsamen Kopfbahnhof dagegen 32 geführt wird, schienen ein paar Milliarden Zuschuss nicht zu viel – und nach Juristenansicht auch im Sinne des Gemein- Befragte im Großraum Stuttgart wohls an einem Wirtschaftsstandort, der dafür 60 auf internationale Schnellverbindungen angewiesen ist. Nicht zuletzt die Platznot der Großstadt Stuttgart ließ den Be- Befragte im restlichen Baden-Württemberg freiungsschlag durch einen unterirdischen 51 Durchgangsbahnhof im zwingenden öf- dafür fentlichen Interesse erscheinen. für den SWR und die „Stuttgarter Zeitung“ Da erfand im Auftrag der zahlungs- Infratest-dimap-Umfrage vom 16. und 17. August; 1000 Befragte; Angaben in Prozent; willigen einstigen CDU-FDP-Regierung an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/keine Angaben
Zustimmung vor Ort
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achten“, so die Sprechregelung im Stuttgarter Justizministerium, „wurde bei den Koalitionsverhandlungen ausgeklammert.“ Und der SPD-Justizminister und Bahnhofsgegner Stickelberger ist ganz besonders sorgfältig in der Formulierung, wenn er gefragt wird, warum sein Haus an einem mutmaßlichen Verfassungsverstoß festhält: „Mit Blick auf die Landesverfassung habe ich ein gutes Gewissen.“ Die Rechtsauffassung im Meyer-Gutachten sei zwar „nicht unvertretbar“, sagt der erfahrene Verwaltungsjurist, „die Gegenansicht überzeugt mich aber mehr“. So sind sie, die Juristen. Die Grünen machen bei dieser Leisetreterei nicht nur aus Koalitionsräson mit, sondern auch weil ihnen allzu viel Meyer auch verkehrspolitisch nicht in dem Kram passt. Wenn der Jurist recht hat, platzt nicht nur die Finanzierung des Bahnhofsumbaus, sondern auch die Neubaustrecke Ulm–Wendlingen, an deren beschleunigtem Ausbau auch Kretschmanns Regierung ein Interesse hat. Doch das Gutachten, das sie einst bestellten, werden die Grünen nun nicht wieder los. Dem Amtschef im grünen Stuttgarter Verkehrsministerium kam das Problem wieder auf den Schreibtisch, als der Vertragspartner Bahn die ersten Abschlagszahlungen für den Bau anforderte. Sollte er die Rechnungen zur Zahlung anweisen? Ein Beamter, der wissentlich etwas Verfassungswidriges tut und dabei noch der Landeskasse erhebliche Nachteile zufügt, kann rechtlich in Teufels Küche kommen. So schickte der Ministerialdirektor vor wenigen Tagen einen Brief an Bahn-Vorstand Volker Kefer – „in einer nicht einfachen Angelegenheit“. Man müsse „prüfen, ob eine Zahlung überhaupt geleistet werden darf“, das „Ministerium sieht die Rechtslage als problematisch an“. Es ist bekannt, dass das Stuttgarter Verkehrsministerium von begeisterten S-21Gegnern bevölkert wird, aber irgendjemand muss eine Kopie des Briefs an den Koalitionspartner gegeben haben. SPD-Vormann Nils Schmid, als Finanzminister eher für die Staatskasse als für den Bahnhof zuständig, stieß Drohungen gegen den grünen Kollegen Verkehrsminister aus, die das sofortige Platzen der Koalition bedeutet hätten. Und der SPD-Fraktionschef Claus Schmiedel verkündete forsch, es gebe „überhaupt keinen Zweifel, dass der Finanzierungsvertrag gilt“. Nun müsste Kretschmann ein Platzen der Koalition nicht fürchten. Die Grünen würden bei Neuwahlen dazugewinnen, die SPD des blassen Vize Schmid könnte nur verlieren. Doch der Ministerpräsident ging dem großen Krach aus dem Weg und ließ die Bahn-Rechnungen „unter Vorbehalt“ bezahlen. Wunder sind möglich – aber jedes zu seiner Zeit. THOMAS DARNSTÄDT, SIMONE KAISER
Deutschland I N T E G R AT I O N
Ankaras Trojaner In Berlin tritt eine MigrantenPartei zur Wahl an. Unterstützt wird sie von Vertrauten des türkischen Premiers Erdogan.
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ie Gebete der Gläubigen sind noch nicht verstummt, als Ismet Misirlioglu in Berlin-Neukölln den Wahlkampf eröffnet. Männer drängeln sich im Hof der Sehitlik-Moschee, Gemeindemitglieder verkaufen Feigen und Baklava, Polizisten regeln den Verkehr. Die Muslime feiern das Ende des Fastenmonats Ramadan. Misirlioglu hat sich mit Flugblättern bewaffnet. Er schüttelt Hände, küsst Wangen und redet auf die Menschen ein: „Maschallah, wählt mich, einen von euch.“ Misirlioglu, 45, tritt als Spitzenkandidat der Migranten-Partei BIG bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus in einer Woche an. Die Partei wurde vor anderthalb Jahren gegründet, sie hat nur tausend Mitglieder, und es ist unwahrscheinlich, dass sie die Fünf-ProzentHürde schafft. Man könnte sie also getrost ignorieren, doch die Abkürzung BIG steht für das „Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit“, und dieser Name erinnert auffällig an eine der mächtigsten muslimischen Parteien der Welt: die „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Spitzenkandidat Misirlioglu bestreitet jede Verbindung zur Regierung in Ankara. Nein, sagt er, er habe noch nie mit Erdogan gesprochen. Doch tatsächlich deutet nicht nur der Name darauf hin, dass es sich bei dem Bündnis um mehr als eine lose Versammlung deutsch-türkischer Politiker handelt. Premier Erdogan versucht seit Jahren, die Auslandstürken für seine politischen Ziele einzuspannen. 2005 eröffnete er in Köln die Zentrale der Union EuropäischTürkischer Demokraten (UETD), einen Lobby-Verein seiner AKP. Die Organisation wirbt unter Zuwanderern um Stimmen für Erdogan, zuletzt vor der türkischen Parlamentswahl im Juni. Die Union bereitete 2008 auch die umstrittene Rede des Ministerpräsidenten in Köln vor und seinen Wahlkampfauftritt in Düsseldorf im Februar dieses Jahres. 14 000 Eintrittskarten wurden für die Veranstaltung verschenkt. Nun geht sie noch einen Schritt weiter. Aktive und ehemalige UETD-Spitzen-
funktionäre waren maßgeblich an der Teil in führenden Positionen. Zur KlauGründung der BIG-Partei beteiligt. „Es surtagung im vergangenen Winter trafen ist Zeit, unsere Kräfte zu bündeln“, sagt sich die Parteimitglieder in Istanbul. Unions-Chef Özdogan sagt, den Türder Vorsitzende der Union, Hasan Özken in Deutschland sei nicht geholfen, dogan. Der Erdogan-Vertraute ist einer der wenn sich ihre Politiker in verschiedenen schillerndsten muslimischen Strippenzie- Parteien aufrieben. Premier Erdogan sei her in Deutschland und verfügt über daran gelegen, dass sich seine Landsleute abenteuerliche Verbindungen. Er war „wirksam“ engagierten. Der Lobbyist stellvertretender Generalsekretär der hofft, dass Migranten mit Hilfe des Bündmächtigen islamistischen Milli-GörüŞ-Be- nisses in der Politik künftig stärker wahrwegung. Zu dem gestürzten libyschen genommen werden. Noch ist die Partei vom Einzug in einen Diktator Muammar al-Gaddafi hielt er ebenso Kontakt wie zur Scientology-Sek- deutschen Landtag zwar weit entfernt. te. In den neunziger Jahren reiste er mit „Sie steht gerade erst am Anfang“, sagt führenden Scientologen in die libysche Özdogan. Aber die Grünen hätten Hauptstadt Tripolis. Seit 2009 ist er Er- schließlich auch zwei Jahrzehnte gedogans wichtigster Lobbyist in Deutsch- braucht, um sich zu etablieren: „Wir brauchen einen langen Atem.“ land. In Berlin betreibt das BIG einen aufNach deutschem Recht ist es ausländischen Regierungen verboten, hierzulande wendigen Wahlkampf. In manchen Be-
BIG-Wahlkämpfer in Berlin: Vorposten der türkischen Regierungspartei
Parteien zu gründen. Özdogan bekleidet kein offizielles Amt innerhalb des Bündnisses. Insider berichten allerdings, das er es sei, der den Kurs bestimme. Immerhin gibt Özdogan zu, am Aufbau der Partei mitgewirkt zu haben. Mit dem Bundesvorsitzenden des BIG ist er seit Jahren eng befreundet, die beiden engagierten sich gemeinsam in muslimischen Verbänden in Bonn und teilen sich bis heute ein Bürogebäude am Rhein. Sein Bruder trat für das Bündnis als Direktkandidat bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen an. „Das BIG ist ganz offensichtlich ein Vorposten der AKP“, sagt der Journalist Yücel Özdemir. „Die Partei ist ein Sammelbecken für obskure Gestalten“, kritisiert die Islam-Kennerin Claudia Dantschke. Die Landesvorsitzenden der Zuwanderer-Partei in Hamburg, Bremen und Baden-Württemberg waren bis vor kurzem allesamt in der UETD aktiv, zum D E R
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zirken hängen seine Plakate an jeder zweiten Laterne. Vor kurzem sorgte die Mini-Partei für Aufsehen, als sie auf Flugblättern vor einem „Schulfach schwul“ warnte und mit einer Kampagne gegen Thilo Sarrazin um Stimmen warb. Gerüchte, wonach das Bündnis Gelder aus Ankara bezieht, weist Berlin-Chef Misirlioglu zurück. Die Partei finanziere sich ausschließlich über Spenden und Mitgliedsbeiträge. Misirlioglu arbeitete acht Jahre lang bei einer islamischen Hilfsorganisation. Zuletzt baute er das Berliner Büro des Spendenvereins WEFA auf, dem vorgeworfen wird, indirekt die palästinensische Hamas zu finanzieren. Der Verein unterhält Beziehungen zur türkischen Regierung. Das BIG, sagt Misirlioglu, soll bald schon mit den großen Parteien konkurrieren können: „In zehn Jahren sind wir in der Regierung.“ MAXIMILIAN POPP 47
HARTMUT SCHWARZBACH / ARGUS
Französisch-Unterricht in einem Husumer Gymnasium: Gewisser Artenschutz
Bundesweit stagniert die Zahl der Französisch-Lerner (siehe Grafik). Zwar steht beispielsweise Russisch noch stärker unter Druck, das Fach kämpft gegen den Makel, dass es in der DDR einst die Oberen verordneten. Doch es mehren sich auch die Zeichen einer FranzösischBaisse. Im Gegensatz zu anderen Zielländern wollen laut Deutsch-Französischem Deutsche Schüler wollen lieber Jugendwerk immer weniger Jugendliche Spanisch als Französisch zum Schüleraustausch nach Frankreich. lernen. Doch in den Ministerien Auch das im Sommer abgeschlossene gemeinsame deutsch-französische Gevieler Bundesländer schichtsbuch floppte – das Werk wurde dominiert die Gallier-Lobby. kaum nachgefragt. Das Schulfach hätte es wohl noch er von Rheinstetten nach Frankreich will, der nimmt die Fähre schwerer, genösse es in der Bundesrepuüber den Rhein, sie kostet einen blik nicht einen gewissen Artenschutz. Euro für Fußgänger, vier Euro pro Auto. Nach dem Zweiten Weltkrieg galt FranEltern in Rheinstetten wünschen sich bis- zösisch-Lernen als Ausweis gelebter Völweilen, sie würden weiter entfernt von kerverständigung. Eine ganze Kohorte der Grenze leben. Dann müssten ihre Kin- von Institutionen kümmerte sich darum, die von den Staatslenkern Konrad Adeder kein Französisch lernen. Erst vor einigen Tagen schickte Antje nauer und Charles de Gaulle begründete Hein, die Vorsitzende der örtlichen El- Aussöhnung beim Nachwuchs zu veranternbeiräte, wieder einen Brandbrief kern. Generationen von Gymnasiasten nach Stuttgart: „Wir sind ungehalten und begeisterten sich für existentialistische am Ende unserer Geduld. Seit Einführung Denker, Rotwein und Rollkragenpullover. des Grundschul-Französisch sind wir an der Rheinschiene im Kampf um Gleich- Französisch- und Spanisch-Schüler behandlung und Chancengleichheit für an allgemeinbildenden Schulen in Deutschland unsere Grundschulkinder.“ Vor rund zehn Jahren hatte die dama- 1800000 FRANZÖSISCH lige baden-württembergische Kultusministerin und jetzige Bundesbildungsmi1694 173 nisterin Annette Schavan (CDU) die Idee, 1 700000 Grundschulen entlang des Rheins mit dem Fach Französisch zu beglücken. Dort – 0,5 ist man die Sonderrolle inzwischen leid. 1600000 % Veränderung Rheinstetten steht in diesen Wochen gegenüber des anlaufenden Schuljahrs auch für einen 2005/2006 Konflikt, der in den meisten Bundeslän+38,6 400000 dern noch an Schärfe gewinnen könnte. SPANISCH Denn vielen Pennälern gilt Französisch % als ungeliebtes Idiom. Die Sprache von Voltaire und Balzac steht im Ruf, kompli300000 337294 ziert und grammatiklastig zu sein, außerdem abgehoben und altbacken. In Internetforen finden sich Kommentare wie 200000 „Französisch klingt immer schwul, egal, 2005/ 2006/ 2007/ 2008/ 2009/ 2006 2007 2008 2009 2010 was man sagt, deswegen also Spanisch!“ BILDUNG
Shakira schlägt Jacques Brel
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Heutige Schüler hingegen blicken zunehmend über den großen Nachbarn hinweg weiter gen Westen. Spanisch ist die Sprache der Stunde, sie gilt als hip und international, als Schlüssel zu Latino-Pop und Schwellenländern. Es scheint zu sein wie die Wahl zwischen Shakira und Jacques Brel. Laut einer EU-Studie bejahten nur 47 Prozent der Neuntklässler in Hessen und Berlin den Satz „Ich finde die Einwohner dieses Landes sympathisch“, wenn es um Frankreich ging. Für die spanischsprachige Welt lag die Quote bei 79 Prozent. Ähnliche Werte gab es bei den Aussagen „Diese Sprache gefällt mir ganz einfach“ und „Diese Sprache klingt angenehm“. „Frankreich war einmal Symbol für eine erstrebenswerte Lebensform“, sagt Yvonne Petter-Zimmer, Verlagsleiterin für Fremdsprachen bei Cornelsen. „Das ist abgelöst worden durch Spanien.“ Ihr Verlag hat inzwischen drei Reihen von Spanisch-Lehrbüchern auf dem Markt, genauso viele wie für Französisch. Auch an vielen Universitäten wählen mehr Erstsemester Spanisch als Französisch. Zwar liegt im Schulalltag Französisch hinter Englisch noch weit vorn, doch könnte sich in Großstädten wie Hamburg die Hackordnung bald umkehren. In der Hansestadt stieg der Anteil der SpanischLerner zwischen 2008 und 2010 von 29 auf 34 Prozent, während er für Französisch von 46 auf 42 Prozent fiel. Jene Gymnasien, die Spanisch als zweite Fremdsprache anbieten, sind beliebt. Und der Trend reicht über die Gymnasien hinaus. Vielen Eltern gilt Spanisch als bodenständig und berufsnah, wenn etwa die Kinder eine Ausbildung im Tourismus oder im Handel anstreben. In Rheinland-Pfalz fordert der Verband der Realschullehrer bereits, Spanisch alternativ zu Französisch zu unterrichten. Nur dort, wo über das Lehrangebot entschieden wird, dominiert die FranzösischLobby: in Ministerien und Kollegien. Gymnasien in Bayern oder Baden-Württemberg etwa bieten Spanisch allenfalls als dritte Fremdsprache an. „Da gibt es Pfründen, die niemand aufgeben will“, sagt Ursula Vences vom Spanischlehrerverband. So höre sie häufig Klagen, dass ihr Fach auf dem Stundenplan in die unbequemen Randzeiten verbannt werde. Mancherorts lässt sich auch kein SpanischLehrer finden, der Markt ist leergefegt. Umso mehr hat sich die Lobbyistin über das nordrhein-westfälische Kultusministerium geärgert, das künftigen Lehrern schlechtere Jobchancen mit Spanisch prognostiziert als mit Französisch. Die Ministerialen schauten vor allem darauf, in welchen Fächern viele Lehrer in Pension gingen, kritisiert Vences, die objektive Nachfrage werde ignoriert. „Das entspricht erkennbar der Tradition, das Fach Französisch zu schützen.“ JAN FRIEDMANN
Gesellschaft
Szene
Was war da los, Herr Luetscher? Pflanzen im Garten geschnitten, als ich das Gleichgewicht verlor, mir die Baumschere aus der Hand glitt und ich fiel. Ich spürte etwas Festes an meinem Kopf, zog daran, es war die Schere. Ruhe bewahren, dachte ich, und nahm mein T-Shirt, um das Blut zu stoppen, bis mich meine Lebensgefährtin fand. Die Ärzte röntgten meinen Kopf und beschrieben mir, dass sich der Griff der Schere durch meine rechte Augenhöhle in den Rachen gebohrt hatte und auf der äußeren Halsschlagader liegengeblieben war. Die OP dauerte drei Stunden. Jetzt habe ich nur noch eine Titanplatte im Kopf, ein Auge ist leicht geschwollen, ich sehe doppelt, aber das stört mich nicht. Nur eines ist ärgerlich: Seit dem Unfall darf ich kein Auto mehr fahren. Ich besitze einen so schönen schwarzen Volkswagen. Der steht jetzt in der Garage.“
LEBENSHILFE
„Es lohnt sich, Listen zu machen“ Der Schweizer Kabarettist und Künstler Ursus Wehrli, 42, über die Schönheit der Ordnung SPIEGEL: Sie haben für Ihr neues Buch eine Buchstabensuppe alphabetisch geordnet und die Sterne des Nachthimmels nach Helligkeit. Geht’s noch? Wehrli: Ja, doch, es geht noch. Ich bin ja eine multiple Persönlichkeit, ich kann mich gut in die eine Rolle und in die andere versetzen. Aber ich finde es selbst erstaunlich: Je mehr ich mich mit dem Aufräumen beschäftige, desto mehr erfreue ich mich am Chaos. SPIEGEL: Woher kommt das Bedürfnis aufzuräumen? Wehrli: Ich habe schon als Kind die unsinnigsten Sachen sortiert. Ich habe für alle Klassenkameraden in der Schule die Stundenpläne von Hand kopiert und dann in Zellophan verpackt, damit sie nicht nass werden. Und dann verkauft, für zwei Franken.
AFP
Leroy Luetscher, 86, Rentner in Green Valley im US-Bundesstaat Arizona, über Geduld: „Es war am Morgen, ich habe
Röntgenbild von Luetschers Kopf
SPIEGEL: Sie sind nicht nur Künstler, sondern auch Kabarettist, Sie führen Buch über Ihre Auftrittsorte, Sie lieben Strichlisten und Tabellen. Das klingt nach jemandem, der eine Art Plan hat.
Wehrli: Ja, ich habe ganz viele Pläne. Ich leide ein bisschen darunter, dass ich häufig vor lauter Plänen und Listen nicht zur eigentlichen Tätigkeit komme. Aber ich glaube immer noch daran, dass es sich lohnt, Listen zu machen – wenn ich gar nicht mehr weiß, wo es weitergehen soll, dass ich da mal draufgucken kann. Und wenigstens theoretisch wüsste, was es noch zu tun gäbe. SPIEGEL: Ist das Kunst – oder maskieren Sie damit eine Zwangsstörung? Wehrli: Nee, ich kann sehr genau festlegen, wann es genug ist. Aber es ist schon so, dass mir im Alltag immer wieder Dinge ins Auge stechen, die besonders strukturiert oder extrem chaotisch sind. Ich habe eine Vorliebe für Muster. SPIEGEL: Wurde bei der Evolution gepfuscht? Wehrli: Ja. Ich meine, die hatten’s ja auch nicht leicht damals. Ständig gab’s Zusammenhänge, aus denen sich neue Konsequenzen ergaben – wo man ein bisschen überfordert war in der Natur. Wo es Kompromisse gab. Schauen Sie sich zum Beispiel mal einen Ameisenhaufen an. Das geht überhaupt nicht!
Pommes-Schale, Wehrli-Werk
Ursus Wehrli: „Die Kunst, aufzuräumen“. Kein & Aber Verlag, Zürich; 48 Seiten; 16,90 Euro.
„Das geht überhaupt nicht!“ D E R
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Gesellschaft
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Frauen in Hosen Warum ein Grieche gegen Angela Merkel inseriert
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das Problem: Vielleicht, so dachte er, in Tag im Sommer, die Ratingkönne man auch die Meinung der Agentur „Moody’s“ hat die KreDeutschen kaufen, indem man den ditwürdigkeit seines HeimatTeil einer Zeitungsseite kauft. landes um drei weitere Stufen herabEr wollte die Deutschen überzeugesetzt, als sich Demetri Marchessini, gen, dass Frau Merkel falschliege und Grieche, 77 Jahre alt, an seinen Griechenland nicht zu retten sei. Er schweren hölzernen Schreibtisch in wollte ihnen beweisen, dass es auch London setzt und beschließt, dass keine Rettung für den Euro gebe. Er man sie aufhalten muss, diese Deutschen mit ihrem verdammten Geld. Marchessini ist ein großer Mann, alt, aber aufrecht, weißes Haar, dichte Augenbrauen, er muss nicht lange nachdenken an diesem Tag, es kocht in ihm, seit Monaten schon – wegen der Milliardenhilfspakete, die in dem „finanziellen schwarzen Loch verschwinden“, zu dem sein Land verkommen sei; wegen „dieser Mrs. Mörkel, die keine Ahnung von Finanzen hat“, wie er sagt – er setzt sich hin und beginnt zu schreiben: „Message to the German people“, eine Nachricht an das deutsche Volk. Marchessini Marchessini wuchs in einem Griechenland auf, das anders war als das Griechenland, das er heute aus den Nachrichten kennt, „ein einfacheres, langsames Leben“, sagt er, Taverne, Fischerboote, keine Assets und Bonds, „griechisch eben“, und Europa, das war noch eine Aus der „Frankfurter Allgemeinen“ verschwommene Idee. buchte eine Viertelseite in der „FrankMarchessini war reich, ein Grieche, furter Allgemeinen“, rund 23 000 Euro der Geld scheffelte. Er besaß eine Reekostete sie. derei, geerbt von seinem Vater, ein Demetri Marchessini hat schon zu Dutzend Schiffe auf den Meeren der vielen Dingen seine Meinung veröfWelt; von Onassis sagt Marchessini, fentlicht, ob die Menschen sie hören dass der ein charmanter und höchst wollten oder nicht. Er glaubt, dass er unangenehmer Geselle war. Im Krieg gut darin sei, Wahrheiten zu erkenwanderte die Familie in die USA aus, nen, so sagt er es, besser als viele Joursein Herz aber sei in Griechenland genalisten und Politiker, und er hat das blieben, sagt Marchessini in seinem Bedürfnis, diese Wahrheiten in der Londoner Büro, das gleichzeitig auch Zeitung zu sehen. Also schreibt er Lesein Zuhause ist. serbriefe. „Nur leider drucken die Er verkaufte die Reederei an die nicht alles, was ich schreibe“, sagt er. Chinesen, fing an, Geld zu investieren, Also schreibt er in einem Blog, zum noch mehr Geld zu verdienen. Jetzt Beispiel über Filme und Vergewaltiger lebt er in einer Villa in Belgravia, eiund die Europäische Zentralbank. nem der wohlhabendsten Viertel LonEinmal hat er sich einen Fotografen dons. Er mag Golf, Frauen, Partys, ist geleistet, den er losschickte, um Fraues gewohnt, sich viele Dinge leisten enhintern zu fotografieren. Daraus zu können. Und da beginnt auch schon 54
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machte er einen Bildband, „Frauen in Hosen“, mit dem er beweisen wollte, dass Frauen lieber Röcke tragen sollten. „Ist doch offensichtlich“, sagt er, „von Frauen in Hosen kriegt kein Mann eine Erektion.“ Er saß an diesem Sommertag an seinem Holztisch und schrieb: „Die deutsche Kanzlerin behandelt die sehr ernsthaften Finanzprobleme der EuroZone emotional und nicht intelligent.“ Jeder in der Finanzwelt wisse, dass es nur zwei Lösungen gebe: Griechenland muss aus der Euro-Zone austreten, oder die Deutschen werden die Griechen ewig unterstützen müssen. „Welche Lösung ist euch lieber?“ Deutschland solle an der Spitze jemanden haben, schlägt er vor, der sein Gehirn benutzt statt seiner Gefühle. Darunter setzt er seinen Firmennamen: Marchessini & Co. Zwei Tage später, an einem Freitag, steht der Text in der „FAZ“. Tausende Deutsche sollten seine Anzeige lesen. Marchessini war zufrieden. Er sitzt, Tage später, in seinem Ledersessel und schiebt sich einen deutschen Karamellbonbon in den Mund. Er lutscht, während er redet, schmatzt ein wenig, „das, was die Deutschen tun, ist wahnsinnig“, sagt er. Und alles nur, weil Mrs. Mörkel um jeden Preis den Euro und die EuroZone retten wolle. „Aber es gibt keine Zukunft für den Euro.“ Als die Anzeige geschaltet war, meldeten sich bald die ersten „FAZ“-Leser bei ihm. Manche applaudierten ihm, „endlich sagt es mal einer“. Andere hielten ihn für einen Narren. Aber die Deutschen würden immer noch ihre Steuergelder in das „finanzielle schwarze Loch“ Griechenland pumpen. Er zieht die Schultern hoch: „Aber vielleicht habe ich ja ein paar Leuten die Augen geöffnet.“ Die Finanzwelt ist unübersichtlich geworden, und Marchessini sagt: „Ich hasse es, wenn Dinge unübersichtlich sind.“ Er steht neben einem großen Glaskasten. Darin das Modell eines Marchessini-Liners, eines der Frachtschiffe, die er früher um die Welt schickte. „Manchmal vermisse ich meine Schiffe“, sagt er, die Maschinen, den Stahl und das Gefühl, etwas anfassen zu können. In der Finanzwelt sei ja doch alles nur Wasser, das einem durch die Finger rinne. HORST FRIEDRICHS / DER SPIEGEL
EINE ANZEIGE UND IHRE GESCHICHTE
DIALIKA KRAHE
Gesellschaft
BERLIN
Die überreizte Stadt Hohe Mieten, Billigtourismus – die Berliner leben in einer Metropole, aber sie möchten eine Heimat haben. Bericht aus einer Hauptstadt, die sich fragt, wem sie gehört: den Ansässigen oder der Welt? Von Wiebke Hollersen und Dirk Kurbjuweit
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s begann mit einem Geräusch, einem Rattern wie von kleinen, harten Rädern. Zunächst fiel es Daniel Dagan kaum auf, aber mit der Zeit hat er es beunruhigend oft gehört, auf den Treppen des Hauses, in dem er wohnt, Wilhelmstraße, Berlin. Dann verschwanden Namensschilder von der Klingelleiste und wurden durch Nummern ersetzt. Fremde Gesichter tauchten auf, im Hof standen manchmal Karren mit schmutzigen Handtüchern. Allmählich dämmerte Dagan, dass sich sein Haus heimlich in ein Hotel verwandelt. Er weiß nun längst, dass das Rattern von Rollkoffern kommt. Er ist nun schon oft von fremden Leuten nach ihrem Appartement gefragt worden, als wäre er der Concierge. Aber er ist Journalist, er stammt aus Israel und ist vor zehn Jahren in die Wilhelmstraße gezogen, damals in ein normales Mietshaus, einen grauen Plattenbau zwischen anderen grauen Plattenbauten. Gute Lage, nur ein paar Schritte bis zum Brandenburger Tor, nur ein paar Schritte bis zum Potsdamer Platz. Reizvoll für Touristen. „Sehen Sie die Gardinen?“, ruft Dagan auf dem Weg hinter seinem Haus. „Überall die gleichen Gardinen.“ In seinem Haus gibt es 21 Wohnungen, 10 davon werden nur noch an Touristen vermietet, vermutet Dagan. Er will nicht in einem illegalen Hotel leben, er will seine Nachbarn kennen, er will, dass sie einen normalen Alltag haben so wie er, dass sie nicht ständig Partys feiern, nicht den Müll in die Flure werfen, weil sie bald wieder abreisen und sich für nichts verantwortlich fühlen. Das Bezirksamt Mitte hat 257 Ferienwohnungen entlang der Wilhelmstraße gezählt, sie dürften da nicht sein, aber niemand unternimmt etwas. Daniel Dagan und seine Nachbarn haben deshalb eine Bürgerinitiative gegründet. Sie protestieren, sie verteidigen ein Berlin für Berliner. Es geht jetzt um Heimat. Berlin ist Deutschlands größte städtische Heimat, und Berlin ist Weltmetropole, und viele Berliner erleben das als Widerspruch. Heimat ist Ruhe, Sicherheit, Geborgen56
heit. Weltmetropole ist Trubel, Bewegung, Aufbruch. Mehr als 20 Millionen Übernachtungen von Touristen zählt Berlin im Jahr, 30 Millionen sollen es werden. Die Welt liebt diese Stadt, sie ist ein Magnet, und viele kommen, um zu bleiben. Deshalb stellt sich die Frage, wem sie in einer globalisierten Welt gehört: den Ansässigen oder allen? Am Sonntag wählen die Berliner ihr Landesparlament, und das wichtigste Thema des Wahlkampfs sind steigende Mieten. Die sind heute in der Innenstadt bis zu 14 Prozent höher als vor zwei Jahren. Diese Zahl zeigt das Ausmaß des Wandels. In Berlin entsteht seit einigen Jahren eine neue Stadt, die Stadt der Touristen und Neuankömmlinge. Sie wächst wild, es gibt keinen Plan, keine Grenzen, selbst die Gesetze gelten nur eingeschränkt. Ein bisschen erinnert das an die „Frontier“ des 19. Jahrhunderts, als sich in Nordamerika, Brasilien oder Südafrika eine neue Welt über eine alte schob, unkontrolliert und rücksichtslos, ein Kampf der Pioniere gegen die Ansässigen. Diese neue Stadt könnte bald zur eigentlichen Stadt werden. Berlin wäre dann nicht mehr vor allem Heimat für Berliner, sondern Bühne für ein internationales Publikum. Dafür kursieren hässliche Wörter in der Stadt: „Riesen-Ballermann“, anspielend auf eine berüchtigte Saufzentrale auf Mallorca, oder „Riesen-Disneyland“, anspielend auf Künstlichkeit, Abwesenheit von Authentizität. Was macht das mit den Berlinern, in welchem Zustand sind sie gerade? Der Berliner Philosoph Georg Simmel schrieb Anfang des 20. Jahrhunderts den Aufsatz „Die Großstädte und das Geistesleben“, der als Gründungsdokument der Stadtsoziologie gilt. Simmel sah in Metropolen eine „Steigerung des Nervenlebens“, die Reaktion darauf sei „Blasiertheit“. Der Großstädter versage sich die Reaktion auf das Geschehen ringsum, weil es seine Nerven überfordern würde. Ist das noch so? Stehen die Berliner blasiert an ihrer Frontier? Berliner sind wichtig für Berlin. Das klingt einfältig, aber Berliner sind wich- Blick von der Oberbaumbrücke, Jugendliche am D E R
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JULIE WOODHOUSE / IMAGEBROKER (O.); HECHTENBERG / CARO (U.)
Schlesischen Tor in Kreuzberg: Die Straße ist die Kneipe D E R
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tiger für ihre Stadt als Pariser für Paris oder Römer für Rom. Was diese Städte zum großen Teil ausmacht, sind alte Steine. Man kommt wegen der Schönheit. Nach Berlin fährt man trotz der Hässlichkeit. Touristen und Neuankömmlinge sehnen sich nach dem Berlin-Feeling, einer Atmosphäre, die nicht von Gebäuden geprägt ist, sondern von Menschen, die Ideen haben. Es gibt in Berlin viele Berlins. Man könnte auch das Porträt einer wunderbaren Stadt erzählen. Aber hier soll es um den Kampf der alten Stadt gegen die neue gehen, um den Widerspruch von Heimat und Weltmetropole. Oliver Winter ist ein Pionier, einer von denen, die das neue Berlin in das alte hineintreiben. Winter hat 3000 Betten in die Stadt gestellt, das ist sein Beitrag. Zur Hälfte robuste Metallbetten, auf denen Schulkinder herumspringen können, vor allem aber: billige Betten. Betten ist ein Wort, das in einem Gespräch mit Winter ziemlich häufig fällt, die Währung seiner Branche. Winter betreibt Hostels, seine Kette heißt „A&O“, seine Häuser sind riesige gelbe Kästen. Winter wirkt jungenhaft, bis auf das zurückweichende Haar. Er ist 36 und schon seit elf Jahren im Bettengeschäft. Er steht ganz oben in seinem neuesten Haus in der Lehrter Straße in Moabit, schaut hinüber zum Hauptbahnhof, zu dem man nur zehn Minuten läuft, unter ihm 820 Betten, sein neuester Erfolg. Es fing damit an, dass Berlin zur Hauptstadt wurde. Sofort wollte jede Schulklasse nach Berlin, sagt Winter. Er war selbst für eine Weile gereist, nach Australien, Neuseeland und rechtzeitig zum Boom zurück in seine Heimatstadt. Das Geld für sein erstes Hostel in Friedrichshain verdiente er neben dem Studium mit einem Getränkemarkt. Die Reiseveranstalter flehten um jedes zusätzliche Bett, sagt er. Zur Invasion der Schulklassen kam vor sieben Jahren die der Easyjet-Touristen, die Billigfluglinie machte ein Drehkreuz in Berlin auf. Oliver Winter eröffnete Hostels in ganz Deutschland und bis nach Prag. „Am Ende will der Kunde überall ein günstiges Bett“, sagt er. Neben seinem 820-Betten-Hostel in Moabit wohnen Marion Mayr und Karsten Mierke. Vor ihrem Haus stauen sich die Reisebusse, nachts kreischen die Mädchen im Hostel von Fenster zu Fenster, die Jungs klettern über die Regenrinnen. Die Touristen torkeln über die Straße, pinkeln in die Büsche, zerschlagen Bierflaschen. Das Haus von Marion Mayr und Karsten Mierke hat fünf Etagen, auf jeder liegt eine große WG. Die Bewohner sind aber keine Hippies, sie sind normale Leute, die morgens zur Arbeit oder in die Uni gehen und nachts schlafen wollen. Auch 57
CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL
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Immobilienkäufer Skjerven: „Der aufregendste Markt in Europa“
mitten in Berlin sollte das weiterhin möglich sein, finden sie. Nun schreiben sie um zwei Uhr morgens Lärmprotokolle, so wie viele Nachbarn in der Straße, oder rufen die Polizei. Dazu hat das Ordnungsamt geraten. Sie wollen nicht spießig sein. „Aber kann man das alles nicht auch so machen, dass es für die Menschen erträglich ist?“, fragt Mierke. Oliver Winter, der Hostel-Chef, hat inzwischen die Fenster verstellen lassen. Seine Gäste können sie nur noch ankippen. Das soll helfen gegen das Geschrei über den Hof. Gegen das Geschrei entlang der Straße könne er nicht viel tun. Seinen Nachbarn werde wohl nur übrigbleiben, sich an die Touristen zu gewöhnen. Jeder Besucher sei gut für Berlin. Nicht jeder sieht das so. Im Wrangelkiez in Kreuzberg luden die Grünen im Frühjahr zu einer Versammlung, die hieß: „Hilfe, die Touris kommen“. Im Wrangelkiez an der Schlesischen Straße ist das „Mysliwska“, eine klassische Kreuzberger Bar, ein mythischer Ort. Im „Mysliwska“ gibt es kein Design, es gibt abgestoßene Möbel, blätternde Wände und einen welligen Fußboden, es gibt polnisches Bier, und durch die Fenster sieht man auf einer Hauswand den Spruch: „Fickt eusch allee“. Früher standen hier vor und hinter dem Tresen Künstler, die ganz genau wussten, dass sie die Avantgarde sind, und die hofften, 58
MAURICE WEISS / DER SPIEGEL
Anwohner Mierke, Mayr: Nachts kreischen nebenan die Mädchen
MAURICE WEISS / DER SPIEGEL
Hostel-Chef Winter: „Am Ende will der Kunde ein günstiges Bett“
Barbetreiber Luevano: Der Hausmeister ruft manchmal die Polizei
dass dies bald ein paar Leute merken würden. Kreuzberger Nächte sind schon länger zügellos, aber sie waren auch politisch, avantgardistisch und individualistisch. So entstand der Mythos von der Berliner Feier. In den neunziger Jahren wurde er durch eine östliche Komponente und die Tanzkultur der Clubs ergänzt. Der „Tresor“ ist die Wiege des deutschen Techno, später kam das „Berghain“ hinzu, neuerdings raunen alle vom „Kater Holzig“, einem Ort, der den Berlin-Mythos aufgreift und weitertreibt. Eine alte Fabrik, Gestrüpp, Holzlatten, Graffiti, Eisenkunst, gut essen, danach tanzen. Der Mythos ist das eine, das andere ist das, was er nach sich zieht. Wenn man das „Mysliwska“ verlässt, landet man nicht in Berlin, sondern in Partytown. Partytown besteht zu einem großen Teil aus Restaurants, die zugleich Cocktail-Bars und Kneipe sind oder zugleich Döner, Pizza, Burger anbieten, die irgendwie asiatisch sind, aber in Wahrheit gesichtslos international, kulinarisch-alkoholische Gemischtwarenläden, die ihre Happy Hour auf die ganze Nacht ausdehnen können. Billig muss es sein. „I make you a good price.“ Partytown besteht zu einem anderen Teil aus Spätkaufläden, in Berlin „Späti“ genannt, die bis in den frühen Morgen geöffnet haben und in gläsernen Kühlschränken 25 Sorten Bier anbieten. Denn D E R
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kein Bier ist billiger als das Bier, das man auf der Straße trinkt. Die Spätis machen die Straßen zur Kneipe und bringen eine eigene Nachtökonomie hervor. Die Flaschen, die nicht zerschellen, sammeln zerfurchte Männer mit riesigen Einkaufswagen ein, um das Pfand zu kassieren. Die Verkehrsader von Partytown ist die Oberbaumbrücke, die Kreuzberg mit Friedrichshain verbindet, den Wrangelkiez mit der Simon-Dach-Straße, in der sich ein gesichtsloses Lokal an das andere reiht. Über die Oberbaumbrücke ziehen die gelben U-Bahnen der Partylinie 1, hier wird das siebte Straßenbier getrunken, und hier stehen die Männer, die mit den stolzen Gesichtern von erfolgsverwöhnten Richtschützen in die Spree pinkeln oder gegen die lieblichen Aufbauten der Oberbaumbrücke. Es riecht, als wäre die Welt ein Klo. In diesen Nächten entsteht das neue Berlin. Der Wrangelkiez ist halb erobert, große Teile von Friedrichshain, auch die Oranienstraße in Kreuzberg, ein Gründungsort vom Berlin-Mythos West, und die Oranienburger Straße in Mitte, ein Gründungsort vom Berlin-Mythos Ost. Partytown treibt die Authentizität aus der Stadt. Kein Berliner, der etwas auf sich hält, würde zum Feiern in die Simon-DachStraße gehen. Die Nachtwelten entkoppeln sich, die Billigtouristen feiern berlinlos. Die Berliner Frontier ist noch nicht müde, sie wälzt sich weiter, hat nun schon
Gesellschaft den Landwehrkanal überquert und Neukölln erreicht, dieses fürchterliche, grässliche Sarrazin-Neukölln, wo die Kinder unbeschulbar sind, die Türken die Libanesen mit Messern bekämpfen, die Deutschen gemobbt werden, wenn sie Deutsch reden, und nahezu alle von Hartz IV leben, wenn sie nicht Obst & Gemüse verkaufen oder am Döner säbeln. Das sind die Klischees und Vorurteile über Neukölln. Niemand, der bei Trost ist, wäre da bis vor kurzem hingezogen. Aber das gilt nicht mehr. Ramses Luevano aus Mexiko, auch ein Pionier, hat im Norden von Neukölln an der Weserstraße die Bar „Gastón“ eröffnet. Vor fünf Jahren ist er in Berlin hängengeblieben, hat Restaurants in Prenzlauer Berg und in Kreuzberg aufgemacht, aber dort ist es ihm zu langweilig geworden. Neukölln muss es jetzt sein, der Norden von Neukölln „kommt“. Die „New York Times“ und der „Guardian“ haben bereits berichtet. Die Künstler sind schon länger da, die Kreativen, und das sind in Berlin auch Leute, die ein Café mit seltenen Teesorten eröffnen. „Berliner Boheme“, sagt Luevano. Hier findet sie noch Wohnungen mit hohen Decken und niedrigen Mieten. Noch. Schon stehen die Leute Schlange bei Wohnungsbesichtigungen. In den Türen der Häuser in der Weser-
straße hängen Zettel, Kiezversammlung, Thema: Mietentwicklung. Der Kampf hat schon begonnen, auch in Neukölln. Der alte Hausmeister ruft manchmal die Polizei, wenn ihm die Gäste im „Gastón“ zu laut sind. Der Norweger Einar Skjerven hat schon von Nord-Neukölln gehört, aber er wartet noch ab. Er ist Immobilienmanager und beschloss vor fünf Jahren, in das Spiel um Berlin einzusteigen, nachdem er von den niedrigen Mieten erfah-
Prenzlauer Berg ist langweilig, Neukölln muss es jetzt sein, der Norden von Neukölln. ren hatte. Die werden doch steigen, die müssen doch steigen, dachte er und legte einen Fonds für seine Firma Industrifinans auf. Etwa 1400 Wohnungen hat Skjerven inzwischen gekauft, auf einem Streifen, der sich von Pankow rechts oben nach Zehlendorf links unten zieht. Dazwischen liegen Prenzlauer Berg, Charlottenburg, Friedrichshain, Kreuzberg. Dieser Streifen sei wie das saftigste Stück beim Fleischer, sagt Skjerven. Er ist 45, auch Pionier, ein fröhlicher Mann, sein Haar hat er in den Nacken gekämmt. Er legt das Geld von reichen Skandinaviern an, aber auch die norwe-
gische Kirche hat bei ihm investiert und hofft nun, dass in Berlin die Mieten steigen, damit die Rendite stimmt. Wenn jemand auszieht, lässt Skjerven die Wohnung auffrischen – und verlangt danach 10 bis 25 Prozent mehr Miete. Die bekommt er auch. Die Zahl der Haushalte wächst, aber es werden kaum Wohnungen gebaut. An diesem Morgen stehen nur acht seiner Wohnungen leer. „Alle in der Branche reden über Berlin, das ist der aufregendste Wohnungsmarkt in Europa“, sagt er. Wenn die Mieten steigen, fällt in Berlin sofort das Hasswort „Gentrifizierung“. Es bedeutet, dass der Immobilienmarkt den Wandel der Stadt vorantreibt, dass „statusniedrigere gegen statushöhere Bevölkerungsgruppen ausgetauscht werden“. So sagt das Andrej Holm, Stadtsoziologe an der Humboldt-Universität in Berlin. Unter anderem wegen des Wortes Gentrifizierung war er in Untersuchungshaft. Er hat es schon früh benutzt, und dann stand es in Bekennerschreiben für Brandanschläge. Die Bundesanwaltschaft nahm das als Indiz, dass Holm Mitglied einer terroristischen Vereinigung sein könne. Das hat sich nicht bestätigt. In Berlin hängen Tourismus und Gentrifizierung meist zusammen. Die Immobilienmanager folgen der Spur des Feierns. Erst kommen die guten Bars,
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Es sind noch Wohnungen frei. Zwischen den Häusern hängen Angebote in Glaskästen, 250 Euro warm für 26 Quadratmeter Berlin. Raed Saleh, Abgeordneter der SPD in Berlin, geboren in Palästina, in der Siedlung Heerstraße Nord aufgewachsen, sagt: „Seit Kreuzberg ,in‘ ist, seit Neukölln ,in‘ ist, kommen die Leute her.“ Mehr als 800 Menschen, die Transferleistungen beziehen, Arme also, seien in einem Jahr neu nach Spandau gezogen. Noch keine Massenbewegung, aber ein Trend, findet Saleh. Die Innenstadt steigt auf, die Außenbezirke rutschen ab. Eine Metropole ruht nie, sie ist immer in Bewegung. In Berlin sieht das gerade so aus: Die Armen wandern in die Außenbezirke, die Straßen der Innenstadt werden veredelt oder verkommen als Teil von Partytown, je nachdem, in welcher Phase des Wandels eine Straße gerade steckt. Was macht das alles mit den Berlinern? Und das sind Deutsche, Türken, AmerikaProtest gegen Mietsteigerungen ner, Israelis, Franzosen, Araber, alle, die sich als Berliner fühlen, und das geht schnell in dieser Stadt. Sie reagieren nicht mehr blasiert auf die „Steigerung des Nervenlebens“ wie zu Zeiten von Georg Simmel. Sie schauen nicht mehr weg, sie sind entrüstet. Proteste überall, Berlin ist überreizt. Zum Symbol dafür wurde der Kampf um die Flugrouten. Im nächsten Jahr wird der neue Flughafen Berlin Brandenburg eröffnet, noch mehr An- und Abflüge, noch mehr Touristen. Anwohner in vielen Bezirken der Stadt demonstrierten gegen drohenden Fluglärm. Nun wird es vor allem die Leute treffen, die am Müggelsee leben. Sie demonstrieren jeden Montag in Friedrichshagen. Am Samstag vor einer Woche flogen Zum Beispiel an die Siedlung Heerstraße Nord in Spandau. Wohntürme mit klei- Farbbomben gegen Neubauten, mehrere nen Fenstern, manche in leuchtenden Far- tausend Leute demonstrierten gegen ben gestrichen, andere grau. Zwischen- hohe Mieten. Die Senatsverwaltung gab drin Grünanlagen, auf Bänken sitzen alte kürzlich bekannt, dass 15 Clubs von der Frauen, sprechen Russisch, viele Spätaus- Schließung bedroht seien, viele wegen siedler kamen nach Spandau. Es gibt ein der Klagen von Anwohnern. Die Polizei paar Kneipen und Discounter, vor denen bewacht regelmäßig die Admiralbrücke schon nachmittags die Trinker stehen. in Kreuzberg, damit es dort nicht zu Sonst gibt es nicht viel, eine Schlafstadt nächtlichen Konzerten und damit zu Protesten der Anwohner kommt. Daniel Daaus Beton. Touristen kommen nicht. STEFAN BONESS / IPON
eine „subkulturelle Infrastruktur“ entsteht, sagt Holm. Und dann ziehen die Leute ein, die es erhebend finden, in der Nähe der Boheme zu leben, und die sich das was kosten lassen. Der Kiez wird fein. Nachdem sich der Prenzlauer Berg gentrifiziert hatte, konnten nur 20 Prozent der ursprünglichen Bevölkerung bleiben, hat Holm ermittelt. Jens-Holger Kirchner hat nichts gegen Gentrifizierung. Er ist Stadtrat für Öffentliche Ordnung im Bezirk Pankow, zu dem auch Prenzlauer Berg gehört. Er ist ein Grüner. „Wir haben hier Millionen reingesteckt, weil die Kieze so verranzt waren“, sagt er. Und nun soll er der alten Zeit nachtrauern? Den Bruchbuden mit Ofenheizung? Will er nicht. Ihm gefallen die sanierten Wohnungen, die Feinkostläden, er freut sich über die Familien, die sich das alles leisten können. „Berlin ist, wenn die Zugezogenen gegen Verdrängung protestieren“, sagt er. Franz Schulz hat etwas gegen Gentrifizierung. Er ist auch bei den Grünen und Bürgermeister in Friedrichshain-Kreuzberg. Schulz sagt: „Die beste Bevölkerung ist die, die schon da ist.“ Er erzählt von den vielen Babys in Friedrichshain, von den neuen Clubs in Kreuzberg, den Leuten mit gutem Einkommen, die herziehen wollen, von den Investoren, die Hochhäuser am Spreeufer planen. Die Gesichter anderer Politiker würden glänzen vor Glück. Schulz sieht sorgenvoll aus. Es gebe, sagt er, einen Fonds aus Dänemark, der in Kreuzberg inzwischen berüchtigt sei, weil er Haus um Haus kaufe, die Mieten kräftig heraufsetze oder die Wohnungen gleich einzeln wieder verkaufe. Schulz kämpft mit seinen Bürgern gegen Verdrängung und viel Wandel. Andrej Holm hält sich raus bei diesem Streit der Grünen. Er sagt, ob Gentrifizierung „gut ist oder schlecht, ist objektiv nicht zu sagen. Das Ideal einer Stadtentwicklung, die für alle gut ist, gibt es nicht“. Eine Stadt sei nun einmal „Verteilungskampf und Konflikt“. Aber eines weiß er genau: „Die Armut wandert vom Zentrum an die Stadtränder.“
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THOMAS TRUTSCHEL / PHOTOTHEK
Touristen an der Gedenkstätte Berliner Mauer: Noch billiger, noch wüster
gan protestiert gegen illegale Ferienwohnungen, Marion Mayr gegen ein Hostel. Berlin ist einer großen Zahl von Berlinern zu laut und zu teuer geworden. Sie wollen nicht mehr die Erzeuger vom Berlin-Feeling für andere sein, zu eigenen Lasten. Sie wollen mehr Heimat, weniger Weltmetropole. Das ist jetzt das Dilemma der Stadt, sie lebt davon, dass sie als weltoffen, belastbar und cool gilt; Tourismus ist einer der wichtigsten Wirtschaftszweige in Berlin. Im vergangenen Jahr stieg die Zahl der Übernachtungen um 10,2 Prozent, in der ersten Hälfte von 2011 waren es 6,5 Prozent. Der Boom geht weiter. Aber dörfliche Ruhe und Unbewegtheit wären manchem Berliner gerade lieber. Ein weiteres Problem ist, dass die Stadt die Basis ihres Erfolgs verlieren könnte. Es gibt den Satz von Hans Magnus Enzensberger: „Der Tourist zerstört, was er sucht, indem er es findet.“ In Berlin findet er das, was er sucht, indem er es selbst herstellt. Das, was ihn ursprünglich angezogen hat, wird dabei verdrängt. Vielleicht werden auch die Billigtouristen eines Tages merken, dass sie nicht eine Berliner Party erleben, sondern in Berlin eine Party, dass sie dabei sind, die Authentizität, die sie suchen, abzuschaffen, dass sie selbst die Stimmung erzeugen, von der sie dachten, es sei diese Wahnsinnsstadt. Die Pariser Steine kann man nicht mitnehmen, das Berliner Feeling aber schon, wenn es nur noch darum geht, für wenig Geld eine ganze Nacht gefeiert und in einen Fluss gepinkelt zu haben. Vielleicht gibt es das bald anderswo noch billiger, noch wüster. Partytown kann jederzeit umziehen. Was kann man tun, um Berlin als eine Weltmetropole zu erhalten, die den Berlinern eine Heimat ist? Klaus Wowereit, 64
der Regierende Bürgermeister, hat da eine radikale Haltung. Auf die Frage, ob seine Berliner das alles aushalten müssen, sagt er: „Ja, das müssen sie aushalten. Die Stadt muss sich verändern. Wir haben lange genug in einer Nische gelebt. Wer das konservieren will, stülpt auf andere Weise die Käseglocke über Berlin, die die CDU-Politiker Landowsky und Diepgen schon einmal über die Stadt gelegt hatten. Ich erinnere mich noch gut, wie furchtbar das war. Das stank ja schon.“ Das Restaurant „Tim Raue“ in Kreuzberg ist ein Ort, wie es ihn nur in Berlin gibt. Tim Raue stammt aus dem Kreuzberger Straßenbandenmilieu, jetzt ist er einer der besten Köche der Stadt. Edelholz und blaue Sessel, an der Wand hängt ein Gemälde, das volle Mülltüten zeigt. Bei einem Mittagessen mit dem Soziologen Heinz Bude fällt hier der Satz: „Die Partyzone in Kreuzberg ist ekelhaft.“ Aber von den Protesten hält Bude auch nichts. Dahinter steckten „kleinbürgerliche Motive“ einer „romantischen Ursprungspopulation“. Budes Konzept für Berlin sieht so aus: Die Touristen „sollen kommen, aber sie sollen zahlen, viel zahlen“. Dann reguliere sich das schon. Und die Berliner müssten ihre Haltung ändern. Derzeit sei ihre Stadt „ein konsumistischer Raum“ für die Welt. „Die Haltung“, sagt Bude, dürfe „nicht sein: Wir verkaufen uns, sondern: Wir bieten was“. Man müsse Alternativen zum Tourismus entwickeln, der Welt zum Beispiel Wissen verkaufen oder Produkte, die so nur aus Berlin kommen können. Bei der Mode gebe es Anfänge. Wenn Berlin weiterhin so stark auf den billigen Tourismus setzt, ist es bald wirklich ein gigantischer Ballermann. Man kann davon leben, aber es ist unangenehm, und ein bisschen würdelos ist es D E R
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auch für eine so große, alte Stadt. Berlin wäre nicht mehr Berlin. „Do you have a reservation?“, fragt die Kellnerin vom Restaurant „The Bird“ in Prenzlauer Berg. Hier gibt es Hamburger, um die Tische tanzen schwitzende Männer, die Bier aus Glaskrügen trinken. Ein Mann brüllt, dass er Jake heiße und nackt geboren worden sei, yeah, die Kellnerinnen tragen kurze, enge Hosen und fragen: „Are you guys ready to order?“ Deutsch würden sie nur im Notfall sprechen, dem amerikanischen Essen folgt nun die Sprache. Im „The Bird“ ist von Berlin nichts mehr übrig.
Gegendarstellung In der Ausgabe von „DER SPIEGEL“ vom 06.06.2011 wurde der Artikel „Das Schweigen der Hühner“ veröffentlicht. Dieser Beitrag enthält unwahre Behauptungen über mich: Dort heißt es: – „ … Bensi … erklärt, warum die Deutschen sich ernährten wie Barbaren.“ – Weiter werde ich zur Qualität von Tomaten, die zu Tomatenmark verarbeitet werden, zitiert: „Der Müll“. – Außerdem heißt es: „Bensi erzählt nun, was er glaubt, … Firmen aus Süditalien würden Tomatenmark aus China in 240Liter-Stahlfässern importieren. Dieses Tomatenmark werde mit italienischem Leitungswasser gemischt und als ,Passierte Tomaten aus Italien‘ verkauft. 95 Prozent der günstigen passierten italienischen Tomaten … kämen aus China.“ Diese Darstellungen sind allesamt falsch. Ich habe keine dieser Aussagen gemacht. Piacenza, 29.06.2011 Marcello Bensi Der SPIEGEL ist nach Paragraf 11 des Hamburgischen Pressegesetzes verpflichtet, die Gegendarstellung ohne Rücksicht auf ihren Wahrheitsgehalt abzudrucken.
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WORMS
Beweglicher Grußarm Ortstermin: In Worms-Pfeddersheim kommen militärische Antiquitäten aus dem Zweiten Weltkrieg unter den Hammer.
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BERT BOSTELMANN / BILDFOLIO
Wer will so etwas? Im Publikum finden ommt noch was?“, fragt Alexan- hübsche Puppen, und im Bereich Eisender von Renz von seiner Kanzel bahnen bis Spurbreite 16,5 Millimeter ist sich zwar viele Glatzen, aber das ist alherunter. Es kommt nichts mehr, sein Haus führend. Der ganze Ärger fing tersbedingt. Die Sammler reden nicht sein Hämmerchen geht nieder. Der „SS- an für Erich Lösch, als er auch Spielzeug gern mit der Presse. Und wenn doch, Helm, Modell 1935, komplett mit Innen- aus den dreißiger und vierziger Jahren dann nur ohne Namen. Sie wissen, dass futter und Kinnriemen“ geht für 165 Euro ins Sortiment aufnahm. Weil er die Sa- ihr Hobby einen schlechten Ruf hat. Ein chen nicht wegschmeißen wollte, wenn Herr aus Stuttgart, der seit 30 Jahren an einen Telefonbieter. Rund hundert Sammler sind persönlich wieder ein kompletter Nachlass bei ihm sammelt, will seine Kollektion „Eiserne angereist zur „27. Wormser Militaria-Auk- eintraf. Vor fast jeder Auktion geht seit- Kreuze“ komplett kriegen, er sammelt tion“ in Worms-Pfeddersheim, über 400 her eine anonyme Anzeige gegen ihn ein, getrennt nach Herstellern. Ein junges Artikel sollen über den Tisch gehen, Or- mehrmals meldete sich der Verfassungs- Ehepaar aus dem Raum Bielefeld, sie den und Ehrenzeichen, Uniformen, Kopf- schutz, einmal kam die Polizei und wollte hochschwanger, hat alte Familienalben gekauft, denn die beiden betreiben zum bedeckungen, Schulterstücke, Waffen, Ur- gleich den Laden schließen. Lösch ist Radikalsammler. Sobald er Geldverdienen einen kleinen Online-Hankunden, Fotoalben, das meiste aus dem Zweiten Weltkrieg. Militaria-Fans aus der von etwas drei Stück hat, macht er eine del mit Weltkriegsfotografien. Das verlange Fingerspitzengefühl bei ganzen Welt bieten telefoden Bildbeschreibungen, sagt nisch oder schriftlich mit. er. Wo andere „Toter Neger „Das Hakenkreuz ist da halt am Baum“ drunterschreiben immer mit drauf“, sagt Renz würden, stehe bei ihm „Erspäter mit entschuldigendem hängter Kolonialsoldat“. Bedauern, „so wie auf allem Nur einer der Käufer lässt Preußischen nun mal der sich namentlich zitieren. Adler drauf ist.“ John Harron, 44, ist AmeriRenz, 41, lebt sein Leben in kaner und lebt in Wiesbaden. Verteidigungsstellung. Immer Er sammelt „military stuff“ ist da dieser Verdacht. Sobald aus Leidenschaft und als der Militaria-Händler jemanWertanlage, seine Pretiosen dem erzählt, was er beruflich schätzt er auf eine halbe Milmacht, kommt die Frage zulion Euro. Deutsche Militaria rück, ob er nicht dauernd mit erzielen weltweit viel höhere Rechtsradikalen zu tun habe, Preise als Armeeantiquitäten ob er nicht vielleicht selber eianderer Länder. In den verner sei. Hat er aber nicht, sagt gangenen Jahren sei ein richer. Ist er schon gar nicht. tiger Boom entstanden, sagt Die Leute sammeln nun Auktionator Renz (2. v. l.): Alle wollen deutsches Zeug Harron, „alle wollen deutmal gern. Einer sammelt Batman-Comics, ein anderer Überraschungs- Sammlung auf. Er häuft auch historische sches Zeug“. Das Angebot wächst, weil ei-Figuren und ein Dritter eben Soldaten- Reklameschilder an, Romano-Levi-Grap- die Kriegsgeneration definitiv verschwinnippes. Bei ihm selbst, sagt Renz, liege pa-Flaschen, Louis-Vuitton-Taschen. Im det und die Speicher geleert werden. Und es in der Familie, badischer Militäradel, Erdgeschoss liegen die Spielsachen aus. die Nachfrage wächst, glaubt Harron, lauter Stabsoffiziere in der Ahnenreihe, Lösch zeigt die Vitrinen mit Soldaten- weil sich auch in Deutschland langsam der Großvater Truppenarzt in beiden figürchen, es sind Hunderte, sieben Zen- eine Wertschätzung entwickle für die miWeltkriegen. Man müsse das trennen, timeter hoch, wie sie die Firmen Lineol litärischen Leistungen der Vergangenheit. sagt Renz, das Militärhistorische und das und Elastolin bis 1945 herstellten. „Alles, „Sie hatten die besten Kommandeure! Ideologische. Aber wie macht man das? was es in der Wirklichkeit gab, gab es Die besten Waffen! Überlegene TechnoGibt es eine Schönheit des Löwenkopf- auch als Spielzeug“, erklärt Lösch, für die logien!“ Und die Sache mit dem Nationalsäbels ganz abgesehen vom Heeresadler Kinder daheim. Jede erdenkliche militä- sozialismus? Harron wischt mit der Hand auf dem Bakelitgriff? Der Säbel geht für rische Spezies ist zu sehen, da sind Feld- durch die Luft. „Hundert Jahre her!“ Er pfarrer, Feldbäcker, ein SA-Mann bei der rechnet nach. „Beinahe.“ 1350 Euro. Alexander von Renz glaubt nicht an Renz’ Geschäftspartner Erich Lösch, Morgenwäsche sowie sämtliche Führungs54, Gründer des Auktionshauses, kann persönlichkeiten als Einzelanfertigungen, die These vom schwindenden schlechten die Nazi-Frage nicht mehr hören. „Das darunter „Dr. Goebbels in Zivil“ oder Gewissen der Deutschen. Das Schuldbeist doch hier jedem völlig klar, dass das „SA-Stabschef Ernst Röhm stillgestanden“. wusstsein werde noch Generationen beeine Riesenschandtat war, damals.“ Er Zu den Höhepunkten der Auktion gehört lasten, sagt er, „und zwar zu Recht“. Dass der Markt blüht, das jedoch kann verkaufe historisches Kulturgut. Und mit ein Paradewagen des Führers, „mit richtiKriegsverherrlichung habe er „so was von ger Kardanwelle“, und, so der Katalog, er bestätigen. 410 Posten hat er heute vernichts zu tun“. Sein Gebiet ist eigentlich „besetzt mit vier Figuren, dabei A. Hitler steigert. Umsatz: 75 000 Euro. das antike Spielzeug, bunte Modellautos, mit beweglichem Grußarm (dieser lose)“. GUIDO MINGELS D E R
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Das Blech des Stärkeren M
ünchen, ein Dienstag Ende August, gegen 8.30 Uhr: Zum ersten Mal an diesem Tag rückt ein Krankenwagen aus, um einem verletzten Fahrradfahrer zu helfen. Ein 43-Jähriger wollte einen entgegenkommenden anderen Radler anhalten, der auf der falschen Seite der Straße unterwegs war. Das hätte er besser nicht getan. Statt anzuhalten, schlägt der Geisterfahrer mit der Faust gegen dessen Arm und rast davon. Sein Opfer bleibt mit einem Knochenbruch zurück. Ohne Unterbrechung geht es weiter, quer durch die Stadt sind Fahrradfahrer in Unfälle verwickelt. Eine Radlerin prallt gegen eine gerade geöffnete Autotür. Eine andere fährt gegen eine Mülltonne, die ein Anwohner soeben auf den Gehweg schiebt. Der Nächste übersieht eine Frau, die aus einem Linienbus steigt. Es ist kurz vor halb zehn am Abend, als auf der Nymphenburger Straße ein Auto ausparkt und eine Radfahrerin übersieht. Die 50-Jährige kann nicht mehr ausweichen, stürzt, prellt sich den Arm und muss im Krankenhaus behandelt werden. Insgesamt elf Unfälle, an denen Fahrradfahrer beteiligt waren, notiert die Polizei für diesen Tag. Ungezählt bleiben Flüche und Schimpftiraden, geballte Fäuste, Rangeleien, für die es keine Zeugen gibt und kein Ermittlungsprotokoll. Auf deutschen Straßen verrohen die Sitten. Da wird gepöbelt und gedrängelt; Autofahrer, Fußgänger und Radler kämpfen um ihren Platz auf engem Raum. Jeder Zentimeter zählt, jedes Mittel ist willkommen, jeder will der Erste sein. Freiwillig zu bremsen oder stehen zu bleiben kommt nur in Frage, wenn es gar nicht mehr anders geht. Quer durchs Land stürzen sich Menschen in diesen neuen Straßenkampf, in einen Wettlauf der Aggressionen, doch eine Gruppe treibt es besonders wild: Fahrradfahrer. Ampeln scheinen für viele von ihnen nicht zu existieren, Stoppschilder werden gern übersehen, Einbahnstra66
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ßen sind nur für die anderen da. Störende Autofahrer werden zur Not mit der flachen Hand durch einen gezielten Schlag aufs Dach ermahnt. Früher galt der Mercedes-Stern als Symbol der eingebauten Vorfahrt, jetzt ist es der Fahrradlenker. Wer dahinter auf seinem Sattel sitzt, nimmt gern den gesamten Straßenraum für sich in Anspruch. Mal geht es auf dem Bürgersteig ein bisschen schneller voran, mal auf der Busspur oder auch kreuz und quer zwischen den Autos im Stau. Man muss nur einmal in Berlin Unter den Linden mit dem Auto vor einer Ampel bremsen, die auf Rot springt, wenn Studenten morgens zur Uni und Angestellte ins Büro radeln. Binnen Sekunden ist der Wagen umzingelt, links und rechts schießen die Räder vorbei, die meisten rasen gleich weiter, der Rest sucht vor dem Kühlergrill auf dem Fußgängerüberweg die Poleposition und versperrt nun – Triumph! – zugleich Autofahrern und Passanten den Weg. Danach geht’s für Autos und Busse im Tempo der langsamsten Radler weiter, die demonstrativ nebeneinander fahren und für Überholversuche nur vorwurfsvolle Blicke übrighaben. Ende August präsentierte das Statistische Bundesamt seine Zahlen über Unfälle mit Radfahrerbeteiligung. Demnach gab es in diesem Jahr von Januar bis Mai bei Unfällen 137 Getötete, ein Zuwachs um 7, 9 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Die Zahl der Schwerverletzten stieg sogar um 43,5 Prozent auf 5045. Solche Zahlen können zwar je nach Wetterlage schwanken, der Trend ist in den vergangenen Jahren insgesamt sogar leicht rückläufig. Doch bleibt ein Befund konstant: Radfahrer sind als Gruppe überproportional betroffen. Über 500 000 Menschen sind in Berlin bereits täglich mit dem Rad unterwegs, mehr als doppelt so viele wie vor zehn Jahren. In Freiburg legen die Einwohner schon ein Drittel ihrer Wege auf dem Rad
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NORBERT MICHALKE / DER SPIEGEL
Auf deutschen Straßen verrohen die Sitten. Rücksichtslos kämpfen Radfahrer gegen Autofahrer und Fußgänger um ihren Platz auf engem Raum. Schuld an der wachsenden Aggressivität ist auch eine verfehlte Verkehrspolitik.
Berufsverkehr in Berlin
JULIAN ROEDER / OSTKREUZ / DER SPIEGEL
Titel
Risikofaktor Auto: „Verschwinde, verdammt noch mal!“
zurück, bundesweit sind es rund zehn Prozent, bei steigender Tendenz. Bereits jetzt sind die Deutschen Europameister im Fahrradkauf und besitzen fast doppelt so viele Räder wie Autos: über 70 Millionen. Auf der weltgrößten Branchenmesse Eurobike feierten die Hersteller in Friedrichshafen gerade erst ihre jüngsten Erfolge und Erfindungen, als wären sie die neuen Porsches und Daimlers der Mobilität. Die Machtverhältnisse auf den Straßen ändern sich, zwischen Blechlawinen im Stau windet sich eine Armee von Einzelkämpfern an die Spitze; auf dem Asphalt entwickelt sich eine neue, wilde Gesell-
Fahrräder für alle Fälle Eine Modellauswahl
schaftsordnung, die mit alten Revieransprüchen und Verkehrsregeln kollidiert und zu bissigen Gefühlsausbrüchen führt. „Auf dem Fahrrad wird der Mensch zum Monster“, lästert die Münchner Autorin Annette Zoch in ihrem „Fahrradhasserbuch“. In Berlin wurden schon Plakate mit dem Slogan „Kampf den Kampfradlern“ aufgehängt. Die unangenehmsten Seiten der deutschen Verkehrsteilnehmer treten nun noch schärfer als in der Vergangenheit hervor, es geht um die Hoheit im Straßenverkehr, um Rechthaben und das Erteilen von Lektionen. Lieber fährt man frontal auf den Gegner zu, als die eigene
Pedelec Normales Fahrrad – nur mit elektrischer Anfahrund Schiebehilfe.
Fixie Ursprünglich für Bahnradsportler: „fixed gear“ (starrer Gang), keine Bremse und überhaupt: absolut verkehrsuntauglich. Kommt nur gut mit Kuriertasche. 68
Mietrad Touristen öffnen das Schloss mit einem Code und erobern fremde Städte im Sattel.
Cargobike Bekannte Lastenradfahrer sind Bäcker und Postboten. Liegerad Wirbelsäulenfreundliche Lage im Schalensitz; ganz vorn sind die Pedale. Bierbike Oben bechern, unten treten. Die rollende Theke ist das einzige Fahrrad mit „Antriebslärm“.
Rikscha Der MenschenKraft-Wagen (japanisch: jin-riki-sha) ist die Mutter aller Taxen. D E R
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Vorfahrt aufzugeben; das Gefühl, moralisch überlegen zu sein, weil Fahrräder gut fürs Klima sind, ermächtigt zum konstanten Regelbruch. Ein neuer StraßenDarwinismus macht sich breit, in dem das Blech des Stärkeren nicht mehr automatisch überlegen ist. Jahrzehntelang war das Auto das Maß aller Dinge, war die autogerechte Stadt der schönste Traum der Kommunalpolitik, wurden Architekten und Städteplaner wie Le Corbusier für ihre Highway-trifftHochhaus-Visionen als Helden der Moderne gefeiert. Jetzt drängen die Fahrradfahrer nach vorn, selbstbewusst und aggressiv, und verlangen mehr Einfluss, ei-
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Einrad Für Minimalisten, die auf Vorderrad, Lenker und Bremse pfeifen.
JULIAN ROEDER / OSTKREUZ / DER SPIEGEL
gene, breite Spuren auf den Straßen und genügend Parkplätze für ihre Citybikes – zu Lasten der Autofahrer und anderer Verkehrsteilnehmer. Und immer mit Blick auf eine Neudefinition des öffentlichen Raums. Deutschland, die Auto-Nation, wandelt sich zur Radl-Republik. Neben der Energiewende findet eine Verkehrswende statt, eine Volksbewegung, die das Leben auf den Straßen verändert. Und sehr viel bunter macht. Da gibt es Omas, die auf ihrem elektronisch hochgerüsteten Pedelec am gemütlichen Velotaxi vorbeisausen; Pizzaboten, die sich auf ihrem neuen Cargobike an Müttern mit extrabreitem Kinderanhänger vorbeischlängeln; oder Mountainbiker, die gut gefedert auf dicken Reifen mühelos jeden Bordsteig nehmen und die ganze Stadt als Trekkinggebiet betrachten. Sie haben ja nichts zu verlieren – außer ihren Ketten. Kein Radweg ist für sie gut oder groß genug. Sogenannte Conferencebikes benötigen mit bis zu sieben im Kreis sitzenden Radlern leicht den Platz eines Kleinwagens, Bierbikes verlagern gleich eine ganze Theke auf die Straße. Wagemutige suchen auf ihrem „Fixie“ zwischen Autokolonnen einen besonderen Nervenkitzel, obwohl das Berliner Verwaltungsgericht die bremsenlosen Vehikel (siehe Grafik) als „Gefahr für die öffentliche Sicherheit“ bezeichnet hat. Veteranen können sich schon an die späten siebziger Jahre erinnert fühlen, als alternative Fahrradschrauber basisdemokratisch an einer ökologischen Verkehrswende bastelten, Manufakturen und Kollektive gründeten und Visionen gegen den motorisierten Individualverkehr entwarfen. Größere Konsequenzen hatte das nicht, das Hollandrad mit dem AntiAKW-Aufkleber blieb ein eher rührendes Symbol. Jetzt sehen sie ihre Zeit gekommen. „Wir wissen alle, dass das fossile Zeitalter zu Ende geht, wir wissen, dass wir eine existenzbedrohende CO2-Problematik haben, wir wissen, dass unsere Gesellschaft
Stefan Schmidt, 44 Jahre, Rikscha-Fahrer aus Berlin: „Ich versuche, auch bei stärkstem Verkehr immer gelassen zu bleiben. Bei mir geht es sowieso nicht darum, der Schnellste zu sein, sondern meinen Kunden etwas von der Stadt zu zeigen. Deshalb kann ich auch gut den anderen Verkehrsteilnehmern die Vorfahrt überlassen. Mein Traum wäre es, wenn die Strecke Unter den Linden bis Brandenburger Tor komplett autofrei bliebe.“
unter Bewegungsmangel leidet, wir spüren, dass der immer weiter anwachsende Verkehr einen enormen Landschaftsverbrauch mit sich bringt.“ So formuliert es Albert Herresthal, dessen Verbund Service und Fahrrad aus der alternativen Radlerbewegung hervorgegangen ist. Was damals eine Nischenposition war, wird gesellschaftsfähig; der Aufschwung der Grünen steht auch für ein Lebensgefühl, in dem die neue 33-Gang-Kettenschaltung mehr Eindruck macht als ein 300-PS-Motor. Der Anteil junger Menschen, die ein eigenes Auto für erstre-
Dreirad für Rentner Mobilmachung für Senioren. Die kippsicheren Drahtesel schaffen mehr Nutzlast als jeder Shopper.
Faltrad In den Sechzigern als Klapprad berühmtberüchtigt. Heutige Modelle werden so raffiniert gefaltet, dass sie teils im Handgepäck mitreisen dürfen.
benswert halten, sinkt seit Jahren. „Das Rad ist zuweilen das, was früher das Cabrio war: ein Statussymbol!“, räumte im Mai, ungläubig staunend, sogar der ADAC in seiner Zeitschrift „Motorwelt“ ein. Solche Anerkennung haben die Radler vom Klassenfeind bis dahin wohl noch nicht bekommen. Nur die Politik hat sich noch nicht überall darauf eingestellt, viele Verantwortliche in Bund, Ländern und Gemeinden nehmen den Verkehr immer noch durch die getönten Scheiben ihrer Dienstwagen wahr. Handtuchbreite, schlecht gepflasterte, auf den Bürgersteig gequetschte Fahrradwege stehen bis heute in vielen Städten für eine missratene Verkehrspolitik, die als Hauptgrund für die Probleme auf den Straßen gelten kann. Der Bund geht mit schlechtem Beispiel voran. Obwohl die insgesamt rund 38 000 Kilometer langen Bundesstraßen in seiner Verantwortung bislang knapp zur Hälfte mit Radwegen ausgestattet sind, kürzte Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) die Investitionen dafür dieses Jahr von 100 auf 80 Millionen Euro – für den Straßenbau stehen dagegen 7,1 Milliarden Euro bereit. Auch grundsätzlich zeigt die konservativ-liberale Regierung wenig spürbares Interesse, ihre autofreundliche Politik mit dem wachsenden Fahrradverkehr in Einklang zu bringen. Zwar will Ramsauer die Interessen von Rad- und Autofahrern berücksichtigen und ruft alle Verkehrsteilnehmer zur Ordnung: „Für Rambos ist auf deutschen Straßen kein Platz – egal ob sie am Steuer eines Autos oder auf einem Fahrrad sitzen.“ Doch der „Nationale Radverkehrsplan“, den Rot-Grün 2002 zur „Förderung des Radverkehrs in Deutschland“ beschlossen hatte, läuft in wenigen Monaten aus. Über einen Nachfolgeplan wird derzeit noch nachgedacht. Angela Merkel (CDU) könnte ein Beispiel geben. Doch die Kanzlerin setzt auf andere Symbole. Diese Woche wird sie, wie jedes Jahr, die Internationale Automobil-Ausstellung in Frankfurt eröffnen
Tandem Bietet Platz für mindestens zwei Fahrer. Lange Versionen messen auch schon mal 28 Meter.
Laufrad für Kinder Im Prinzip die Draisine des Freiherrn von Drais. Pedale gibt es nicht.
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Kinderanhänger Moderne Fahrgastzelle: Sicherheitsgurt, Knautschzone und Stauraum für die Babytasche.
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BMX-Rad Der Freestyler geht damit in die Halfpipe. „E.T.“ brachte es sogar zum Fliegen. Velomobil Der einzige „Pkw“, der Radwege benutzen darf. Die Vollverkleidung hält Wind, Regen und Schmutz fern.
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Doch bald setzte auch schon der Niedergang ein. Fahrradhersteller wie Edoardo Bianchi, Adam Opel oder Armand Peugeot und ihre Partner oder Erben nutzten Erfindungen wie Kettenantrieb, Speichen und Differentialgetriebe für ein noch viel größeres Geschäft: den Autobau. Bestehende Fahrradwerkstätten wurden nach und nach durch Autowerkstätten ersetzt, Autofahrer eroberten jene Straßen, deren Ausbau die Fahrradindustrie zuvor energisch gefordert hatte. Der Siegeszug des Autos begann, Fahrräder wurden an den Rand gedrängt oder ganz aus dem Verkehr verbannt. Anfang dieses Sommers, am 5. Juni in Berlin, schien es zumindest einen Tag lang, als wäre diese Verbannung endgültig abgelaufen, als kehrten die Radler an ihren angestammten Platz zurück. Schließlich waren sie vor den Autos da. 150 000 von ihnen legten auf einer Sternfahrt das Zentrum lahm und forderten „freie Fahrt für freie Räder“. Verdutzte Autofahrer mussten warten, bis der Tross Radfahrer in einer Fußgängerzone: „Für Rambos ist auf deutschen Straßen kein Platz“ verschwand und die Invasion fürs Erste und die Branche und ihre neuesten Li- Robert Penn. Er hat diese Entwicklung überstanden war. Große und kleine Machtdemonstratiomousinen feiern. Fahrräder bleiben Fach- in seinem Buch „Vom Glück auf zwei politikern aus den hinteren Reihen über- Rädern“ beschrieben, für ihn ist das Fahr- nen gab es auch in anderen Städten, Mitte rad „eine der größten Erfindungen der August etwa in Frankfurt am Main. Eskorlassen. „Die meisten Kollegen im Bundestag Menschheit“, gleich neben Druckerpresse, tiert von einem stattlichen Polizeiaufgebot, rasten 2000 Fahrradfahrer über die Stadtsehen das Fahrrad nur als Freizeitgerät“, Telefon und Elektromotor. autobahn, dann eroberten sie – ohne Amlästert der verkehrspolitische Sprecher peln beachten zu müssen – alle vier der Grünen, Stephan Kühn. „Autos haSpuren einer Ausfallstraße und winkten ben immer Vorrang“, sagt seine SPDvergnügt bis hämisch den zum Warten verKollegin Kirsten Lühmann. Und für die dammten BMWs und Porsches der BanUnion beschreibt der Abgeordnete Gero kenmetropole zu. Zwischendurch versamStorjohann, warum fahrradpolitisch aus melten sie sich vor einem Stützpunkt ihres seiner Sicht so wenig zu erreichen ist: mächtigen Gegners ADAC, den sie als „Das Geld fehlt.“ Relikt der Geschichte, als historisch überDabei gibt es längst eine Renaissance holten „Blechkistenverein“ verspotteten. jener Technik, die Ende des 19. Jahrhun„In dieser Nacht gehört Frankfurt uns“, derts schon einmal den Verkehr revolurief ihr Anführer in die Menge. Werner tionierte. Fahrräder wurden damals zum Buthe, 51, stand in kurzen Radlerhosen Massenprodukt. Auf der Stanley Bicycle auf einem Fahrradanhänger, er hat die Show in London – ein Vorgänger der heuerste Frankfurter „Bike-Night“ organitigen Automessen – führten 1895 mehrere siert, um noch mehr Menschen aufs Rad hundert Hersteller dem staunenden Puzu bekommen und ein friedliches Miteinblikum schon 3000 verschiedene Modelle ander im Verkehr einzufordern. vor. In den USA wurde die FahrradinduHinter ihm glomm das schwarz-gelbe strie zu einem der wichtigsten WirtLogo der Autolobby, dessen Buchstaben schaftszweige des Landes. Christoph Reuss, 46, im verregneten Abendhimmel wie eine Millionen Menschen hatten ein neues Arzt aus Freiburg, untergehende Vision zu zerfließen schieTransportmittel zur Verfügung, Mobilität mit Maria, 5, und Jakob, 11: nen. Und vor ihm drängelten sich seine war nicht länger ein Privileg der OberRadler, die Mitglieder und Anhänger des schicht, Arbeiter konnten nun zur Fabrik „Wir sind jeden Tag mit dem Rad unAllgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs pendeln und mussten nicht länger zusamterwegs. Mein Sohn fährt zur Schule ADFC, einige von ihnen sprachen düster mengepfercht in Laufnähe der Schlote und ich zur Arbeit und zwischendrin von einem „Krieg auf der Straße“. wohnen, Vororte breiteten sich aus. Könnte es nicht auch etwas friedlicher Und auf dem Land setzte sich der Genrasch zum Mittagessen nach laufen? Vielerorts hat sich der Ton auf pool neu zusammen. Familiennamen, die Hause. Das dauert nur 10 Minuten, der Straße dramatisch verschärft. Zum jahrhundertelang an wenige Dörfer gemit dem Auto brauche ich 20. Beispiel in Hamburg an einem Spätsombunden waren, tauchten allmählich in Denn Freiburg ist an vielen Stellen mermorgen im Stadtteil Eimsbüttel. Etwa Orten auf, die viele Kilometer entfernt wirklich autofahrerunfreundlich. 20 Schulkinder warten an einer vierspulagen – der Radius für die Brautschau Ich fahre überwiegend mit dem Rad, rigen Kreuzung der Osterstraße auf Grün, hatte sich, dem Zweirad sei Dank, eraber man muss den Autofahrern alle suchen ihren Weg durchs Chaos, die weitert. ja nicht Steine in den Weg legen.“ Nerven liegen blank. Es wird gekeift, ge„Das erste goldene Zeitalter des Rades hupt und geklingelt. Als sich ein Junge begann“, schwärmt der englische Autor 70
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Fahrradunfall in Dresden: Verkehrspsychologen beobachten fassungslos, was die Straße aus ihren Benutzern macht
auf seinem Rennrad an der Autoschlange vorbeidrängelt, dreht ein Autofahrer seine Fensterscheibe herunter: „Verschwinde, verdammt noch mal!“ In Berlin radelt Ulrike Amthor, 70, von einem Aldi-Markt in Prenzlauer Berg nach Hause. Andere Fahrradfahrer machen ihr Angst. „Viele stoppen nicht mehr an der roten Ampel und rasen ohne Rücksicht durch die Straßen“, schimpft sie. „Ich finde es unverschämt, dass die Verkehrsregeln ständig missachtet werden.“ Besonders bedroht fühlen sich Passanten wie Bernd Irrgang. Er ist Vorsitzender des Bundes der Fußgänger und sieht seine Klientel als bedrohte Spezies. Rüpel im Verkehr will er persönlich zur Vernunft bringen, es kümmert sich ja sonst niemand darum. „Die Radler gelten bei der Politik immer als die Guten“, sagt Irrgang. Deshalb lauert er in Frankfurt am Main an der Konrad-Adenauer-Straße auf Fahrradfahrer, die über den Bürgersteig brettern, anstatt zu schieben. Er möchte sie anhalten und ermahnen, aber das ist eine hoffnungslose Mission: „Immer wieder werde ich beschimpft und für blöd erklärt.“ Natürlich sorgt sich auch die Polizei um die Verkehrsmoral. In vielen Städten 72
beobachtet sie bei Radfahrern ähnlich gefährliche Verhaltensweisen wie bei Autofahrern. Das Telefonieren mit dem Handy gehört ebenso dazu wie das Verschicken von SMS beim Freihändigfahren, am besten noch untermalt durch laute Musik aus voluminösen DJ-Kopfhörern – sollen halt
Fest im Sattel Weltweite Fahrradproduktion in Millionen 120
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die andern aufpassen, es wird schon nichts passieren. Hinzu kommen Klassiker wie fehlende Beleuchtung oder mangelhafte Bremsen. Zwar sind häufig rücksichtslose Autofahrer an Unfällen schuld. Ebenso oft verursachen aber unvorsichtige oder aggressive Fahrradfahrer einen Crash. Radler „überschätzen ihre eigenen Fähigkeiten“ regelmäßig, heißt es in einer aktuellen Analyse der Berliner Polizei; sie steuern Vehikel, die oft nicht verkehrssicher sind, befahren „verbotswidrig“ Straßenteile und schlängeln sich „ohne ausreichenden Platz“ an Autos vorbei. Und wenn’s kracht, rasen sie manchmal einfach davon. In München, wo die Zahl der Radlerunfälle im ersten Quartal 2011 – auch witterungsbedingt – um über 40 Prozent zunahm, ist die Hälfte aller Zusammenstöße selbstverschuldet. „Wir brauchen eine neue Kultur des Radfahrens“, sagte Robert Kopp, der Vizepräsident der Münchner Polizei. Seine Beamten haben in diesem Sommer 12 500 Fahrradfahrer kontrolliert, 60 Prozent von ihnen hatten Verkehrsregeln missachtet. Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) hat sich schon vor Jahren persönlich mit dem Problem beschäftigt. Er hat sogar ein kleines Buch über sein Leben
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als Radler verfasst. „Im Selbstversuch habe ich festgestellt, dass ich mir überhaupt nichts denke, wenn ich munter radelnd gegen die Verkehrsordnung verstoße“, schreibt er in seinem Text („Stadtradeln“); mit Umweltschutz habe es schon mal gar nichts zu tun. Das Fahrrad sei vielmehr „ein Instrument, um aus unserer Rechtsordnung auszubrechen“. Man solle es auf einer kleinen „Radlfahrt“ nur selbst probieren: „Stimmt es nicht, dass Sie schon auf dem Trottoir starten? Gegen die Einbahnstraße fahren? Bei Rotlicht weiterfahren, wenn kein triftiger Grund entgegensteht?“ Fahrradfahrer erlebten wohl so etwas Ähnliches wie der Marlboro-Cowboy auf seinem Pferd, schwärmt der Politiker, den Geschmack von Freiheit und Abenteuer. Wer sich in den Sattel schwinge, könne endlich mal alle Gesetze und Regeln hinter sich lassen, „um kurzzeitig der Anarchie zu frönen“. David Byrne, Mitbegründer der Band Talking Heads, schwärmt in seinen „Bicycle Diaries“ vom Fahrradfahren sogar als meditativem Vorgang. Das konstante mechanische Treten in die Pedale „beschäftigt das Bewusstsein und lenkt es ab“, schreibt er. „Das fördert einen Geisteszustand, in dem einiges, aber nicht zu viel, aus dem Unterbewusstsein nach oben sprudelt.“ Mobilitätsforscher und Verkehrspsychologen können mit solchen Phantasien wenig anfangen; sie beobachten fassungslos, was die Straße aus ihren Benutzern macht. „Verkehr desozialisiert“, sagt Andreas Knie. Der Soziologieprofessor beschäftigt sich im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung mit der Frage, wie Mobilität und sozialer Wandel zusammenhängen. Sein Fazit: je ausgeprägter die Ich-Gesellschaft, desto größer die Verkehrsprobleme. Knie schwebt eine urbane „postfossile Mobilitätskultur“ vor, in der die knappen Ressourcen Energie, Raum und Zeit effizient genutzt werden. In dieser Welt wäre das Fahrrad für einen Großteil der Strecken das vielleicht perfekte Fortbewegungsmittel, nur die Platzfrage muss noch gelöst werden. „Der Kampf um den Raum hat begonnen“, sagt Knie. Er kann das vor seinem eigenen Büro beobachten. Es liegt an einer der wichtigsten Ost-West-Magistralen der Stadt, Tausende Autos fahren täglich auf vier Spuren über die Uferstraßen des Landwehrkanals, nur für Fahrradfahrer ist kaum Platz vorgesehen. Solche Verhältnisse, sagt Knie, machten Radfahrer zu „Desperados, die jeden Tag mindestens einmal dem Tod ins Auge sehen“. Menschen im Verkehr fühlen sich, wie im Internet, anonym; das verleitet zu zügellosem Verhalten. Und zum bedenkenlosen Rollenwechsel. Wer morgens am Steuer über vorbeifahrende Radler
Barbara Ruf, 69, Taxifahrerin aus Freiburg: „Ich fahre seit 37 Jahren Taxi in Freiburg – und ich versuche täglich zu verhindern, dass ich einen Radfahrer auf die Haube kriege. Bislang hat das geklappt, aber mir haben sie schon mal den Außenspiegel im Vorbeifahren abgehauen. Viele fahren wirklich sehr rigoros – aber das behaupten die von uns sicherlich auch. Und auch da ist was dran.“
schimpft, lästert womöglich am Nachmittag auf dem Sattel über einen rücksichtslosen Porsche und springt abends fluchend zur Seite, weil ein Mountainbiker über den Bürgersteig rast. Viele, wenn nicht die meisten Verkehrsteilnehmer verhalten sich auf der Straße schizophren und haben, je nach aktueller Fortbewegungsart, keine Probleme damit, andere mal eben vom Kampfgenossen zum Klassenfeind zu erklären. Das Verkehrsmittel wechselt, aber die Perspektive bleibt – die anderen sind im Weg. Burkhard Horn ist der oberste Verkehrsplaner im Land Berlin, er hat sich mit den Interessenkonflikten auf dem Berliner Asphalt beschäftigt. „Der Trend zur Individualisierung macht vor unseren Straßen nicht halt. Gemeinsinn und Rücksichtnahme stehen nicht mehr hoch im Kurs“, sagt er. „Unterm Strich zähl ich“, das sei für viele die wichtigste Verkehrsregel. Lange haben Horn und seine Beamten zuletzt an einem neuen Verkehrskonzept gearbeitet, das die oft fahrradfeindliche Grundhaltung der Hauptstadt revidieren und letztlich eine „Umverteilung des Straßenraums“ erreichen soll. „Das Auto hat an Image verloren, das Fahrrad gewonnen. Diese Chance gilt es zu nutzen“, heißt es in dem Papier, das unter anderem D E R
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Radschnellwege, grüne Wellen für Radler und die „Umnutzung von Kfz-Stellplätzen“ für Räder verspricht. Der Nachholbedarf ist enorm. Berlin investiert gerade mal zwei Euro pro Jahr und Einwohner in die Fahrradinfrastruktur, insgesamt rund sieben Millionen Euro. Die drei Opernhäuser der Stadt bekommen pro Jahr 18-mal so viel. Horns Pläne sind zum großen Teil noch gar nicht umgesetzt, da tobt bereits ein Verteilungskampf um die begehrten Flächen, der vor allem eines beweist: Fahrradfahrer sind eigentlich nirgends erwünscht. Werden Auto- durch Radspuren ersetzt, schimpft die Lokalpresse schnell über „Fehlplanung“ und unnötige Staus. Bleiben dagegen die Radwege auf dem Bürgersteig, protestieren Fußgänger-Lobbyisten. „Der Gehweg ist der letzte verbliebene Freiraum für die Bürger der Stadt“, sagt Stefan Lieb von Fuß e.V. Radler sollten endlich ganz auf die Straße verschwinden: „Nach oben buckeln, nach unten treten“, so könne es nicht weitergehen. Aber auch auf den Busspuren sind sie nicht erwünscht. Die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) wiesen ihre Busfahrer zwischenzeitlich sogar an, Fotos von besonders auffälligen Störenfrieden zu schießen. „Der Senat muss sich entscheiden, wen er bevorzugen will – den öffentlichen Nahverkehr oder die Radfahrer“, sagt eine Sprecherin der BVG. Horn hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, aber er hat auch verstanden, dass seine Verkehrswende noch am Anfang steht, dass die Menschen auf seinen Straßen sich noch aneinander gewöhnen müssen. „Autofahrer müssen erst mal lernen, Radler zu akzeptieren“, sagt er. In seiner Not lässt er jetzt zusammen mit seinen Kollegen aus Freiburg eine öffentliche Kampagne zum Konfliktabbau entwickeln. Sie soll das Verkehrsklima verbessern. Ebenso mühsam dürfte der Umgewöhnungsprozess in der Kommunalpolitik werden. Generationen von Stadt- und Regionalplanern haben vom kleinsten Dorf bis zur Metropole über die Jahrzehnte Milliardensummen verbaut, um Autofahrern ein schnelles Durchkommen bis in den hintersten Zipfel der Republik zu ermöglichen. Alte Gassen und Plätze, mitunter ganze Straßenzüge mussten deshalb weichen. Und weil neue Straßen meist neuen Verkehr erzeugen, folgte eine Baustelle der anderen. So ist es zum Beispiel Frankfurt am Main ergangen. Die Stadt ist eigentlich für Fahrradfahrer ideal. Sie ist kompakt, die Entfernungen zwischen den Vierteln sind gering, die wenigen Hügel im Stadtgebiet steigen nur sanft an. Doch im vergangenen Jahrhundert, nach den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg, haben die Lokalpolitiker alles ge73
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MARK MÜHLHAUS / ATTENZIONE / DER SPIEGEL
tan, um Frankfurt mit viel Asphalt und fern dem Vorbild der Fahrradhochburg bohrte „Öko-Freaks“ verspottet wurden, Beton zum Inbild einer autogerechten Münster nach. So hat sich Aachen eine als Spinner, die von einer autofreien GeStadt zu machen. Autobahnen wurden „konsequente radverkehrsfreundliche sellschaft phantasierten. Dass sie jetzt mit ihren Vorstellungen weit ins Stadtgebiet hineingeführt, große Auslegung der Straßenverkehrsordnung“ Parkhäuser aus dem Boden gestampft, verschrieben. Die Kommune richtete in in mehr und mehr Rathäusern und Minisneue Straßenschneisen in die enge Innen- den Wohngebieten flächendeckend Tem- terien wenigstens gehört werden, ist für po-30-Zonen ein, erklärte auf über hun- sie eine neue Erfahrung. „Das Fahrrad stadt gehauen. Um ihre Vision perfekt zu machen, lie- dert Kilometern alte Wirtschaftswege zu hat keine politischen Feinde mehr“, sagt ßen die Planer in den achtziger Jahren Radrouten und nutzte eine stillgelegte Albert Herresthal, der Sprecher des Versogar haufenweise Straßenbahngleise aus Bahnstrecke für einen Radweg, der das bundes Service und Fahrrad. Herresthal hatte in den siebziger Jahden Fahrbahnen reißen – das Leitbild Umland anbindet. In Nürnberg hält Oberbürgermeister ren in Berlin-Kreuzberg mit Gleichgesinnhieß „schienenfreie Innenstadt“. Auch im Umland wurde möglichst viel fürs Auto Ulrich Maly (SPD) mobile Bürgerver- ten das „Kollektiv Rostige Speiche“ gegetan. Mit dem Programm „Staufreies sammlungen auf der Straße ab. Mit dem gründet, mit Fahrrad-Demos wollten sie Hessen“ setzte und setzt die hessische Fahrrad oder zu Fuß geht es dann quer damals den „Langsamverkehr“ in die Tat Landesregierung schon lange auf einen durch die Stadt, um vor Ort Verbesse- umsetzen. Jetzt sieht er sich seinen Zielen kontinuierlichen Ausbau der Autobahnen rungsvorschläge zu diskutieren. Die ein gutes Stück näher. Anstelle von Aurund um Frankfurt, dadurch kommen Kreisverwaltung Düren wurde derweil tobahnen sollten grundsätzlich lieber Pendler mit ihren Autos noch schneller als erster „Fahrradfreundlicher Arbeitge- „Fahrrad-Highways“ wie im Ruhrgebiet ber“ Nordrhein-Westfalens ausgezeich- gebaut werden, fordert er. Und niemand in die Stadt. Fahrradfahrer waren in dieser Welt nur net, weil sie Autoparkplätze für Fahrrä- solle noch auf ein eigenes Auto angewiemarginal vorgesehen, die Stadt spendierte der freiräumte, Duschen für verschwitzte sen sein, sein Ideal ist das Ineinandergreiihnen hier und da einige schmale Streifen Pendler einbaute und künftig 25 Prozent fen verschiedener Verkehrsträger – mit am Straßenrand oder auf dem Bürger- des Dienstverkehrs erstrampeln lassen möglichst niedrigem Pkw-Anteil: „Künftig muss im Verkehr folgende Regel gelsteig. Sie waren so unbequem wie gefähr- will. Dennoch werden weiterhin zwei Denk- ten: Nutzen statt besitzen.“ lich, weil Radler entweder mit Passanten Die andere Denkschule stellt nach wie aneinandergerieten oder von abbiegen- schulen die Debatte über den Straßenverkehr prägen. Die eine geht vom Fahrrad- vor das Kraftfahrzeug in den Mittelpunkt. den Autos leicht übersehen wurden. Es wird wohl das Geheimnis der dama- fahrer aus und entwickelt Lösungsansätze Dahinter stehen die milliardenschweren ligen Verkehrsdezernenten Frankfurts vor allem aus seiner Perspektive. Anhän- Interessen der Autoindustrie, Hundert(und vieler anderer Städte) bleiben, was ger dieser Richtung können sich noch gut tausende Arbeitsplätze, der umsatzstärkssie mit solchen Plänen bezweckten – au- an Zeiten erinnern, in denen sie als ver- te Teil der deutschen Volkswirtschaft. Reflexhaft kämpfen ihre Lobbyisten ßer vielleicht ein gigantisches Konjunkvon jeher für neue Straßen und mehr turprogramm für die Hersteller jener Parkplätze. „Städte müssen weiterhin mit meist roten, rechteckigen oder rautenfördem Pkw erreichbar bleiben“, fordert beimigen und stets holprigen Pflastersteine, spielsweise der ADAC mit Blick auf Umdie bis heute das Fahrradfahren auf solweltzonen und drohende Fahrverbote in chen Wegen erschweren. Stadtzentren; Radfahrer dürften sich „So dusselig würde das heute keiner „ihre Verkehrsregeln nicht selbst strimehr bauen“, sagt Stefan Majer, 53, der cken“. aktuelle Verkehrsdezernent der Stadt. Er Denn in dieser Welt gelten Radler häuist seit Mitte Juni im Amt, Mitglied der fig noch als wildgewordene Eindringlinge, Grünen und sagt, dass er fast all seine die am besten mit neuen Vorschriften und Amtstermine mit dem Rad erledige. Er scharfen Kontrollen zu bekämpfen sind. hat sich vorgenommen, den innerstädtiIm Gespräch ist beispielsweise ein – wie schen Radverkehr von 15 auf 20 Prozent auch immer umzusetzendes – Tempolimit zu steigern. Leicht wird das nicht. Die für Radler, die kombinierte Geh- und CDU, die in Frankfurt mit den Grünen Fahrradwege benutzen („Innerorts gilt koaliert, hat ihm gleich zum Amtsantritt eine Höchstgeschwindigkeit von 15 mitfühlend eine Fahrradpumpe gekm/h“). Ebenfalls diskutiert werden eine schenkt. Damit ihm „die Luft nicht ausHelmpflicht, eine Warnwestenpflicht, geht“. eine Nummernschild-, Führerschein- und Bundesweit mühen sich nun, wie Majer Versicherungspflicht sowie das Verbot in Frankfurt, zahlreiche Verkehrsdezervon Alkohol auf dem Sattel. Fehlt nur nenten, Fehler der Vergangenheit zu kornoch eine verpflichtende Spaßbremse für rigieren. So soll im Ruhrgebiet eine rund Rhami El-Dirin, 16, alle. 85 Kilometer lange und sechs Meter breiSchüler aus Bielefeld: Für ein besseres Miteinander im Strate „Rad-B1“ entstehen, die Städte wie Esßenverkehr und mehr Sicherheit für Fahrsen, Duisburg, Gelsenkirchen und den „Wenn es mal eng wird und die radfahrer empfehlen die Autokonzerne Kreis Unna miteinander verbinden soll. Autofahrer dicht auffahren, nicht etwa den freiwilligen Rückzug auf Die Planer hoffen, dass künftig auf diedann fahr ich auf den Bürgersteig. weniger Pkw-Spuren und Parkplätze ser Strecke bis zu zwei Millionen MenWenn die Straße leer ist, ich oder gar zusätzliche Tempolimits für den schen zur Arbeit radeln und so die stänmotorisierten Verkehr, sondern raffinierte dig überfüllte Autobahn A 40 entlasten. in Eile bin oder keine Lust habe zu technische Lösungen für noch mehr FreuElektroräder, deren Verbreitung rasant bremsen, fahre ich über rote de am Fahren. wächst, sollen auch Arbeitswege von 10 Ampeln – das passiert oft. Aber So würde BMW Radler und Passanten bis 20 Kilometern möglich machen. keiner interessiert sich dafür.“ gern mit einem Transponder ausstatten, Auch in den Stadtzentren werden neue der Signale an Wagen in unmittelbarer Prioritäten gesetzt, viele Kommunen ei74
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Gefahrenzone Straßenkreuzung: Sind Fahrradfahrer bald nur noch ein Störfall für den Bordcomputer?
Umgebung sendet. Elektronische Systeme würden dann Position und Bewegung verletzlicher Verkehrsteilnehmer ins Cockpit melden und den Fahrer vor Gefahren warnen, die erst hinter der nächsten Ecke lauern. Mercedes arbeitet an einem Algorithmus, der Echtzeitbilder aus Bordkameras verarbeitet. Das System soll in zwei Jahren in Serie gehen und dafür sorgen, dass damit ausgestattete Limousinen automatisch ausweichen oder bremsen, wenn ein Radfahrer unerwartet ihren Weg kreuzt. Ist das die Zukunft? Werden bald technisch hochgerüstete Autos ein Straßenbild dominieren, in dem Fahrradfahrer nur noch ein Störfall für den Bordcomputer sind? In Freiburg macht sich Georg Herffs für eine andere Lösung stark. Sie ist technisch konventionell, aber dafür verkehrspolitisch radikal. Um sie zu verstehen, muss man nur einmal an einem Spätsommertag mit ihm durch die Stadt radeln. Die Sonne scheint, die Eisverkäufer machen bereits am frühen Vormittag ein gutes Geschäft, und Herffs, der in Freiburg die Verkehrsplanung leitet, präsentiert vom Sattel aus die Stadt wie ein ökologisches Wunderland.
Am Hauptbahnhof, wo andernorts ein Schnellstraßen führt schon heute an der wuchtiges Parkhaus stünde, ragt „Mobile“ Dreisam entlang über einen Uferweg ins neben den Gleisen auf, ein zweigeschos- Zentrum. 10 000 Radler pro Tag nutzen siges Gewirr aus Stahl und Holz, das Platz diese Strecke, morgens und am späten für tausend Räder bietet. Weiter geht es Nachmittag wird es regelmäßig eng. Wie über eine Brücke, die nur für Radfahrer auf der Autobahn drängeln dann die und Fußgänger offen steht, entgegen der Sportfahrer nach vorn, Berufspendler halFahrtrichtung durch Einbahnstraßen, ten stur ihr Tempo, dazwischen bummeln dann folgt eine „Fahrradstraße“ mit gro- Familien auf dem Weg ins Freibad. „Im ßem blauem Piktogramm auf der Straße, Berufsverkehr ist es manchmal die Hölle“, in der sich Autos dem Radverkehr unter- sagt Herffs, der täglich auf dem Uferweg ins Technische Rathaus fährt. ordnen müssen. Vielleicht stellen Radfahrer in gar nicht Fast 30 Prozent des Verkehrs in der grünen Uni-Stadt entfallen auf Radfahrer, so ferner Zeit die Mehrheit im Freiburger weil Herffs Vorgänger schon seit den sieb- Stadtverkehr. Je zahlreicher sie werden, ziger Jahren an sie gedacht haben. Trotz- desto mehr gleichen sie sich offenbar den dem ist das System inzwischen überfor- ungeliebten Autofahrern an; siehe Parkdert, fast droht schon ein Verkehrsinfarkt platznot, Staus und rücksichtslose Raser. Ein bisschen ist es wie mit den unterder besonderen Art. Manche Altstadtgassen sind so sehr mit Fahrrädern zugestellt, drückten Schweinen in George Orwells dass die Fußgänger nur schwer an ihnen „Farm der Tiere“. Nachdem sie sich bevorbeikommen. An einigen Stellen muss- freit hatten, übernahmen sie alle schlechte die Stadtverwaltung schon Parkverbote ten Eigenschaften des zuvor herrschenfür Räder verhängen, damit die Leute we- den Bauern. Einen ziemlich überzeugenden Unternigstens aus der Straßenbahn aussteigen schied allerdings gibt es: Fahrräder stinkönnen. Beschwerden gibt es auch über die vie- ken nicht. MATTHIAS BARTSCH, STEFAN BERG, SIMON BOOK, MARKUS DEGGERICH, len Raser unter den Radlern. „Das Tempo LAURA GITSCHIER, MANUEL HECKEL, wird immer höher“, sagt Herffs. FRANK HORNIG, GUIDO KLEINHUBBERT, Abhilfe soll jetzt ein neues System an PETER MÜLLER, MICHAEL SONTHEIMER Radschnellwegen schaffen. Eine dieser D E R
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Ex-Partner klagen gegen Roland Berger
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HENNING KAISER / DAPD
er Unternehmensberatung Roland Berger steht Ärger mit rund 40 ehemaligen Führungskräften ins Haus. Die früheren Partner der Firma haben eine 40-Millionen-Euro-Klage gegen ihren Ex-Arbeitgeber auf den Weg gebracht. Es geht um die Auszahlung stimmrechtsloser Aktien. Als Firmenpatron Roland Berger 1998 das Beratungshaus vom damaligen Eigentümer, der Deutschen Bank, zurückkaufen wollte, mussten die Partner der Consultingfirma mit Millionenbeträgen aus ihrem Privatvermögen für den nötigen Kredit bürgen. Im Gegenzug erhielten sie stimmrechtslose Aktien, die ursprünglich ab dem Jahr 2006 ausbezahlt werden sollten. Sie waren als Teil der Altersvorsorge geplant. Die Auszahlung war jedoch an etliche Voraussetzungen geknüpft. So hatte etwa die Rückzahlung des Kredits ebenso Vorrang wie die Verzinsung von Mitarbeiter-Darlehen und die Auszahlung hoher Renditen auf Mitarbeiter-Aktien. Die Auszahlung der sogenannten B-Shares der Ehemaligen zögerte sich immer wieder hinaus. Die Ex-Partner fühlen sich von ihrer alten Firma hingehalten und schlecht informiert. Anfang des Jahres schlossen sich daher 40 von ihnen zusammen, um gegen Berger vorzugehen. „Wenn wir jetzt nicht klagen“, sagt einer der Beteiligten, „werden wir unser Geld nicht vor 2034 sehen – und dann sind die meisten von uns vermutlich schon tot.“ Bei Roland Berger sieht man der Klage gelassen entgegen. Es gebe in der Sache „eindeutige vertragliche Vereinbarungen“. Ähnliche Klagen seien bislang immer abgewiesen worden.
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METRO
Cordes gerät in Bedrängnis M
etro-Chef Eckhard Cordes kann sich kaum noch Hoffnung auf die Verlängerung seines Vertrages machen: Auch Großaktionär Haniel soll sich nun klar gegen den amtierenden Vorstandschef des Düsseldorfer Handelskonzerns ausgesprochen haben, wie aus Kreisen der Aktionärsfamilie verlautete. Danach habe deren Vertreter Franz M. Haniel Cordes in einem persönlichen Gespräch klargemacht, dass er bei der anstehenden Vertragsverlängerung „nicht mit Unterstützung“ rechnen könne. Man habe Cordes nahegelegt, noch im September eine Entscheidung zu treffen und von sich aus auf den Vorstandsposten zu verzichten. Damit wolle man dem bisherigen Metro-Chef einen einigermaßen würdigen
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Aktien-Jongleur kommt frei
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Abgang ermöglichen. Die Metro dementiert das allerdings: Cordes habe nach wie vor den Rückhalt der Familie und sei willens, um die Vertragsverlängerung zu kämpfen. Es gebe keinen Gedanken an vorzeitiges Aufgeben. Der Metro-Chef ist seit Wochen nicht nur wegen schlechter Geschäftszahlen unter Druck, sondern auch wegen des Krachs mit dem Altgesellschafter der Metro-Tochter Media-Saturn. Dass zuletzt Pöbeleien des Managers gegen eigene Aufsichtsräte bekannt wurden, hat bei der als öffentlichkeitsscheu geltenden Haniel-Familie für weitere Verstimmung gesorgt. Sollte Cordes auf eine Verlängerung verzichten, rechnet niemand damit, dass er seinen Vertrag noch bis Herbst 2012 erfüllt.
n der Affäre um dubiose Aktiengeschäfte von Ex-Funktionären der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger sind die Ermittler einen wichtigen Schritt vorangekommen. Einer der zuletzt drei inhaftierten Beschuldigten hat umfassend ausgesagt – und befindet sich inzwischen wieder auf freiem Fuß. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm und weiteren Verdächtigen unter anderem vor, den Kurs sogenannter Pennystocks gezielt manipuliert und davon finanziell profitiert zu haben. Der ExHerausgeber eines Börsenbriefs war erst Anfang Juli wegen Verdunkelungsgefahr festgenommen worden. Ein Mitarbeiter hatte ihn in Gesprächen mit D E R
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den Fahndern schwer belastet. Gut drei Wochen später wurde der Mann wieder aus der U-Haft entlassen, weil er zugab, bestimmte Börsenwerte in seinem Dienst nach Absprache mit Komplizen gepusht und dabei selbst abkassiert zu haben. Für einen seiner Helfer – er arbeitete bis vor kurzem in Zürich bei einer Vermögensverwaltung und veröffentlicht nebenher selbst einen Aktien-Ratgeber – interessieren sich die Ermittler ganz besonders. Bislang konnten sie den Mann allerdings nicht vernehmen. Der AsienExperte hat sich kurz nach der Verhaftung seines Freundes Anfang Juli nach Singapur abgesetzt.
Wirtschaft AU TO I N D U ST R I E
Neubauten am Nürburgring
General Motors pirscht sich an BMW heran
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IMAGEBROKER / VARIO IMAGES
eneral Motors würde gern mit BMW zusammenarbeiten. Stephen Girsky, im Board des US-Autobauers für Strategie zuständig, hat in München angefragt, ob man über weitreichende Gemeinschaftsprojekte sprechen könne. General Motors ist vor allem an Benzin- und Dieselmotoren interessiert. BMW-Chef Norbert Reithofer hat schon verkündet, dass sein Konzern Motoren auch an andere Hersteller verkaufen will, sofern dadurch nicht ein direkter Konkurrent gestärkt würde oder das Image der eigenen Marke Schaden nehmen könnte. General Motors ist recht weit bei der Entwicklung einer Brennstoffzelle und kann hier Zusammenarbeit anbieten. Auch die Technik des derzeit wohl alltagstauglichsten Elektrofahrzeugs, des Opel Ampera (siehe Seite 140), wäre für BMW interessant.
NÜRBURGRING
EU-Kommission droht Regierung in Mainz
SEBASTIAN WIDMANN / ACTION PRESS
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Reithofer
ie EU-Kommission stellt erneut kritische Fragen zur Finanzierung des Millionenprojekts Nürburgring. In einem Schreiben an die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland droht Brüssel damit, eine förmliche „Auskunftserteilung“ anzuordnen, sollte die Landesregierung von RheinlandPfalz nicht endlich die geforderten Informationen liefern. Die Kommission will etwa detailliert wissen, warum auch zinslose Kredite aus öffentlichen Kassen in den mehr als 350 Millionen Euro teuren, inzwischen privat betrie-
benen Freizeitpark flossen und wer davon profitierte. Zwei Versuche der Landesregierung vom 27. Mai und 16. Juni, offene Fragen auszuräumen, überzeugten die Kommission nicht. Ende Juli forderte sie weitere umfangreiche Erklärungen, etwa darüber, wie Garantieund Freistellungserklärungen des Landes an Nürburgring-Kreditgeber mit EU-Recht vereinbar sein sollen. Ein Sprecher des Mainzer Infrastrukturministeriums bestätigte, dass „eine Reihe von Nachfragen“ der EU vorlägen. Die Beantwortung werde „vorbereitet“. Sollte Brüssel den Beschwerden über mögliche Verstöße gegen Beihilfe- und Vergaberecht stattgeben, drohen dem Land hohe Schadensersatzforderungen und eine Rückabwicklung des Betreibermodells.
IN ZAHLEN
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Terawattstunden Strom verbraucht Google mit seinen Servern pro Jahr. Der Internetriese ist damit ein Zwerg: Die Deutsche Bahn, Deutschlands größter Stromverbraucher, benötigt 16.
Wirtschaft
FINANZMÄRKTE
Mehr als ein Banker Der künftige Chef Anshu Jain steht für die größten Erfolge der Deutschen Bank – und für die größten Exzesse: In den USA gilt das Institut als einer der Hauptschuldigen der Finanzkrise. Auch deshalb muss der Inder vielen in der Bank erst noch beweisen, dass er die richtige Wahl ist.
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ARNE DEDERT / DPA
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rei Tage lang warteten Anshu Jain und sein Cousin Amit in einem indischen Nationalpark auf den Tiger. Der Investmentbanker Anshu war eigens aus New York angereist, doch das Tier ließ sich nicht blicken. Enttäuscht bestiegen die beiden Männer mit ihren Frauen den klapprigen Ambassador und fuhren aus dem Park. Plötzlich kreuzte eine der imposanten Raubkatzen ihren Weg. Die beiden kletterten auf das Dach ihres Autos, die Videokamera im Anschlag. Anshu Jain war so begeistert, dass er vom Auto sprang. Seit Kindheitstagen schwärmt er für den verstorbenen Tigerschützer Jim Corbett. Und so jagte er, mit der Videokamera vor dem einen Auge, zu Fuß dem Tiger hinterher. Seine Frau Geetika geriet in Panik. Nun kletterte auch Cousin Amit vom Auto. Das Dach des Ambassador, das die beiden Männer ausgebeult hatten, sprang mit einem lauten Knall in seine Ursprungsform zurück. Der Tiger verschwand mit großen Sprüngen. Amit Jain erzählt diese zwei Jahrzehnte zurückliegende Geschichte lachend im 20. Stock eines futuristischen Glaspalastes in Delhi. Er hat wie viele Jains Karriere gemacht und leitet die indische Niederlassung des Chemiekonzerns Akzo Nobel. Sein älterer Cousin Anshu hat es noch weiter gebracht in der Welt. Er soll im Mai Vorstandschef der Deutschen Bank werden. Zusammen mit dem Norddeutschen Jürgen Fitschen als Co-Vorstandschef wird Jain Josef Ackermann beerben. Der Mann, der Tiger liebt, wird damit einer der mächtigsten Männer dieses Landes sein. Schon bisher war er Chef des Investmentbanking und damit für die profitträchtigsten – aber auch die umstrittensten – Geschäfte der Deutschen Bank verantwortlich. Geschäfte, die die Welt in die Finanzkrise und an den Rand des Abgrunds führten. Seine Freunde und Verwandten zeichnen das Bild eines naturliebenden und natürlichen Mannes, bodenständig und bescheiden. Aber auch das eines hochintelligenten kühlen Analytikers. Seine Gegner sehen in ihm die Verkörperung des angloamerikanischen Finanzkapitalismus, für den nur die Rendite zählt.
Investmentbanker Jain: In guten Jahren für mehr als zwei Drittel des Gewinns der Deutschen
Die Deutsche Bank steht nicht nur mit ihrem Namen für Deutschland. Das größte deutsche Kreditinstitut und sein Führungspersonal wurden, ob sie wollten oder nicht, immer für mehr als nur den nächsten Quartalsgewinn verantwortlich gemacht. Sie war, im Guten wie im Schlechten, immer mehr als eine Bank. Und ihre führenden Köpfe waren mehr als Banker. Einer der Vorgänger, Hermann Josef Abs, handelte 1953 für Deutschland das D E R
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Schuldenabkommen mit den internationalen Gläubigern aus. Der frühere Deutsche-Bank-Chef Alfred Herrhausen starb 1989 durch ein RAF-Attentat. Er war eine der Symbolfiguren der alten Bundesrepublik, ein politischer Kopf, der weit über die Bankenwelt hinausdachte. Auch Ackermann ist ein gefragter Gesprächspartner der Politik, er berät wie selbstverständlich Bundeskanzlerin Angela Merkel und wirkt bei der Vorbereitung der G-20-Gipfel der wichtigsten Na-
tionen mit. Sein Verhältnis zur Bundesregierung ist allerdings nicht ganz ungetrübt, und in der deutschen Öffentlichkeit war der Schweizer lange wenig beliebt. Und nun kommt Jain, ein Inder aus Delhi, der in London lebt und verärgert abdreht, wenn er nach seinen Deutschkenntnissen gefragt wird. Doch seit vergangenem Jahr lernt er heimlich Deutsch, weil er sich auch auf diesen neuen Job akribisch vorbereitet. Tatsächlich hat die Deutsche Bank zwei Gesichter, sie ist unverzichtbar für
Doch es gab auch schlechte Jahre. 2008 machte Jains Truppe über sieben Milliarden Euro Verlust. Damals waren es die stabilen, scheinbar langweiligen Brotund Buttergeschäfte mit dem deutschen Mittelstand und den Privatkunden, die die Bank stabilisierten. Nur deshalb blieb die Bank ohne direkte Staatshilfe liquide. Indirekt aber profitierte auch die Deutsche Bank von der staatlichen Stütze. Dass in Deutschland der Immobilienfinanzierer HRE und in den USA der Versicherer AIG gerettet wurden, ersparte
Die Deutsche Bank … mit Jain Gewinn/ Verlust* mit Investmentbanking in Mio. € 8505 *vor Steuern
5428 4799 3552
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… ohne Jain
Gewinn/ Verlust* ohne Investmentbanking in Mio. € 3358
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Bank verantwortlich
Deutschland, aber dem Land auch längst entwachsen. Ihre offizielle Unternehmenssprache ist schon seit mehr als zehn Jahren Englisch, ihre Mitarbeiter kommen aus 120 Ländern. Jains Ernennung spiegelt die Realität einer Bank wider, die durch massive Investitionen zu einer der großen Investmentbanken der Welt aufgestiegen ist. In guten Jahren war er mit seinen fixen Händlern aus aller Herren Länder für zwei Drittel aller Gewinne verantwortlich.
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der Bank Milliardenverluste, möglicherweise wäre sonst sogar das ganze Finanzsystem kollabiert. Doch verglichen mit den meisten Konkurrenten steht die Deutsche Bank auch heute, mitten in der Weltfinanzkrise, gut da. In den vergangenen Wochen war die Verankerung in Deutschland ein Garant dafür, dass das Institut nicht wie viele Konkurrenten aus Italien oder Griechenland jede Nacht davor zittern muss, ob am nächsten Tag noch genug Geld da ist. D E R
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Das heißt nicht, dass die Aktivitäten der Deutschen Bank auf den Finanzmärkten als besonders solide eingeschätzt würden. Der Aktienkurs sackte seit Anfang Juli um über 40 Prozent ab – auch weil der Bank in den USA gleich mehrere Milliardenklagen drohen. Die Deutsche Bank gehörte zu den großen Spielern auf dem US-Immobilienmarkt, bevor dieser 2007 zusammenbrach. Jain, der für die Zinsprodukte der Bank zuständig war, förderte den Aufbau nach Kräften. Insgesamt gab die Bank zwischen 2005 und 2008 strukturierte Anleihen auf Wohnungsbaukredite im Wert von 84 Milliarden Dollar heraus. Als die Immobilienblase platzte, waren diese Papiere nicht mehr viel wert. Viele Kunden fühlen sich deshalb von der Bank getäuscht. Einige große Investoren haben bereits Klage eingereicht, weitere dürften folgen. Anfang des Monats kam die USHausfinanzierungsbehörde dazu, sie wirft dem Institut sowie 16 anderen Banken falsche Angaben zur Qualität von Hypothekenverbriefungen vor. Die Deutsche Bank hatte zwei halbstaatlichen Hypothekenfinanzierern Papiere im Wert von 14,2 Milliarden Dollar verkauft. Sogar die US-Regierung klagt gegen die Deutsche Bank. Die hatte 2007 den Hypothekenfinanzierer MortgageIT übernommen, der sich mit falschen Angaben zu faulen Krediten den Zugang zu einem Regierungsprogramm erschlichen haben soll. Dem Staat soll ein Schaden von 370 Millionen Dollar entstanden sein. Die Deutsche Bank betont, dass der größte Teil des möglichen Fehlverhaltens vor ihrem Kauf passiert sei. Jain hatte den Erwerb in der Spätphase des Immobilienbooms nach langem Zögern befürwortet, um noch höhere Marktanteile in dem scheinbar weiter boomenden USMarkt zu erobern. Heute sieht er darin einen schweren Fehler. Die Risiken aus diesen juristischen Auseinandersetzungen sind enorm. Schadensersatz und Geldstrafen werden möglicherweise ein oder zwei Jahresgewinne in den USA ausradieren, heißt es in der Investmentbank. Aber das sei alles verkraftbar. Der Imageschaden ist trotzdem gewaltig. Ein US-Senatsbericht führt die Deutsche Bank neben Goldman Sachs als eine der Hauptschuldigen der amerikanischen Immobilienkrise vor. Und ausgerechnet jetzt wird die Deutsche Bank dem für all diese Geschäfte verantwortlichen obersten Investmentbanker anvertraut. Seit Anshu Jain 1995 bei der Deutschen Bank anfing, liegt sein Arbeitsplatz in einem kleinen transparenten Glaskasten neben dem großen Handelssaal der Deutschen Bank in London. Die Tür zum Büro ist meist offen, das Geschrei der Händler schallt herein. Direkt nebenan zapfen die Banker in Pappbechern einen 81
MAURICE WEISS / DER SPIEGEL
Wirtschaft
Deutsche-Bank-Chef Ackermann: Kritische Töne über die Effizienz der Finanzmärkte und den Sinn mancher Produkte
So etwas würde Jain heute nicht mehr dünnen Kaffee mit etwas Schaum oben- vestmentbank leiten“, prophezeite der drauf. Hier besuchte ihn 2003 auch An- alte Mann, den die Finanzwelt als das machen. Die Zeiten haben sich geändert. Nun lädt er seine Großkunden und die gela Merkel, als sie noch nicht Bundes- Orakel von Omaha verehrt. Anshu hatte Buffett, der mit Coca-Cola- wichtigsten Banker jedes Jahr in ein Lonkanzlerin war. Sie wollte wissen, wie die Finanzmärkte funktionieren, und bekam, Aktien reich geworden ist und jetzt gera- doner Hotel. Noch immer treten Topwie die meisten Besucher, eine kurze, de die Bank of America mit fünf Milliar- Musiker auf, aber deren Namen werden den Dollar aus einer misslichen Lage be- wie ein Staatsgeheimnis gehütet. scharfe Analyse. Auch die Manager, die die anrüchigen Jain war nie Händler. Er betreute bei freite, mit seinem Detailwissen zu gedeckder Deutschen Bank immer die großen ten Schuldverschreibungen beeindruckt. Immobiliengeschäfte in den USA tätigten, Kunden, die die Milliarden auf dem Glo- „Wenn das Telefon klingelt, hoffe ich, dass gehörten jahrelang zu den bestbezahlten bus hin und her bewegen. Er war es auch, es Anshu ist“, soll Buffett noch gescherzt Bankern. Jain entließ sie, ohne zu zögern, als ihre Geschäfte der Bank und ihren der die Kontakte zu Hedgefonds-Mana- haben. Es sind solche Kontakte, die für die Kunden um die Ohren flogen. Doch den gern wie George Soros herstellte. „Bis 1995 waren wir in dieser Liga gar nicht Deutsche Bank, vor zehn Jahren noch Schaden muss nun die Bank ausbaden. „Persönlich geht Jain ungern Risiken vertreten“, sagt einer, der den rasanten ein Emporkömmling in der Welt des InAufstieg von Jain aus der Nähe mitver- vestmentbanking, unbezahlbar sind. Es ein“, sagt einer seiner Adjutanten. So beist wohl vor allem Jain zu verdanken, fürwortete er gigantische Wetten auf den folgt hat. weiteren Aufschwung des Häusermarkts Heute macht die Bank ihre besten Geschäfte mit Spekulanten wie dem AmeriDie Geschäfte mit US-Immobilien jenseits des Atlantiks. Gleichzeitig ließ Jain zu, dass ein Teil seiner Investmentkaner John Paulson, der im vergangenen machen die Bank juristisch banker auf einen Zusammenbruch des Jahr fünf Milliarden Dollar Gewinn erund moralisch angreifbar. US-Immobilienmarkts setzte. Darum zielte. Auch die großen US-Fondsgesellwurde die Bank nicht ganz so stark wie schaften wie Capital Group oder Blackrock wollen ihre Investitionsideen mit dass das Institut zum größten Devisen- viele Wettbewerber getroffen. Aber gejemand wie Jain diskutieren, der als bril- und Anleihehändler der Welt aufstieg. nau diese Geschäfte machen die Bank lanter Analytiker gilt. Die Deutsche Bank Der Gewinn der Investmentbank lag in nun juristisch und moralisch angreifbar. Persönlich, so versichern Jains Freunde profitiert davon, weil diese großen Kun- den ersten sechs Monaten dieses Jahres in Indien und anderswo, bedeute Jain bei fast vier Milliarden Euro. den letztlich große Aufträge vergeben. Jain gehört deshalb mit manchmal Geld nicht wirklich viel. Er wohnt immer Typisch die Geschichte, die Ajit Jain erzählt. Auch er ist ein Cousin von An- zweistelligen Millionenbeträgen im Jahr noch mit Frau und zwei Kindern in einem shu – und gleichzeitig der potentielle zu den bestbezahlten Bankern der Welt. relativ bescheidenen Haus in Westlondon. Nachfolger von Warren Buffett, einem Er kassierte meist mehr als sein Chef „Als Anshu im vergangenen März seinen der reichsten Männer der Welt, bei des- Ackermann, der oft die Rangliste der best- 25. Hochzeitstag feierte, waren keine Besen Investmentgesellschaft Berkshire bezahlten Manager in Deutschland an- rühmtheiten, sondern nur die alten Freunführt. Wer goldene Eier legt, so die eher- de aus vielen Ländern der Welt eingelaHathaway. „Vor zehn Jahren arrangierte ich ein ne Regel im Investmentbanking, wird mit den“, erzählt Madhur Singh, eine Freundin der Familie. Treffen zwischen Anshu und meinem Geld überschüttet. Jain hat die Bodenständigkeit wohl seiJain seinerseits hat seine 16 000 InvestBoss in Omaha“, sagt Ajit. Die beiden Männer hätten zu Mittag gegessen und mentbanker verwöhnt. Der Bonustopf nen Eltern zu verdanken. Sein Vater den halben Tag miteinander geredet. Spä- war immer mit mehreren Milliarden Euro machte zwar 1955 das beste Eingangsexater habe Buffett ihn angerufen und von gefüllt. Einmal, 2007 war das, ließ er so- men für den indischen Staatsdienst, blieb dem jungen Banker geschwärmt. „Dieser gar die Rolling Stones zu einem Privat- aber ein eher schlecht bezahlter Beamter. Sein Sohn fuhr mit einem öffentlichen Junge wird über kurz oder lang eine In- konzert nach Barcelona einfliegen. 82
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Transaktionsgeschäft in seinen Bereich zu integrieren. Der scheinbar langweilige Zahlungsverkehr, den die Bank für Unternehmen organisiert, liefert jedes Jahr viele wichtige Kontakte und knapp eine Milliarde Euro Gewinn ab. Diese Erträge schwanken nicht so stark wie die Gewinne der Händler. Als Konsequenz aus der Finanzkrise hat Jain die Bank noch mehr auf das Geschäft im Auftrag von Großkunden fokussiert. Das ist weniger riskant als der umstrittene Handel auf eigenes Risiko und wirft trotzdem hohe Gewinne ab, wenn man wie die Deutsche Bank zu den Größten im Markt gehört. Weil viele Wettbewerber durch die Finanzkrise ausgeschieden sind, konnte die Deutsche Bank in den Ranglisten nach oben klettern. „Wir sind die Gewinner der Konsolidierung“, sagte Jain siegesgewiss bei einer Analystenkonferenz. Es kann deshalb gut sein, dass die beiden Partner an der Spitze der Deutschen Bank eine gemeinsame Basis finden. Wenn sie sich nicht einigen, stärken sie nur den künftigen Aufsichtsratsvorsitzenden Ackermann. Und das wollen wohl beide nicht. Der Mann, der über allem wacht, denkt im Zweifelsfall sowieso, dass er vieles besser könne als seine Nachfolger. Das Verhältnis zwischen Ackermann und Jain ist nicht das beste, seit der Schweizer nicht seinen erfolgreichen Investmentbanker, sondern den ehemaligen Bundesbank-Präsidenten Axel Weber als seinen Nachfolger favorisierte. Vergangene Woche setzte sich Ackermann zudem erstaunlich kritisch mit den Geschäften auseinander, die Jain bisher so erfolgreich betrieb. „Die Fragen nach der Effizienz der Finanzmärkte und nach der Sinnhaftigkeit manch moderner Finanzprodukte werden immer lauter“, sagte er auf einer „Handelsblatt“-Tagung. Die Bankenbranche müsse ihre gesamte Tätigkeit daraufhin prüfen, „ob wir damit unseren genuinen Aufgaben als Diener der realen Wirtschaft gerecht werden“. So viel Kritik, die ja auch Selbstkritik sein müsste, ist von Jain nicht zu erwarten. Seine Investmentbank lebt vom steten Auf und Ab der Märkte. Für ihn spiegeln die Preise an den Börsen immer noch die kollektive Weisheit der besten Gehirne der Welt wider. Es ist noch ein großer Schritt, bis aus dem selbstbewussten Chef einer Investmentbank Mister Deutsche Bank wird. Der Aufsichtsrat hat Jain einen Fünf-Jahres-Vertrag gegeben. MARTIN HOFFMANN / IMAGO
Bus zur Schule, die allerdings eine der ben die britische Staatsbürgerschaft angenommen. besten Privatschulen in Neu Delhi war. Doch wird Jain auch in Deutschland Seinem Vater hat Jain einen BMW mit Chauffeur geschenkt. Doch der 80-Jähri- heimisch werden? Jain versichert neuerdings, wie wichtig ge will lieber selbständig zum Bridge fahren und hat sich vor kurzem, sehr zum Deutschland für die Deutsche Bank ist – Amüsement seiner Familie, einen Tata das ist eine seiner Lehren aus der FinanzNano gekauft, das billigste Auto der Welt. krise. Den Standort bezeichnet er heute Jain, ein schlanker, sportlicher Mann, als einen der größten strategischen Vorisst als Veganer keine tierischen Produkte. teile der Bank. Vorsichtshalber hat ihm der AufsichtsDas sorgt bei deutschen Gesprächspartnern manchmal für Verunsicherung, „Ge- rat mit Jürgen Fitschen, 63, für drei Jahre müse und Pasta“ beschreibt ein enger Mit- einen Co-Vorstandschef zur Seite gestellt, der für die wichtigen Kontakte zur deutarbeiter seine Essgewohnheiten. Schon der Name weist ihn als „Jain“ schen Politik und zur deutschen Öffentaus. Mahavira, der Stifter dieser asketi- lichkeit zuständig sein soll. Fitschen ist schen Religion, predigte wie sein Zeitge- ein jovialer, kommunikativer Banker alnosse Buddha Gewaltlosigkeit und legte ter Schule mit besten Kontakten in alle im Verhalten gegenüber Tieren sogar Führungsebenen des Hauses und zu vienoch strengere Vorschriften fest. In Indien len deutschen Vorstandschefs. Er und seigibt es gut vier Millionen Jains, sie lehnen ne Leute haben prinzipiell ein Vetorecht, das Kastenwesen ab und legen bei ihren wenn es um die Einführung neuer Produkte geht. Nicht alle Dinge, die sich beiKindern besonderen Wert auf Bildung. Natürlich hat die Kombination Jainismus und Investmentbanker manche Journalisten zu eifrigen Recherchen getrieben. Doch es gibt im Haus der Jains keine Puja-Ecke, keinen vertrauten Familienschrein, berichten Mitglieder der Familie. Jain hat offenbar selbst bei den dreiwöchigen Heimaturlauben um die Weihnachtszeit schon seit mindestens zehn Jahren keinen Tempel mehr betreten. Es ist wie bei vielen Familien in anderen Teilen der Welt auch. Die Religion lebt vor allem in dem Wertekanon weiter, Golfer Jain (2. v. r.), Partner* der den Kindern vorgelebt Wer goldene Eier legt, wird mit Geld überschüttet wird. „Unsere Väter wollten, dass wir einen guten Charakter haben spielsweise ein gewiefter Investmentbanund diszipliniert leben“, sagt Cousin ker in London ausdenkt, passen in die Amit über die Erziehungsprinzipien in Welt eines schwäbischen Mittelständlers. „Das ist ein eingebauter und gewollter der Familie Jain. Wer als Teenager eine rote Linie überschritt, musste mit Strafe Konflikt“, sagt einer von Fitschens Vertrauten. Im Idealfall seien so Fehler, die rechnen. Jains Frau Geetika, eine Reisejourna- die Reputation der Bank und die Laune listin und Kinderbuchautorin, fragt sich, der Kunden beeinträchtigt hätten, verso berichtet eine Freundin, in einem An- mieden worden. Aber es bietet natürlich auch reichlich flug von schlechtem Gewissen manchmal, ob sie ihre Kinder nicht öfter zum Tempel Sprengstoff. Die gegensätzlichen Positioder Jains oder der Sikh hätte schicken nen wurden nur dadurch gemildert, dass sollen. Sie ist eine Sikh und isst wie ihre sich Jain und Fitschen auf einer persönliKinder Fleisch am Londoner Familien- chen Ebene durchaus schätzen. Der Nordtisch. Wie der Jainismus weist auch der deutsche war beispielsweise lange Jahre Sikhismus das Kastenwesen und andere für das Asien-Geschäft zuständig. Natürlich war Jain, der das gewinnDiskriminierungen zurück, legt jedoch trächtigste Geschäft in der Bank verantnicht so viel Wert auf die Askese. Geetika ging nach ihrem Bachelor-Ab- wortet, meist in der stärkeren Position. schluss an der Universität in Delhi für ihr Denn Fitschen konnte keine Geschäfte Master-Studium in die USA. Kurz darauf, oder gar Profite vorweisen. Zudem gelang es dem Investmentbanmit 20 Jahren, folgte ihr Anshu Jain, der dann an der University of Massachusetts ker vor einem guten Jahr, das wichtige in Amherst seinen MBA machte. Seit 28 Jahren lebt die Familie nun im * Ex-Tennisprofi Boris Becker, Unternehmer Claus HeinAusland. London ist zu ihrer zweiten Hei- rich, Profigolfer Tiger Woods beim Prominentengolf in mat geworden. Jain und seine Familie ha- der Nähe von Heidelberg am 16. Mai 2002.
CHRISTOPH PAULY, PADMA RAO
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JARDAI / MODUSPHOTO.COM (L.); KAISER / CARO (R.)
Wirtschaft
Sozialdemokrat Walter-Borjans, Bankenplatz Zürich: „Ich werde alles tun, um diesen Ablasshandel zu verhindern“ SPIEGEL: Wer zum Beispiel? Walter-Borjans: Die Amerikaner. Die sagen
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„Skandalöses Ergebnis“ NRW-Finanzminister Norbert Walter-Borjans, 58 (SPD), will das Steuerabkommen mit der Schweiz verhindern. SPIEGEL: Herr Minister, Ihr Parteifreund
Walter-Borjans: Für Vermögen, für die man
Peer Steinbrück wollte noch mit der Kavallerie in die Schweiz einrücken, um die Steuerhinterziehung zu bekämpfen. Die Bundesregierung hat den Verhandlungsweg gewählt. Sind Sie zufrieden mit dem Ergebnis? Walter-Borjans: Nach allem, was durchsickert, halte ich das Ergebnis für skandalös. Steuerhinterziehung ist ein kriminelles Delikt, das die Allgemeinheit schädigt, und die schwerreichen Straftäter kommen viel zu billig davon. SPIEGEL: Das klingt so, als wüssten Sie gar nicht, was in dem Abkommen steht. Walter-Borjans: Es ist nicht gerade vertrauensbildend, dass wir Länder – auch auf Nachfrage – keine Informationen aus dem verhandlungsführenden Bundesfinanzministerium bekommen. Wir wissen nur, dass das Abkommen Ende September im Kabinett behandelt werden soll. Und dass ein ähnliches mit Liechtenstein in Vorbereitung ist. Offiziell sind uns nur die Eckpunkte bekannt: als „Ablass“ ein Steuersatz auf Vermögen zwischen 19 und 34 Prozent, eine 26-prozentige Abgeltungsteuer auf Zinserträge. Ergiebiger ist die Homepage der Schweizerischen Bankiervereinigung. Deren Inhalte lassen mich aber noch misstrauischer werden. SPIEGEL: Warum? Walter-Borjans: Weil die Schweizer Banken zum Beispiel davon ausgehen, dass die Nachbesteuerung auf Vermögen in der Praxis nur bei 20 bis 25 Prozent liegen wird. SPIEGEL: 25 Prozent auf geschätzte 130 Milliarden Euro, die deutsche Bürger dort gebunkert haben. Das ist doch gar nicht schlecht.
jahrelang Zinsen kassiert und schon vorher keine Steuern bezahlt hat? Ich bitte Sie. Allein die Erbschaftsteuer kann oft 50 Prozent ausmachen. SPIEGEL: Können die Länder das Abkommen über den Bundesrat zu Fall bringen? Walter-Borjans: Das können wir. Und ich werde alles tun, um diesen Ablasshandel für Steuerhinterzieher zu verhindern. Da besteht Einigkeit unter den SPD-Finanzministern. Wir halten diese Steueramnestie auch für verfassungswidrig. Spätestens die nächste sozialdemokratisch geführte Bundesregierung muss diesem Spuk ein Ende bereiten. Das sollten alle wissen, die sich heute schon die Hände reiben. SPIEGEL: Und dann kommt Genosse Peer doch noch mit der Kavallerie? Walter-Borjans: Wir sind eine friedliebende Partei, keine Kavallerie, aber wir verteidigen auch unseren Rechtsstaat. Was derzeit von der Bundesregierung verhandelt wird, ist ein Präzedenzfall. Weitere Abkommen mit anderen Steuerparadiesen werden vorbereitet. Hier wird ein gewaltiger Schaden angerichtet. SPIEGEL: Hat sich Finanzminister Wolfgang Schäuble über den Tisch ziehen lassen? Walter-Borjans: Wenn Schweizer Banken in Zukunft entscheiden, welche Steuern an uns abgeführt werden, wenn wir nicht mehr gegen Bankmitarbeiter ermitteln dürfen, die Beihilfe zur Steuerhinterziehung geleistet haben, und wenn wir Steuer-CDs nicht mehr auswerten können, dann ist das kein Beleg für ein starkes Verhandlungsergebnis. Andere Staaten springen ganz anders mit der Schweiz um.
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ganz einfach, her mit den Daten Tausender amerikanischer Bankkunden, oder wir machen euch die Geschäfte in Amerika dicht. SPIEGEL: Schweizer Banken haben jahrzehntelang geholfen, deutsches Schwarzgeld vor dem Fiskus zu verstecken. Jetzt sollen die gleichen Banken das Eintreiben von Steuern besorgen. Wie groß ist Ihr Vertrauen in diese Lösung? Walter-Borjans: Ich halte es für schwierig, jemanden mit der Wahrnehmung unserer Rechte zu betrauen, der aus einer ganz anderen Finanzkultur kommt. Ein Beispiel dafür ist der „Abschleich“. So bezeichnen Schweizer Banker die Monate nach Inkrafttreten des Abkommens 2013. Ein Zeitfenster, in dem Vermögen noch außer Landes „schleichen“ können. Nach dem Motto: Ich rassle jetzt mit den Handschellen und gucke zwei Monate lang weg. Dann gucke ich wieder hin, und wenn keiner im Raum ist, kann ich die Handschellen einpacken und gehen. SPIEGEL: Was wird aus den Steuer-CDs? Dürfen Ihre Steuerfahnder jetzt nicht mehr ermitteln? Walter-Borjans: Wir sind der Auffassung, dass wir die Daten, die wir schon gekauft haben, auch verwenden können. SPIEGEL: Über wie viele Datensätze reden wir? Walter-Borjans: Eine ganze Menge. SPIEGEL: Schweizer Daten dürfen Sie nach der Unterzeichnung, die noch im September erfolgen soll, nicht mehr verwenden. Es sei denn, die Steuersünder wissen, dass gegen sie ermittelt wird. Wie wäre es mit einer Bekanntmachung? Walter-Borjans: Was die Schweiz angeht, da sind es mindestens die Banken Credit Suisse und Julius Bär, von denen wir bislang unbekannte Daten haben. Nach jeder Meldung, wir hätten eine CD gekauft, kommen Tausende Selbstanzeigen. Wir geben doch unser schärfstes Schwert nicht aus der Hand – die Furcht vor der Entdeckung. INTERVIEW: BARBARA SCHMID
Wirtschaft
Geregeltes Einkommen Mindeststundenlöhne ausgewählter Branchen in Deutschland, in Euro
zum Vergleich
Frankreich: 9 €
West
Baugewerbe
11,00
Ost
9,75 10,80
Dachdeckerhandwerk
10,80 8,50
Pflegebranche
7,50
Wach- und Sicherheitsgewerbe
6,53 bis 8,60 6,53 bis 8,60 0
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Branchentarifbindung der Beschäftigten in Prozent
12 Quelle: IAB, WSI
HANS-CHRISTIAN PLAMBECK
70 56
56 37
Ministerin von der Leyen
West
Ost 1996
ARBEITSMARKT
Mehr Brutto, mehr Netto In der Koalition kündigt sich die nächste Politikwende an. Weil die Zahl der Niedrigverdiener wächst, mehren sich in Union und FDP die Befürworter des Mindestlohns.
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enn sie abends von der Arbeit kommt, wartet meist schon der nächste Kunde auf sie. Tagsüber arbeitet Nicole Beier*, 23, in einem Berliner Friseursalon. 39 Stunden in der Woche für 885 Euro netto im Monat. Weil das Gehalt nicht reicht, hat Beier ihre Einzimmerwohnung in einen Privatsalon umgebaut. Mittendrin ein Friseurstuhl, ein Spiegel, professionelle Geräte. Alles an der Steuer vorbei, ohne Gewerbeanmeldung. Wohnen, schneiden, schlafen – auf 33 Quadratmeter Deutschland. Dem dritten Job geht die Friseurin dann an ihren freien Tagen nach. Wann immer es ihr möglich ist, arbeitet sie freiberuflich als Maskenbildnerin für Werbefilmproduktionen oder Musikvideos. „Jeder Monat ist unsicher. Ich weiß nie, ob ich Jobs bekomme oder nicht“, sagt sie. Ein Leben, drei Jobs – Nicole Beier gehört zu der Gruppe von Bundesbürgern, die trotz Vollzeitstelle kaum ihre Existenz sichern können. Nach einem aktuellen Gutachten des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft Köln stieg der * Namen von der Redaktion geändert.
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Anteil der Niedriglohn-Beschäftigten von 1994 bis 2009 von 16 auf 22 Prozent. Während in fast allen Industrienationen flächendeckende gesetzliche Lohnuntergrenzen existieren, gibt es in Deutschland Mindestlöhne nur für ausgewählte Branchen auf der Basis von Tarifverträgen. Die Debatte, ob Deutschland den Sonderweg beibehalten soll, ist eines der letzten Schlachtfelder der Ideologen. Bislang waren die Trennlinien scharf. Auf der einen Seite stehen die Befürworter eines gesetzlichen Mindestlohns aus dem linken Lager, von Gewerkschaften und Sozialdemokraten, auf der anderen die Arbeitgeber und die Politiker von Union und FDP. Doch weil immer weniger Beschäftigte Tarifverträgen unterliegen und Lohndumping mittlerweile in vielen Branchen den Wettbewerb verzerrt, setzt ein Umdenken bei Firmen und Verbänden ein, aber auch in der Politik. Bei Union und FDP wächst die Zahl der Mindestlohn-Befürworter, und so kündigt sich in der Koalition – nach den Schwenks bei Atomkraft und Wehrpflicht – die nächste Politikwende an. Vor zwei Jahren startete Schwarz-Gelb mit dem Versprechen von Steuererleichterungen und dem D E R
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Slogan „Mehr Netto vom Brutto“. Gut möglich, dass sie ihre Amtszeit mit der Forderung nach mehr Brutto und mehr Netto für Niedriglöhner beendet. Mit Sicherheit steht im Herbst ein Streit über den Kurs an. In der FDP sind Vorbehalte gegen staatliche Lohnregeln traditionell stark ausgeprägt, und in der Union macht der Wirtschaftsflügel reflexartig mobil. „In dieser Koalition wird es keinen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn geben“, sagt Unions-Fraktionsvize Michael Fuchs. Ähnlich sieht es Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier: „Die Verordnung eines flächendeckenden Mindestlohns ohne Rücksicht auf Branchen und unterschiedliche regionale Bedingungen ist mit mir nicht zu machen.“ Offenkundig ist, dass die hierzulande üblichen Branchenregelungen das Problem nicht gelöst haben. Zwar gibt es derzeit in neun Branchen allgemeinverbindliche Mindestlöhne, die vom Baugewerbe bis zu den „Wäschereidienstleistungen im Objektkundengeschäft“ Lohnuntergrenzen für 2,2 Millionen Arbeitnehmer festlegen. Doch diese Regelungen gehen ausgerechnet an jenen Wirtschaftszweigen vorbei, in denen die Arbeitnehmer nicht stark genug sind, ihre Interessen zu organisieren. Und das werden immer mehr. „Die hochgehaltene Tarifautonomie ist schwach geworden und leistet nicht mehr das, was sie mal geleistet hat“, sagt Claus Schäfer vom gewerkschaftsnahen Forschungsinstitut WSI. In Westdeutschland arbeiten noch 56 Prozent der Beschäftigten in Betrieben, die einem Branchentarifvertrag unterliegen, 7 Prozent können sich auf einen Firmentarif berufen, 37 Prozent sind ungebunden. Im
Wirtschaft ze vernichten würde, weil sich dann viele einfache Jobs für Unternehmen nicht mehr rechneten. Doch das stimmt meist nicht, wie internationale Erfahrungen zeigen. Kürzlich legten Forscher der US-Universität Berkeley die bislang größte Studie zu den Mindestlöhnen in den USA vor. Sie betrachteten über einen langen Zeitraum die unterschiedlichen Mindestlöhne und die Beschäftigungsentwicklung in den USA. Ihr Fazit: „Wir finden keine negativen Beschäftigungseffekte.“ Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch die Untersuchungen der britischen Lohnfindungskommission. Entscheidend ist nur, dass ein Mindestlohn gefunden wird, der nicht zu hoch ist – und weit entfernt von politischem Einfluss. Seit 1999 setzt in Großbritannien die unabhängige Kommission, die aus Wissenschaftlern, Arbeitgebern und Arbeitnehmern besteht, jährlich die Grenze neu fest. Nun wächst auch in der schwarz-gelben Koalition die Zahl derjenigen, für die eine gesetzliche Lohngrenze kein Tabu mehr ist. In der Union treibt der Chef der
OLIVER LANG / DAPD
Osten gibt es bereits für über die Hälfte der Arbeitnehmer keine tarifliche Regelung. Und selbst Tarifverträge erlauben mitunter Niedrigstlöhne. Im brandenburgischen Sanitärhandwerk zum Beispiel liegt der niedrigste Stundenlohn für Angestellte bei 4,08 Euro und das Monatseinkommen bei 705 Euro. Ein Hartz-IV-Empfänger erhält durchschnittlich 707 Euro. Damit auch in tariffreien Zonen Mindestlöhne möglich werden, hat die große Koalition 2009 eine Kommission eingesetzt, die über entsprechende Lohngrenzen beraten soll: zum Beispiel für CallCenter-Angestellte wie Andreas Lange*, 28. Der Telefonist arbeitet mal in der Frühschicht, mal mittags, mal abends und auch ab und an in der Nacht. Seinen Dienstplan bekommt er zwei Wochen im Voraus, doch oftmals ändern sich die Einsatzzeiten von einem Tag auf den anderen. „Ich habe im Vertrag unterschrieben, dass ich in allen Teilen des Unternehmens eingesetzt werden kann“, sagt er. Dafür bekommt Lange 7,50 Euro pro Stunde. Angefangen hat er bei der Firma in Sachsen vor fünf Jahren mit 6,76 Euro.
Private Sicherheitskräfte: Auch Tarifverträge erlauben Niedrigstlöhne
Viel Potential nach oben sieht er nicht mehr. Zwar kann jeder Arbeitnehmer einmal im Jahr ein Gespräch über eine Gehaltserhöhung führen. „Das bringt aber meistens nichts“, sagt er. Bis zu 135 Stunden im Monat arbeitet er, übrig bleiben im Schnitt 880 Euro. Entsprechend hoffnungsfroh war Lange, als der DBB Beamtenbund und Tarifunion in diesem Jahr einen Antrag auf Mindestlohn für ihn und seine rund 90 000 Kollegen stellte. Doch die Hoffnung trog. Die Kommission lehnte den Antrag ab. Die Gegner eines allgemeinen Mindestlohns führen ins Feld, dass er Arbeitsplät-
Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), Karl-Josef Laumann, die Debatte voran. Auf dem CDU-Parteitag im November will er einen Antrag beschließen lassen, der einen gesetzlichen Mindestlohn in der Höhe der Einstiegslöhne bei der Zeitarbeit fordert. Im Westen wären das derzeit 7,79 Euro, im Osten 6,89 Euro. Erste Erfolge kann Laumann vorweisen: Die CDU-Landesverbände des Saarlands und Hamburgs signalisieren Unterstützung. Der Kreisverband Trier-Saarburg hat sich für einen Mindestlohn von 8,50 Euro ausgesprochen. D E R
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Auch Arbeitsministerin Ursula von der Leyen ist offen für das Thema. „Ich bin überzeugt, dass wir über kurz oder lang einen Mindestlohn in allen Branchen haben werden“, sagt sie. Voraussetzung sei, dass die Höhe unabhängig vom Staat unter Beteiligung der Tarifpartner gefunden werde. „Wir sollten nicht zulassen, dass die Höhe eines allgemeinen Mindestlohns zum politischen Spielball wird“, sagt die Arbeitsministerin. Sogar bei den Liberalen, die sich bisher strikt gegen gesetzliche Verdienstregeln wandten, bröckeln die Fronten. Hartfrid Wolff, stellvertretender FDP-Parteivorsitzender in Baden-Württemberg, plädiert für eine Kommission aus Ökonomen, Arbeitgeber- und Gewerkschaftsvertretern nach britischem Vorbild, die unabhängig von der Politik einen Mindestlohn festsetzen soll. „Wenn es nach mir geht, sollten wir über einen allgemeinen Mindestlohn auf einem Parteitag im kommenden Jahr diskutieren.“ Unterstützung bekommt er vom schleswig-holsteinischen FDP-Sozialminister Heiner Garg. „Es ist nicht marktwirtschaftlich, wenn Menschen acht Stunden am Tag für Löhne arbeiten, von denen sie nicht leben können“, sagt Garg. Er wolle die Tarifautonomie stärken, wo es die allerdings nicht mehr gebe, müsse ein anderer Mechanismus greifen. „Wir würden damit auch der eigenen Partei helfen, weil wir uns wieder mit der Realität der Menschen befassen würden“, sagt Garg. Noch haben die Mindestlohn-Vorkämpfer keine Mehrheit. Doch es ist nicht ausgeschlossen, dass an der Parteispitze ein Umdenken einsetzt. Kanzlerin Angela Merkel hat mit großem Interesse zur Kenntnis genommen, was AllensbachChefin Renate Köcher Ende August in der Unionsfraktion vorgetragen hat. Demnach ist für die Deutschen eines der drängendsten Probleme, dass die sozialen Schichten hierzulande immer weiter auseinanderdriften. Merkel weiß: Wenn der Glaube an die soziale Marktwirtschaft erschüttert ist, trifft das keine Partei stärker als die CDU. Bei einem Treffen des Parteivorstands mit der DGB-Spitze am vergangenen Donnerstag zeigte sich Merkel beim Thema Mindestlöhne konziliant. Auch Uli Hoeneß, Präsident des FC Bayern München und Inhaber einer Wurstwarenfabrik, sieht sich als gestandenen Konservativen. In seiner Firma will er keine Gewerkschaften, die Rolle übernimmt der Patron selbst. In seiner Fabrik verdienen auch Ungelernte mindestens acht Euro in der Stunde. Leute für fünf Euro schuften zu lassen, bekannte er in einem Interview, halte er fast für ein Verbrechen: „Deshalb bin auch ich für einen gesetzlichen Mindestlohn, der aber wirtschaftlich vertretbar sein muss.“ MARKUS DETTMER, LAURA GITSCHIER, PETER MÜLLER, CHRISTIAN WERMKE
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Wirtschaft
ENERGIE
Die Atomwaschanlage Weil Deutschland zurzeit mehr Strom verbraucht, als es selbst erzeugt, wird jetzt teuer im Ausland zugekauft – vor allem Kernkraft.
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blau – zurzeit die typische Farbe für Deutschland, auch wegen des sonnenarmen Sommers. Das Computersystem signalisiert auch, aus welchen Quellen der Saft in die europäischen Leitungen fließt. Ein dicker Pfeil zeigt ständig von Frankreich nach Deutschland. Es geht um Nuklearstrom. Frankreich besitzt kaum andere Energiequellen. Ein zweiter dicker Pfeil kommt aus Tschechien, was vor allem am Kraftwerk in Temelin liegt. Und auch aus Polen weist der Pfeil bisweilen nach Deutschland. Es handelt sich dann primär um Braunkohlestrom aus den schmutzigsten Kohlendioxidschleudern Europas. Weil die Bundesregierung die eigenen Atommeiler nach dem Unglück im japanischen Fukushima für nicht mehr sicher genug hält, helfen jetzt ausländische
AGE FOTOSTOCK / LOOK-FOTO
An der Energiebörse in Leipzig ist as tschechische Atomkraftwerk Temelin, keine hundert Kilometer Strom in den vergangenen Monaten um Luftlinie vom bayerischen Passau etwa zehn Prozent teurer geworden. „Die entfernt, gilt als besonders pannenträch- Kosten sind schon jetzt auf einem bedenktiger Meiler. Mehr als 130 Störfälle hat es lich hohen Niveau“, warnt der für Enerhier in den vergangenen Jahren gegeben. giefragen zuständige deutsche EU-KomImmer mal wieder kommt es vor, dass missar Günther Oettinger. Dabei haben ein Generator ausfällt oder ein paar tau- die Normalverbraucher von den Preissend Liter radioaktive Flüssigkeit austreten. „Die ganze Anlage müsste sofort abgeschaltet werden“, sagt die Grünen-Europaabgeordnete Rebecca Harms. Doch der Pannenreaktor ist gut ausgelastet. Ursache ist die starke Stromnachfrage aus Deutschland. Seit im Frühjahr ein Teil der deutschen Kernkraftwerke vom Netz ging, ist Tschechiens Atomwirtschaft ins Exportgeschäft eingestiegen. Etwa 1,2 Gigawattstunden Strom liefert Temelin jeden Tag über die Grenze. Überspitzt formuliert: Früher fühlten sich die Bewohner Passaus vom nahen Reaktor bedroht. Heute müssen sie ihm dankbar dafür sein, dass bei ihnen das Licht noch brennt. Die von der schwarz-gelben Bundesregierung vollzogene Wende in der Atompolitik befeuert die europäische Energiewirtschaft – allerdings nicht zugunsten der Bundesrepublik. Praktisch über Nacht ist aus dem Stromexportland ein Stromeinfuhrland geworden, mit allen nachteiligen Konsequenzen für Wirtschaft, Ver- Stausee des Wasserkraftwerks Kaprun in Österreich, tschechisches Atomkraftwerk Temelin: Dankbar sein, braucher und die Sicherheit. Die Konjunktur hat allen Schwung erhöhungen meist noch nichts bemerkt. Kraftwerke, die man immer für noch viel verloren. Im zweiten Vierteljahr lag das Die böse Überraschung kommt erst mit unsicherer gehalten hatte. Der angebliche Bruttoinlandsprodukt nur um 0,1 Prozent dem neuen Rechnungsjahr. Die meisten Ausstieg erweist sich als Umstieg, Atom höher als im ersten Quartal, wozu nach Haushalte müssten wohl mit einem erheb- ersetzt Atom. „Der Unterschied ist nur, dass die anEinschätzung des Statistischen Bundes- lichen Zuschlag rechnen, sagt ein Spitzenamtes der Atomausstieg beigetragen hat. manager aus der Energiebranche voraus. deren Länder jetzt das Risiko tragen“, Die Nutznießer der deutschen Atom- sagt Konrad Kleinknecht, ehemaliger Kli„Strom musste, um die Nachfrage zu befriedigen, verstärkt importiert werden“, wende sind die Kraftwerkbetreiber in den mabeauftragter der Deutschen PhysikaliNachbarländern, wie sich am Rechner des schen Gesellschaft, und spricht von „deutso die Statistiker. Das habe die Wirtschaftskraft spürbar europäischen Netzwerks der Fernleitungs- scher Heuchelei“. Besonders augenfällig ist die Doppelgeschmälert. Die OECD sieht Deutsch- netzbetreiber in Brüssel plastisch nachland sogar auf dem Weg in den Ab- vollziehen lässt. Produziert ein Land net- moral im Südwesten. Die vom Grünenschwung. Eine der Ursachen: die „unge- to mehr Strom, als es selbst braucht, wird Ministerpräsidenten Winfried Kretschwissen Folgen des Atomausstiegs“, so es auf den Monitoren der Netzbetreiber mann geführte Landesregierung BadenOECD-Chefvolkswirt Pier Carlo Padoan gelb dargestellt. Bezieht es hingegen Württembergs bedrängt den Energiekonmehr Strom aus dem Ausland, ist es zern EnBW, auch seine letzten Reaktoren am Donnerstag vergangener Woche. 90
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groß genug, um Turbinen anzutreiben, die die Kraft des Wassers in elektrischen Strom verwandeln. Wichtiger für die Energieversorgung ist, dass das Wasser auch den umgekehrten Weg gehen kann, vom tiefer gelegenen Wasserfallboden hoch zum Mooserboden. Die dazu nötigen Anlagen wurden gerade wieder erweitert. Gigantische Pumpen pressen pro Sekunde bis zu 144 Kubikmeter Wasser den Berg hinauf. Das entspricht dem Inhalt von 900 Badewannen. Auf den ersten Blick scheint es sich um ein schlechtes Geschäft zu handeln. Um Wasser den Berg hinaufzupumpen, braucht es mehr Energie, als talwärts erzeugt wird. Doch die Stauseen dienen als Stromspeicher. Zu Zeiten, in denen Strom im Überfluss vorhanden und dementsprechend billig ist, etwa nachts oder an windreichen Tagen, treibt er das Wasser von unten nach oben. Wenn der Strom knapp wird und der Preis steigt, werden die Schleusen nach unten geöffnet. Das Pumpspeicherkraftwerk ist ein Puffer gegen Angebotsund Nachfragespitzen im Stromnetz – und ein Bombengeschäft für die österreichische Verbund AG: Zunächst importiert Österreich aus Tschechien preiswerte Kernkraft, um damit das Wasser hinaufzupumpen. Den Strom, der beim Ablassen des Wassers erzeugt wird, speist Anzengruber dann für viel Geld ins internationale Netzwerk ein. Noch bezieht Österreich im Saldo mehr Strom aus Deutschland. Doch bis etwa 2015, so der Plan, soll sich auch hier das Verhältnis umkehren. Bei den deutschen Energieversorgern ist die Stimmung entsprechend gedämpft. Während ihre ausländischen Konkurrenten Gewinne einfahren, haben E.on und RWE Sparprogramme und Stellenabbau angekündigt. In dieser Woche wollen sie ihre Beschwerden im Kanzleramt vortragen. Eine so schöne Atomwaschanlage wie die Österreicher können die deutschen Stromkonzerne zwar nicht errichten, aber in das Geschäft mit Pumpspeicherkraftwerken würden sie dennoch gern einsteigen. RWE und EnBW wollen bei Atdorf im Hochschwarzwald die deutschlandweit größte Anlage dieser Art errichten. Die Pläne sind längst fertig, doch die Umweltschutzverbände sind gegen den Bau. Auch die Grünen vor Ort sagen nein. Energiewende hin oder her: Ein Pumpspeicherkraftwerk könnte ihnen womöglich die schöne Aussicht verschandeln. LAURA GITSCHIER, SEAN GALLUP / GETTY IMAGES
besser heute als morgen abzuschalten. Gleichzeitig ist das Land aber am als „Schrottmeiler“ (Kretschmann) verrufenen Kraftwerk Fessenheim beteiligt, das gleich auf der anderen Seite des Rheins in Frankreich steht. Außerdem tragen die Deutschen einen Teil der laufenden Kosten. Sogar Österreich liefert neuerdings Strom nach Deutschland. Das gab es früher nicht so oft. Weil sie eigene Atomkraftwerke ablehnen, sind die Österreicher traditionell selbst auf Importe angewiesen, etwa auf Atomstrom aus Tschechien. Doch jetzt steht Wolfgang Anzengruber, der Vorstandsvorsitzende des größten österreichischen Stromkonzerns Verbund AG, bei Föhnwetter vor einem klaren Alpenpanorama und sagt: „Deutschland ist ein guter Kunde. Und
dass das Licht noch brennt
wir wollen in Zukunft noch enger mit Deutschland und den anderen europäischen Ländern zusammenarbeiten.“ Es geht um zwei Stauseen: den Mooserboden und den Wasserfallboden. Sie liegen auf über 1500 Meter Höhe unter dem Hang des Geierkogels mitten in den Alpen. Ihr kaltes, klares Wasser glitzert in der Sonne. Nebenan grasen Kühe. Aus dem nahen Örtchen Kaprun kommen Wanderer vorbei und bewundern die Aussicht auf das Kitzsteinhorn. Derweil arbeiten im Berginneren die Maschinen. Die beiden Seen sind über Röhren miteinander verbunden. Der Höhenunterschied von über 300 Metern ist D E R
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SPI EGEL-GESPRÄCH
„Eine echte Führungskrise“ Starbucks-Chef Howard Schultz über seine Wut auf amerikanische Politiker, die Rolle von Spekulanten im Kaffeegeschäft und seine Expansionspläne in Deutschland SPIEGEL: Mr. Schultz, Sie haben in den
USA gerade mit einem offenen Brief für Aufsehen gesorgt. Darin werfen Sie den amerikanischen Politikern Versagen vor und machen sie für die anhaltende Wirtschaftskrise verantwortlich. Sie haben sogar alle US-Wirtschaftsführer zu einem Spendenboykott aufgerufen. Warum sind Sie so wütend? Schultz: Ich versuche nur, meine prominente Position zu nutzen, um zu sagen, was viele Menschen frustriert. Wir haben eine echte Führungskrise. Den Politikern beider Parteien ist Ideologie wichtiger als das Wohlergehen der Bürger. Dadurch verspielen sie das Vertrauen und den Kredit, den die USA in der Welt genießen. SPIEGEL: Sie haben immer wieder darauf verwiesen, dass Sie in ärmlichen Verhältnissen in einem sozialen Brennpunkt in Brooklyn aufgewachsen sind und dabei die Risse im amerikanischen Traum erlebt haben. Sehen Sie ähnliche Risse nun im ganzen Land? Schultz: Das ist mit Sicherheit so. Ich bin äußerst sensibel für die Ängste, die viele Menschen hierzulande derzeit durchle* Howard Schultz u. a.: „Onward: Wie Starbucks erfolgreich ums Überleben kämpfte, ohne seine Seele zu verlieren“. Wiley-VCH Verlag, Weinheim; 456 Seiten; 19,95 Euro. Das Gespräch führte der Redakteur Thomas Schulz.
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ben, denn ich kenne sie aus meiner eigenen Kindheit. Und Starbucks hat eine sehr enge Beziehung zum Durchschnittsamerikaner, denn wir haben in fast jeder Ecke des Landes eine Filiale. Wir bekommen sehr genau mit, welche großen Probleme es derzeit gibt. SPIEGEL: Sie haben deshalb versprochen, selbst mit gutem Beispiel voranzugehen und kräftig einzustellen. Allein in den USA wollen Sie in den nächsten sechs bis zwölf Monaten 70 000 zusätzliche Stellen schaffen … Schultz: … weil nur so der Teufelskreis aus Angst und Unsicherheit durchbrochen werden kann. Die Unternehmen trauen sich nicht, einzustellen und zu investieren. Der Wirtschaftskreislauf kommt aber nur wieder in Gang, wenn man frisches Blut hineinpumpt. SPIEGEL: In Krisenzeiten wird allerdings zuerst an Luxus gespart, wie zum Beispiel Caffè Latte für vier Dollar. Haben Sie keine Angst, dass Sie den Mund etwas zu voll nehmen? Schultz: Starbucks ist von der Krise des Verbrauchervertrauens nicht betroffen. Wir haben finanziell gesehen sogar das beste Jahr unserer Geschichte. Unsere Filialen haben sich insbesondere in den vergangenen beiden Jahren zu einem D E R
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Starbucks-Filiale in Peking: „Rückzugsort für schlechte Zeiten“
Rückzugsort für schlechte Zeiten entwickelt. In diesem Sinne haben wir so etwas wie einen für jeden erschwinglichen Luxus geschaffen. Wir wissen allerdings auch, dass wir diese Position ganz schnell verlieren, wenn wir uns nicht jeden Tag anstrengen. SPIEGEL: Zuletzt kletterte der Umsatz um neun Prozent auf rund elf Milliarden Dollar. Eine ganze Zeit war es allerdings eher schlecht um Starbucks bestellt. Das Geschäft lief so mies, dass Sie Anfang 2008 vom Aufsichtsrat zurück auf den Chefposten gewechselt haben, um die Seele des Unternehmens zu retten, wie Sie in Ihrem neuen Buch schreiben*. Schultz: Starbucks drohte in der Tat seine Seele zu verlieren, weil Überheblichkeit und Anspruchsdenken das ganze Unternehmen infiziert hatten. Wachstum war nicht mehr das Resultat der Unternehmensstrategie, sondern Selbstzweck. SPIEGEL: Sie beklagen auch, das Unternehmen sei zu effizient gewesen. Kann das wirklich ein Nachteil sein? Schultz: Richtig gute Unternehmen finden eine Balance zwischen Disziplin und Kreativität. Aber wir waren an einem Punkt angekommen, an dem Effizienz alles war und es nur noch darum ging, wie wir noch schneller noch mehr Kunden abfertigen können. Dabei haben wir vergessen, dass es darum geht, in unseren Filialen großes Theater zu machen, eine Geschichte zu erzählen, ein fühlbares Erlebnis zu schaffen. SPIEGEL: Müssen Sie nicht zuerst versuchen, gerade für junge Konsumenten cool zu bleiben, um nicht zwischen den boomenden billigen Kaffeeanbietern wie McDonald’s auf der einen und Gourmetläden auf der anderen Seite eingequetscht zu werden?
Starbucks-Manager Schultz
„Wachstum war Selbstzweck“
Wirtschaft Schultz: Die besten Marken der Welt ver-
suchen nicht, cool zu sein, sondern relevant zu bleiben. Adidas und Mercedes zum Beispiel haben das geschafft: Sie sind sehr groß und allgegenwärtig, aber wirken dabei nicht gewöhnlich. Für uns heißt das, nicht nur direkt auf das Verkaufen von Kaffee zu schauen, sondern die grundlegende Veränderung des Konsumentenverhaltens im Auge zu behalten. Wir sind bei den sozialen Medien wie Facebook ganz vorn dabei, und in vielen unserer Filialen kann man inzwischen mit dem Mobiltelefon bezahlen. SPIEGEL: Zugleich bietet Starbucks nun Instantkaffee an. Gewöhnlicher geht’s doch kaum – oder? Schultz: Alle dachten, das sei das Dämlichste, was wir machen können, aber es war genau das Richtige. Als Porsche einen viersitzigen Geländewagen auf den Markt brachte, hieß es auch: Das ist deren Ende. Aber stattdessen haben sie ihren Kundenkreis erheblich erweitert. Genauso wie wir jetzt mit unserem Instantkaffee Via. SPIEGEL: Haben Sie nicht vielmehr mit einem Billigangebot auf McDonald’s reagieren müssen? Die Burger-Kette macht Ihnen seit einiger Zeit mit ihren McCafés erhebliche Konkurrenz. Schultz: McDonald’s hat uns sogar einen großen Gefallen getan. Es hat für sehr viel Aufmerksamkeit gesorgt und uns gleichzeitig gezwungen, uns auf unsere Stärke zu konzentrieren: hochwertigen Kaffee in besonderer Umgebung anzubieten. Wir sind zwar teurer als McDonald’s, aber dafür eben auch besonders. SPIEGEL: Die Deutschen konnten Sie davon allerdings noch nicht so richtig überzeugen. Während Starbucks in England längst über 700 und in Japan fast 900 Filialen hat, sind es in Deutschland gerade einmal knapp 150. Schultz: Das stimmt, wir haben viel zu wenige Filialen in Deutschland. Wir müssen endlich in die Gänge kommen. SPIEGEL: Dabei sind die Deutschen doch sogar, anders als etwa die Japaner, eine Nation von Kaffeetrinkern. Was ist schiefgelaufen? Schultz: Die meisten amerikanischen Handelsunternehmen, die sich auf dem deutschen Markt versuchen, tun sich schwer. Denken Sie nur an Wal-Mart. Es hat auch bei uns eine Weile gedauert, den Code zu knacken. Dafür gibt es keine Entschuldigung. Aber inzwischen bin ich ganz zufrieden: Wir haben jetzt das richtige Fundament, und der Bekanntheitsgrad von Starbucks ist hoch. Wir werden beim Wachstum jetzt richtig Gas geben. SPIEGEL: In den meisten Ländern gibt es doch bereits lokale Ketten. Wo sehen Sie da überhaupt noch große Wachstumschancen? Schultz: Wir haben derzeit rund 900 Filialen in China, doch das werden irgendwann Tausende sein. Es ist zwar nicht D E R
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einfach, in den chinesischen Markt reinzukommen, aber dafür sind es unsere profitabelsten Filialen überhaupt. Auch Brasilien und Vietnam stehen ganz oben auf unserer Expansionsliste. Und natürlich Indien. SPIEGEL: Die Inder sind nicht gerade als Kaffeeliebhaber bekannt. Genauso wie die USA einst auch eher für ihre fürchterliche dünne Brühe aus Billigbohnen berüchtigt waren. Seit dem Erfolgszug von Starbucks gibt es nun an fast jeder Ecke Espresso. Wollen Sie die ganze Welt zum Kaffee bekehren? Schultz: Es hat uns sicherlich viel Zeit gekostet, den Konsumenten zu erziehen. Unser Erfolg in den USA kam ja nicht über Nacht. Wir haben nie riesige Werbekampagnen gefahren. Die Marke wurde über die Erfahrung in unseren Filialen und die Qualität des Kaffees aufgebaut. Wir haben dabei etwa durch unsere Art der Röstung ein eigenes Geschmacksprofil entwickelt, für das wir über die Zeit eine Basis von 60 bis 70 Millionen extrem loyalen Kunden schaffen konnten. Das ist nun ein Sprungbrett für globale Möglichkeiten. SPIEGEL: Man könnte allerdings auch sagen, Starbucks ist nicht im Kaffee-, sondern im Milchgeschäft. In den meisten Starbucks-Getränken ist der Espresso nur eine Randerscheinung.
Arbeiterinnen einer Kaffeefarm in Ruanda: „Getrieben von Spekulanten“ Schultz: Ich glaube, unsere Kunden wollen nun einmal Milch in ihrem Kaffee. Deswegen ist der Tall Latte … SPIEGEL: … ein großer Milchkaffee … Schultz: … unser populärstes Getränk. Und wir sind hier, um unsere Kunden zufriedenzustellen. Das ist doch eine Stärke des Unternehmens und nicht etwas Negatives!
SPIEGEL: Es gibt Studien, die sagen, der Kostenanteil der Milch an einem Tall Latte sei rund doppelt so hoch wie der des Kaffees. Richtig? Schultz: Das war mit Sicherheit nicht im vergangenen Frühjahr so, als der Kaffeepreis auf drei Dollar pro Pfund stieg. SPIEGEL: Kaffee ist in den vergangenen Jahren wie alle Rohstoffe immer mehr zu
Wirtschaft
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Starbucks-Filialen weltweit
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davon US-Filialen jeweils 4. Quartal, 2011: 3. Quartal
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einem Spekulationsobjekt geworden. Hat der Preis überhaupt noch mit Angebot und Nachfrage zu tun? Schultz: Ich habe im vergangenen Jahr mit jedem gesprochen, von dem wir in rund 30 Ländern Kaffee kaufen. Keiner hatte ein Bestandsproblem, aber die Preise stiegen. Für mich beweist das: Der Kaffeepreis wird getrieben von Spekulanten und Finanzmachenschaften.
SPIEGEL: Offenbar drängen immer mehr Hedgefonds in das Geschäft mit dem Kaffeehandel. Schultz: Ja, sie haben andere Spekulationsgeschäfte aufgegeben und konzentrieren sich stark auf die Rohstoffmärkte. SPIEGEL: Trotz deutlich höherer Preise kommt also nicht mehr Geld bei den Kaffeebauern an? Schultz: Soweit ich es beurteilen kann, verdienen Finanzinstitutionen an den hohen Preisen, nicht die Farmer. SPIEGEL: Sie betonen öffentlich immer wieder, wie sehr Starbucks sich für eine faire Behandlung der Kaffeebauern starkmacht. Wie stellen Sie sicher, dass die Produzenten tatsächlich ihren verdienten Anteil bekommen? Schultz: Starbucks hat in den vergangenen Jahren mehr für Kaffeebauern getan als jedes andere Unternehmen der Welt. Wir haben etwa in Costa Rica und Ruanda Schulungszentren gebaut, wo wir den Farmern sowohl bei Anbaumethoden als auch bei Geschäftspraktiken helfen. Und wir haben eigene Standards für die Beziehungen zu den Farmern entwickelt, die zum Beispiel bei der Transparenz höher sind als im Fair-Trade-System. Wir verfolgen auch den Geldfluss und stellen sicher, dass die Bezahlung beim Farmer ankommt. SPIEGEL: Was ist Ihr Problem mit Fair Trade, dem Siegel für bessere Bedin-
gungen für Produzenten in der Dritten Welt? Schultz: Fair Trade macht einen guten Job, nur lässt das System nicht zu, beim Ankauf die Kaffeequalität zu identifizieren. Wir benötigen aber ausschließlich Arabica-Kaffee des höchsten Grades. Deshalb müssen wir unsere eigenen Analysen durchführen und gleichzeitig sicherstellen, dass die Plantagenbesitzer auch in den Boden zurückinvestieren und die Kaffeepflücker gerecht entlohnen. Und wir zahlen über dem globalen Marktpreis. SPIEGEL: Sie haben kürzlich das Wort „Coffee“ aus dem Starbucks-Logo gestrichen und gleichzeitig angekündigt, mit Starbucks-Produkten in die Supermärkte zu drängen. Wollen Sie Starbucks mittelfristig zu einem globalen Lebensmittelkonzern ausbauen und in einer Liga etwa mit Nestlé spielen? Schultz: Im Lebensmittelbereich bieten sich enorme Möglichkeiten für uns. In den nächsten 12 bis 18 Monaten werden wir neue Produkte und komplett neue Kategorien vorstellen. Ich kann Ihnen nichts Genaues verraten, außer dass es ein riesiges, globales Milliardengeschäft im Lebensmittelbereich sein wird. Ich glaube, die Welt wird in den nächsten Jahren noch sehr überrascht sein, wozu wir in der Lage sind. SPIEGEL: Mr. Schultz, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Panorama INDIEN
Bulldozer gegen Armut
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BRIGITTE HISS / SINOPICTURES
ie Stadtverwaltung der Wirtschaftsmetropole Mumbai droht den Bewohnern von Dharavi, eines der bekanntesten Armenviertel der Welt, mit der Räumung. „Die Bulldozer werden kommen“, hätten Vertreter der Stadt angekündigt, berichten Anwohner. Dharavi ist Mumbais umstrittenstes Armenviertel. Wegen der rasant steigenden Immobilienpreise in anderen Gegenden suchen hier auch immer mehr Menschen aus der Mittelschicht Unterschlupf: Auf über zwei Quadratkilometern leben nach Angaben der Behörden bereits 700 000 Menschen, nach Schätzungen von Entwicklungshelfern sogar mehr als 1,4 Millionen. In dem Quartier haben zudem mehrere tausend Kleinstwerkstätten ihren Sitz, dort wird Plastik recycelt, Metall verarbeitet und in EinZimmer-Betrieben sogar Software entwickelt. Dharavi, vor 80 Jahren ein Dorf im Marschland vor den Toren der Stadt, liegt jetzt mitten im Zentrum. In dem Viertel, das viele Inder für einen Schandfleck halten, wurde der Oscarprämierte Film „Slumdog Millionär“ gedreht – nun soll es in ein modernes Wohn- und Einkaufszentrum verwandelt werden. Doch nur wer nachweisen kann, dass er schon vor dem Jahr 2000 in Dharavi wohnte, bekommt staatliche Hilfe für eine neue Bleibe.
Dharavi-Viertel in Mumbai
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ZITAT
Erfolgreiche Aufrüstung
„Fidel hat immer gesagt, wenn er stirbt, wird’s keiner glauben.“ Der kubanische Parlamentspräsident Ricardo Alarcón zu den sich häufenden Meldungen über den angeblichen Tod des 85-jährigen Revolutionsführers Fidel Castro
RODRIGO ARANGUA / AFP
Castro-Anhänger in Havanna
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anz offensichtlich zeigt der Einsatz privater Sicherheitskräfte auf zivilen Frachtschiffen am Horn von Afrika Wirkung. Während im ersten Halbjahr 2010 etwa jeder vierte der 100 Piratenangriffe mit einer Entführung endete, gelingt den Freibeutern jetzt nur noch jede achte Kaperung. „Viele Schiffe haben nun bewaffnete Kräfte an Bord, und das hat deren Sicherheit entscheidend verbessert“, sagt der deutsche Piraterie-Experte Jan Stockbrügger. Er erforscht von Nairobi aus gerade Taktik und Strategien der Seeräuber. Französische und spanische Fischtrawler haben schon länger bewaffnete Sicherheitskräfte an Bord, auch deutsche und indische Reeder setzen sie zunehmend ein. US-Sicherheitsfirmen, die von Mombasa aus operieren, haD E R
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ANDREAS ULRICH / DER SPIEGEL
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Schießübung an Bord
ben ebenfalls gut zu tun. Ein Drittel aller zivilen Schiffe im Golf von Aden soll inzwischen bewaffnet sein. Die Hauptlast der Piratenabwehr tragen aber immer noch jene zwei Dutzend Kriegsschiffe, darunter zwei deutsche Fregatten, die auf der Handelsroute am Horn von Afrika patrouillieren.
Ausland
REUTERS (L.); AMIR / DEMOTIX (R.)
Spielverderber Ziemlich unbeliebt macht sich derzeit Irans Ajatollah Ali Chamenei. Der Revolutionsführer bestärkt die Justiz des Landes darin, gegen ein unter Jugendlichen äußerst populäres Sommervergnügen vorzugehen: Junge Männer und Frauen bespritzen sich in öffentlichen Parks mit großen Spielzeugpistolen – ein Spaß, den Ali Chamenei für in jeder Hinsicht unislamisch hält.
FOTOCREDIT
AFRI KA
„Eure Krise ist unsere Chance“
SPIEGEL: Sie halten die westliche Unterstützung für unsinnig und kontraproduktiv. Und das in einer Zeit, da in Somalia 750 000 Menschen akut vom Hungertod bedroht sind? Moyo: Am Horn von Afrika herrscht eine Notfallsituation, Hilfe ist dort auf jeden Fall nötig. Aber die Probleme verschwinden nicht, weil nun säckeweise Reis und Mais dorthin geschickt werden. 400 bis 500 Millionen Menschen haben zeitweise nicht genug zu essen, obwohl Afrika ein Kontinent mit sehr viel fruchtbarem Ackerland ist. Da läuft doch etwas falsch. SPIEGEL: Was muss geschehen, damit es dort keinen Hunger mehr gibt? Moyo: Ich bin dagegen, jedes Jahr Milliarden Dollar in Form von Billigkrediten oder Budgethilfe nach Afrika zu
GETTY IMAGES
Die sambische Finanzexpertin Dambisa Moyo, 41, über die westliche Entwicklungshilfe, mit der sie in ihrem nun auf Deutsch erscheinenden Buch „Dead Aid“ abrechnet
Moyo D E R
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pumpen. Dieses Geld lässt die Menschen gar nicht erst produktiv werden. Seit Jahrzehnten zahlt der Westen zuverlässig Hilfe. Doch die Armut hat sogar zugenommen. SPIEGEL: Warum haben es afrikanische Regierungen nicht geschafft, die mehr als zwei Billionen Dollar, die ihnen in den vergangenen 50 Jahren zuflossen, vernünftig einzusetzen? Moyo: Weil die Hilfe kaum an Auflagen gebunden war. Die Geberländer lassen es zu, dass Afrikas Führer dieses Geld in die Schweiz schaffen und später damit auf den Champs-Elysées shoppen gehen. SPIEGEL: Sie würden den Geldhahn zudrehen? Moyo: Ich habe nie gesagt, dass man die Entwicklungshilfe von heute auf morgen stoppen soll. Aber wir brauchen ein zeitlich umrissenes Ausstiegsprogramm. Die Hilfsbereitschaft wird sowieso abnehmen: Wer kann von den hochverschuldeten Griechen oder Italienern noch verlangen, dass sie Entwicklungshilfe leisten? Eure Finanzkrise, das ist unsere Chance: Sie könnte Afrika zwingen, endlich Verantwortung zu übernehmen. 97
Ausland
SCHWEIZ
Almrausch und Höhenkoller Die Schuldenkrise in den Euro-Staaten beschert den Eidgenossen einen überbewerteten Franken und schmerzliche Einsichten: Die Probleme der Europäischen Union gefährden den Wohlstand und den sozialen Frieden zwischen Bodensee und Genfer See.
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PETER SCHNEIDER / KEYSTONE ZÜRICH / DPA
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ie sind Grenzgänger und kommen nicht der schönen Landschaft wegen. Sie wollen raus aus der EuroZone und rein in die Schweiz. Stundenweise oder für länger, manche für immer. An der 1855 Kilometer langen Außengrenze zählen sie zur Dauerkundschaft eidgenössischer Zöllner: Deutsche, die am niedrigbesteuerten Schweizer BodenseeUfer siedeln. Franzosen, die als Gastarbeiter gutes Geld machen in den Fabriken für Luxusuhren am Genfer See. Und Italiener, die Erspartes aus dem Berlusconi-Reich auf Bankkonten ins Tessin hinüberretten. Schon lange galt die Schweizer Landeswährung als Alternative zum Goldbarren. Aber seit dem 9. August, als abends verlautbart wurde, der Franken habe nun erstmals den Wert des Euro erreicht, erschien die Eidgenossenschaft endgültig als der wohl sicherste Hafen für Anleger in stürmischer Zeit. Der Franken war bis August binnen 15 Monaten um fast 30 Prozent im Wert gestiegen. Das hatte wenig mit den Schweizern, viel aber mit den Empfehlungen internationaler Analysten zu tun. Angesichts der Gefahr, die Europäische Währungsunion könne unter den Schuldenbergen ihrer Mitglieder zusammenbrechen, empfahlen Banker ihren Kunden, in Währungen stabiler Länder zu investieren: in den japanischen Yen, die Kronen Schwedens und Norwegens, den kanadischen und den australischen Dollar – und eben in den Schweizer Franken. Der anschwellende Kapitalfluss verteuerte den Franken – ein Effekt, der durchaus Vorteile hat: Die Zinsen sind tief, Importe billiger zu haben, die Kaufkraft einheimischer Investoren im Ausland steigt. Die Nachteile aber wiegen schwer, denn es leidet der Export: Die Erlöse in Euro oder Dollar bleiben gleich, aber die Gewinnmargen sinken. So geschehen in der Schweiz. Besonders traf es neben Exportwirtschaft und Fremdenverkehrsindustrie die mittelständischen Firmen – weil sie ihre Produktion nicht ins Ausland verlegen können. Und: Die Schweizer fuhren nun mit ihren starken Franken zum Einkaufen in die billigeren Nachbarländer. Bereits im Sommer listete der Einzelhandel Milliardenverluste auf. Der Arbeitgeberpräsident forderte Arbeitszeit-
Nationalbankpräsident Hildebrand
Starker Franken ... Wert des Euro in Franken 1,6 1,5 1,4 1,3 Um 38% stieg der Wert des Franken gegenüber dem Euro seit dem 12. Oktober 2007.
1,2
Quelle: Thomson Reuters Datastream
2007
2008
2009
1,1
2010
2011
... gefährdet den Export ... Anteil der Exporte* am Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Prozent; Prognose 2011 zum Vergleich
53,7
Schweiz
43,5
48,9
EU-27
Deutschland
* Waren und Dienstleistungen; Quelle: EU-Kommission
... und bremst das Wachstum Prognostiziertes Wachstum der Schweizer Wirtschaft für 2011 und 2012 Quelle: KOF Consensus
2011
2012
Prognose vom Juni 2011
2,2%
1,9%
Prognose vom September 2011
1,9%
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verlängerungen bei gleichem Lohn, und Spezialisten rechneten schon den Einbruch beim Wirtschaftswachstum vor. Nach mehreren misslungenen Interventionen und saftigen Verlusten von 30 Milliarden Franken seit Januar 2010 sprach die Schweizerische Nationalbank in Person ihres Präsidenten Philipp Hildebrand am vergangenen Dienstag ein Machtwort: Die „akute Bedrohung“ für die heimische Wirtschaft erzwinge Maßnahmen – man wolle ab sofort einen Mindestkurs von 1,20 Franken für den Euro „mit aller Konsequenz durchsetzen“. Der Franken nun an den Euro gekoppelt – ist das der Anfang vom Ende des Schweizer Sonderwegs? Oder doch nur ein neuer, kurzer Griff zur Notbremse wie schon 1978, als vorübergehend ein Wechselkursziel gegenüber der D-Mark verordnet wurde? Die eidgenössischen Nationalbanker werden diesmal Beharrungsvermögen zu beweisen haben. Ende vergangener Woche schien ihr Plan fürs Erste aufzugehen – der Kurs pendelte sich tatsächlich bei 1,20 Franken ein. Was wenig an der Stimmung in den Schweizer Grenzgebieten änderte. Auch nach dem Eingriff der Notenbanker schleppen Eidgenossen noch Kosmetikartikel und Rinderfilets als Schnäppchen aus deutschen Großmärkten heimwärts, kaufen Häuser am französischen Ufer des Genfer Sees und buchen günstigen Urlaub in Italien. Bleibt also die Republik der Eidgenossen ein Bollwerk gegen die aus der Euro-Zone anbrandende Gefahr? Wer sich in diesen Tagen bei Bürgermeistern am Bodensee oder Politikern im Landesinneren umhört, wer Bunker der Schweizer Armee und Bergstationen am Matterhorn besucht, der begreift, dass die Stärken der Eidgenossen mit den Schwächen ihrer Nachbarn zu tun haben: Was in der Schweiz passiert, bildet die Zustände im Vereinten Europa ab – in umgekehrten Farbtönen. Wie ein Negativfilm. Was zeichnet sie aus, die Eidgenossen? „Schweizer haben den Ruf“, sagt Christoph Oschwald, „Wertvolles verlässlich zu schützen – Geld, Daten, Gold. Ja sogar den Papst.“ Oschwald, flotter Auftritt, flottes Mundwerk, ist 55 Jahre alt und Miteigentümer der Firma Siag. Sie betreibt unter dem
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Wachmann im Bunker von „Swiss Fort Knox“: „Wir Schweizer wollen, werden und müssen nicht Teil dieser EU sein“ D E R
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Ausland Namen „Swiss Fort Knox“ zwei Felsbun- gitale Genom“ unserer Zeit in einem unker im Berner Oberland, die – laut Eigen- scheinbaren Koffer eingelagert ist – der werbung – Atombomben, Erdbeben und Schlüssel zu Dateiformaten mit Verfallsdatum und zu den darauf gespeicherten Sonnenstürmen trotzen. Dorthin geht die Autofahrt an diesem Informationen. Wissenschaftler aus ganz Morgen. Vorbei am Fenster fliegt wie im Europa haben sie zusammengetragen. Natürlich komme so ein Bunker auch Endlosfilm Postkartenlandschaft: Zuger und Vierwaldstätter See, Jungfrau-Massiv. für Anleger in Frage, ergänzt der Mana„Dieses Land ist zu klein, um Probleme ger: Das Interesse an der Lagerung von zu machen“, sagt Herr Oschwald: „Aber Vermögenswerten außerhalb des Euronicht zu klein, um die Probleme anderer Systems und fern von den Banken steige zu lösen – wir bieten Zukunft für jeden.“ – weil selbst der Safe eines Geldinstituts Kunden aus der Euro-Zone wüssten im Fall einer Pleite kein sicherer Ort sei. Auch der Ruf des Finanzplatzes das zu schätzen: „Die EU-Politiker sollen unser Land in Ruhe lassen und lieber Schweiz hat ja in letzter Zeit erkennbar schauen, dass ihnen ihr Projekt nicht ab- gelitten. Das Bankengeheimnis ist unter säuft“, spottet Oschwald: „Wir Schweizer dem Druck der USA wie der EU aufgewollen, werden und müssen nicht Teil die- weicht worden. Erst vergangene Woche ser EU sein – eines 27-Spänners, den nur beugte sich Bern in Teilen einem neuen noch ein Pferd zieht, das deutsche. Der Ultimatum der amerikanischen JustizRest hängt im Geschirr oder liegt in der behörde wegen unversteuerter KundenKutsche.“ Er meint, allen voran, Grie- vermögen. Darüber hinaus hatten milliardenschwere Fehlspekulationen renomchen, Spanier, Italiener, Portugiesen. Den Menschen, die in der Schweiz mierter Schweizer Banken wie UBS und Schutz suchen vor deutschen Steuerfahn- Crédit Suisse schon zuvor das Vertrauen dern, gilt sein Mitgefühl. Dass der Ex-Fi- von Anlegern erschüttert. „Schlimm, was nanzminister und mögliche Kanzlerkan- diese Managertypen aus unserem Bandidat Peer Steinbrück Schweizern wie kenplatz gemacht haben“, sagt Oschwald: ihm wegen dieses Mitgefühls einst mit „ein Spielcasino mit Staatsgarantie.“ der Kavallerie gedroht habe, sei unverDie Schweizer allerdings wären nicht, gessen: „Wir sind da wie die Schnecken – was sie sind, fiele ihnen in größter Bewenn du denen auf die Fühler klopfst, drängnis nicht noch ein Ausweg ein. Im ziehen sie sich auch zurück, und zwar für Falle Swiss Fort Knox wurde der Armee länger“, sagt Herr Oschwald, während er ein Teil ihrer Bunker abgekauft, der anseinen Wagen vor dem Bunkereingang dere Teil angemietet. Breitbandkabel unam Ortsrand von Gstaad parkt. terqueren nun den Fels, Gletscherwasser Was wird eingelagert im Stollensystem speist die Kühlung für die Serverräume, von Swiss Fort Knox? Das Gleiche wie und auf der einstigen Startbahn der Luftdrüben in Amsteg am Gotthard? Dort, streitkräfte landen nun die Partner im wo heute in einem Bunker, der einst dem Bunkergeschäft. „Wenn irgendwo auf der Bundesrat Zuflucht vor einer Nazi-Inva- Welt beim Kunden große Datenmengen Asiatische Touristen am Matterhorn (o.), Arbeiter sion bieten sollte, das Unternehzerstört sind, haben wir hier die men „Swiss Gold Safe“ seine Kopie und müssen den Server dergelassen. In Kreuzlingen, der Zwil„Schlimm, Dienste anbietet? sofort ausfliegen können.“ Ar- lingsstadt von Konstanz, leben inzwiwas diese mee und Zoll spielen mit, ge- schen 50,6 Prozent Ausländer, in ihrer „Genauso gut wie mich nach Gold könnten Sie die israelische Managertypen treu dem Schweizer Modell, Mehrzahl Deutsche. Seit die Schweiz Ende 2008 dem SchenArmee nach der Atombombe aus unserem dass der Staat dem Bürger zu fragen“, sagt vieldeutig Herr Bankenplatz dienen habe, nicht umgekehrt. gen-Gebiet beigetreten ist, herrscht Nie„Warum sitzt unsere Firma derlassungsfreiheit. Die Grenzkontrollen Oschwald. Dann öffnet er eine gemacht im Kanton Zug, den die Deut- beschränken sich auf sporadische Schleidreieinhalb Tonnen schwere Tür haben.“ schen Steuerparadies nennen?“, erfahndung durch Zöllner im Hinterland. im Fels, schlüpft durch eine Infragt Herr Oschwald noch, be- Wer in Konstanz über die Grenze aufs frarotschleuse und führt hinein in sein Reich. Schier endlose Gänge hat vor er in seine Limousine steigt. „Weil Hotel Schweizerland mit seinem „Tanzdie Schweizer Armee hier in den Felsen uns die Steuerbehörden da so behandeln, bödeli“ in Kreuzlingen zuläuft, der gesprengt. Jetzt führen an der Stollen- wie sich’s gehört – wie Kunden. Das heißt: kommt in ein Land, das nur der Papierdecke Leitungsstränge auf schwer gesicher- Bei angenehmer Steuerlast genießen wir form nach noch eine Insel im Meer der EU-Staaten ist. te Räume zu, in denen Reihen schwarzer besten Service.“ Andererseits ist gerade hier zwischen So empfinden es auch viele Deutsche. Schränke ihre Schätze bergen: „Sie sehen hier das Geld der Gegenwart, vor allem Wer vom Turm des Münsters im badi- Konstanz und Kreuzlingen zu spüren, wie schen Konstanz ostwärts schaut, der über- groß die Kluft zwischen beiden Welten aber der Zukunft“, sagt Oschwald. Daten, Terabyte-Ladungen von Daten. blickt das Hinterland des Bodensees. For- einst war. Nicht zuletzt, weil hier noch Aus aller Welt. Aus allen Branchen. Ge- mel-1-Weltmeister Sebastian Vettel erholt mit Stacheldraht gekrönte Reste des alten speichertes Wissen, das nicht verloren- sich dort, gleich hinter der Grenze in der „Judenzauns“ zu sehen sind, der die ungehen darf. „Den Euro wird es wahrschein- Schweiz, auf seinem 14 000-Quadratme- kontrollierte Passage aus Nazi-Deutschlich in fünf Jahren so nicht mehr geben“, ter-Anwesen. Der ehemalige Tour-de- land in die neutrale Schweiz verhindern sagt Oschwald, „hier aber lagern Dinge, France-Sieger Jan Ullrich wohnt nahebei. sollte. Auch den Hitler-Attentäter Georg Auch manch anderer unter den mehr Elser haben sie, kurz vor dem Grenzzaun, die tausendmal wertvoller sind als Geld.“ Wie zum Beweis zeigt der Manager im als 250 000 in der Schweiz registrierten geschnappt und verhaftet. Eine Büste mit Vorbeigehen auf Safe A 1790, wo das „di- Deutschen hat sich in dieser Gegend nie- seinem Ausspruch „Ich habe den Krieg 100
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JEAN REVILLARD / REZO / DER SPIEGEL BALLY/KEYSTONE ZÜRICH/DPA (L.); SANDER/LE FIGARO MAGAZINE/LAIF
in der Bau- und Uhrenindustrie: „Geist der Bauern, Reichtum der Städter“
verhindern wollen“ erinnert daran. Elser auf Schweizer Seite zuletzt um etwa 70 wurde 1945 in Dachau ermordet. Prozent über den deutschen. Dafür sind Heute prägen zwischen Konstanz und die Preise auf deutscher Seite um mehr Kreuzlingen Nüchternheit und Erwerbs- als die Hälfte niedriger. „Bei uns ist es so sinn den Umgang der Nachbarn miteinan- – der Händler leidet, der Normalbürger der. Morgens überqueren erste Deutsche profitiert“, sagt Andreas Netzle, Stadtdie Grenze nach Osten, darunter jene, ammann von Kreuzlingen, was im Deutdie gegen Lohn in harten Franken bei der schen eine Art Gemeindevorsteher ist: Mowag in Kreuzlingen Schützenpanzer „In Konstanz ist es umgekehrt.“ „Die Augen geöffnet“ habe ihm und bauen, für den militärischen Ernstfall in vielen anderen die Währungskrise schon Saudi-Arabien oder Afghanistan. In der Gegenrichtung setzen sich später jetzt, erklärt Netzle. Viel Gier und wenig die Schweizer in Bewegung. Ihr Ziel sind Mitgefühl mit den Leidtragenden der TurDrogerie- und Supermärkte in Konstanz, bulenzen sei da zutage gekommen. Bei den Bürgern in der Fußgängerzone wo für Hautcremes die Hälfte und für Rindfleisch oft nur ein Drittel der Kreuz- klingt das so: „Die Schweiz eine Insel der linger Preise gelten. Dass einigen der Seligen? Dass ich nicht lache“, sagt ein Schweizer Nachbarn blankes Jagdfieber älterer Herr – „Wenn überhaupt, dann in den Augen steht, wenn sie Kosmetika sind wir ein Archipel; nur sobald wirklich und Konserven kofferraumweise verla- schweres Gewitter aufzieht, versammeln den, ertragen die schlangestehenden Kon- wir uns gemeinsam, am höchsten Punkt.“ Und doch, einiges hat sich auch in stanzer mit badischem Gleichmut. Wer kann schon etwas dafür, dass die Kreuzlingen geändert, seit die bisher wekleine Welt am Bodensee von der Krise nig preissensiblen Eidgenossen das heider großen Finanzwelt erschüttert wor- mische Angebot mit dem im Ausland verden ist? Bezogen auf den Umtauschkurs gleichen. Großhandelsketten korrigierten vom August lagen die Durchschnittslöhne ihre Preise und Zwischenhändler ihre D E R
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Margen nach unten, stark subventionierte Gemüsebauern sind unter Druck geraten. Es ist, als sei eine lang verschlossene Tür aufgerissen und Frischluft ins eidgenössische System gepumpt worden. „Bisher verkaufe ich den gleichen Salat hier in der Schweiz zweimal teurer als daheim“, sagt der Bauer Rainer Schächtle. Im deutschen Konstanz hat er sein Geschäft, dort lebt er auch. Felder und Treibhäuser aber liegen auf Schweizer Seite im Tägermoos. Wenn ihm die Schweizer Kundschaft künftig seinen Salat nicht mehr abkaufe, sei er am Ende, sagt Schächtle. Allein sein Feldarbeiter schlage dank Schweizer Tarif mit 3150 Franken Lohnkosten monatlich zu Buche: „Mit deutschen Erzeugerpreisen überlebst du das nicht.“ Auch 296 Kilometer südwestlich von Kreuzlingen, am anderen Ende des Landes, ist die Bastion Schweiz bedroht. In Chancy, der französischen Grenze gegenüber, steht Robert Cramer und erklärt fröhlich: „Ich bin einer, der deutlich sagt, dass die Schweiz der EU beitreten muss.“ Cramer ist Ständerat, der erste Grüne in der Geschichte der kleinen Kammer des Parlaments; er ist ein unermüdlicher Vorkämpfer für eine weltoffene Schweiz. Am Beispiel des Kantons Genf, der sich wie ein Raubtierschnabel ins französische Staatsgebiet bohrt, erklärt Cramer, was viele Eidgenossen nicht gern hören: dass es eine Lebenslüge sei zu glauben, man könne sich mitsamt seinem Reichtum in naturnaher Idylle abschotten. „Der Geist der Schweiz ist ein Geist der Bauern“, sagt Cramer: „Der Reichtum der Schweiz aber kommt von den Städtern.“ Genf, die Stadt der Bankiers, der Uhrenfabrikanten und internationalen Organisationen, bebildert beispielhaft, wovon Cramer spricht: Die Metropole boomt, aber sie platzt auch aus allen Nähten. Es gibt weit mehr Arbeitsplätze als Wohnungen. 85 000 Grenzgänger pendeln täglich aus Frankreich in den Kanton. In und um die Wohlstandsbastion Genf läuft das Leben momentan so: Viele, die es sich nicht mehr erlauben können, für eine Drei-Zimmer-Wohnung umgerechnet 3000 Euro zu zahlen, arbeiten weiterhin in der Stadt, suchen aber jenseits der Grenze in Frankreich für ein Drittel des Preises Unterschlupf. Dabei besteht die Hälfte des Kantons Genf noch aus Agrarland und Wald. Doch für Neubauten mögen die Eingesessenen diesen grünen Gürtel nicht angreifen. Lieber leistet man sich eine Art Banlieue hinter der französischen Grenze – in Annemasse. Jeden Morgen verlassen 8000 Arbeiter und Angestellte diese Stadt mit ihren gesichtslosen Wohn- und Mehrzweckbauten in Richtung Genf – das ist die Hälfte aller Erwerbstätigen. Genf überweist im Gegenzug acht Millionen Euro jährlich 101
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Pendler auf dem Weg nach Genf: Das „Gesindel von Annemasse“
als Entschädigung nach Annemasse. Die dem sie dann bei Rolex und Patek Philippe Probleme der Grenzstadt sind damit Luxus-Chronometer machen. Die Löhne in dieser Branche waren imnicht zu lindern: Durch die hohen Gehälter der Pendler sind Mieten und Le- mer stattlich: 6500 Franken monatlich für benshaltungskosten dort unverhältnis- Polierer, 12 000 Franken für Sertisseurs, die Edelsteinfasser. Doch je mehr der mäßig gestiegen. „Eines unserer Altersheime ist nur zur Franken zuletzt stieg, desto besser schnitHälfte belegt, weil wir keine Pfleger mehr ten die Pendler aus der Euro-Zone ab. finden“, sagt Christian Dupessey, der Bür- „Inzwischen habe ich vier Wohnungen in germeister von Annemasse. Qualifizierte Frankreich, ein Boot und eine glückliche Kräfte wanderten ab in Scharen: „Ein Familie“, sagt Tomy, lacht, bezahlt sein Lehrer verdient bei uns 2300 Euro, deut- Bier und fährt zurück über die Grenze. Wenn in diesen für Schweizer undurchlich weniger als ein Supermarkt-Kassierer in Genf. Allein in unserer Stadtverwal- sichtigen Zeiten einer den Überblick hat, dann muss es Jean-Marie Fuchs sein. Nur tung sind derzeit 70 Stellen unbesetzt.“ Gemeinsam mit dem Schweizer Stän- knapp unter dem Gipfel des Kleinen Matderat Cramer und anderen Gesinnungs- terhorns leitet er Europas höchstgelegenes genossen kämpft der Bürgermeister von Restaurant. Auf über 3800 Meter Höhe. Streckt Fuchs die Nase zur Tür hinaus, Annemasse für grenzüberschreitendes Denken. „Es ist ein Missverständnis zu hat er Großes Matterhorn, Montblanc glauben“, sagt Dupessey, „dass man bes- und Monte Rosa vor Augen. Streckt er ser abschneidet, wenn man sich vor allem die Nase nicht hinaus, hat er neuerdings um sich selbst kümmert.“ Das Genfer vor allem Asiaten vor sich. Friedliche, unKantonsspital müsste augenblicklich komplizierte Gäste, die sich vom Buffet schließen, sollten die französischen Pend- Rösti oder Spaghetti holen, ehe sie im angegliederten Souvenir-Shop eine Plastikler eines Tages in den Streik treten. Der Verteilungskampf ist härter, der kuh oder ein Sackmesser mit SchweizerTon rauer geworden im Großraum Genf. kreuz drauf erstehen. Mit plus 33 Prozent bei den ÜbernachDie Schweizerische Volkspartei hat schon 2009 vor dem „Gesindel von Annemasse“ tungen führen die Inder die Liste der Aufgewarnt, das demnächst mit dem Vorort- steiger im Schweizer Tourismusgeschäft zug im Zentrum Genfs eintreffen werde. an, knapp gefolgt von den Chinesen. In Inzwischen haben die Schweizer Besitz- dem ansonsten bisher als „harzig“ verstandswahrer aber noch ein weiteres buchten Geschäftsjahr 2011 zählt das Sprachrohr gefunden: Eric Stauffer, mit umso mehr, weil Deutsche und Briten weseiner Bewegung MCG drittstärkste Kraft gen des starken Franken nun fernbleiben. Jene Touristen, die oben bei Jean-Maim Kanton. Er hat zuletzt öffentlich beklagt, dass „Genf ein rechtsfreier Raum“ rie Fuchs essen wollen, lösen in Zermatt geworden sei, in dem „Schlägerbanden ein Ticket für 98 Franken. Dann gondeln aus Frankreich“ nach Lust und Laune prügeln und einbrechen dürften. 100 km DEUTSCHLAND Konstanz „Vergiss nie, was da draufsteht: ,AusBodensee länderausweis‘“ – ein Schweizer Zöllner Kreuzlingen habe ihm das unlängst unter die Nase geFRANKKanton REICH rieben, sagt der Franzose Tomy beim SCHWEIZ Thurgau Feierabend-Bier im Viertel der Genfer Bern Uhrenhersteller. Er nimmt die in jüngster Kanton Zeit deutlicher spürbare Missgunst nicht Bern Gstaad persönlich, er werde ja ausreichend dafür Kanton entschädigt, sagt er grinsend. Der Infor- Chancy Wallis matiker aus Annecy in Savoyen hatte mit Zermatt Kanton Mitte dreißig beschlossen, für gutes Geld Genf ITALIEN künftig in Genf Metall zu polieren, aus 102
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sie hinauf und schreiten schließlich durch einen betonierten Schlund, der eigens unter den Gipfel des Kleinen Matterhorns gesprengt wurde, zum Restaurant. Erwogen wird, den Berg mittels einer Pyramide künstlich auf 4000 Meter aufzustocken. „Dass alle Gäste hierher, auf den höchsten Punkt wollen, ist klar“, sagt Fuchs. Es gibt Tage, so der Wirt, da sei er pausenlos „mit der Sauerstoffflasche unterwegs, um Kunden zu retten“ – auf knapp 4000 Metern droht Höhenkoller. Fuchs ist keiner, der grundlos klagt. Eher der Prototyp des Pragmatikers, über den der Autor Thomas Küng einst schrieb: „Wenn die Schweizer die Alpen selbst gebaut hätten, wären sie bescheidener geraten. Da sie nun mal da sind, muss man das Beste daraus und darauf machen.“ Unten in Zermatt leben sie davon, die Skischule „Almrausch“ wie die Gastronomen, die in ehemaligen Kuhställen Austern-Arrangements bieten. Tourismus ist für die Schweiz, die mit 2,8 Prozent Arbeitslosenquote und einer Staatsverschuldung von nur 36 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu den Musterknaben des Kontinents zählt, ein unentbehrlicher Einnahmequell. Was aber wird, wenn Besucher aus der Euro-Zone weiter wegbleiben, die Asiaten aber schon weitergezogen sind? Wenn Gäste wie der Autohändler Teddy Lim aus Jakarta, der mit Gemahlin, drei Kindern und Oma im Gepäck jetzt unter dem Matterhorn steht, wieder wie früher nach Australien fliegen, statt 20 000 Dollar für eine Woche Schweiz zu bezahlen? Auch die Nationalbank kann darauf keine Antwort geben, selbst nicht nach dem Befreiungsschlag vom vergangenen Dienstag, der als Abenteuer mit ungewissem Ausgang gilt. Niemand weiß, ob der nun errichtete Damm hält – oder ob Spekulanten jetzt erst recht in den Franken flüchten. Müssten die Notenbanker immer größere Mengen Franken drucken, um dem Ansturm standzuhalten, wäre eine Inflation unausweichlich. Ohnehin ist ein Wechselkurs von 1,20 Franken je Euro für viele Firmen noch immer zu hoch – Unternehmer wie der Chef der Uhrenfirma Hublot, Jean-Claude Biver, haben bereits geäußert, ihre Produktion werde erst bei einem Kurs über 1,30 Franken wieder richtig profitabel. Aber: Liegt das Schicksal des Franken überhaupt noch in den Händen der Schweizer – sind sie nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch unverändert souverän? Die Zeit wird es zeigen. Für den Fall, dass die Euro-Zone doch noch Konkurs anmelden muss, der Franken aber überlebt, hätte sinngemäß Albert Einstein recht behalten, der einst sagte, er wisse, wo er sich im Falle des Weltuntergangs aufhalten wolle: „In der Schweiz. Dort geschieht WALTER MAYR alles etwas später.“
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Der Armut verpflichtet Unter dem hohen Kurs des Schweizer Franken leiden Hunderttausende Polen, Ungarn und Kroaten. Sie können ihre Kredite nicht mehr abzahlen.
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rebs lautete die Diagnose. Ein paar Monate lang ging der Ingenieur aus Posen noch zur Arbeit und zahlte pünktlich die Raten für seinen Kredit. Im Frühjahr starb er. Kurz darauf stürzte der Kurs des Euro ab. Internationale Anleger flohen in den Schweizer Franken. 150 000 Franken hatte vor drei Jahren auch der polnische Ingenieur für das kleine Haus in der Vorstadt
riskante Kredite in Fremdwährungen aufgenommen. Seit der Euro in der Krise ist und der Wert des Franken um rund 30 Prozent gestiegen ist, müssen sie viel mehr Zloty, Kuna, Leu oder Forint aufbringen, um die Raten für ihre Wohnungen und Häuser abzuzahlen. Allein 750 000 Polen stehen vor einem Schuldenberg von rund 50 Milliarden Franken. Dessen Wert stieg allein im August durch die Kurssteigerungen um fast 5 Milliarden Zloty – eine schwere Bürde für die polnische Wirtschaft, die von der globalen Krise bislang nicht betroffen schien. Auch Lyczek selbst zahlt einen Franken-Kredit ab. Schon bevor der Kurs explodierte, war ihm aufgefallen, dass die Bank über die Zinsen hinaus noch zusätzlich kassiert: Sie streicht eine üppige Gewinnmarge ein, wenn sie jeden Monat für ihre Kreditnehmer Franken kauft, damit die ihre Raten zahlen können. Je höher der Kurs, desto größer dieser sogenannte Spread. Bis zu 40 polnische Groschen (rund 10 Cent) verdient die Bank
sind, nach dem Mönchsorden, der sich der Armut verpflichtet hat. Das Gelübde gilt. Selbst wenn sie die Zahlung der Spreads vermeiden können: Die hohen Kurse werden sie weiterhin drücken. Im Oktober wird das Parlament in Warschau neu gewählt, die wachsende Schuldenlast vieler Privathaushalte wird eines der Hauptthemen im Wahlkampf sein. In Ungarn trug der Unmut der Franziskaner im Frühjahr 2010 entscheidend zum Wahlsieg des Rechtspopulisten Viktor Orbán bei. Dessen Regierung ließ unlängst per Dekret den Kurs des Franken im Land einfrieren, sie zwang zugleich die Banken, die Laufzeiten der Kredite zu verlängern. Im polnischen Wahlkampf will Oppositionschef Jaroslaw Kaczyn´ski mit ähnlichen Vorschlägen punkten: Die Regierung solle die Mehrwertsteuer auf Benzin senken, um die Franziskaner zu entlasten, so fordert er. Seine Chancen verbessern sich mit jedem Tag, weil sich im Zuge der Krise auch das Wirtschaftsklima einzutrüben droht. „Wielki Strach“ – Die große
Riskanter Kredit Beispielrechnung für eine Immobilienfinanzierung mit Schweizer Franken 31. Juli 2008 HANS-CHRISTIAN PLAMBECK / DER SPIEGEL
Kredit im Wert von 300000 Zloty Laufzeit: 30 Jahre, monatliche Rate: 634 Franken
1 Franken = 1,96 Zloty monatliche Rate: 1242 Zloty 8. September 2011
1 Franken = 3,47 Zloty monatliche Rate: 2200 Zloty
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77%
Finanzrebell Lyczek
aufgenommen. Seine Frau und die beiden Jungs sollten es gut haben. Die Schweizer Währung sei stabil, hatte sein Bankberater gesagt und ihm günstigere Zinsen versprochen als bei einem Darlehen in Zloty. Seit Juli ist die monatliche Belastung der jungen Witwe um 300 Zloty, gut 70 Euro, gestiegen. Die hat sie nicht. Wieder setzte sie sich mit dem Berater der Bank zusammen. Tja, sagte der und rechnete ihr vor: Um den Franken-Kredit abzulösen, müsste die Witwe heute mehr Zloty aufbringen, als das Haus überhaupt wert sei, denn der Immobilienmarkt in Polen stagniert. Inzwischen wohnt die Witwe bei ihren Eltern – und hat immer noch Schulden. Solche Geschichten hört Rafal Lyczek, 33, fast jeden Tag. Er hat eine Internetplattform gegründet; 15 000 Polen, die an ihrem Franken-Kredit zu ersticken drohen, haben sich darauf registriert. „Die Leute bei der Bank nennen sich Berater“, sagt er, „in Wirklichkeit sind sie Verkäufer.“ Wohl mehr als eine Million Polen, Kroaten, Rumänen und Ungarn haben
so monatlich pro verliehenen Franken, Angst – titelte vorvergangene Woche das will Lyczek errechnet haben. Magazin „Wprost“. Er sprach mit Juristen und FinanzDass die Schweizer Nationalbank seit experten, er drang bis ins Amtszimmer von voriger Woche den Kurs des Franken einVizepremier Waldemar Pawlak vor, um die zufrieren versucht, ändert für Polen und Politik zu mobilisieren. Er stach in ein Wes- Ungarn vorerst nicht viel. Sie werden nur pennest. Einmal kam sogar ein Drohanruf, dann davon profitieren, so der ungarische unter Polens Bankern ist er ein Geächteter. Anlagenspezialist Equilor Research, Lyczek und seine Mitstreiter ließen sich „wenn die Schweizer Nationalbank zunicht beirren – und hatten Erfolg. Der Sejm mindest das gegenwärtige Kursniveau hat jetzt Gesetze nachgebessert: „Wenigs- über längere Zeit halten kann“. tens die überhöhten Gewinnmargen könDie Polen, bisher begeisterte Europanen wir nun umgehen“, sagt Lyczek. Dazu Anhänger, fühlen sich nicht zuletzt durch hat er die Seite www.kupfranki.pl ins In- die Franken-Affäre immer weniger zur ternet gestellt. Alle, die sich hier melden, Euro-Zone hingezogen, haben Meinungswollen nun jeden Monat gemeinsam auf forscher ermittelt. Premier Donald Tusk dem internationalen Finanzmarkt zu mög- bleibt zwar bei seinem Bekenntnis zur lichst niedrigen Kursen Franken kaufen und gemeinsamen Währung, doch hütet er damit ihre Raten bezahlen. Lyczek hat für sich, einen Termin für den Beitritt seines diese Transaktionen – mit Hilfe von EU- Landes zu nennen. Fördergeldern – eigens eine Firma gegrünRafal Lyczek hat trotz der drückenden det. „Inkantor“ heißt sie und residiert in Raten seine Verbindlichkeiten bald abeinem kleinen Büro im Posener Adam-Mi- getragen. Dann möchte er Inkantor zu ckiewicz-Business-Park. einer richtigen kleinen Bank ausbauen: „Franziskaner“ nennen sich die Polen, „Eine Fair-Play-Bank, das gibt es bisher JAN PUHL die in Schweizer Währung verschuldet noch nicht.“ D E R
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Ausland fernsehens war und bis vor kurzem für die Betreuung und Überwachung auslänLI BYEN discher Journalisten zuständig, denkt über die Gründung einer Medienfirma nach. Mohammed Layas, einst Chef der korrupten, mehr als 60 Milliarden Dollar schweren Investmentbehörde, ist jetzt ihr Aufsichtsratsvorsitzender. Und Chalid Kann man 42 Jahre Schreckensherrschaft aufarbeiten? Der Kaïm, der bis zuletzt für das alte Regime Übergangsrat in Tripolis spricht von Aussöhnung, vor die Kameras trat, erklärt lächelnd im doch viele Rebellen nehmen das Recht selbst in die Hand. Fernsehen, es tue ihm leid, wenn er etwas gegen die Rebellen gesagt habe. Er wolle echs Tage brauchte er, um den Nacken, eine traf ihn in den Rücken. Sein ab jetzt Teil der Revolution sein. Als Mahmud Dschibril, der Chef der Mann zu finden, der seinen Bruder Bruder lag verletzt im Auto, er feuerte erschossen hatte. Am siebten Tag auf die Soldaten. Als Fuka die Munition Übergangsregierung, am vorigen Donnerstag in Tripolis auftrat, sagte er: „Unlauerte er ihm auf, zerrte ihn in sein Auto ausging, erschoss ihn ein Soldat. Taha, hinter dem Zaun, merkte sich sere größten Herausforderungen liegen und presste ihm die Kalaschnikow an die noch vor uns. Die erste ist, dass wir gegen Stirn. „Ich hätte abgedrückt“, sagt Taha sein Gesicht. Er erkannte es wieder, als er eine Wo- uns selbst gewinnen. Die zweite ist die al-Tahib, 26. Aber seine Freunde zogen che später erneut einen Checkpoint pas- Fähigkeit zu vergeben, sich zu versöhnen ihn weg. „Zum Glück“, sagt er. Taha lieferte seinen Gefangenen in ei- sierte. Nicht weit entfernt von dem Ort, und in die Zukunft zu schauen.“ Von Aussöhnung reden sie nem der vielen über Nacht eingerichteten jetzt alle. Groß ist die Furcht, Gefängnisse ab, in denen bereits Tausendas Land könnte auseinanderde Gaddafi-Soldaten, Folterknechte, auch brechen wie der Irak, wo Tauangebliche Söldner aus Niger, Algerien sende Mitglieder der Baathund dem Tschad sitzen. Vorher aber verPartei aus ihren Ämtern geprügelte er ihn noch. Und er presste ihm worfen wurden und sich dem Namen ab, von anderen Schergen des ReAufstand anschlossen. gimes, von Kommandanten und WaffenAber wie soll man 42 Jahre lieferanten. Taha patrouilliert jetzt regeleiner Diktatur aufarbeiten, zu mäßig in der Stadt, auf der Suche nach der doch fast jeder etwas beiihnen. „Viele sind abgetaucht oder haben getragen hat, der nicht selbst sich den Rebellen angeschlossen“, sagt er. im Gefängnis saß? Wer soll „Aber ich will sie kriegen. Alle!“ verurteilt, wer verschont werTaha al-Tahib, breite Schultern, eine den? Wo sitzt das Böse in eifrische Narbe am Rücken, sitzt im Wohnner Diktatur, im Kopf eines zimmer seines Elternhauses, neben ihm Beamten am Schreibtisch lehnt seine Kalaschnikow. Auf den Boden Überlebender Taha: „Ich hätte abgedrückt“ oder in den Händen des Solhat seine Mutter hingelegt, was von Tahas daten, der schießt? Während Bruder Faruk, genannt Fuka, übrig blieb: die einen über diese Fragen blutige Jeans, Turnschuhe, eine Sonnenstreiten, nehmen die anderen brille. Fuka betrieb eine kleine Schlachdas Recht selbst in die Hand. terei, er hatte gerade einen Computerkurs Es gibt Rachemorde – nicht abgeschlossen. Er glaubte, mit der Revoso viele wie vor acht Jahren lution beginne ein neues Leben. in Bagdad, doch auch in TriDie Familie hat auch nach Fukas Tod polis ziehen die Rebellen noch große Pläne. Taha will eine Baunachts durch die Straßen, firma eröffnen, seine Mutter Leila wieder durchsuchen Wohnungen und Kleider entwerfen. Sie besaß einmal eine verhaften Leute. Sie schreiben Schneiderei mit 25 Näherinnen, aber sie Protokolle und sammeln Bemusste schließen. „Sobald du Geld hatweise, aber was eine Untest, versuchten sie, so viel wie möglich schuldsvermutung ist, wissen aus dir rauszupressen.“ sie nicht. Sie sind zornig, und Am 23. August sahen Fuka und Taha ihr Zorn trifft jene, die sie als im Fernsehen, wie die Rebellen Bab al- Gaddafi-Anhänger Adil: „Ich liebe unseren Führer“ Soldaten und Spitzel im VerAsisija eroberten, Muammar al-Gaddafis Festung in der Stadt. Sie nahmen ihr an dem sein Bruder starb. Diesmal kon- dacht haben. Kann sich Taha al-Tahib siSturmgewehr und die Rebellenflagge und trollierte der Mann für die Rebellen. Er cher sein, dass er den Richtigen geschlastiegen in ihren blauen Golf. Wenige hun- hatte die Seiten gewechselt, so wie Tau- gen und ins Gefängnis gebracht hat? Walid al-Chair heißt der Mann, 29 Jahdert Meter hinter ihrem Haus gerieten sie sende andere auch. Die Polizisten in ihren weißen Unifor- re alt, Soldat der Chamis-Brigade, der am an einen Kontrollpunkt, eine der letzten Inseln von Gaddafis Truppen im befreiten men versuchen den Verkehr zu regeln. meisten gefürchteten Einheit der GaddaTripolis. Die meisten anderen Soldaten Bürokraten sitzen wieder hinter ihren fi-Armee. Er hat in Misurata gekämpft, hatten bereits aufgegeben, nur hier Schreibtischen. Sogar Generäle und Ge- dann wurde er verletzt und kam nach Trikämpften sie noch. Die Soldaten sahen heimdienstler sollen übergelaufen sein, polis zurück. Heute sitzt er in einer Zelle und viele von ihnen sind willkommen, im Viertel Saradsch, die Rebellen lassen die Fahne und schossen. Taha sprang aus dem Auto und ging weil es niemanden gibt, der sie so schnell niemanden zu ihm. Wer nach seiner Familie und einer Erhinter einem Zaun in Deckung. Eine Ku- ersetzen könnte. Abd al-Madschid al-Durgel streifte ihn am Kopf, eine andere am si, der einmal Generaldirektor des Staats- klärung sucht, landet vor einem unver-
Die Rache der Ratten
PHILIP POUPIN / DER SPIEGEL
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ZOHRA BENSEMRA / REUTERS
Bestattung von Gaddafi-Opfern*: Wo sitzt das Böse in einer Diktatur?
Was jetzt geschehen soll mit Walid, putzten Wohnblock im Akwach-Viertel, hör mal, unter Gaddafi gab es Leute, die nur ein paar hundert Meter entfernt von über dem Gesetz standen. Sie konnten weiß auch Taha al-Tahib nicht. „Gerechdem Haus, in dem Taha al-Tahib lebt, tun, was sie wollten, sie sind reich gewor- tigkeit“, sagt er: ein fairer Prozess, Richaber in einer anderen Welt. Müllhaufen den. Und du, du bist noch immer arm. ter, Zeugen, ein Gefängnis, in dem er brennen, zwischen den Wohnblöcken ste- Jetzt kannst du etwas dagegen machen, Rechte hat. Aber kann man Gerechtigkeit hen Container, in denen Bauarbeiter aus du kannst wählen. Das ist Freiheit!“ lernen, in so kurzer Zeit? Auch im Suk-al-Dschumaa-Viertel ist Bangladesch hausen. Aus einem Fenster Dann schaut er seinen Nachbarn an: „Hätim Erdgeschoss zischt eine Frau: Ihr seid te ich das vorher gesagt, hättest du mich ein Gefängnis eingerichtet, in einer eheRatten. Ratten, so hat Muammar al-Gad- angezeigt. So haben wir noch nie geredet. maligen Schule. Dort hocken in zwei kleidafi die Rebellen genannt, in einer Audio- Dabei wohnen wir seit über 20 Jahren nen Räumen 60 Männer auf dem Boden. Die Hälfte von ihnen sind Afrikaner – botschaft am vorigen Donnerstag noch. nebeneinander.“ Walid habe niemanden getötet, sagt Adil al-Chair schweigt. Er zehrt noch „Söldner“, sagen die Rebellen. Die Bedessen Bruder Adil, 31. Er sitzt im Trep- immer von Gaddafis Versprechen, auch weise sind oft nur ein Handy-Video, eine penhaus vor der Wohnung und erzählt wenn er als Fahrer nur 350 Euro verdient Waffe, mit der man einen von ihnen antraf, oder ein Einreisestempel von Juni in drei Sätzen Walids Leben: neun Jahre und seine Familie arm geblieben ist. Schule, Ausbildung bei der Chamis-BriAls Adil zu seiner Mutter in die Woh- oder Juli. Wahrscheinlich sind viele von gade, 230 Euro Sold im Monat. „Was hätte nung verschwunden ist, sagt der Nachbar: ihnen einfache Gastarbeiter. Man kann mein Bruder tun sollen? Er hatte keine „Er lügt. Seit Anfang August war sein Bru- mit ihnen reden, allerdings nicht allein. andere Chance, als zur Armee zu gehen.“ der für die Chamis-Brigade im Einsatz. Ich Dann stellt sich sofort ein Rebell wie Seine Mutter, das Kopftuch unter dem habe ihn mit seiner Waffe gesehen. Er hat Fathi Misbah mit seiner Kalaschnikow Kinn verknotet, zeigt ein Foto von Walid. Fernseher gestohlen.“ Walid sei ein Kiffer daneben und reißt die Unterhaltung an Ein ernster, schüchterner Mann im Pullo- gewesen, wie so viele, und vielleicht ein- sich. „Behandeln wir euch gut?“, brüllt er. ver, mit seinem Neffen auf dem Knie. Wie fach zu dumm, um zu erkennen, dass seine „Ja, gut!“, rufen sie zurück. soll es jetzt weitergehen? „Wir wollen Welt verloren war. „Die anderen aus sei„Bekommt ihr Abendessen?“ friedlich mit den Rebellen zusammen- ner Brigade sind längst in Tunesien.“ „Ja, früher als ihr.“ leben“, sagt sie. Als Taha ihn verprügelt hatte und er „Habt ihr eure Rechte?“ Doch Gaddafi unterstützen sie noch vor ihm auf dem Boden lag, entschuldigte „Ja, alle Rechte!“ immer. „Ich liebe unseren Führer“, sagt sich Walid al-Chair. „Er sagte, er sei geUnd wie geht es jetzt weiter? Das sei Adil. „Ich wünsche mir, dass er immer zwungen worden“, erzählt Taha. „Aber an der Macht bleibt.“ Er hat jetzt Angst, andere sind desertiert, manche haben sich ganz einfach, sagt Fathi Misbah: „Die er weiß nicht, was er davon halten soll, absichtlich in den Fuß geschossen, um Schuldigen kommen vor Gericht, die Unschuldigen lassen wir frei.“ dass sich die Verhältnisse plötzlich umge- nicht kämpfen zu müssen. Er nicht.“ kehrt haben. „Vorher war es sicher. Wir Warum hast du noch gekämpft?, habe JULIANE VON MITTELSTAEDT konnten überall hingehen. Ich konnte tun, er ihn gefragt. Der Soldat habe nur die Video: Juliane von Mittelstaedt was ich wollte, das war Freiheit.“ Schultern gezuckt. Er habe Mitleid mit über die Rebellen-Justiz Sein Nachbar Mustafa al-Dscharid, 25, ihm, sagt Taha. „Er ist ungebildet, fast in Tripolis setzt sich neben ihn auf die Stufen. „Aber ein Analphabet. Gaddafi hat uns doch Für Smartphone-Benutzer: Code alle dumm gehalten. Er wollte, dass wir scannen, z. B. mit App „Scanlife“. * In der Stadt Kalaa am vergangenen Mittwoch. ihn brauchen.“ D E R
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Ausland
Diktatoren Gaddafi, Mubarak, Ben Ali, Salih: Keine Starterlaubnis mehr ARABIEN
Tyrannen auf dem Treck Wie die arabischen Machthaber das erzwungene Ende ihrer Karriere erleben
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ie Familien zerrissen, die Konten gepfändet und die Ehefrauen dem Selbstmord nah, die Statuen gekippt und dann diese Fotos vom Pöbel im eigenen Schlafzimmer: Es ist schon schwer, in diesen Wochen ein frischgestürzter Potentat zu sein. Aus den Jägern sind Getriebene geworden. Aus den Mächtigen ohnmächtig Umherirrende, denen nichts sicher ist außer der Verachtung ihrer ehemaligen Untertanen bis zum letzten Atemzug. Der eine, Husni Mubarak, wird auf einer Trage herumgeschoben, zwischen Krankenhaus und Gerichtssaal. Der andere, Libyens „Bruder Führer“ Muammar al-Gaddafi, sollte schon unterwegs gewesen sein in einer kilometerlangen Wagenkarawane Richtung Ouagadougou, der Hauptstadt des westafrikanischen Burkina Faso – was sich aber nicht bewahrheitete. Bis in die Nacht zum Samstag blieb er jedenfalls verschwunden. Vielleicht hat 106
er sich ja in irgendeinem Erdloch versteckt, wie einst sein irakischer Kollege Saddam Hussein. Per Trage, im Flieger oder im klimatisierten Allrad-Jeep – die gestürzten arabischen Diktatoren sind auf dem Weg in die Machtlosigkeit. Auf diesen Karriereknick waren sie nicht vorbereitet. Geschweige denn ihre Angehörigen. Ein veritables Drama soll sich in der Familie von Zine el-Abidine Ben Ali abgespielt haben, Tunesiens ehemaligem Präsidenten. Mit Ehefrau und einigen Vertrauten war dieser am 14. Januar, angeblich bepackt mit Koffern voller Bargeld und Gold, ins saudi-arabische Exil geflüchtet. Nach Dschidda ans Rote Meer. Dort soll Ben Ali sich von seiner Frau, Leila Trabelsi, getrennt haben, berichten tunesische Zeitungen. Denn Leila und ihre raffgierige Sippschaft seien schuld an dem ganzen Schlamassel. Vor einigen Wochen habe die einstige First Lady sich Gift besorgen lassen und es in ihrer ResiD E R
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denz eingenommen. Wegen der zu schwachen Dosis habe Leila überlebt und sei in ein Krankenhaus gebracht worden. Körperlich gehe es ihr wieder gut, so wird ein Arzt zitiert, sie leide aber unter Depressionen. Ben Ali soll seine Tage währenddessen mit Beten und dem Abfassen seiner Memoiren verbringen. Gaddafi hat seine Frau Safia, die Tochter Aischa und zwei Söhne, Mohammed und Hannibal, über die Grenze nach Algerien bringen lassen. Auch für Mubaraks Clan stand im Februar schon eine Maschine bereit, mit Flugziel Abu Dhabi. Aber es gab keine Starterlaubnis mehr. Die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien gelten als erste Anflugadressen, wenn es eng wird für gescheiterte Potentaten. Besonders das saudi-arabische Dschidda hat sich einen Ruf als Ruhesitz für Diktatoren erworben. Idi Amin, der ehemalige ugandische Gewaltherrscher, hat dort die letzten 23 Jahre seines Lebens verbracht – laut seinem Sohn in einer 15-Zimmer-MarmorVilla; das saudische Königshaus griff ihm mit monatlich 30 000 Dollar unter die Arme. Mit der Großfamilie aß er bei Kentucky Fried Chicken, mit seinen Kindern kaufte er bei Safeway ein, zu Hause spielte er schottische Militärmärsche auf dem Akkordeon. 800 Kilometer nordöstlich von Dschidda, in der Hauptstadt Riad, erholt sich gerade Jemens Präsident Ali Abdullah Salih von den schweren Verletzungen, die er bei einem Anschlag in Sanaa am 3. Juni erlitt. Ein 7,6 Zentimeter langer Granatsplitter hatte sich damals in seinen Brustkorb gebohrt, nur knapp vorbei am Herzen. Mit seinen beiden Ehefrauen und 59 Getreuen, darunter der Parlamentssprecher und der Ministerpräsident, die bei dem Anschlag ebenfalls verletzt worden waren, wurde Salih nach Riad ins Militärkrankenhaus geflogen. Mittlerweile kann er wieder laufen, seine Wunden heilen fast so schnell, wie sein Wille zur Rückkehr wächst. Regelmäßig tritt Salih im Fernsehen auf, um seine baldige Ankunft in Sanaa anzukündigen. Ministerpräsident Ali Mohammed Mudschawar ist schon vorgeflogen. Doch gehen bei ihm zu Hause in der Hauptstadt nach wie vor regelmäßig Zehntausende Jemeniten auf die Straße, um den Rücktritt von Salih zu fordern. Das mag der wahre Grund dafür sein, dass ihn die saudi-arabischen Ärzte noch nicht gehen lassen. Offiziell wird von rein medizinischen Gründen gesprochen. Westliche Regierungen und das saudische Herrscherhaus werden sich derweil bereits Gedanken über eine hübsche Villa in Dschidda machen, die man dem Patienten nahelegen könnte. Das wäre auch besser für das Land. Und für die Familie. BASTIAN BERBNER, ALEXANDER SMOLTCZYK
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Knapp zwei Monate nach dem Blutbad von Norwegen kommt es zum ersten Stimmungstest für eine rechtspopulistische Partei, eine der einflussreichsten in Europa.
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er Weg zu den rechten Außenseitern führt mitten hinein ins ehrwürdige Schloss Christiansborg. Vorbei am rot-weißen Nationalbanner, dem Danebrog, und der politischen Ahnengalerie, und dann unter schweren Kronleuchtern in die politische Schaltzentrale des Landes. Dorthin, wo sich die Dänische Volkspartei am wohlsten fühlt. In dem neobarocken Palast residiert neben Königin Margrethe, dem Obersten Gericht und dem Parlament auch die Regierung. Ihr hält die Volkspartei im Parlament den Rücken frei, denn Premier Lars Løkke Rasmussen hat mit seinen Rechtsliberalen und den Konservativen keine eigene Mehrheit. Vor allem von der Volkspartei hängt es ab, ob die Mitte-
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Ethnisch homogen Parteichefin Kjærsgaard, Mitstreiter: „Stärkung des Dänentums“
rechts-Minderheitsregierung auch nach der Wahl am Donnerstag dieser Woche so weitermachen kann wie bisher. In Christiansborg empfängt diesmal Morten Messerschmidt, 30, einer der Aufsteiger in der Führung der Rechtspopulisten. Die Chefin und Kultfigur, Pia Kjærsgaard, wird abgeschirmt. Messerschmidt ist Europa-Abgeordneter und einer der strategischen Köpfe der Partei, er wehrt sich gegen das politische Stigma rechts und ausländerfeindlich. „Wir sind konservativ“, sagt er, „wir sind die einzige Partei, die für nationale Identität und Tradition eintritt.“ Messerschmidt spricht schnell, als wolle er jedem Einspruch zuvorkommen. „Wir sind stolz auf unsere Politik, es gibt kei-
nen größeren Erfolg als den, wenn deine Politik von anderen übernommen wird“, sagt der alerte Jungpolitiker. Und dass er deshalb „an eine Wiederwahl“ glaube. Dabei liegt die sozialdemokratische Herausforderin Helle Thorning-Schmidt, 44, mit ihren drei Partnern des „roten Blocks“ seit Wochen mit zwei bis vier Prozent stabil vor dem „blauen Block“ – den Bürgerlichen und den Rechten. Es ist der erste Stimmungstest für eine rechtspopulistische Partei in Europa nach dem Massaker von Norwegen, bei dem Anders Behring Breivik 77 Menschen umbrachte. Ein Test für eine der einflussreichsten Rechtsparteien überhaupt. In seinen schriftlichen Hinterlassenschaften berief sich Breivik auch auf die ausländer-
Ausland tischen Vereinigungen, rechtsextremen Fußballfans und Neonazis. Die Loge pflegt Ku-Klux-Klan-ähnliche Zeremonien und lehrt ihre „Utopie einer ethnisch homogenen Gesellschaft“ an einer Privatschule mit rund 200 Schülern. Sie betreibt einen Kampf- und Schießsportverein und führt eine schwarze Liste mit politischen „Landesverrätern“. Etliche Gründungsmitglieder und führende Repräsentanten waren früher Mitglieder der Dänischen Volkspartei, Redox listet die Namen in einer 109-seitigen Dokumentation auf. Der Geheimdienst PET bestätigt, er habe die Loge im Visier.
Dänemark vor der Wahl Sozialdemokraten Sozialistische Volkspartei Radikale Venstre Rot-Grüne Einheitsliste
25,5 11,2 9,1 6,4
Venstre
23,5 12,3
Dänische Volkspartei Konservative Volkspartei Liberale Allianz Christdemokraten 0,8
6,1 Quelle: „Berlingske Barometer“; Angaben in Prozent
5,0
Roter Block: 52,2 %
Umfrage vom 9. September
Blauer Block: 47,7%
feindlichen dänischen Nationalisten. „Er hatte auch Kontakte zu Sozialisten“, sagt Messerschmidt ungerührt. Seit zehn Jahren stützt die Volkspartei die Minderheitsregierung – und sorgte für eine nachhaltige Klimaveränderung. Mindestens 20 Gesetzesverschärfungen gegen Einwanderer und Asylbewerber setzten die Nationalisten durch. Aus dem traditionell liberalen Dänemark wurde das Land mit dem schärfsten Ausländerrecht in Europa, darauf ist die Volkspartei stolz. Ihre Mitglieder schüren Angst vor „osteuropäischen Banden“ und geißeln den „Islam als faschistische Ideologie“. Die EU lehnen sie rundweg ab und wollen eine „Stärkung des Dänentums“. Für die dänische Staatsbürgerschaft müsse ein „Blutsband“ vorhanden sein, hat einer der Parteistrategen kürzlich verlangt. Und die Äußerung danach schnell wieder einkassiert. Bis auf 13,9 Prozent bei der Wahl 2007 brachte es die Volkspartei mit solchen Parolen. Wie salonfähig rechte Töne im Land geworden sind, beweist die Enttarnung einer rechtsextremen Untergrundbewegung vor wenigen Wochen. Eine „Geheimloge“ mit Namen „ORG“ bilde seit mehr als 20 Jahren das „Rückgrat der äußersten Rechten in Dänemark“, fand die Journalisten-Initiative Redox heraus, sie sei vernetzt mit rassis-
Demoskopen sagen den Rechtspopulisten einen Rückgang ihres Stimmenanteils auf gut zwölf Prozent voraus, kein wirklicher Einbruch. Das wäre „die erste Wahl überhaupt, bei der die Rechten verlieren“, freut sich dennoch der sozialdemokratische Parteivize Nick Hækkerup. Die Rechtspopulisten haben inzwischen eine feste Klientel, die mit EUSkepsis und Ausländerfeindlichkeit gut zu erreichen ist. Auch in Norwegen, wo diesen Montag Kommunalwahlen stattfinden, wird der rechten Fortschrittspartei, bei der Breivik zeitweise Mitglied war, nur ein moderater Verlust von etwa drei Prozent vorausgesagt. In Dänemark aber glauben die Sozialdemokraten, „eine Wechselstimmung“ ausgemacht zu haben. Viele Dänen seien das rechte Image bei den europäischen Nachbarn inzwischen leid. Darauf setzt Herausforderin Thorning-Schmidt – und auf die Wirtschaftskrise. 175 000 verlorene Jobs, ein Haushaltsloch von 85 Milliarden Kronen im kommenden Jahr und damit ein Defizit von 4,6 Prozent statt Haushaltsüberschuss wie 2008 – das ist die Bilanz der noch amtierenden Regierung. „Nach zehn Jahren mit einer bürgerlichen Regierung steht Dänemark still“, sagt Thorning-Schmidt. Nun muss sie das nur noch den Wählern einbläuen. MANFRED ERTEL
PHOTOCALL IRELAND
FRANCO ORIGLIA / GETTY IMAGES
Papst Benedikt XVI., Protestmarsch von Missbrauchsopfern durch Dublin im Sommer 2009, Premierminister Kenny: „Kaputte, weltfremde, IRLAND
Rebellion in Dublin Der Vatikan wehrt sich gegen Vorwürfe, er decke pädophile Priester. Aber schon naht der nächste Bericht über Kindesmissbrauch in einer katholischen Diözese.
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jüngste. Einen nörgelnden Prediger wie ihn hätten die Kragenträger in Rom früher im Handumdrehen mundtot gemacht. „Jetzt hat der Vatikan dazu nicht mehr die Macht“, sagt Flannery und kann es selbst kaum glauben. Während der deutsche Papst seine Mission in der Wiederbelebung des christlichen Glaubens sieht und zu diesem Behufe kommende Woche auch nach Deutschland eilt, vollzieht sich auf der ehemals frommen Insel eine Wende ganz anderer Art. In Irland hat das Zeitalter des Postkatholizismus begonnen, der Grund dafür ist die wachsende Empörung über Benedikts Amtskirche.
HANY MARZOUK
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ls Tony Flannery sich zum Ordenspriester weihen ließ, schwor er, sein Leben in „Armut, Keuschheit und Gehorsam“ zu verbringen. Zu Letzterem sieht sich der Bewohner eines abgelegenen Klosters im Westen Irlands heute nicht mehr imstande. Das hat mit einem Missbrauchsskandal zu tun, der schon seit längerem das Land bewegt. Und mit einem Untersuchungsbericht, der seit Juli die Runde macht: Er enthüllt, dass Flannerys Vorgesetzte über lange Jahre hinweg wenig taten, um Kinder vor pädophilen Priestern zu schützen, und dabei aus der Kirchenzentrale in Rom auch noch unterstützt wurden. Die Bischöfe der Insel seien „ein armseliger Haufen, dem jedes Führungsvermögen fehlt“, sagt Flannery. Und dass der gleichfalls belastete Vatikan unter Papst Benedikt XVI. „selbst unter Katholiken den Großteil seiner Autorität verspielt“ habe. Flannery, 64, trägt Sandalen, Hose, Pulli. Er gehört dem Orden der Redemptoristen an, der – wie alles Katholische hier – schon bessere Zeiten gesehen hat. 18 Männer leben in dem Kloster Esker, die Hälfte ist jenseits der 80, Flannery der Zweit-
Priester Flannery
„Erstmals die Chance, etwas zu ändern“ D E R
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Denn die, so scheint es den Iren, ist unfähig und unwillens, den jahrzehntelangen Kindesmissbrauch in ihren Reihen aufzuarbeiten oder überhaupt abzustellen – obwohl irische Gerichte schon rund 15 000 Opfern Entschädigungszahlungen zugesprochen haben. Und so bröckelt derzeit alles: die Zahl der Kirchgänger, die Einnahmen der Diözesen, das Ansehen der Würdenträger, sogar die uralte Untertänigkeit irischer Politiker gegenüber Rom. Das System wankt, und daher „haben wir zum ersten Mal die Chance, etwas zu ändern“, sagt Rebell Flannery. Der Geistliche gehört zu den Wortführern einer Protestorganisation, die vor gut einem Jahr gegründet worden ist. Sie trägt den unschuldigen Namen „Association of Catholic Priests“ (ACP) und ist stetig gewachsen, auf jetzt bereits über 500 Mitglieder. Das sind zu viele Geistliche, als dass der Vatikan sie einfach überhören könnte. Kaum ein katholisches Dogma ist diesen Katholiken heilig. Der Vatikan solle aufhören, Bischöfe zu installieren, die keiner haben will in den Gemeinden, fordert Flannery. Frauen sollten Priesterinnen werden dürfen, Gläubige sollen mitbestimmen. Und der Zölibat müsse weg, ganz klar, „er funktioniert einfach nicht“, sagt der Priester. Viele Iren, die Medien sowieso, hören lieber den wütenden Geistlichen der ACP zu als den grauen Männern mit der Mitra auf dem Haupt. Zu oft wurden Bischöfe beim Lügen ertappt. Für viele wurde das letzte Stückchen Vertrauen in die Kirche zerstört, als im
XINHUA / EYEVINE
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elitäre Kultur“
Juli jener Untersuchungsbericht erschien, den das Justizministerium über die ländliche Diözese Cloyne im Süden der Insel erstellen ließ. Fast zwei Jahre lang hatte eine staatliche Kommission überprüft, ob diese Diözese, wie sie immerzu beteuerte, ausreichend Maßnahmen ergriff, um Kinder vor pädophilen Priestern zu schützen. Das Ergebnis: Bis ins Jahr 2008 taten die Kirchenoberen „wenig bis nichts“. Bischof John Magee ließ zu, dass verdächtige Priester weiterhin Kontakt mit Heranwachsenden hatten, 9 von 15 Beschwerden leitete die Diözese nicht weiter an die Polizei. Der Bericht stellte zudem fest, dass der Vatikan nicht willens war, bei der Aufarbeitung der Geschehnisse mitzuwirken – so wenig wie bei den drei großen früheren staatlichen Untersuchungen. Geradezu explosiv aber war, was die Ermittler über die Geheimkorrespondenz des Vatikans zutage förderten. Der Nuntius, Roms Vertreter in Dublin, hatte die Richtlinien der irischen Kirche zum Schutz von Kindern gegenüber den Bischöfen als „nicht bindenden Entwurf“ bezeichnet – er stehe im Widerspruch zum Kirchenrecht. Damit gab er ihnen freie Hand, alles zu ignorieren, was von der eigenen Kirche beschlossen worden war. Sehr zum Ärger von Diarmuid Martin, 66, dem ruppigen Erzbischof von Dublin. Der hat sich den Ruf erworben, erbarmungslos gegen pädophile Priester vorzugehen – und gegen eine Kirche, die diese gewähren lässt. Doch er ist, so viel wird nun klar, ein einsamer Streiter. Jedenfalls im Kreis der Bischöfe. Kaum war D E R
der Cloyne-Bericht erschienen, saß Martin in einem Fernsehstudio, den Tränen nahe. „Ich muss mich schämen für diese Kirche“, sagte er. Ob man denn den übrigen Bischöfen glauben könne, dass diese jetzt endlich gegen Kindesmissbrauch vorgingen? „Ich hoffe es“, stammelte er verlegen. Und dann sagte Martin etwas Denkwürdiges. In Irland wie im Vatikan seien „Seilschaften“ am Werk – Geheimbünde, die hinterrücks versuchten, die staatlichen und kircheneigenen Regeln gegen den Missbrauch auszuhebeln. John Magee beispielsweise, der Bischof von Cloyne, war wohlbekannt im Vatikan. In den siebziger Jahren lebte er dort opulent in einer Villa und diente nacheinander drei Päpsten als Privatsekretär. Später komplimentierte ihn Johannes Paul II. in die irische Provinz. Bereits im Vorfeld der Enthüllungen ließ Magee, 74, seine Ämter ruhen. Auch Premierminister Enda Kenny, 60, verdammt den Vatikan inzwischen in Grund und Boden. Das will viel heißen auf der gottgefälligen Insel, auf der sich Politiker früher vor allem als Katholiken und erst danach als Iren verstanden. Jahrzehntelang gehörte es zum politischen Alltag, dass Bischöfe das Parlament zurechtwiesen, wenn ihnen ein Gesetzentwurf nicht gefiel. In ebendiesem Parlament geißelte Kenny nun „die kaputte, weltfremde, elitäre Kultur“ des Vatikans. Die Kirchenzentrale schwelge im „Narzissmus“, sie spiele „die Vergewaltigung und Folter von Kindern“ herunter und sei in all ihrem Tun einzig bemüht, den schönen Schein aufrechtzuerhalten. Die Mehrheit der Iren bejubelte ihren Premier für diese Worte. Und der Vatikan zog erschrocken seinen Nuntius ab – wohl auch, um einer formellen Ausweisung zu entgehen. Justizminister Alan Shatter arbeitet bereits an einem Gesetz, das den Schutz von Kindern „über interne Regeln von religiösen Gruppierungen“ stellen soll: Wer von Kindesmissbrauch erfährt, muss die Polizei einschalten. Tut er das nicht, drohen ihm bis zu fünf Jahre Haft. Die Kirche läuft Sturm gegen dieses Projekt, denn dieses Gesetz würde auch das Beichtgeheimnis beschneiden. Aber noch ist der Sumpf nicht trockengelegt. Kaum ist der Cloyne-Bericht da, sind schon neue Enthüllungen angekündigt. In der Diözese Raphoe im Norden der Insel ist ein kircheneigener Ermittler aktiv. Er untersucht, wie die Bischöfe dort seit 1975 mit dem Thema Kindesmissbrauch umgegangen sind. Im Oktober soll er seinen Rapport vorlegen. Angeblich geht es um Hunderte vergewaltigte Kinder. Priesterrebell Tony Flannery sagt: „Auch in Raphoe ist der Wurm drin.“ MARCO EVERS
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DAMASKUS
Pingpongbälle gegen Assad Global Village: Eine Gruppe junger Akademiker trickst mit präziser Planung und Einfallsreichtum seit Monaten das syrische Regime aus.
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SYRIAN ARAB NEWS AGENCY / DPA (L.)
ie zu treffen bedarf tagelanger Vor- Seelen“, nach einer Zeile aus der Natio- glatt. Die Späher suchten nach Moscheen mit mindestens zwei Ein- und Ausgängen. bereitungen, konspirativer Mails nalhymne. Am Abend des 4. August ging es dann und geheimer Treffpunkte. Dann Danach ließen sie Gasballons mit Transsteht irgendwo ein Mann unter einer Pla- parenten durch die Stadt fliegen: Zunächst los: Unschuldig wirkende junge Männer tane, ein Nicken, wortloses Folgen, es gefüllt mit Helium, und als es kein Helium trugen Kisten mit bunt verpackten Datgeht um drei Ecken, eine Treppe hoch, mehr zu kaufen gab, begannen sie, Was- teln in fünf Moscheen. Für die Spitzel durch eine Tür, noch eine, und dann sit- serstoff herzustellen. In ihrem Hauptquar- gab es Beutel ohne Flugblätter, markiert zen sie da: die Mitglieder der vermutlich tier, das aussieht wie Chemielabor, Bas- durch Bändchen ohne Kräusellocken. meistgejagten Widerstandsgruppe gegen telstube und Geheimdruckerei zugleich, Dann verschwanden die Boten, die Gotdie Assad-Diktatur. brachten sie in großen Töpfen Wasser mit tesdienstbesucher nahmen die Beutel mit. Eine halbe Stunde später hielten zwei Die Versammelten sehen aus, wie man Aluminium und einem Hydroxid zum Kosich vor Jahren die ersten Mitglieder des chen. Sechs Stunden reichten für einen Wagen mit Männern des Geheimdienstes einst von Präsident Baschar al-Assad ge- großen Ballon, der ein Transparent tragen quietschend vorm Eingang der Lala-Bagründeten Computerclubs vorgestellt hät- konnte. Oder den sie an einer Straßenla- schir-Moschee, wütende Schergen sprangen heraus und ohrfeigten te: Bundfaltenhosen, brave die Spitzel: „Ihr Idioten, Hemden, kantige Hornbrilwie konnte euch das entgelen, die Haare nicht zu kurz, hen?! Was ist das hier?“ Eiaber erst recht nicht zu lang. ner zog einen kleinen ZetChemiker, Architekten, Getel heraus, auf dem ein Text schäftsleute. mit Koranversen erläuterte, Es sind die Nerds von Dawieso dieses Regime mit maskus, die sich hier zusamseiner Gewalt gegen den Ismengefunden haben. Akalam verstoße. Die Spitzel demiker, die diesem Regime, schwenkten einen leeren das seine Gegner einsperren Beutel: „Wir haben die überund umbringen lässt, die prüft, aber es war nichts drin Stirn bieten wollen, ohne außer Datteln.“ ihre Frauen, Kinder und Inzwischen, sechs MonaKarrieren zu gefährden. „Es te nach Beginn der Revolugibt viele Möglichkeiten zu tion, haben viele Dinge ihre zeigen, dass wir viele sind“, Unschuld verloren: Helium sagt ein Jurist der Gruppe. und Autosprühlack sind Auch in einem Land, in dem nicht mehr zu bekommen, alle Angst haben vor Verhafauch mit reißfestem Getungen und Schlägen und schenkpapier macht man vor der Gefährdung des ei- Präsident Assad, Protest mit Heliumballons: „Beteiligt euch, habt Mut“ sich verdächtig. Für die genen Studienabschlusses. Ihre Formel ist die des intelligenten terne hochsteigen ließen. „Das hat die „aufrechten Seelen“ aber gilt immer noch: Protests. Die Studenten und Akademiker Sicherheitstrupps fast wahnsinnig ge- „Beteiligt euch, habt Mut!“ So steht es setzen gegen die Repression auf Ideen- macht, dass sie nicht wussten, wie wir die auf ihren Transparenten. Und wer sollte reichtum, auf genaue Planung und Raffi- da hochbekommen haben – und wie sie schon Böses bei Pingpongbällen ahnen? nesse. Für ihre erste Vier-Minuten-Demo die wieder herunterbekommen“, sagt Sie kauften 5000 davon und forderten auf druckten sie sich eine Google-Earth-Kar- einer von ihnen. Die Polizei schoss die jedem einzelnen mit Filzstift den Sturz te des Gassengewirrs in der Altstadt von Ballons schließlich herunter. Bis zu dem des Regimes, Gerechtigkeit oder Freiheit. Dann, an einem Abend kurz vor dem Damaskus aus. „Dann haben wir für alle Tag, an dem die Aktivisten sie mit winZugänge die Zeit gestoppt, wann welche zigen Flugblättern füllten, die nach den Fastenbrechen, fuhren sie an den Nordrand des Luxusviertels Malki, zur streng Kleingruppe wo losgehen würde, um Schüssen auf den Boden rieselten. sich wie zufällig in der Mitte zu treffen“, Im Sommer dann gelang ihnen eines bewachten Villa des Präsidenten. Die sagt ein Naturwissenschaftler mit sanfter ihrer Glanzstücke: Im Ramadan werden Straßen hier sind abschüssig, der Blick Stimme. zum Ende des Abendgottesdienstes nach über die Stadt phänomenal. Der Wagen So kam es zu einer Frauendemo direkt dem Fastenbrechen oft kleine Beutel mit hielt für Sekunden, Tür auf, Bälle raus, neben der Umajjaden-Moschee, ganz Datteln verteilt. Also machten sich die und eine Flut von Pingpongbällen rauschnach Plan. Einige Männer wurden an den „aufrechten Seelen“ daran, wieder win- te hügelab vorbei an Assads Villa. Kein einziges Mitglied der Gruppe wurRändern platziert, um übereifrige Spit- zige Flugblätter zu drucken, Datteln einzel daran zu hindern, jemanden festzu- zukaufen, absolut reißfeste Folie und de bislang verhaftet. Sie werden weiterhalten. Die einzige Straße zur nächsten stabiles Geschenkband zu besorgen. Die machen, vorsichtig, mit neuen Ideen. Polizeiwache blockierte ein Gemüse- Beutel durften nicht leicht zu öffnen sein. „Wir müssen siegen“, sagt ihr Anführer, karren. Alles ging gut. Sie nannten sich 7000 davon packten sie, die Bändchen „wenn sie Zeit haben, uns zu finden, wer fortan „Nufus Kiram“, die „aufrechten der meisten gekräuselt, einige blieben den sie uns töten.“ 112
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STEPHANIE KEITH / WPN
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Gläubige auf der Muslim Day Parade in New York: Ausspioniert und bespitzelt
SERIE
Der Terrorist von nebenan Zehn Jahre nach den Anschlägen des 11. September sind Amerikas Muslime zu inneren Feinden erklärt, die es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt. Von Ullrich Fichtner Brigitte Gabriel emp- Verfassung, von innen heraus zerfressen. fängt auch an heißen „Unser Feind“, schreibt Brigitte Gabriel, Sommertagen in Virgi- „ist nicht irgendeine Organisation in Über2001 2011 nia in einem Aufzug see, die Angriffe gegen uns plant. Unsere wie für die Oper, sie trägt die Haare tou- Feinde sind die Nachbarn von nebenan, piert, an Hals und Armen üppigen Per- die Ärzte in unseren Hospitälern, die Arlenschmuck, an den Füßen Sandalen be- beiter, mit denen wir die Mittagspause setzt mit Strass, es ist ihre Uniform im verbringen. Unsere Feinde sind TerrorisKrieg gegen die Barbaren des radikalen ten, die sich trügerisch verkleiden und im Islam. Dreimal schon, sagt sie, war sie Geheimen agieren und die uns auslachen Gegenstand von Erklärungen der Qaida, für unsere Political Correctness.“ Von Brigitte Gabriels erstem Buch, in und dass ihr Name auf diversen Todeslisten steht, ist wahrscheinlich. Denn Bri- dem diese Sätze stehen, wurden 300 000 gitte Gabriel, eingewandert einst aus dem Exemplare ausgeliefert, Fernsehstationen Libanon, ist Amerikas Sirene in Sachen haben reichlich Sendeplatz für sie und Islamophobie, und ihre Reden sind eine ihre Thesen freigeräumt. Sie durfte Vormögliche Antwort auf die Frage, wie sich träge halten vor Ausschüssen des Senats, das Land seit den Anschlägen des 11. Sep- beim FBI, beim Oberkommando der Spezialkräfte, an Offiziersschulen, vor der tember verändert haben mag. Brigitte Gabriels Position ist, zusam- Republikanischen Partei, vor der Tea Parmengefasst, diese: Die Vereinigten Staa- ty, auf christlichen Kongressen. Brigitte ten sind krebskrank im Endstadium, ver- Gabriel, sie spricht ihren Namen französeucht von wuchernden islamistischen sisch aus, ist in der konservativen Hälfte Zellen, die das Land, seine Freiheit, seine der tief gespaltenen amerikanischen Ge-
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sellschaft ein Idol. In der anderen ist sie eine Hassfigur. Auge in Auge wirkt sie viel netter als die Frau, die sie im Fernsehen ist, wo sich ihre Interviews häufig anhören wie fanatisches Gebell. Das Treffen mit ihr findet statt in einem palastgroßen Haus nahe der Atlantikküste, vor dessen Fenstern sich fein gemähter Golfrasen erstreckt. Sie sei hier zu Gast bei Freunden, sagt sie, aber es fühlt sich so an, als hätte sie in ihr eigenes Haus eingeladen. Das Wohnzimmer passt gut zu ihr, hoch wie eine Kathedrale, teuer möbliert, viel Chrom und Leder, aber die Frage, wo sie wohnt, bleibt offen. Es darf niemand wissen, wo sie sich aufhält. Al-Qaida. Todeslisten. An der Tür wacht ein Mann mit Revolver. Um sich zu erklären, erzählt Brigitte Gabriel die Geschichte ihrer Kindheit. Es ist die Story einer christlichen Familie, die den Mahlstrom des libanesischen Bürgerkriegs überlebt, erzählt wird der Lei-
ALLAN TANNENBAUM / POLARIS / LAIF
Anti-Islam-Demonstranten in New York: „Die Terroristen sind die Nachbarn, die Ärzte in unseren Hospitälern“
An solchen Menschen mangelt es nicht. densweg einer jungen Frau, die dabei zusehen muss, wie ihre Heimat in die Fän- Der Republikaner Tom Tancredo aus Coge muslimischer Fanatiker gerät. Es geht lorado zählt dazu, der 2008 Präsident werdarum, wie aus dem Libanon, dessen den wollte – unter anderem mit der Idee, Mehrheit einst christlich war, ein mus- künftige Terrorschläge mit der Drohung limisches Land wird. Es geht darum, dass abzuwehren, im Gegenzug Mekka und das Gleiche mit Amerika auf keinen Fall Medina zu bombardieren. Saxby Chambliss zählt dazu, heute Senator, der sich passieren darf. Bis zum 11. September 2001, sagt Bri- dafür aussprach, jeden Muslim gleich an gitte Gabriel, sei sie eine unpolitische der Grenze seines Staates Georgia zu verFrau gewesen, die das Leben genießen haften. Newt Gingrich ist dabei, ewiger wollte. Die Anschläge jenes Tages aber Anwärter der Republikaner auf die Kanhätten die alten Wunden wieder geöffnet. didatur fürs Weiße Haus, der in gezielt „Hier saß ich“, sagt sie, ihre Augen wer- unglücklichen Formulierungen Islam und den eisgrau dabei, „in Amerika, 8000 Mei- Nazismus gleichsetzt. Bill O’Reilly geht len weit weg, 20 Jahre später, und ich stets voran, Starmoderator auf Fox und musste meinen eigenen Kindern diesel- erster Geiferer der amerikanischen Rechbe Frage beantworten, die ich meinem ten, der im Koran nur eine andere Art Vater gestellt hatte: ,Warum tun sie uns von „Mein Kampf“ sehen will. Brigitte Gabriel springt, um ihre Thedas an?‘“ Die Antwort ihres Vaters wurde, leicht abgewandelt, zum Titel ihres ers- sen herzuleiten, vom 7. Jahrhundert ins ten Buchs: „Weil sie hassen“ („Because 21. und zurück, sie kommt von Koransuren auf Europas Verwandlung in ein They Hate“). Sie hat die Organisation „Act! for Ame- „Eurabien“, von der Hisbollah zu ameririca“ gegründet, die erst „Amerikanischer kanischen Schulbüchern, von den KreuzRat für Wahrheit“ hieß und heute, sagt zügen zum Münchner Olympia-Attentat, sie, schon 170 000 Mitglieder hat im Land, das sie ein Jahr vorverlegt, sie hantiert „wir sind die größte Graswurzelbewegung mit Hitler und Chomeini, sie erklärt, warfür die nationale Sicherheit“. Den Orts- um jeder gläubige Muslim, jeder, ein gruppen wird empfohlen, aktiv zu wer- potentieller Terrorist ist und wie sich alles den gegen politisch allzu korrekte Lehrer, reimt auf das große Szenario des Unterübertrieben tolerante Abgeordnete und gangs: Amerika ist unterwandert. Die Lokalzeitungen, die „abfällige“ Leitarti- Scharia steht vor der Tür. Die Regierung kel über die USA oder Israel veröffent- schaut weg. Die Behörden schlafen. Das Problem ist weniger, dass an dem, lichen. Bei „Act!“, sagt Brigitte Gabriel, organisierten sich „Menschen, die für was Brigitte Gabriel und ihre Jünger unters Volk bringen, wenig bis nichts wirkAmerikas Rettung kämpfen“. D E R
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lich stimmt. Das Problem ist, dass viele Amerikaner, womöglich die Hälfte, womöglich die Mehrheit, die Welt heute ganz ähnlich sehen. Es ist eine ideologische Verblendung, wie sie gern in Ländern auftaucht, in denen Abstiegsängste umgehen und wirtschaftliche Krisen im Gange sind. Sündenböcke werden gebraucht. Die eigene Ohnmacht muss beschworen werden, um die Aktion umso lautstärker einfordern zu können. Aber allein die Behauptung, dass die Regierung und die Behörden der USA gegenüber einer islamistischen Bedrohung heute nicht wachsam seien, ist eine groteske Falschinformation, die von Amerikas ruppigen Konservativen wohl ständig wiederholt wird; aber das Gegenteil ist wahr. Amerika läuft in diesen Jahren Gefahr, ein Überwachungsstaat zu werden. Die „Washington Post“ hat im vergangenen Jahr in einer beeindruckenden Fleißarbeit nachgezeichnet, wie der innere und äußere Sicherheitsapparat der USA seit 9/11 um- und ausgebaut wurde. Die Zeitung berichtete, dass im vergangenen Jahrzehnt für die Zwecke des Anti-Terror-Kampfs und des Heimatschutzes 263 neue Behörden geschaffen wurden und dass heute insgesamt 1271 Regierungsorganisationen mehr oder minder direkt mit dem Schutz des Landes vor Attentaten betraut seien. Entstanden sei ein Apparat mit 10 000 Filialen im gesamten Land, der 854 000 Menschen beschäftige und allein in Washington drei115
STARLITEPICS / INTERTOPICS
Muslimische „Miss USA“ Fakih: „Land der Freien und Heimat der Mutigen“
mal mehr Bürofläche belege als das Pen- das grobe Gerede von „den“ amerikanitagon. schen Muslimen nur haltlos sein kann anIn New York hat sich die Polizei, in en- gesichts des komplexen gesellschaftlichen ger Zusammenarbeit mit der CIA, eine Durcheinanders eines Landes, das noch Art eigenen Geheimdienst eingerichtet, immer jedes Jahr eine Million Einwandehart am Rande oder schon außerhalb des rer aufsaugt. Und das eine lange, ganz gesetzlichen Rahmens, weil dieser Dienst eigene muslimische Geschichte hat, mit speziell die muslimische Bevölkerung aus- Malcolm X, Muhammed Ali und vielen spioniert. In Stadtvierteln mit vielen Mus- anderen großen Amerikanern. limen wurden Spitzel platziert, einfach Muslime dürfen nun regelmäßig mit um die Ohren offen zu halten in Buch- einer Sonderbehandlung an den Checkläden, Moscheen oder ethnischen Beauty- points der Flughäfen rechnen, und manchSalons, ohne dass irgendein Verdacht auf mal müssen sie ihre Kinder trösten, wenn die Vorbereitung von Straftaten hätte be- diese in der Schule als Terroristen bestehen müssen. Das aber heißt, dass allein schimpft werden. Sie schrecken auf, dünnder Umstand, Muslim zu sein, der New häutig, wenn in New York ein muslimiYorker Polizei heute Anfangsverdacht ge- scher Taxifahrer ermordet wird; wenn ein nug ist. Und das hat mit dem guten alten Plastikschwein in einer Moschee landet Amerika, das sich in seiner Hymne als in Madera, Kalifornien; oder wenn in „Land der Freien und Heimat der Muti- Murfreesboro, Tennessee, das Baumategen“ besingt, nicht mehr viel zu tun. rial für eine Moschee in Flammen aufgeht. Peinlich fast wirkt es, sagen zu müssen, Seltsam, dass die antiislamische Stimdass Muslime in Amerika Ärzte sind und mung, die sich nun oft wie der gesellschaftTaxifahrer, Kellner und Mathematiker, liche Mainstream anfühlt, erst mit langer Tänzer und Soldaten, Eisverkäufer und Verspätung zündete. In den ersten Jahren Lehrer, dass sie Familien gründen, sams- nach den Attentaten, noch zu Amtszeiten tags in den Parks beim Picknick sitzen und von George W. Bush, mag es schon verfür ihre Kinder das Beste wollen, dass sie bale Ausreißer gegeben haben auf dem Fans der New York Yankees sind oder glü- „Markt der Meinungen“, der den Amerihende Anhänger der Boston Celtics. Dass kanern heilig ist. Aber eine überwältidie „Miss USA“ 2010 eine Muslimin im Bi- gende gesellschaftliche Mehrheit mühte kini war, Rima Fakih, ist auch ein schöner sich darum, Bush und die Konservativen Hinweis darauf, dass die Welt ganz anders eingeschlossen, den Kurzschluss zwischen sein könnte, als Brigitte Gabriel und ihre Islam und Terror, amerikanischen MusGesinnungsgenossen sie sich vorstellen. limen und al-Qaida zu vermeiden. Dieser Konsens endete abrupt vor Es müsste, so meint man, in einer modernen Nation auf der Hand liegen, dass ziemlich genau einem Jahr. Und schuld 116
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daran war nicht etwa ein neuer Terrorplot oder erfolgreicher Anschlag, sondern der Plan eines für seine Aufgeklärtheit bekannten Imams, zwei Blocks von Ground Zero entfernt ein islamisches Kultur- und Begegnungszentrum nach Vorbild des YMCA zu gründen. Erste Berichte über „Park 51“ waren im Dezember 2009 erschienen, den konservativen Scharfmachern aber noch entgangen. Erst Monate später erkannten Figuren wie Pamela Geller („Atlas Shrugs“) oder Robert Spencer („Jihad Watch“) das Potential des Themas für ihre Blogs, auch Brigitte Gabriel erhob unweigerlich die Stimme, und es gelang ihnen, die angebliche Entweihung des Anschlagsorts durch eine angebliche „Ground Zero Mosque“ auf die nationale Tagesordnung zu hieven. Die Klickzahlen der zugehörigen WebSeiten gingen damals durch die Decke, und bald fand, am 9. Jahrestag der Attentate, die erste lärmende Demonstration statt vor dem Gebäude der alten Burlington-Mantelfabrik in Manhattan Downtown, Park Place 51. Bis heute versammeln sich Gruppen und Grüppchen ab und an vor dem Haus, und man sieht dann Schilder, auf denen steht: „Alles, was ich über den Islam wissen muss, habe ich am 11. September gelernt.“ Manchmal mischen sich Angehörige von Anschlagsopfern unter die Menge, manchmal treten Politiker aus Washington auf. Es sind Straßenfeste der patriotischen Erregung, die sich um Substanz und Wahrheit nicht weiter scheren.
Serie
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WHITNEY CURTIS / NOVUS SELECT
legen redeten, während die Sirenen heulten, über die Geschichte des Zweiten Weltkriegs, als nach der Bombardierung von Pearl Harbour die Japaner in den USA in Internierungslager gesteckt wurden, in „concentration camps“, sagt Vickers. Wenn die Serie der Anschläge weitergegangen wäre noch nach dem 11. September, wenn es noch mehr Morde gegeben hätte, sagt er, „dann hätten wir hier Konzentrationslager für Muslime gehabt, daran habe ich keine großen Zweifel“. Das Treffen mit Bush kam zwei Wochen später doch zustande. Der Präsident saß vor allem da und hörte zu, erzählt Vickers, es kam ihm so vor, als stünde Bush noch immer unter Schock. Den muslimischen Führern Amerikas wurde versprochen, dass niemand in der Regierung die Absicht habe, Islam und Extremismus irgendwie leichtfertig zu vermischen. Und wirklich besuchte Bush bald eine Moschee und nannte den Islam eine Religion des Friedens, was mehr war, als von ihm zu erwarten gewesen wäre. „Die Amerikaner differenzieren nicht“, sagt Vickers in einem räudigen Büro des Rathauses von East St. Louis, der armen Nachbarstadt von St. Louis am anderen Ufer des Mississippi. Er ist ein enger Berater des Bürgermeisters, obwohl oder weil er ein Vorstrafenregister als Menschenrechtsaktivist hat. 1999 organisierte er eine spektakuläre Autobahnblockade, weil die Bauunternehmen keine schwarzen Arbeiter einstellten, und es war nicht das einzige Mal, dass er im Gefängnis landete, weil er für den Traum von Martin Luther King kämpfte, der, sagt er, „nie in Erfüllung ging“. Vickers wurde 1953 geboren, „als zweitklassiger Bürger“, sagt er. St. Louis war damals noch eine Stadt, in der die Rassentrennung Gesetz war, und Vickers hatte die falsche Hautfarbe. Begabt war er, und beharrlich biss er sich durch, studierte Jura an der renommierten Law School von Virginia, wo Robert Kennedy junior ein Studienfreund war. Von hier aus hätte sein Weg an die Wall Street führen können oder in eine große Kanzlei, aber Vickers zog es vor, Lehrer zu werden, später Anwalt, und irgendwo auf seinem Weg konvertierte er zum Islam. Viele Schwarze in Amerika beten zu Allah, nicht nur weil Malcolm X einst diese Richtung einschlug. Der Koran gibt Kraft, sagt Vickers. Und der Islam in Amerika war, am 11. September 2001, eigentlich auf gutem MATT NAGER / NEW YORK TIMES / REDUX / LAIF
So wird das jetzt, da der Wahlkampf Die Behauptung der islamophoben Blogger und ihrer Follower, der kämpfe- in den USA Fahrt aufnimmt, weitergehen. rische Islam wolle sich an der Stätte seines Die Rechte hat ein Thema entdeckt: Sie größten Triumphs eine Kultstätte bauen, fragt, wie es die Muslime mit der Nation war von Anfang an falsch aus allen er- halten. Sie fragt, was der Islam in Amedenklichen Gründen. Der Ideengeber, rika soll. Was er nicht darf. Es ist ein gifImam Feisal Rauf, ist bekannt für seinen tiges Thema, aber es holt Wähler ab, es Willen zum interkulturellen Ausgleich, bringt sie auf, es treibt sie an die Urnen. New Yorks Bürgermeister Michael Bloom- Und es treibt die amerikanischen Musliberg unterstützt das Projekt, wenigstens me noch tiefer in die gesellschaftlichen halbherzig auch Präsident Barack Obama, Nischen. „Der 11. September war ein Test der und interessanterweise zeigen Umfragen, dass Manhattans Bevölkerung das Kultur- amerikanischen Werte im Angesicht einer Krise“, sagt Eric Vickers, einer ihrer Sprezentrum mehrheitlich befürwortet. Jenseits von East River und Hudson, cher, „und wir haben den Test nicht beund erst recht in den ferneren Städten standen.“ Vickers erlebte seinen 11. September und Provinzen des großen Landes, sieht das anders aus. Dort lässt man sich ein- in Washington. Er hatte, ausgerechnet am fangen von der Polemik, eine Moschee Tag der Anschläge, gemeinsam mit andeauf dem Massengrab von Ground Zero sei eine Zumutung. Im Getümmel geht unter, dass eine Moschee nie geplant war, sondern immer eine Begegnungsstätte; mit einem Gebetsraum, ja, aber muslimische Gebetsräume gab es selbst in den zerstörten Türmen des World Trade Center. Park Place, die Straße, in der das Kulturzentrum entstehen soll, gibt Zeugnis davon, wie tolerant New York die längste Zeit war. Die zwei direkten Nachbarn des Gebäudes, das zum Zentrum werden soll und in dem Muslime schon seit gut zwei Jahren be- Muslimsprecher Vickers: Treffen mit Präsident Bush ten, sind der „Amish-Market“ an der Ecke, wo religiös gepflegtes „Gourmet-Food“ aus Pennsylvania verkauft wird, und die „Dakota Roadhouse Bar“, wo die Gäste schon am Vormittag vor großen Gläsern mit dunklem Bier sitzen. Schräg gegenüber wird in der Straße die Eröffnung eines AnneFrank-Zentrums vorbereitet, also braucht es wenig Phantasie, sich vorzustellen, dass sich in der Prêtà-manger-Sandwicherie an der Ecke zur Church Street eines Tages Juden, Muslime, Amish und womöglich ein paar betrunkene Autorin Gabriel: Amerika ist unterwandert Christen aus der Dakota-Bar begegnen werden. Das Leben könnte leicht ren muslimischen Funktionären am Vorsein in New York, wenn weniger Leute mittag einen Termin beim Präsidenten im Weißen Haus. Die Delegation saß noch ihre privaten Kriege führten. Aber die Kriege gehen weiter, und sie beim Frühstück im Washington Plaza Hohaben ihren Weg längst aus der virtuellen tel, als die Endlosschleife der katastroin die reale Welt gefunden. Eine der phalen Fernsehbilder begann und das Hojüngsten Schlachten hat Peter King ange- tel erst versiegelt, dann evakuiert wurde. zettelt, ein Republikaner aus New York, Vickers erinnert sich daran, wie die PoliVorsitzender des Washingtoner Ausschus- zei die Leute zu Fuß über die Mall trieb, ses für Heimatschutz, als er zu einer An- und daran, dass er eine Woche in Wahörung über die Gefahr der Radikalisie- shington festsaß und nur einen Anzug darung amerikanischer Muslime lud. Das beihatte. Niemand, sagt Vickers, hatte damals Thema allein war eine Provokation, und nur um sie ging es, denn triftige Erkennt- größere Angst vor weiteren Anschlägen als Amerikas Muslime. Er und seine Kolnisse waren keine zu erwarten.
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Serie Weg. Muslime wurden nicht als Gefahr empfunden damals, sagt Vickers, die Leute konnten unterscheiden zwischen Osama Bin Laden und ihrem Doktor im Krankenhaus, der aus Iran eingewandert war oder aus Indonesien. Die zweieinhalb Millionen amerikanischen Muslime wurden jedenfalls fraglos als Amerikaner akzeptiert oder einfach ignoriert, und die politischen Parteien begannen, sich ein wenig für die Minderheit und ihre Wählerstimmen zu interessieren. Dann flogen die Maschinen in die Zwillingstürme, und alles brach zusammen. Seine Erfahrung als schwarzer Bürgerrechtler habe ihn gelehrt, sagt er, dass in Amerika nur Stärke zählt und nur Respekt bekommt, wer sich ihn verdient, „wer vorwärts geht, wer sich meldet“. Die muslimischen Gemeinden und Organisationen hätten sich nach 9/11 und auch im Zuge der Afghanistan- und Irak-Kriege stattdessen schwach gezeigt. Sie zogen sich zurück, sie traten leise, „sie wollten den amerikanischen Musterschüler spielen“, sagt Vickers. Ihm wäre es lieber gewesen, sie hätten klar Position bezogen. Gegen den Irak-Krieg vor allem. Gegen immer neue Gesetze, die sich gezielt gegen Muslime und Einwanderer richteten. Gegen den Aufbau eines Polizeiapparats, der unter pauschaler Beru-
fung auf die nationale Sicherheit die Bürgerrechte beschädigt. Er hätte sich auch eine Debatte darüber vorstellen können, warum Terroristen vornehmlich die USA attackieren. „Weil sie uns hassen?“, fragt Vickers. „Oder weil wir Kampftruppen in ihre Länder schicken? Oder weil sie davon hören, dass amerikanische Politiker Mekka bombardieren wollen? Dass ein Pastor in Florida öffentlich den Koran verbrennen lässt?“ Es ist ein paradoxer Befund und zu kompliziert für die grobschlächtigen Debatten in Amerika im Vorwahlkampf,
Der Dauerstress der Terrorabwehr nagt am ganzen Land. dass all jene, die so inbrünstig für die Sicherheit ihrer geliebten Nation kämpfen, das Land am Ende anfälliger machen für Angriffe. Das dauernde Kriegsgeschrei der Konservativen, die Polemiken von Pamela Geller, von Brigitte Gabriel, die hemdsärmeligen Weisheiten republikanischer Politiker frustrieren die einheimischen Muslime, deren Herz ebenso laut für Amerika schlägt, und womöglich wecken sie erst den einen oder anderen terroristischen Schläfer, der nur auf letzte Be-
weise dafür gewartet hat, dass Amerika ein Feind des Islam ist. Eine Billion Dollar, heißt es, eintausend Milliarden, hat der amerikanische Staat seit dem 11. September in die Terrorabwehr gesteckt, und in dieser Summe sind die Kosten für die Kriege im Irak und in Afghanistan noch nicht einmal enthalten. Polizeiapparate sind gewuchert, auf die Diktatoren neidisch wären. Ist das der Preis dafür, dass seither kein großer Anschlag ausgeführt werden konnte? Oder wäre es nicht möglich gewesen, die Hälfte dieses Geldes, 500 Milliarden Dollar, in Schulen zu investieren, in Kindergärten und Sportstadien und Spielplätze? Und wären das nicht auch Investitionen gewesen, die der Gefahrenabwehr dienen? Die USA, das ist eine traurige Mitteilung, befinden sich seit zehn Jahren im Modus des Krieges. Im Land selbst, in New York, war davon die längste Zeit nicht weiter viel zu merken. Aber jetzt, seit einem Jahr, seit der falschen Debatte über ein angeblich falsches IslamZentrum, ist sichtbar geworden, wie der Dauerstress der Terrorabwehr am ganzen Land genagt hat. Wie Errungenschaften des Rechtsstaats preisgegeben wurden. Wie der Terror die Debatten regiert. Das Land braucht Frieden, zehn Jahre danach; er ist außer Sicht.
REUTERS
Gefangener in Guantanamo: „Ich glaube einfach nicht an diese Methoden“ SPI EGEL-GESPRÄCH
„Wir haben es falsch gemacht“ Der ehemalige FBI-Agent Ali Soufan, 40, Amerikaner mit libanesischen Wurzeln, über seine Vernehmungen von Qaida-Gefangenen nach dem 11. September, über den Erfolg von Folter und das Versagen der CIA SPIEGEL: Herr Soufan, wie würden Sie den Zustand der Vereinig2001 2011 ten Staaten zehn Jahre nach den Anschlägen des 11. September, vier Monate nach Bin Ladens Tod, beschreiben? Soufan: Wir erleben gerade den Beginn einer neuen Ära. Ich glaube, al-Qaida ist definitiv und bedeutend beschädigt. Die Qaida, die uns am 11. September angriff, gibt es nicht mehr. Ihre zentrale Führung ist sehr, sehr schwach. In diesen zehn Jahren wurde aber auch, aufgrund begangener Fehler, der Ruf Amerikas schwer beschädigt. Aber wir haben hart gearbeitet, um diesen Ruf wieder zu verbessern: Alle Geheimgefängnisse wurden geschlossen, die speziellen Verhörmethoden eingestellt. Foltermemoranden wurden freigegeben. Wir haben alles auf den Tisch gelegt und gesagt, wir stellen uns dem. Es gibt nicht viele Länder, die das tun. SPIEGEL: Sie haben lange vor 9/11 begonnen, gegen Bin Laden zu ermitteln. Wissen Sie noch, wann Sie zum ersten Mal seinen Namen hörten?
PETER LÜDERS / DER SPIEGEL
11. SEPTEMBER
Ex-Agent Soufan in New York
Automagazine für Bin Ladens Fahrer Soufan: Das war in einem arabischen Ma-
gazin, die hatten ein Interview mit ihm im Sudan geführt. Ich sah das und dachte: Was ist denn das für ein Kerl? Dann las ich weiter über ihn und begann mir Sorgen zu machen, aufgrund seiner Rhetorik vor allem. Jemand, der im Libanon aufgewachsen ist, versteht diese Art Rhetorik. Ich habe ihn im Auge behalten, D E R
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1997 ging ich dann zum FBI. Es war nicht so, dass ich mir sagte, mein Gott, wir müssen auf den aufpassen, es kam nicht über Nacht, es war ein Prozess. Dann aber erließ er im Februar 1998 seine Fatwa gegen Amerika. Von da an änderte sich unser Interesse an ihm. Und ich war überzeugt, dass da etwas Großes passieren würde. SPIEGEL: Ihr Chef beim FBI, John O’Neill, der den Dienst später verließ, Sicherheitschef des World Trade Center wurde und in dessen Trümmern starb, sah diese Gefahr ebenfalls sehr früh. Warum konnten Sie nicht mehr dagegen ausrichten? Soufan: John hat das alles gesehen und verstanden. Ich habe nie jemanden getroffen, der wie er an Terrorfällen arbeitete und Puzzleteil an Puzzleteil setzte. Ich habe viel von ihm gelernt. Er wusste, dass da etwas auf uns zukommt, er wurde darin bestätigt durch die Anschläge auf die US-Botschaften in Ostafrika 1998, durch den Angriff auf den Zerstörer USS „Cole“ 2000 im Jemen. Er hat bis zu seinem letzten Tag beim FBI den Kampf dagegen geführt, nur unglücklicherweise schenkte dem niemand Beachtung. 119
Serie SPIEGEL: Hat die CIA sich jemals dafür
entschuldigt? Soufan: Ja, am 12. September 2001 sagten sie uns: „Erinnert ihr euch noch an die Männer, die das Geld nach San Diego geliefert hatten? Sie haben sich mit den beiden, die wir gut kannten, getroffen, und wir haben das damals nicht an euch weitergeleitet. Sorry.“ Wieso haben die nicht vorher ihre Computer gecheckt und gesagt: „Verdammter Mist, schau mal, was hier gerade passiert“? Für mich geht das weit über das hinaus, was man allgemein Inkompetenz nennt. SPIEGEL: Haben die USA ihren Feind, die Qaida, jemals wirklich verstanden? Soufan: Ich glaube, wir haben die ideologische Motivation dieser Gruppen schwer unterschätzt, die religiöse Bedeutung von
können in diese Komfortzone führen. Weil wir uns genau so verhalten, wie sie es von uns erwarten. Man muss sie verwirren. Ich habe Bin Ladens Fahrer, Salim Ahmed Hamdan, in Guantanamo vernommen. Jemand vor mir hatte ihm versprochen, er könne seine Frau anrufen. Dazu kam es aber nie. Als wir eintrafen, begrüßte er uns mit den Worten: „Alle Amerikaner sind Lügner.“ Wir fanden heraus, dass man ihm tatsächlich dieses Versprechen gemacht, aber nicht gehalten hatte. Und ich sagte zu ihm: „Okay, wir haben Mist gebaut, ich entschuldige mich dafür.“ Und gab ihm das Telefon. SPIEGEL: Hat Ihre Methode funktioniert? Soufan: Er konnte es nicht glauben, dann machte er den Anruf, hörte die Stimme seiner Frau, kniete danach nieder, begann
ERIC DRAPER / WHITE HOUSE / AP
SPIEGEL: Sie sind überzeugt, dass 9/11 hätte verhindert werden können, wenn es nicht die sogenannte chinesische Mauer zwischen CIA und FBI gegeben hätte? Soufan: Wir hatten immer gut zusammengearbeitet, auch bei den Anschlägen in Ostafrika. Aber dann tauchte irgendwann diese Wand auf. Das lag auch daran, dass neue Richtlinien zur Organisation der Beziehungen zwischen Geheimdiensten und Strafermittlungsbehörden missverstanden wurden. Unglücklicherweise führte das zu großen Wissenslücken im Vorfeld von 9/11. Wir hatten verwertbare, wichtige Erkenntnisse, leiteten sie an die CIA weiter, aber dort wurden sie nicht beachtet. SPIEGEL: Was waren das für Informationen? Soufan: Wir ermittelten zum Anschlag auf die „Cole“. Und vernahmen gerade jeman-
Präsident Bush (r.), Berater* im Oktober 2001 in Washington, Qaida-Chef Bin Laden in Afghanistan: „Wir haben den Feind nie verstanden“
den, der an dem Sprengstoffanschlag, der 17 US-Soldaten tötete, teilgenommen hatte. Der sagte uns, er habe Geld an einen Qaida-Mann übergeben. Die Spur des Geldes führte nach San Diego in die USA. Leute, die mit dem Anschlag auf die „Cole“ zu tun hatten, lieferten also Geld an zwei Männer, es waren zwei der späteren 9/11-Hijacker, die dann das Flugzeug ins Pentagon flogen. US-Behörden hatten schon damals Erkenntnisse zu den beiden. Wenn man also bei Ermittlungen zu einem Qaida-Anschlag Bewegungen von Geld und Leuten feststellt, von Meetings erfährt, dann muss die Mauer durchbrochen werden. Wir hatten eine Spur, die CIA kannte die Identität der beiden in San Diego. Aber sie setzten sie nicht auf eine No-flyListe, leiteten ihre Namen nicht weiter. * CIA-Chef George Tenet, Vizepräsident Dick Cheney, Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice.
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al-Qaida. Denen geht es nicht um Politik. Der chinesische Militärstratege Sun Tzu hat vor langer Zeit gesagt: „Wenn du deinen Feind und dich selbst gut kennst, wirst du in hundert Schlachten nicht in Gefahr kommen.“ Wir aber haben im „Krieg gegen den Terror“ nicht nur vergessen, wer wir sind. Wir kannten auch unseren Feind nicht. Schauen Sie sich die Qaida an, am Vorabend von 9/11 hatte sie ungefähr 400 aktive Kämpfer. Die haben uns in einen Krieg geführt, der nun länger andauert als der Erste oder der Zweite Weltkrieg. Und zwar nicht, weil die so schlau sind, sondern weil wir den Feind nicht verstanden. SPIEGEL: Ihre Strategie als Vernehmer hingegen soll gewesen sein, den Gefangenen als Erstes eine Tasse Tee anzubieten. Soufan: Ich sage immer, man muss die Gefangenen aus ihrer Komfortzone herausbekommen. Auch harte Verhörmethoden D E R
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zu weinen und Gott zu danken. Wir gaben ihm Wasser und Tee. 20 Minuten lang sagte er nichts. Dann begann er, mich nach dem Jemen zu fragen, und sagte dann: „Okay, was wollt ihr wissen?“ SPIEGEL: Damals waren Sie einer der wenigen Agenten, die fließend Arabisch sprachen und den Koran in Vernehmungen zitieren konnten. Soufan: Sicherlich, das half. Ich hatte mir auch angewöhnt, mich neben Hamdan auf den Boden zu legen, so als ob wir ein Nickerchen machen würden, aber dann haben wir geredet. Wir haben ihm sogar Fisch-Sandwiches von McDonald’s und amerikanische Trucker- und Automagazine mitgebracht, die liebte er. SPIEGEL: Trucker-Magazine anstelle von „Waterboarding“, das war Ihr Erfolgsrezept? Soufan: Man muss gar nicht so tough sein. Warum auch? Der Typ ist in Haft, er
weiß, du bist der Boss, warum musst du dich dann noch wie ein Boss benehmen? SPIEGEL: Hört sich gut an, aber was für relevante Erkenntnisse haben Sie auf diese Weise gewonnen? Soufan: Hamdan hätte ein Schlüsselzeuge in den anstehenden Prozessen sein können. Als Bin Ladens Fahrer und Bodyguard kannte er jeden, er war derjenige, der die größte Nähe zu ihm hatte. Er saß im Auto, als Bin Laden und sein Stellvertreter Aiman al-Sawahiri auf der Rückbank über das vierte Flugzeug diskutierten. Er war dabei, als der 9/11-Chefplaner Chalid Scheich Mohammed die QaidaFührung über den Stand der Vorbereitungen für den 11. September unterrichtete. Er hat uns all das erzählt, er war bereit zu reden. Es ist ein weiterer Beleg dafür, dass wir es nicht richtig gemacht haben. SPIEGEL: Sie hätten ihn mit Aussicht auf Strafminderung zum Schlüsselzeugen für die 9/11-Prozesse gemacht? Soufan: Ja, aber dann erklärten sie ihn plötzlich zum „enemy combatant“, zum feindlichen Kämpfer, ohne sich mit uns abzustimmen. Wenn aber jemand zum „enemy combatant“ deklariert wird, hat er Recht auf einen Anwalt. Das heißt, die Person, die gerade bereitwillig mit den Geheimdiensten spricht, bekommt also einen Anwalt und kann dann natürlich nicht mehr weiter kooperieren. SPIEGEL: Wer hatte diese Entscheidung gefällt? Soufan: Das Weiße Haus auf der Grundlage von Empfehlungen des Pentagons. Es gab damals eine Menge Druck, Leute schnell zu verurteilen. Also haben sie sich gesagt, lasst sie uns zu feindlichen Kämpfern erklären, ohne über die Konsequenzen weiter nachzudenken. Hamdan hätte in den nun anstehenden Prozessen sehr nützlich sein können. Heute ist er ein freier Mann, er wurde im August 2008 zu fünfeinhalb Jahren verurteilt, eine Zeit, die er fast abgesessen hatte. Er verließ Guantanamo kurze Zeit danach, für uns ist er verloren. SPIEGEL: Sie haben einen weiteren wichtigen Terrorunterstützer vernommen, den Logistiker Abu Subaida, dessen Festnahme in Pakistan im März 2002 Präsident Bush als großen Sieg feierte. Irrtümlich hielt die Regierung ihn für die Nummer drei der Qaida-Führung. Später wurde er als erster Gefangener dem Waterboarding unterzogen (siehe Seite 125). In welchem Zustand war Abu Subaida, als Sie ihn zum ersten Mal sahen? Soufan: Es ging ihm sehr schlecht, er war ja bei seiner Festnahme durch Schüsse schwer verwundet worden. Das machte uns große Sorgen. Aber er sprach mit uns von Anfang an. Und gerade weil er kooperierte und uns sehr schnell verwertbare Ergebnisse lieferte, mussten wir ihn unbedingt am Leben halten. Aus Washington kam eine klare Ansage dazu: „Tod ist keine Option.“ D E R
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Serie Wunden versorgt und so ein Vertrauensverhältnis zu ihm aufgebaut? Soufan: Ja, aber dann wurde sein Zustand immer schlechter, wir bekamen einen Anruf, dass er wohl sterben würde, wir sollten kommen, falls wir ihn noch etwas fragen wollten. Wir brachten ihn dann ins Krankenhaus, er wurde operiert, und wir setzten sofort die Vernehmungen fort. Er berichtete uns vom letzten Mal, an dem er mit Bin Laden gesprochen hatte; über die Leute, die dabei waren; von einem Soufan beim SPIEGEL-Gespräch*: „Es ist absurd“ weiteren Anschlag, der in Vorbereitung sei. Er sagte uns einen Ort. Ich wir, dass es der Spitzname von Chalid fragte ihn, wer diese Operation durchfüh- Scheich Mohammed war. Abu Subaida ren sollte. Er sagte, der und der. Es war hatte uns soeben den Mastermind von jemand, den wir kannten, und zwar von 9/11 offenbart, es war nicht Waterboarden Bildern der 22 „Most Wanted“-Ter- ding, nicht Folter. Es war ein Versehen, roristen. Glück und eine bestimmte Art von BeSPIEGEL: Und, waren Sie erneut mit Ihrer ziehung, die wir zu ihm aufgebaut hatten. SPIEGEL: Präsident Bush hingegen hat imMethode erfolgreich? Soufan: Ja, aber letztendlich durch ein mer behauptet, die Information, wer der Versehen. Ich sagte zu meinem Partner, 9/11-Chefplaner war, sei ein Erfolg der gib mir mal das Foto von dem Kerl. Und „Enhanced Interrogation Techniques“, da wir unser FBI-Fotobuch nicht dabei der speziellen Verhörtechniken. hatten, lud er das „Most Wanted“-Poster Soufan: Ich kenne diese Version. Es waren auf seinen Palm runter, einen von diesen aber nicht die Vertragspartner der CIA, alten, mit dem kleinen Bildschirm. Wir die bei Abu Subaida später in einem Gegaben den Palm Abu Subaida, fragten, heimgefängnis die speziellen Verhörtechob das der Mann sei, nicht wissend, dass niken anwandten. Die waren damals noch ein falsches Foto drauf war. Er sagte: gar nicht eingetroffen. Es war Abu Subai„Nein, das ist er nicht.“ Ich wurde echt da in seinem Krankenbett, der uns sagte, sauer, wir hatten seine Wunden gesäu- dass Chalid Scheich Mohammed die Idee bert, ihn am Leben gehalten und jetzt log zu den Anschlägen hatte, für die er einen er uns an. „Und wer ist es dann?“, fragte Sponsor suchte, weshalb er zu ihm kam. ich. Er antwortete: „Spiel kein Spiel mit Abu Subaida riet ihm: „Geh zu Bin Lamir, Bruder, das hier ist Mukhtar, der den. Er wird dein Sponsor sein.“ Das hat Typ, der 9/11 geplant hat.“ Ich hatte schon er uns erzählt, nicht der CIA. öfter von Mukhtar gehört, wusste aber nicht, wer das sein sollte. Nun erfuhren * Mit Redakteurin Britta Sandberg in New York.
SPIEGEL: Gab es relevante Geheimdiensterkenntnisse, die unter Einsatz der neuen Verhörtechniken gewonnen wurden? Soufan: Nicht, dass ich wüsste. Wenn das Ganze Leben gerettet hätte, dann würde ich ja vielleicht meinen Mund halten. Aber die meisten Kämpfer, die gegen uns in den Irak-Krieg zogen, waren motiviert durch die Bilder von Abu Ghuraib. Und ich glaube einfach nicht an diese Methoden. Nach 183 Sitzungen Waterboarding hat Chalid Scheich Mohammed uns immer noch angelogen. Uns nicht die Wahrheit gesagt über den sogenannten Kuwaiti, Abu Ahmed al-Kuwaiti, den Kurier, der uns letztendlich zu Bin Laden führte. Chalid Scheich Mohammed sagte uns, der sei nicht so wichtig. Wie wir heute wissen, war das nicht die Wahrheit. SPIEGEL: Die CIA, die vom FBI ein Manuskript bekam, hat in Ihrem Buch massive Streichungen vorgenommen, besonders in den Kapiteln über die Verhörtechniken. War das zu erwarten? Soufan: Als Ex-FBI-Agent musste ich meinem ehemaligen Dienst das Buch vorlegen. Ich habe das FBI 2006 verlassen, weil ich so nicht mehr weitermachen konnte, etwas Neues anfangen wollte. Ich war sehr überrascht über die Reaktion der CIA. Sie haben sogar Pronomen geschwärzt, ein „Ich“, ein „Wir“, ein „Mein“. Sie haben Dinge geschwärzt, die ich bereits in einer öffentlichen Senatsanhörung gesagt habe, wie andere Informationen, die öffentlich zugänglich sind. Das alles ist absurd, vollkommen absurd. Ich plane, mit rechtlichen Mitteln gegen diese Streichungen vorzugehen. SPIEGEL: Herr Soufan, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. PETER LUEDERS / DER SPIEGEL
SPIEGEL: Sie haben also seine
fektiver. Er wird gefügig sein, ohne dass wir Arbeit mit ihm haben. Das hier ist eine Wissenschaft.“ Ich konnte nicht glauben, dass die CIA jemanden ohne Verhör- oder Terrorismusauf diese Mission geschickt hatAuszüge aus dem Buch des ehemaligen FBI-Agenten Ali Soufan erfahrung te. Ich fragte Frank: „Ist das hier ein Witz? Was ist hier los? Der Typ hat keine Im März 2002 spüren ausprobieren.“ Er stellte mir Boris als Erfahrung. Das ist lächerlich.“ – „Gib ihm 11. SEPTEMBER die Amerikaner den denjenigen vor, der die neuen Verhörme- eine Chance“, sagte Frank. Als Erstes befahl Boris, Abu Subaida Qaida-Mann und Pa- thoden entwickelt hatte. „Washington 2001 2011 lästinenser Abu Subai- glaubt, dass Abu Subaida viel mehr weiß, auszuziehen. Das demütige ihn, sagte Boda in Pakistan auf. Bei seiner Festnahme als er sagt. Und Boris weiß, wie er diese ris. Er werde kooperieren, um seine Kleidung zurückzubekommen. Ed ging in die wird er angeschossen und schwer verletzt. Informationen schnell bekommt.“ Die Amerikaner bringen ihn in ein Ge„Was ist deine Methode?“, fragte ich Zelle. I (Die Methode hatte nicht heimgefängnis. Dort werden erstmals die Boris. Er sagte, er werde Abu Subaida den gewünschten Erfolg). speziellen Verhörmethoden ausprobiert. zwingen, sich zu unterwerfen. Der solle Boris ließ die Zelle Abu Subaidas, der Entwickelt wurden sie von einem Psycho- seinen Vernehmer als einen Gott ansehen, immer noch nackt war, mit lauter Musik logen, James Mitchell. der sein Leiden kontrolliert. I wür- beschallen. Die Musik werde irgendwann unerträglich. Um das zu beenden, Mitchell, im folgenden Text „Boris“ genannt, machte den Palästinenser werde er reden, sagte Boris. Derzu seinem Feldversuch. Abu Subaiselbe Rocktitel wurde immer wieda ist der erste Gefangene, der der abgespielt, den ganzen Tag nach 9/11 gefoltert wird, den man lang. Sogar im Überwachungsdem „Waterboarding“ unterzieht. raum wurde uns schlecht von der Zum ersten Mal schildert der ExMusik; unvorstellbar, was Abu FBI-Agent Ali Soufan nun in eiSubaida durchmachen musste. nem Buch, wie er Zeuge der FolBoris schickte Ed wieder in die ter wurde und nicht glauben wollZelle. I (Auch diese Methote, was in dem „blacksite-prison“ de hatte keinen Erfolg.) geschah*. Die CIA, der das Buch Also entschied Boris, es mit zur Autorisierung vorgelegt wurSchlafentzug zu versuchen. de, ließ in Soufans Schilderungen I fragte, ob der Schlafentzug ganze Passagen schwärzen und Abu Subaida nicht schaden und untersagte deren Veröffentliihn weniger nützlich machen würchung. Der SPIEGEL veröffent- Psychologe Mitchell: „Das hier ist eine Wissenschaft“ de. Die CIA-Leute sahen das gelicht Auszüge des Textes, inklusinauso und baten die Zentrale in ve der Schwärzungen. Von der Langley um Anweisungen. Diese CIA aus Vorsicht geschwärzte lauteten: Boris kann Schlafentzug Pronomen („ich“ oder „mein“) anordnen, aber nicht länger als sind zum besseren Verständnis 24 Stunden. Boris triumphierte. wieder eingefügt worden. Der Schlafentzug dauerte 24 Stunden. Wie die Nacktheit und der Lärm brachte es nichts. Das CIA-Team bestand aus In der Zeit, die Frank und ich I, dem Chef-Psychologen, mit Abu Subaida verbracht hatEd, der das Verhör führte, Frank, ten, hatte er uns Informationen der für den Lügendetektor zustängegeben. Langsam, aber sicher dig war, und anderen Leuten: hatte er kooperiert. Das hat LeAnalysten, Assistenten und Siben gerettet. Jetzt mussten wir cherheitspersonal. Auch Boris war rumsitzen und tagelang zuschaudabei, ein Psychologe, der von der en, wie Methoden angewendet CIA angeheuert worden war. wurden, die nichts brachten und Ich freute mich, als das Team Gefangener Abu Subaida 2002: 24 Stunden Schlafentzug die kein anständiger Vernehmer ankam. Frank traf ich zwar zum ersten Mal, Ed und I kannte ich gut. den ihm weggenommen: I, I überhaupt je in Betracht ziehen würde. Mit Ed hatte ich schon öfter zusammen- und seine Kleider. Er sollte sie erst zu- Eines Tages sah ich eine große Kiste an der Wand lehnen. I (Die Kiste war gearbeitet; zum ersten Mal bei den Er- rückbekommen, wenn er kooperierte. mittlungen zum Anschlag auf die USS „Du wirst sehen, er wird schnell gefügig für eine Scheinbeerdigung vorgesehen). „Cole“. Mit I hatte ich gemeinsam werden“, sagte Boris. „Damit meine Me- Die CIA-Leute sagten mir, dass Boris auf thoden funktionieren, müssen wir ihm die Genehmigung dafür wartete. I, Verhöre durchgeführt. Als ich die beiden sah, dachte ich, wir zeigen, dass er seine Chance zu koope- ein klares Indiz dafür, dass Langley den würden alle zusammenarbeiten, wie wir rieren vertan hat. Er muss verstehen, dass Plan unterstützte. „Sie machen Witze“, es I getan hatten. Ich dachte, das wir sein Spiel nicht mehr mitspielen.“ sagte ich zu einem CIA-Mann. Er zuckte hier wird eine reibungslose Operation. I waren überrascht, als Boris sei- mit den Schultern, als ob er sagen wollte, Nachdem wir uns begrüßt hatten, sagte nen Plan erläuterte. „Warum müssen wir wir haben doch keine Wahl. „Das ist doch krank“, sagte ich und ging er zu mir: „Washington will etwas Neues das tun, wenn Abu Subaida doch koopeweg. Er nickte mutlos. riert?“, fragte I. Boris unterbrach ihn. „Ihr habt Ergeb* Ali Soufan: „The Black Banners“. W. W. Norton & Company, New York; 608 Seiten; 26,95 Dollar. ENDE nisse, I, aber meine Methode ist efFOTOS: ABC NEWS
Nacktheit und Lärm
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Sport
Szene L E I C H TAT H L E T I K
HASENKOPF / IMAGO
„Jeder kocht sein eigenes Süppchen“ Der ehemalige Bundestrainer Micky Corucle, 49, über das schlechte Abschneiden der deutschen Sprinter bei der WM in Daegu
KERIM OKTEN / DPA
SPIEGEL: Warum bringt Deutschland Weltmeister etwa im Diskuswurf oder im Kugelstoßen hervor, aber keinen einzigen Sprinter, der in der Weltklasse mithalten kann? Corucle: Die Werfer profitieren von einer guten Trainingsmethodik. In ihren Disziplinen ist aber auch die Konkurrenz kleiner. Es sind wenige Nationen, die um die Medaillen kämpfen. Im Sprint wird das große Geld verdient, da stehen die Sponsoren und das Fernsehen dahinter. Alle Verbände wollen schnelle Läufer, deswegen ist es an der Spitze viel enger. SPIEGEL: Deutsche Sprinter kommen seit Jahren nicht an die Spitze heran, bei der WM in Daegu schaffte es keiner ins Halbfinale. Was machen sie falsch? Corucle: Wir Trainer sollten ständig neue Reize Deutsche Staffel-Sprinter setzen, unsere Methoden von Jahr zu Jahr verändern. Das passiert aber nicht. Viele Übungsinhalte sind gegeneinander, damit andere Coaches nicht ihre Läufer abveraltet. Zum Beispiel trainieren unsere Sprinter zu oft bei werben. Es gibt kaum gemeinsame Anstrengung, dafür aber Wettkampftempo. Sie sollten aber häufiger bei niedrigen Ge- 20 verschiedene Trainingsmethoden. Jeder kocht sein eigenes schwindigkeiten an der Lauftechnik feilen. Die Coaches ver- Süppchen. Die Leidtragenden sind die Athleten. trauen zu sehr auf Videoanalysen und Biomechaniker statt SPIEGEL: Ihr Schützling Tobias Unger schaffte es 2004 in Athen auf ihr eigenes Auge und Handarbeit. als letzter deutscher Sprinter in einen olympischen Endlauf. Welches Leistungsniveau wäre mit gutem Training möglich? SPIEGEL: Sie waren von 2006 bis 2007 Bundestrainer beim Deutschen Leichtathletik-Verband. Warum haben Sie nichts Corucle: Es wird kein deutscher Läufer einen Weltrekord von Usain Bolt brechen. Aber ich bin sicher, dass wir Sprinter verändert? ausbilden können, die die 100 Meter in 10,0 Sekunden laufen Corucle: Die Sprintszene in Deutschland ist von Misstrauen geprägt, niemand lässt sich etwas sagen. Die Trainer arbeiten können. Das würde für einen WM-Endlauf reichen.
stritten hat. Schwenker soll vor dem Champions-League-Finalrückspiel 2007 gegen die SG Flensburg-Handewitt Schiedsrichter bestochen haben.
HANDBALL
Enger Freund eim Bundesligisten THW Kiel hat sich eine Lobby aus Sponsoren und Gesellschaftern gebildet, die für die Rückkehr des einstigen Managers Uwe Schwenker plädiert. Voraussetzung sei allerdings, dass Schwenker beim Strafprozess vor dem Landgericht Kiel, der am 21. September beginnt, freigesprochen wird. Dem 52-Jährigen werden Untreue und Bestechung im geschäftlichen Verkehr vorgeworfen, was dieser immer be-
MARKUS BRANDT / DPA
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Der Aufsichtsratschef Klaus-Hinrich Vater hat sich schon vor Wochen gegen ein Comeback des Ex-Managers ausgesprochen. Obwohl Uwe Schwenker seit Ende Juni 2009 nicht mehr für den THW arbeitet, ist er über die Interna des Clubs stets gut informiert. Mit Trainer Alfred Gislason trifft er sich regelmäßig zum Austausch, Geschäftsführer Klaus Elwardt ist ein enger Freund. Zu den Spekulationen um ein Comeback äußert sich Schwenker nicht. Den „Kieler Nachrichten“ hatte er im vergangenen Oktober erklärt: „Ich war nie wirklich weg.“ 127
Sport
Operations Room des Wettanbieters IBC in Manila
SPORTWETTEN
Spitzname „Scorpion“ Der milliardenschwere asiatische Wettmarkt zieht Glücksritter wie Gauner an. Wer die Mechanismen dieser Zockerwelt verstehen will, findet auf den Philippinen Antworten. In Manila sitzen die drei größten Buchmacher – erstmals gewährt einer von ihnen Einblick.
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as RCBC Plaza in Makati, dem Finanzdistrikt der philippinischen Hauptstadt Manila, ist ein Bürohochhaus aus Stahl und Glas, auf dem Dach können Hubschrauber landen. Sicherheitskräfte in Uniform kontrollieren jeden, der durch die Drehtür in die Lobby eintritt. „Bitte fragen Sie nach dem nächstgelegenen Schließfach für Ihre Feuerwaffen“, steht in großen Lettern an der Wand. Auf das Unternehmen, das im 17. Stock untergebracht ist, weist weder im Erdgeschoss noch in den Hochgeschwindigkeitsfahrstühlen ein Schild hin. Ein fens128
terloser Gang führt zu einer Tür, die von einer Kamera überwacht wird. Dahinter sitzt eine Firma, deren Umsatz im vorigen Jahr höher war als der vieler DaxKonzerne: der Buchmacher IBC, größter Sportwettenanbieter Asiens. In der Welt des Sports hat der asiatische Wettmarkt einen legendären Ruf. Er ist ein Paradies für Zügellose, er steht für gigantische Einsätze und Umsätze – und er liefert endlose Möglichkeiten zur Betrügerei. Antworten darauf, wie die Mechanismen dieser Zockerwelt funktionieren, finden sich auf den Philippinen. Denn in D E R
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Manila sitzen die Wettanbieter, die zwei Drittel der gesamten Branche beherrschen: die Unternehmen IBC, SBO und Singbet. Wie viel Geld in Asien jährlich mit Sportwetten bewegt wird, lässt sich nur schwer schätzen. Die drei wichtigsten Buchmacher setzen über 100 Milliarden Dollar jährlich um, allein Marktführer IBC kam im vergangenen Jahr auf knapp 45 Milliarden Dollar – fast dreimal so viel wie der Sportartikelkonzern Adidas. Die Umsatzrendite lag bei 0,67 Prozent, der Gewinn demnach bei etwa 300 Millionen Dollar. Netto.
Hier kommt Computer-Hightech aus dem indischen Bangalore zum Einsatz. Hier werden die Quoten gemacht, angepasst und überwacht. Hier gehen die Wetten ein. Und hier wird das Geld umgeschlagen, durchschnittlich über 115 Millionen Dollar am Tag. Vor allem am späten Abend und in den frühen Morgenstunden herrscht Hochbetrieb, wenn in Europa die großen Ligen spielen: Bundesliga, italienische Serie A und spanische Primera División, aber vor allem englische Premier League und Champions League. Allein mit Wetten auf das Finale Manchester United gegen den FC Barcelona Ende Mai setzte IBC über 50 Millionen Dollar um. IBC ist in der philippinischen Sonderwirtschaftszone Cagayan als Sportwettenanbieter registriert. In die Staatskasse zahlt die Firma lediglich 100 000 Dollar pro Jahr – für die Erneuerung der Lizenz. Am großen Rad auf dem asiatischen Wettmarkt können von Europa aus nur Profizocker drehen, sogenannte High Roller. Gewöhnliche Glücksspieler, die in Wettbuden an deutschen Fußgängerzonen ihr Geld setzen, kommen nicht zum Zug. Denn wer in Asien zocken will, benötigt einen Wettvermittler, einen „Agenten“. IBC wickelt sein komplettes Geschäft direkt mit etwa hundert dieser Zwischenhändler ab. Sie sitzen verstreut über die ganze Welt: in Thailand, in Indonesien, in Vietnam, in Malaysia, in den Vereinigten Staaten, in Großbritannien. Dort haben sie ein pyramidales System von Zuträgern, Geldeintreibern und Geldboten aufgebaut. Wer Zugang zur Spitze der Vermittler, den sogenannten Super Agents, bekommen will, braucht ein Entree: die Empfehlung eines anderen Profizockers. Der wohl einflussreichste Wettvermittler Asiens ist ein Indonesier, der in Singapur und in Jakarta residiert. Sein Vorname ist Paul. Allein IBC verschaffte Paul
Wettereignis Champions-League-Finale 2011
JOE TOTH / BPI / CORBIS
Der Mann, dem die Mehrheit an IBC gehört, hat eine eigene Leibgarde und lebt auf der zu China gehörenden Halbinsel Macao. Paul Phua, Spitzname: „The Shot“, der Schuss, hat sich aus dem operativen Geschäft zurückgezogen und investiert sein Milliardenvermögen in Bürotürme in Singapur und den Bau von Casinos, der in ganz Südostasien boomt. Sein Statthalter im IBC-Hauptquartier in Manila heißt Mister Lam. Auch er hat einen Spitznamen: „Scorpion“. Den trägt er aus der Zeit, als der Wettanbieter noch verboten war und von der Stadt Miri im malaysischen Teil der Insel Borneo aus operierte. Lam ist ein schmächtiger Mann um die vierzig, sein genaues Alter verrät er nicht. Er trägt ein verwaschenes T-Shirt und hellblaue Jeans, die an beiden Knien eingerissen sind. Lam spricht schnell und laut, sein Englisch ist nur schwer zu verstehen. Er raucht Kette, Marlboro Lights. Die halbgepafften Kippen versenkt der Skorpion in einem Glas Wasser, das vor ihm auf dem Tisch steht. Sein Büro ist höchstens sechs Quadratmeter groß. Es bietet Platz für einen Tisch, einen Computer und drei Aqua-
rien, in denen jeweils ein rotschimmernder Fisch schwimmt, ein Asiatischer Gabelbart. Stückpreis: 20 000 Dollar. Auf den Philippinen heißt es, das teure Tier bringe Glück. Das Wettgeschäft in Asien ist ein unregulierter, ein wilder Markt. Bei Buchmachern gibt es, anders als in Europa, keine Limits bei den Einsätzen, selbst absurd erscheinende Wetten sind möglich: auf den ersten Einwurf bei einem Zweitligaspiel in Griechenland; auf die Anzahl der Fouls bei einem Erstligaspiel in Litauen; auf die Anzahl der Gelben Karten bei einem Zweitligaspiel in Mazedonien. Das Kalkül der Wettanbieter: je mehr Umsatz, desto höher ihr Gewinn, wenn sie die Quoten richtig austarieren. So kommt es vor, dass IBC in Manila sonntagmorgens um elf Uhr mitteleuropäischer Zeit Live-Wetten auf ein A-JugendBundesligaspiel in der westfälischen Provinz anbietet. In vielen Ländern Asiens und Europas sind Sportwetten per Internet verboten, auch der deutsche Glücksspiel-Staatsvertrag untersagt sie. Mister Lam reagiert auf Einwände, seine Gewinne beruhten größtenteils auf illegalen Geschäften, mit einem abschätzigen Blick. „Hören Sie auf damit“, antwortet er gereizt, „wir sind keine Hinterhofklitsche im Untergrund, wie uns von den Europäern vorgeworfen wird. Hier läuft alles ganz legal nach philippinischem Recht.“ Gleich neben Lams Büro befindet sich die Herzkammer des Unternehmens, der sogenannte Operations Room. Dort sitzen etwa hundert Mitarbeiter, junge Männer und Frauen aus allen Ländern Südostasiens, und starren auf Zahlenkolonnen in ihren Computern. Es sieht aus wie im Handelsraum einer Investmentbank – mit dem Unterschied, dass auf den Fernsehbildschirmen, die an der Decke hängen, keine Börsenkurse flimmern, sondern Fußballspiele aus aller Welt übertragen werden.
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LUIS GALDAMEZ / REUTERS
Von August 2008 bis November 2009 soll Samvo demnach bei IBC in Manila im Auftrag Sapinas und seiner Kumpanen Wetten in Höhe von 11,8 Millionen Euro gesetzt, beim Buchmacher SBO für die Bande sogar 15,2 Millionen Euro platziert haben. Der Gewinn: über 1,2 Millionen Euro. Nach den Erkenntnissen der Ermittler soll die Führungsetage bei Samvo gewusst haben, dass darunter jede Menge manipulierter Spiele waren. Auf die verschobenen Partien habe Samvo sogar auf eigenen Konten bei den großen asiatischen Buchmachern nachgewettet. Die Firma Samvo, die von einer Münchner Anwaltskanzlei vertreten wird, äußerte sich bis Redaktionsschluss nicht zu den Vorwürfen. Meist standen die Wettbetrüger per Chat mit den SamvoLeuten in London in Verbindung, wie am Nachmittag des 23. November 2008 lief es häufig. Kurz nach Anpfiff eines Zweitligaspiels in Portugal, so steht es in den Akten, hatte einer der Wettbetrüger aus Österreich 65 000 Euro darauf gesetzt, dass mindestens drei Tore fallen würden. „Zur Halbzeit werde ich einen Anruf erhalten“, schrieb er dann an einen Samvo-Mann. 20 Minuten später, die zweite Hälfte hatte gerade begonnen, setzte Samvo für den Österreicher weitere 100 000 Euro, diesmal darauf, dass nun mindestens vier Tore fallen würden. Der Zocker frohlockte: „Halleluja!“ Das Spiel endete 4:0. Mister Lam, der Mann, der beim Wettgiganten IBC in Manila das Sagen hat, kennt die Bosse von Samvo persönlich. Er könnte zur Aufklärung beitragen. Doch absolute Verschwiegenheit ist Teil des Geschäfts. Auch die Fifa-Ermittler waren schon bei Lam vorstellig, aber es kam zu keinem Gespräch. „Warum soll ich mit denen reden?“, fragt Lam im Nebel seiner Zigarette, „wir sind die Geschädigten, wenn Spiele manipuliert werden – aber die halten doch uns für die Betrüger.“ Draußen ist es dunkel geworden. Mister Lam, der Skorpion, ruft einer Assistentin zu, sein Auto solle aus der Tiefgarage vorgefahren werden, er möchte essen gehen. Zehn Minuten später steht der Wagen vor dem RCBC Plaza. Es ist ein weißer Porsche Cayenne. Bevor Lam einsteigt, steckt sein Chauffeur eine Pistole unter sein Sakko. Sie lag im Handschuhfach. Dann gibt er Gas. Lams Porsche hat ein philippinisches Polizeikennzeichen. JJULIAN ABRAM WAINWRIGHT / PICTURE ALLIANCE / DPA
im vorigen Jahr Wettumsätze von über Kampf an einer unübersichtlichen, unfünf Milliarden Dollar. Der Super Agent überschaubaren Front. Wer Freund und ist ein Mann Anfang sechzig mit einem wer Feind ist, lässt sich oft nicht untermarkanten kahlen Schädel. Er sitzt in ei- scheiden. Im Westen Londons, nicht weit entnem der brandneuen Casinos von Manila in einem Restaurant, isst Haifischsuppe fernt vom Wembley-Stadion, hat die Firund trinkt Chardonnay aus Kalifornien. ma Samvo Entertainment Limited ihren Zu seinen Kunden gehören auch Glücks- Sitz im ersten Stock eines neuerrichteten ritter und Spielsüchtige aus Europa. Seit Gebäudes, etwa 300 Quadratmeter Bürozwei Jahren arbeitet Paul zum Beispiel fläche. Samvo gilt als einer der renommit einer Zockergruppe zusammen, die miertesten Buchmacher und Anbieter sich Corner Group nennt. Die Wetter von Sportwetten in Europa. Gründer und stammen aus Dänemark, über einen Profi- Direktor Frank Chan, ein Geschäftsmann zocker aus England waren sie mit Paul in Verbindung getreten. Sie setzen bei ihren Spielen ausschließlich darauf, dass es eine Mindestanzahl von Eckbällen gibt. Mit dieser Methode sahnten sie bis zu drei Millionen Euro pro Monat ab. Mittlerweile hat IBC die Quoten nach unten korrigiert. Paul spricht voller Bewunderung von der Corner Group. Er traf die Männer einmal im thailändischen Ferienort Phuket, sieben Mathematik-, Statistik- und Informatikstudenten, keiner älter als 27. Sie hatten eine komplexe Software entwickelt, mit der sie Fifa-Ermittler Eaton: Wer ist Freund, wer ist Feind? die Häufigkeit von Eckstößen errechneten. Wenn Paul die Geschichte der Corner Group erzählt, klingt das wie ein Drehbuch zu einem Film. Weil er Überweisungen auf dem Bankweg verhindern will, um keine unangenehmen Fragen nach der Herkunft des Geldes beantworten zu müssen, bezahlt Paul die Gewinne an die Studenten in bar aus. Die Geldübergabe erfolgt über einen Mittelsmann in Neapel. Den Rückweg treten die Dänen meist im Nachtzug von Rom aus an, im Gepäck Taschen voller Schwarzgeld. „Das sind smarte Jungs“, sagt Wettangebot Tennis: Außer Kontrolle geratenes Virus Paul. Gewiefte Spieler, keine Betrüger. Es ist ihm wichtig, das zu betonen. aus Hongkong, ist bestens vernetzt auf Denn natürlich sind in seiner Branche dem asiatischen Zockermarkt. Sein Vater war jahrelang eine große Nummer in der eine Menge Gauner unterwegs. In der Anonymität und Undurchdring- illegalen Wettszene Chinas. Besonders lichkeit des asiatischen Zockermarkts intensiv waren Chans Kontakte zu den gedeiht der Wettbetrug wie ein außer Wettgiganten IBC und SBO. Im November 2009 durchsuchten BeKontrolle geratenes Virus. Der Präsident des Internationalen Olympischen Komi- amte der Londoner Polizei gut neun Stuntees, der Belgier Jacques Rogge, nennt den lang die Geschäftsräume von Samvo, nicht Doping das „größte Übel der Sport- bei der Razzia anwesend war auch ein welt“, sondern „illegale Sportwetten“. Ermittler des Polizeipräsidiums Bochum. Gianni Infantino, der Generalsekretär der Die Firma steht im Verdacht, in großem Europäischen Fußball-Union, bezeichne- Stil auch als Vermittler verschobener Wette Wettbetrüger als „das Krebsgeschwür, ten auf dem asiatischen Markt aktiv gewesen zu sein – und mit den Manipuladas wir herausoperieren müssen“. Der Weltfußballverband hat den ehe- teuren wie dem deutsch-kroatischen Zomaligen Interpol-Mann Chris Eaton ein- ckerkönig Ante Sapina gemeinsame Sagesetzt, um gegen die Wettmafia vor- che gemacht zu haben. Über ein halbes Jahr lang wertete die zugehen. Dafür stellte die Fifa 20 Millionen Dollar bereit. Doch es ist ein Bochumer Polizei die Unterlagen aus.
RAFAEL BUSCHMANN, MICHAEL WULZINGER
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Hausgemachtes Tauchboot Erfindergeist hat den chinesischen Bauern Zhang Wuyi aus Wuhan dazu getrieben, mit einfachsten Mitteln ein Mini-U-Boot zu konstruieren. Der blaue Delphin mit Gartenstuhl kann 20 Meter tief tauchen und bis zu 10 Stunden unter Wasser bleiben.
JASON LEE / REUTERS
Gärtnern im All
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ie Tage für Fertiggerichte im All sind gezählt. Wenn sich Astronauten in einigen Jahrzehnten auf die Reise zum Mars wagen, sollen sie nach Angaben von Nasa-Experten zumindest für einen Teil ihrer Verpflegung selbst sorgen – mit einem Heimgärtlein an Bord. Die dabei favorisierten Gewächsarten haben Ernährungsforscher jetzt bei einem Treffen in Colorado vorgestellt: Neben Salat, Spinat, Karotten und Tomaten sollen die Männer und Frauen in den Raumschiffen Frühlingszwiebeln, Rettich, Paprika, Erdbeeren, Kräuter und Kohl anbauen. Durch das „bioregenerative System“ lassen sich während des Flugs ebenso gesunde wie abwechslungsreiche Mahlzeiten zaubern. Außerdem könnte die Gemüseplantage Sauerstoff produzieren, Teile des ausgeatmeten Kohlendioxids beseitigen und womöglich bei der Wasserreinigung helfen. Vor allem aber soll der fliegende Schrebergarten Transportgewicht sparen: Jeder Astro-
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naut dürfte während einer insgesamt fünf Jahre dauernden Mars-Mission über drei Tonnen Lebensmittel konsumieren. Und wenn ein Teil davon erst während des Flugs produziert werden würde, könnte das die Transportkosten drastisch senken.
GESUNDHEIT
Hibbelig im Vorortzug
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NASA
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Astronautin, schwebendes Fertiggericht D E R
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rauen belastet das tägliche Pendeln zur Arbeit stärker als Männer. Das haben britische Forscher bei Befragungen von über 15 000 Landsleuten herausgefunden, die regelmäßig längere Strecken in Zügen, U-Bahnen oder Bussen zurücklegen. Der größte Stress lastet den Daten zufolge auf Frauen, deren Kinder noch nicht zur Schule gehen; die untätig verbrachte Zeit in den Verkehrsmitteln zerrt viel stärker an ihren Nerven als bei Männern mit ebenso alten Kindern. Auch Frauen mit Partner, aber ohne Nachwuchs kommen bei den Fahrten innerlich kaum zur Ruhe. Nur weibliche Singles verbringen die tote Zeit ähnlich entspannt wie ihre in der Zeitung blätternden männlichen Kollegen. „Frauen haben mehr Zeitzwänge, deshalb ist das Warten für sie quälender“, glaubt Forscherin Jennifer Roberts.
Wissenschaft · Technik ANDROLOGIE
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it seiner Stimme kam der berühmte italienische Kastrat Farinelli (1705 bis 1782) scheinbar mühelos über drei Oktaven – und er konnte einen Ton eine Minute lang halten, ohne Luft zu holen. Doch der Preis für seine Sangeskünste waren nicht nur die Hoden, die er noch vor der Pubertät einbüßte. Gelehrte von den Universitäten Bologna und Pisa haben bei der Untersuchung seiner vor fünf Jahren exhumierten Gebeine entdeckt, dass er hormonbedingt auch an krankhaften Knochenveränderungen litt, wie sie typisch sind für ältere Frauen. So fanden sie das Stirnbein Farinellis bis zu zwei Zentimeter verdickt – eine Störung, die fast ausschließlich bei Frauen nach den Wechseljahren auftritt. Sie kann in schweren Fällen zu Kopfschmerzen, epileptischen Anfällen und fortschreitender Demenz führen (was für den im hohen Alter von 78 Jahren verstorbenen Sänger allerdings nicht bezeugt ist). Nahezu makellos waren hingegen des Sängers Zähne: 25 von ihnen sahen auch nach mehr als 200 Jahren noch immer exzellent aus, nur 2 wiesen schwerere Schäden auf.
ANDREAS HARTL / OKAPIA / PICTURE-ALLIANCE / DPA
Kastrat mit Frauenleiden
Meerneunauge
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Schwimmende Vampire und der Geruch des Todes
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eerneunaugen, die sich seit Jahrzehnten in den Großen Seen Nordamerikas ausbreiten, bedrohen die dort lebenden einheimischen Fische. Jetzt haben Forscher von der Michigan State University eine neuartige Waffe gegen die aalähnlichen Eindringlinge entdeckt, die sich an Seesaiblingen und Barschen festsaugen und von deren Blut leben. Bei Laborversuchen erkannten sie, dass die schwimmenden Vampire auf den Verwesungsgeruch von toten Artgenossen panisch reagieren: „Wenn sie die Fäulnisstoffe wahrnehmen, suchen sie nur noch das Weite“, berichtet Fischereibiologe Michael Wagner. Die Wissenschaftler schlagen vor, in einigen der in die Großen Seen einmündenden Flüsse, die die Tiere als Laichgebiete aufsuchen, Duftbarrieren mit den Alarmsubstanzen zu errichten. In nicht abgesperrten Wasserläufen würden sich die fortpflanzungswilligen Blutsauger dann umso zahlreicher versammeln – und könnten mit Gift dezimiert werden.
L U F T FA H R T
„Meine Methode funktioniert am besten“ Jason Steffen, 36, Physiker am Fermilab Center for Particle Astrophysics in Batavia, Illinois, über die schnellste Art, ein Flugzeug mit Passagieren zu füllen SPIEGEL: Bei der von Ihnen entwickelten Boarding-Methode werden die Reisenden immer nur in Zehnergruppen ins Flugzeug gelassen und abwechselnd links und rechts auf jede zweite Reihe verteilt. Wie hat sich das im Feldversuch bewährt? Steffen: Ich war erleichtert, aber nicht wirklich überrascht, dass die Methode besser als alle anderen funktioniert. Im Test war sie fast doppelt so schnell wie die übliche Methode, bei der das Flugzeug von hinten nach vorn in Blöcken befüllt wird.
SPIEGEL: Sie behaupten, mit Ihrer Methode könnten die Fluggesellschaften Millionen sparen. Bislang zeigen die Airlines jedoch kaum Interesse. Steffen: Vermutlich weil damit zunächst mehr Arbeit verbunden wäre. Sie müssten nicht nur die Boarding-Methode ändern, sondern auch ihre Flugpläne entsprechend anpassen, um den Zeitgewinn auch wirklich auszunutzen.
Boarding-Methode
SPIEGEL: Ist es so wichtig, ein paar Minu-
ten zu sparen, wenn das Flugzeug danach stundenlang in der Luft ist? Steffen: Auf der Strecke Frankfurt–Tokio ist der Nutzen meiner Methode nicht so hoch. Bei Verbindungen wie Frankfurt– Berlin oder London–Paris sieht die Sache anders aus. Eine halbe Stunde Boarding bei ein bis zwei Stunden Flugzeit fällt durchaus ins Gewicht.
nach Jason Steffen
Reihenfolge der eingelassenen Fluggäste und ihrer Sitzplätze erste Gruppe zweite Gruppe dritte Gruppe letzte Gruppe
Die Passagiere werden in Zehnergruppen eingelassen und abwechselnd links und rechts auf jede zweite Reihe verteilt, so dass sie sich beim Verstauen des Gepäcks nicht gegenseitig behindern. Es wird von außen nach innen platziert (Grafik zeigt nur die Außenreihe).
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Sperre an der Bundesstraße 6 am Rande der Sperrzone, Messung der radioaktiven Belastung bei Arbeitern im J-Village: Auf einer Art Kassenbon
FUKUSHIMA
Das Dorf der Strahlenarbeiter Es ist ein verbotener Ort, der Zutritt untersagt: In einem ehemaligen Fußballzentrum rüsten sich jeden Morgen jene Arbeiter, die das Katastrophen-Kraftwerk Fukushima Daiichi unter Kontrolle bringen sollen – ein Besuch im Vorhof des japanischen Ground Zero. Von Cordula Meyer
A
n Kilometerstein 231 ist Schluss: Barrikaden versperren die vierspurige Bundesstraße 6 nach Norden, hinter ihnen geht es zur Ruine des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi. Uniformierte schwenken Stoppschilder. In der Abenddämmerung zuckt ein rotes Leuchtband auf: „Kein Zugang … Katastrophenrecht“. Zwei Polizisten winken jeden verirrten Autofahrer mit roten Leuchtstäben energisch weg. Drei Kollegen blockieren die Abfahrt nach rechts. Wer sich zu Fuß nähert, wird mit Gebrüll gestoppt. Insgesamt 20 Beamte bewachen diese Kreuzung, Tag und Nacht. Denn hier geht es zum J-Village, einem früheren Trainingszentrum der japanischen Fußballnationalmannschaft. Nach dem 11. März wurde das größte Fußballzentrum Japans zum Basislager für Japans seltsame Helden – für jene Arbeiter, die versuchen, 134
das Kraftwerk Fukushima Daiichi unter Kontrolle zu bringen. Mehr als tausend machen sich hier Tag für Tag fertig für die Schicht. Die Stromfirma Tepco, Betreiber des KatastrophenAKW, hat die Sportanlage einst bezahlt. Seit diese zum Dorf der Atomarbeiter geworden ist, hat der Konzern Medien und Öffentlichkeit den Zugang verboten. Passieren dürfen nur die Busse und Vans mit Tepco-Genehmigung an der Frontscheibe. Sie bringen Arbeiter zu den Reaktoren und wieder zurück ins J-Village. Durch die Scheibe sind die Köpfe der erschöpften Männer zu sehen: Viele sind auf dem gut halbstündigen Heimweg eingenickt. In einem der Busse, die sich an diesem Nachmittag den Hügel zum J-Village hochquälen, sitzt Hitoshi Sasaki, 51, in einem weißen Tyvek-Anzug. Vor drei Wochen hat der Bauarbeiter hier angefangen. SeiD E R
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ne Aufgabe ist es, vor den zerstörten Reaktoren eine Straße zu befestigen. Dazu muss er Stahlstreben im Boden verlegen, damit später ein 600 Tonnen schwerer Kran darauf stehen kann. Dieser soll dann eine Art Schutzhülle aus Plastik über die Ruinen ziehen. Sasakis erster Stopp im J-Village ist die Sporthalle rechts vom Hauptgebäude. In langen Reihen marschieren Arbeiter in Schutzanzügen mit Masken heran. Am Eingang stehen Kartons: Sasaki zieht sich die Plastikhüllen von den Schuhen, sie kommen in den ersten Karton. Danach sind die Atemmaske, der weiße Schutzanzug aus synthetischem Papier und die Handschuhe dran, jeweils in einen anderen Karton. Manche Arbeiter schleppen sich in die Turnhalle, kaum einer spricht. Einige straucheln, wenn sie sich bücken müssen, um die Plastikhüllen von den Schuhen
FOTOS: NORIKO HAYASHI / DER SPIEGEL
bekommen sie die Quittung für die Strahlendosis des Tages
abzustreifen, andere reißen ihren Schutzanzug mit beiden Händen auf, als ob jede Zehntelsekunde zählte, um endlich den heißen Anzug ablegen zu können. In Reihen stellen sie sich danach zur Strahlenmessung an. Die meisten Arbeiter tragen nur langärmelige dunkelblaue Unterwäsche unter den Anzügen. Wer besonders lange in der drückend-schwülen Hitze ausharren muss, darf unter dem Schutzanzug eine türkisfarbene Weste tragen. Kühlmittel darin soll die Männer vor dem Hitzekollaps bewahren. Mehrere Arbeiter sind schon zusammengebrochen, 13 kamen allein im August in einen Notfallraum vor den Reaktoren 5 und 6. Ein 60-jähriger Arbeiter starb im Mai vermutlich an einem Herzanfall. Ein Team von angelernten Strahlenmessern prüft jetzt die Strahlenbelastung jedes Mannes. Die Kontrolleure tragen Schutzanzüge, blaue Hauben und Papiermasken. Unter dem Basketballkorb am Kopf der Turnhalle stehen Tapeziertische mit vier mobilen Geigerzählern, dahinter sind drei Strahlenmessgeräte fest installiert. Die Kontrolleure halten klobige Apparate und blicken auf die Zeiger. Mit den Messfühlern fahren sie erst über den Kopf jedes Arbeiters, dann links und rechts die Arme entlang, die Brust, den Bauch, die Beine. Die Arbeiter stehen dabei auf einer Matte mit Klebefolie, an der radioaktive Partikel haften bleiben sollen. Viele
von ihnen sind jung, sie sehen aus wie Anfang zwanzig, aber auch einige abgekämpfte alte Männer sind darunter. Einer der Arbeiter findet, dass die Öffentlichkeit ein Recht darauf habe, zu erfahren, was im J-Village passiert. Deshalb redet er mit dem SPIEGEL, nur seinen Namen möchte er nicht preisgeben. Hier soll er Sakuro Akimoto heißen. An hektischen Tagen, sagt er, kämen mehr als 3000 Arbeiter durch die Messstation. Eine Brigade ist pro Tag im AKW Fukushima Daiichi im Einsatz, um die havarierten Reaktoren unter Kontrolle zu bringen. Sie schuften bei Bullenhitze und gefährlich hoher Strahlung. Die maximale Stadt Fukushima
30 km erweiterte Evakuierungszone
20 km
UnglücksAKW Fukushima Daiichi
Futaba Okuma Tomioka
10 km
Naraha
Kartenausschnitt
J-Village JAPAN D E R
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Jahresdosis für Arbeiter in japanischen Kraftwerken beträgt normalerweise 50 Millisievert. Tepco erhöhte die maximal erlaubte Dosis in Absprache mit den Behörden auf 250 Millisievert – hoch genug, um die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu erkranken, deutlich zu erhöhen. Rund 18 000 Arbeiter haben seit dem 11. März geholfen, die Katastrophe zu bewältigen. Die meisten von ihnen sind nicht bei Tepco beschäftigt, sondern bei Subunternehmen, die ihre Leute ihrerseits über Zeitarbeitsagenturen rekrutieren. Viele dieser Aushilfen haben schon vorher in Atomkraftwerken die Drecksarbeit gemacht. Den meisten geht es nicht darum, Japan zu retten, sondern darum, ihre Familie zu ernähren. Auch der Bauarbeiter Sasaki ist wegen des Geldes gekommen. Eine Firma aus Hokkaido im Norden Japans, dort wohnt er, sprach ihn an. Als junger Mann hatte er in anderen Kraftwerken bei der Generalüberholung geholfen. Jeden Morgen, sagt Sasaki, ziehe er im J-Village Anzug und Maske an, hinter dem Werkstor gibt es dann einen zweiten Stopp. Hier muss er eine Bleiweste anlegen, darüber einen weiteren Schutzanzug aus besonders dichtem Material, eine Schutzbrille, eine Maske, die das ganze Gesicht bedeckt, sowie drei verschiedene Paar Handschuhe übereinander. „Es ist so unerträglich heiß“, sagt Sasaki. „Ich möchte die Maske am liebsten sofort herunterreißen, aber das ist nirgendwo 135
Beutel mit kontaminiertem Schmutz, Abfallberge auf ehemaligem Fußballfeld, Waschsalon für die Arbeiter im J-Village: „Viele sind am Limit –
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co einen Waschsalon mit mehr als hundert Maschinen gebaut. Direkt hinter dem Hauptgebäude des J-Village parken die Busse auf ehemaligen Fußballplätzen, auf der Tartanbahn lagert Schutt in großen Plastiksäcken. In den Innenhof des Hauptgebäudes hat Tepco einen kleinen Laden bauen lassen, dort können die Arbeiter Zigaretten und Tee bekommen. Einige haben sich, noch in ihren Arbeitsoveralls, um die Aschenbecher versammelt und rauchen schweigend. An einer der Türen kleben Adidas-Werbung und ein Warnschild aus einer anderen Zeit: „Keine Stollenschuhe!“ Ein übermüdeter Arbeiter hat sich zum Schlafen in den Flur auf den Fußboden gelegt. Im Fenster des Atriums hängen riesige Banner von Tepco Mareeze, dem Fußballclub, der Tepco gehört. Im Zentrum des Gebäudes steht ein großer weiß-grüner Plan des J-Village. Der sollte einmal Sportlern helfen, sich zurechtzufinden. Jetzt trägt hier ein Mann in Tepco-Uniform mit rotem Filzstift die aktuellen Strahlenwerte für ein gutes Dutzend Punkte auf dem Gelände ein. Gegenüber sitzen drei Tepco-Leute vor ihrem Laptop. Bei ihnen geben die Arbeiter ihre Tagesdosimeter ab. Sie bekommen dann auf
NORIKO HAYASHI / DER SPIEGEL
erlaubt.“ Trotzdem gibt es immer wieder Berichte von Arbeitern, die die Maske abnehmen, etwa um zu rauchen. Zuerst gibt es Besprechungen, bei denen jeder Arbeiter seine Aufgabe für den Tag erfährt. Danach fahren die Busse zum Reaktor ab. Hitoshi Sasaki darf nur eine Stunde pro Tag arbeiten, maximal 90 Minuten. Sonst bekommt er zu viel Strahlung ab. Danach geht es zurück ins J-Village und dann in seine Pension in Iwaki-Yumoto, wo er sich das Zimmer mit drei Männern teilt – insgesamt sechs Stunden ist er an einem solchen Tag unterwegs. Sasaki ist klein, aber kräftig. Die Arme unter seinem schwarzen T-Shirt sind muskelbepackt. Sasaki erinnert sich genau, wie er Mitte August die verwüsteten Reaktorgebäude zum ersten Mal sah. „Es sieht dort viel schlimmer aus als im Fernsehen“, sagt er. „Wie New York nach dem 11. September. Zerstörung überall.“ Seiner Familie hat er nicht erzählt, dass er im Kraftwerk arbeitet. Er will nicht, dass sie sich Sorgen macht. Er selbst sorgt sich um etwas anderes: Er braucht das Geld, knapp 100 Euro am Tag. Doch wenn es so weitergehe, könne er diesen Job nur noch ein paar Wochen machen, dann wird er das Strahlenlimit seiner Firma erreicht haben. Tepco richtet sich im J-Village für Jahrzehnte ein. Das große Fußballstadion und einige abseits gelegene Plätze haben Arbeiter mit Kies überschüttet. Darauf stehen nun Reihe an Reihe graue Wohncontainer, immer zwei übereinander in zwei Blöcken, 40 Container pro Reihe, bis direkt an die blauen Plastiksitze auf der Tribüne. Dahinter prangt noch die große Anzeigetafel des Stadions. Die Stadionuhr ist um 14.46 Uhr stehengeblieben. In dem Moment riss das Erdbeben die Stromversorgung weg, auch im Kraftwerk 20 Kilometer weiter. Jetzt fließt der Strom wieder, weiße Neonröhren beleuchten die Containerreihen. In einem Raum können sich die Arbeiter Bento-Boxen holen, daneben hat Tep-
J-Village-Arbeiter Akimoto
„Ich kenne keinen, der es für Japan macht“ D E R
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einer Art Kassenbon die Quittung über die Strahlendosis des Tages. In den Gängen hängen große gerahmte Fotografien berühmter Momente der Fußballgeschichte. Auf einer ist der deutsche Torwart Manuel Neuer zu sehen, beim WM-Achtelfinalspiel der deutschen Mannschaft gegen England 2010. Draußen auf einem überdachten Fußballfeld sind acht Tore einfach ineinandergestellt. An einer Latte hängt Arbeiterunterwäsche zum Trocknen. An den rohen Beton am Eingang hat jemand mit rosa Klebeband ein Schild geklebt: „Vorsicht! Kontaminiertes Material“. Vier, fünf Meter hoch türmen sich da gebrauchte Schutzanzüge und Masken. Ein gebeugter Mann in weiß-blauer Uniform führt in die hintere Ecke: Dort liegt strahlender Dreck in einer Art Gummibecken. Der Mann sagt, der Schmutz sei von Autos abgespült worden, die nahe am Reaktor gewesen seien. Jemand hat mit Klebeband Markierungen auf den Kunstrasen geklebt, wie sie sonst Sportler benutzen, um ihren Anlauf festzulegen. Nur dass Arbeiter Strahlenwerte aufs Klebeband geschrieben haben. Mit jedem Meter, den man sich dem Becken nähert, steigen die Werte: 4,5 Mikrosievert, 7,0 und dann schließlich, einen Meter entfernt: 20 Mikrosievert. Auf diesen Platz bringen die Männer vom Strahlenmessteam aus der Turnhalle alle paar Minuten neue Säcke voller Abfall. Die Arbeit hier im J-Village ist ungefährlicher als am Reaktor. „Es gibt zwei Arten von Jobs“, sagt Sakuro Akimoto. „Im J-Village viele Stunden bei weniger Strahlung oder in Daiichi wenige Stunden, aber dafür bei zehnfach oder hundertfach höherer Strahlung.“ Akimoto ist hochgewachsen und drahtig, er trägt die Haare kurz und liebt lässige Jeans. Er fing vor 30 Jahren, direkt nach der Schule, bei einer Firma an, die Wartungsarbeiten für Tepco erledigt. In seinem Heimatdorf nahe dem Kraftwerk gab es kaum andere Jobs. Am 11. März arbeitete er im Werk und konnte rechtzeitig vor dem Tsunami fliehen. Sein
FOTOS: NORIKO HAYASHI / DER SPIEGEL
nicht nur körperlich, sondern auch mental“
Dorf wurde evakuiert, ein paar Wochen Firma hatte Zugangsausweise einfach an danach „bekam ich die Order hierherzu- Subunternehmer ausgeteilt, ohne die Arkommen. Egal ob es mir gefällt“. Aber beiter je persönlich zu treffen. Erst seit er habe sich auch verantwortlich gefühlt, kurzem gibt es Arbeitsausweise mit Barweil das Werk so viele Arbeitsplätze in code und Foto. Hiroyuki Watanabe ist Stadtrat in Iwadie Region gebracht habe. Im Messteam arbeiten sie nun in drei Schichten rund ki, der Stadt südlich vom J-Village. Er versucht schon seit zwei Jahren zu ermitum die Uhr. Oft sehe er Arbeiter „am Limit – nicht teln, wo Tepco seine Arbeiter anwirbt. nur körperlich, sondern auch mental“. „Die Struktur ist zwielichtig“, sagt WataDie meisten Jobs seien einfache Drecks- nabe. „Es ist erstaunlich, dass eine der arbeit. Viele seiner Kollegen bei Subun- größten Firmen Japans ein solches Geternehmen hätten keine Wahl: „Wenn die schäftsgebahren zeigt.“ Tepco jedoch hat seine Arbeiter auch Nein sagen, wo kriegen die dann noch einen anderen Job?“, fragt er. „Ich kenne früher schon auf undurchsichtige Weise keinen, der es für Japan macht. Die meis- akquiriert. Toshiro Kitamura vom Japanischen Atomindustrieforum kritisierte ten brauchen das Geld.“ Hochqualifizierte wie Sakuro Akimo- bereits 2008, dass die japanischen Stromto werden, so irgend möglich, nur ver- versorger „die meisten ihrer Wartungsgleichsweise geringen Strahlenrisiken aus- arbeiten an vielschichtige Subunternehgesetzt. Denn sie werden später noch ge- men outsourcen“. Die Bedenken des Industriefachmanns galten allerdings dem braucht. In einem internen Papier warnt die Sicherheitsrisiko: Diese Arbeiter kennen Atomkontrollbehörde Nisa, bald werde sich natürlich mit den Reaktoren nicht so es an Technikern mangeln, weil zu viele aus wie Stammkräfte. Tepco plane Summen von bis zu 1000 ihr Strahlenlimit überschritten hätten. Schon im nächsten Jahr, damit rechnet Euro pro Tag für Arbeiter ein, sagt StadtNisa, werden 1000 bis 1200 qualifizierte rat Watanabe. Bei den einfachen ArbeiFacharbeiter fehlen, „wodurch die Arbeit tern kämen davon aber oft nur rund 100 in Fukushima Daiichi und in den Kern- Euro an. „Das sind Männer, die arm oder kraftwerken im ganzen Land stark beein- alt sind, keinen festen Job haben und wenig andere Optionen, einen zu finden.“ trächtigt wird“. Die Lösung der Kontollbehörde: Höhe- Manch einer habe nicht einmal einen re Grenzwerte. Die Arbeiter sollten in- schriftlichen Arbeitsvertrag. Und wenn nerhalb weniger Jahre weitaus größeren er dann sein Strahlenlimit erreicht hat, Strahlenmengen als bisher ausgesetzt sein verliere er eben seinen Job, und die Zeitarbeitsagentur schaffe Ersatz. dürfen. Stadtrat Watanabe will sich dafür einBis Mitte August wurden 17 561 Mann im Gesundheitsministerium als Strahlen- setzen, dass alle Arbeiter anständig bearbeiter erfasst. Ihre Gesundheit soll zahlt werden. Auch für Arbeiter auf den später in einer Studie überwacht werden. untersten Stufen soll es eine GewerkSechs von ihnen wurden über das hohe schaft geben. „Wenn wir ein Problem haLimit von 250 Millisievert hinaus ver- ben, können wir nirgends hin“, sagt ein strahlt. Mehr als 400 Menschen waren junger Arbeiter, der im Restaurant Hazu mehr als den normalerweise erlaubten 50 in Iwaki-Yumoto zusammen mit sieben Kollegen zu Abend isst. Dazu gibt es Millisievert ausgesetzt. Und bei manchen Leuten weiß Tepco Bier, Sake und viele Zigaretten. Die Mänes schlicht nicht: Die Firma kann trotz ner wollen eigentlich nicht über das monatelanger Nachforschungen 88 Arbei- Werk reden und tun es dann doch. Sie ter nicht mehr finden, die von März bis erzählen von ihrer Familie und von der Juni im Kraftwerk gearbeitet haben. Die Angst vor den Strahlen und deren Folgen. D E R
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Nebenan im Waschsalon stopft der 24jährige Yutaka seine Socken und T-Shirts in die Maschine. Er trägt karierte Shorts und ein Polohemd mit dazu passendem Kragen. In seinem Pensionszimmer addiert er jeden Abend seinen aktuelle Strahlenbelastung. „Ehrlich gesagt, macht meine Frau sich schon Sorgen“, sagt er. Ans Aufhören denkt er trotzdem nicht: „Einer muss es ja machen.“ Yutaka beaufsichtigt den Pausenraum. Seine Frau ist weit weg untergebracht, seit sie evakuiert wurden. „Ich weiß nicht, ob wir je wieder zurückkehren können.“ Die Arbeiter bestimmen das Stadtbild von Iwaki-Yumoto. Die Kleinstadt am südlichen Rand der Sperrzone war für ihre heißen Quellen bekannt. Viele Touristen kamen zu den sogenannten Onsen. Jetzt gibt es keine Touristen mehr, und auch viele Einwohner sind geflohen. Die Onsen sind trotzdem vollbesetzt – mit Arbeitern. Zwischen 1000 und 2000 lebten jetzt hier, sagt ein Hotelier der Stadt. Aber bald sollen viele von ihnen umziehen in neue Container auf den Spielfeldern des J-Village. Einer der Arbeiter in Iwaki-Yumoto stammt aus dem inzwischen verlassenen Ort Tomioka in der Sperrzone, er raucht Marlboro Menthol, seine Arme und Beine sind über und über tätowiert. Tagsüber schraubt er nun vor Reaktor 4 Plastikrohre für das Dekontaminierungssystem zusammen. Das Schwerste für ihn, sagt er, sei der tägliche Weg zur Arbeit. Der Bus fährt ihn täglich zweimal an seinem Haus und auch direkt an der Kneipe vorbei, in der er früher immer Pachinko spielte, das japanische Flipperspiel. „Ich fühle mich traurig, wenn ich das alles so leer sehe.“ Er sagt, er träume davon, irgendwann dort wieder Pachinko zu spielen. Video: Im Dorf der Fukushima-Arbeiter Für Smartphone-Benutzer: Bildcode scannen, etwa mit der App „Scanlife“. 137
Wissenschaft Berger: Nicht unbedingt. Es gab Wasser, EVOLUTION
„Schattenwurf im Hirn“ B. KURZEN / VII NETWORK
Der Johannesburger Anthropologe Lee Berger über seine Entdeckung eines Wesens, das an der Schwelle zum Menschsein stand Berger, 45, forscht an der südafrikanischen University of the Witwatersrand. Mit der Entdeckung der Vormenschenart Australopithecus sediba sorgte er für Aufsehen in seinem Fach.
SPIEGEL: Herr Berger, Sie haben spektaku-
der Paläoanthropologie dar: Hirnabdruck, Becken, Fuß und Hand – und alles beispiellos gut erhalten. SPIEGEL: Es heißt, Sie hofften sogar, versteinerte Haut zu finden? Berger: Sie sagen es. Das wäre in der Tat spektakulär. Bisher können wir allerdings nur sagen, dass wir verdächtige Strukturen sehen. Ob es sich wirklich um Haut handelt, soll ein Projekt klären, das wir gerade gestartet haben. SPIEGEL: Sie gehen davon aus, dass die beiden in die Höhle gestürzt sind? Berger: Wir haben sie zusammen mit Gebeinen von Hyänen, Antilopen und Säbelzahnkatzen gefunden. Jetzt versuchen wir zu beweisen, dass all diese Tiere von Wasser angelockt worden sind. SPIEGEL: Das spricht für eine dürre Landschaft.
F OTO : B E N E D I CT E KUR Z E N / V I I N E T WO R K
läre Fossilien aus der Menschwerdungsgeschichte entdeckt – und zwar offenbar im Internet. Berger: So könnte man es sagen. Ich war vielleicht der letzte Mensch auf Erden, der Google Earth entdeckt hat. Aber dafür hat es sich richtig gelohnt. SPIEGEL: Fossilien wird auf den Satellitenbildern selbst ein Experte wie Sie nicht erspähen können. Berger: Das natürlich nicht. Aber Homo sapiens auffällige Muster im Gelände las- Heute Neandersen sich schon erkennen. Ich habe taler in einer Region nördlich von Johannesburg danach gesucht – und dabei sage und schreibe 600 bisher unbekannte Höhlen gefunden, und das in einer der bestunterHomo suchten Regionen der Welt. In ei- vor heidelbergensis ner von ihnen haben wir dann un- 1 Million Jahren sere Entdeckung gemacht. Homo SPIEGEL: Wie tief ist diese Höhle? erectus Homo Berger: Einst war sie 30 oder sogar habilis 50 Meter tief. Heute ist sie fast Homo ganz erodiert. rudolfensis SPIEGEL: Die Fossilien lagen also einfach auf dem Boden herum? Berger: Sie gucken aus dem Ge- 2 AustraloAbstammungslinie stein heraus. Wir mussten sie nur pithecus nach Lee Berger auflesen und dann präparieren. sediba Mit der Grabung selbst haben wir noch gar nicht angefangen. SPIEGEL: Sie rechnen also noch mit Australoweiteren Entdeckungen? pithecus Berger: Es handelt sich hier um eiafricanus nes der größten paläontologischen 3 Projekte der Welt. Rund 80 WisAustralosenschaftler arbeiten daran. Was pithecus wir jetzt vorgestellt haben, ist nur afarensis die Spitze des Eisbergs. Diese HöhZeittafel wichtiger Vorle wird noch Stoff für viele wissenund Urmenschenfunde schaftliche Karrieren bieten. SPIEGEL: Bisher haben Sie offenbar Australopithecus die Gebeine von zwei Individuen 4 anamensis ausgewertet. Ardipithecus Quelle: Lee Berger, Berger: Ja, und schon die stellen „National Geographic“ ramidus so etwas wie den Heiligen Gral 138
Neues Bindeglied
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und es gab doch kein Wasser. In einer solch karstigen Gegend kann das Wasser sehr schnell verschwinden, und dann sammelt es sich in solchen Höhlen. SPIEGEL: Sie haben das Hirn des einen der beiden Individuen untersucht. Was ziehen Sie daraus für Schlüsse? Berger: Wir hatten das Glück, den Schädel mit Hilfe des Synchrotrons in Grenoble studieren zu dürfen. Deshalb konnten wir das Gehirn untersuchen, obwohl ein Teil noch im Gestein eingeschlossen ist – und das mit spektakulär guter Auflösung. SPIEGEL: Und was sagt Ihnen das nun? Berger: Die Furchen und Windungen ähneln auf den ersten Blick durchaus denjenigen eines Schimpansen. Aber die Menschwerdung wirft in diesem Gehirn bereits ihre Schatten voraus. SPIEGEL: Woran machen Sie das fest? Berger: Die Proportionen verschieben sich langsam zugunsten des Frontalhirns. Und es zeigt sich auch ein gewisser Unterschied der Hemisphären – das ist ein sehr typisches Merkmal des Homo sapiens. SPIEGEL: Der Weg in Richtung moderner Mensch hatte also begonnen. Gehen Sie davon aus, dass Sie es mit einem unserer direkten Vorfahren zu tun haben? Berger: Wir haben eine Hand, die typische Merkmale des heutigen Menschen trägt. Und wir haben ein Becken und ein Gehirn, für die dasselbe gilt. Ist es da nicht naheliegend anzunehmen, dass dies der Urahn des modernen Menschen ist? SPIEGEL: Ein Problem gibt es aber schon: Unsere Gattung Homo gab es schon, als Australopithecus sediba lebte. Wie kann er dann unser Vorfahr sein? Berger: Ich bestreite, dass die bisherigen Fundstücke der Gattung Homo so alt sind. Sie werden vielerorts lesen, dass zum Beispiel die Art Homo habilis vor 1,9 Millionen oder sogar noch mehr Jahren lebte. Aber wenn Sie sich die Datierungen genau ansehen, stellen Sie fest, dass es genauso gut auch nur 1,6 Millionen Jahre sein könnten. Ebendeshalb ist die Datierung unseres Fundes so bedeutsam. Wir können sehr präzise sagen, dass diese Kreaturen vor exakt 1,977 Millionen Jahren lebten – und das sind 150 000 oder sogar 200 000 Jahre früher als die ältesten wirklich unstrittigen Homo-Funde. SPIEGEL: Noch eine Schwelle galt es auf dem Weg der Menschwerdung zu überschreiten: das Erlernen des Werkzeuggebrauchs. Wie weit war Australopithecus sediba hier vorangeschritten? Berger: Wenn Sie nur die Hand betrachten, würde kaum einer bestreiten: Die konnte Werkzeuge herstellen. SPIEGEL: Und haben Sie auch behauene Steine gefunden? Berger: Das verrate ich nicht. Ich sage nur: Die morphologischen Voraussetzungen zum Werkzeuggebrauch waren da. INTERVIEW: JOHANN GROLLE
Technik
AU TOM O B I L E
Das Strom-Phantom Die Internationale Automobil-Ausstellung in Frankfurt am Main widmet der Elektromobilität erstmals eine Messehalle. Was fehlt, sind marktreife Elektroautos. Das Tempo des Technologiewandels wurde überschätzt, der Abschied vom Benzin wird noch lange auf sich warten lassen.
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s gibt bald einen neuen Rennwagentyp. Er soll etwa so aussehen wie ein Formel-1-Auto und auch fast so schnell sein. Nur wird sein Motor nicht zu hören sein. Der Internationale Automobil-Verband Fia hat angekündigt, eine neue Formel für Rundstrecken zu entwickeln, die den Rennzirkus weltanschaulich entgiften könnte. Autos mit fast 700 PS Motorleistung sollen abgasfrei einhersausen – angetrieben von Elektromotoren. Ein solcher Öko-Grand-Prix passt bestens zur Botschaft der 64. Internationalen Automobil-Ausstellung (IAA), die an diesem Donnerstag in Frankfurt am Main eröffnet wird. Es ist die heiligste Messe der Branche, gehalten in jenem Land, wo der Urknall der Kraftfahrt einst Daimler und Benz zu Legenden machte. Die IAA soll mithin Ausblick und Orientierung geben, und selten schien der Kurs der Entwicklung so klar: Deutschland zum „Leitmarkt für Elektromobilität“ zu machen, heißt gleichermaßen das Ziel der Bundesregierung und der heimischen Wirtschaft. Um ihm näherzukommen, taten beide auch gleich etwas richtig Deutsches – sie bildeten eine gediegene Tagungsrunde. Das Gremium, vornehmlich aus Managern und Politikern gebildet, nennt sich „Nationale Plattform Elektromobilität“, amtliches Kürzel NPE. Im Präsidium sitzt ein branchenfremder Wirtschaftsveteran, der zuverlässig Optimismus verbreitet. Henning Kagermann, einst Chef des Software-Unternehmens SAP, sieht die mobile Welt vor einem „Paradigmenwechsel“. Seine Mission: Im Jahr 2020 sollen eine Million Elektroautos auf deutschen Straßen fahren. Dass Entwicklungen auf der realen Straße erheblich länger brauchen als auf der Datenautobahn, dürfte dem Computerfachmann deutlich werden, wenn er die Halle 4 der IAA betritt. Erstmals wird auf der Frankfurter Autoschau ein ganzes Areal der Elektromobilität gewidmet sein. Auf insgesamt 20 000 Quadratmetern, so Matthias Wissmann, Präsident des Verbands der Automobilindustrie, bekommt der Besucher einen „einzigartigen Überblick über diese Antriebsart“. Doch wenn etwas in der Halle sichtbar werden wird, dann der ernüchternde Entwicklungsstand einer Antriebstechnik, 140
die noch lange nicht dazu taugt, einen Massenmarkt zu erschließen. „Der Elektro-Hype ist mir unerklärlich“, sagte kürzlich ein Altmeister der Fahrzeugentwicklung im Fachmagazin „Automobil Industrie“: Fritz Indra, Honorarprofessor in Wien und früher leitender Motorenentwickler bei Opel und General Motors, sieht noch reichlich „offene Fragen“ und keine befriedigenden Antworten. Erste Elektroautos, die nicht aus Bastlerhand stammen und akzeptable CrashSicherheit bieten, haben inzwischen den Handel erreicht: Es sind meist spartanische Kleinwagen zum Preis von Mittelklasselimousinen, die es mit einer Batterieladung von Wiesbaden nach Frankfurt schaffen, mit etwas Glück bei günstiger Verkehrslage auch zurück, jedoch nicht im Winter, wenn die Reichweite (etwa
Spannungs-Feld Entwicklungsstrategien für elektrische Antriebe
Toyota setzt auf die Weiterentwicklung des Hybridantriebs, bei dem ein Elektromotor den Benzinmotor unterstützt, hin zum Plug-in-Hybrid, der auch kurze Strecken rein elektrisch fahren und an der Steckdose aufgeladen werden kann.
General Motors/Opel betreibt eine radikale Fortentwicklung des Hybridgedankens, wobei der Elektromotor allein die volle Antriebsleistung liefern kann und der Benzinmotor nur im Ausnahmefall einspringen soll.
Daimler entwickelt neben reinen Elektroautos auch Plug-in-Hybride, verfolgt aber weiterhin die Entwicklung des Brennstoffzellenantriebs, der mit Wasserstoff fahren und auch Langstrecken abgasfrei bewältigen soll.
Renault/Nissan wollte bereits in diesem Jahr mit der massenhaften Vermarktung von Elektroautos beginnen, hat die Fortschritte der Batterietechnik jedoch überschätzt und wird dieses Ziel weit verfehlen. D E R
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wegen der stromfressenden Innenraumheizung) empfindlich schrumpft. Und bleibt das Auto liegen, hilft kein Reservekanister – nur der Abschleppdienst. Wie fest muss der Mensch im Glauben einer Nationalen Plattform verankert sein, um eine Million Menschen zu sehen, die so ein Auto haben wollen? In einem Wolfsburger Büro sitzt ein heiterer Rheinländer und malt ein Fünfeck auf ein Blatt Papier. Rudolf Krebs ist promovierter Maschinenbauingenieur und gelernter Elektriker. Er feixt, dass ihn diese Kombination besonders für seine neue Aufgabe qualifiziere. Der 54-Jährige leitet die Entwicklung der elektrischen Antriebe bei Volkswagen. Der größte Autokonzern Europas wird erst 2013 ein Elektroauto verkaufen: den Kleinstwagen „Up!“, der auf der IAA bereits mit Verbrennungsmotor zu besichtigen sein wird. „Wir können gut damit leben, hier nicht die Allerersten zu sein“, sagt Krebs. „Es ist nicht sinnvoll, voreilig ein Auto in den Handel zu bringen, das keinen überzeugenden Nutzwert hat.“ Krebs schreibt an die Enden des Fünfecks fünf Begriffe: Energieinhalt, Leistung, Kosten, Sicherheit und Lebensdauer. Es sind gewissermaßen die Himmelskörper im Sternbild Elektromobilität. Der Entwickler, erklärt Krebs, sei in diesem Gebilde gefangen. Verbessert er eine der Eigenschaften, geht es sofort zu Lasten der anderen. Steigen Leistung oder Energieinhalt, sinkt die Lebensdauer. Oder eine höhere Reichweite – muss teuer bezahlt werden. Die große Herausforderung besteht im Moment darin, ein Elektroauto zu entwickeln, das in all diesen Disziplinen gerade so eben akzeptabel ist. Gut vier Jahre ist es her, seit die Fortschritte der Lithium-Akkus die Autobranche elektrisierten und die Überzeugung wuchs, dass nicht Biodiesel oder Wasserstoff das Auto der Zukunft antreiben werden, sondern Strom. Es folgten Entwicklungsprojekte, Milliardeninvestitionen, und aus der Überzeugung wird nun die Gewissheit, dass das Elektroauto tatsächlich kommen wird, aber eben nicht so schnell, wie eine Regierung dies gern festschreiben möchte. Die Hersteller der Batteriezellen bestimmen das Tempo. Im chemischen Zu-
Elektroauto-Studien von BMW, Smart und Audi: „Langstrecken können Sie vergessen“
sammenspiel zwischen dem Leichtmetall Lithium und anderen Substanzen entscheidet sich die Frage, wie schnell Automobile in der Lage sein werden, mit Batteriestrom überzeugende und bezahlbare Transportleistungen zu erbringen. Die führenden Firmen, vorwiegend in Japan
und Südkorea angesiedelt, setzen neben Lithium auf Nickel, Mangan und Kobalt. Ein solcher Akku, der eine Kilowattstunde speichert, kostet derzeit etwa 400 Euro und wiegt etwa zehn Kilogramm. Das ist schon deutlich besser als noch vor wenigen Jahren, aber noch lange nicht D E R
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gut genug. Ein Elektroauto, sagt Krebs, müsse auch unter ungünstigen Bedingungen wie Regen und Kälte oder extremer Hitze eine sichere Reichweite von mehr als 100 Kilometern haben. Dafür braucht es mindestens 25 Kilowattstunden, einen Akku also, der fünf Zentner wiegt und 10 000 Euro kostet – fast so viel wie ein kompletter Kleinwagen mit konventioneller Antriebstechnik. Nun rechnen die Entwickler noch mit einer Verdopplung der Kapazität und einer Halbierung der Produktionskosten im Laufe dieses Jahrzehnts. Doch das Elektromobil wäre auch damit noch immer nicht annähernd so günstig und flexibel wie ein konventionelles Auto. „Für den Langstreckeneinsatz“, sagt VW-Experte Krebs, „können Sie den Elektroantrieb auf absehbare Zeit vergessen.“ Eine andere Epoche mag beginnen, wenn die Batteriehersteller auf eine neue Kombination setzen: Lithium und Luft. Damit würde der Stromspeicher sich einen Vorteil des Verbrennungsmotors zu eigen machen: Die Batterien holen sich den benötigten Sauerstoff aus der Atmosphäre und sparen so Gewicht. Energiedichten von einer Kilowattstunde pro Kilogramm scheinen Forschern möglich; bei gleichem Batteriegewicht ließe sich die Reichweite auf 1000 Kilometer steigern – die Voraussetzung für ein langstreckentaugliches Elektroauto wäre erfüllt. Doch diese Technik steckt noch in der Forschungsphase. Sollten solche Akkus jemals so zuverlässig und haltbar werden, dass sie für den Einsatz im Automobil taugen, wird das Jahr 2020 längst verstrichen sein. Bis dahin bleibt das vollwertige, rein strombetriebene Auto ein Phantom. Plausible Kompromisslösungen sind Hybridantriebe – mobile Zwitterwesen, die über beide Antriebsformen verfügen. Opel entwickelte zusammen mit seinem Dachkonzern General Motors das bislang spektakulärste Exemplar dieser Gattung. Es wird als Opel Ampera im Herbst in den Handel kommen und schafft etwa 60 Kilometer elektrisch, die sich sorgenfrei ausschöpfen lassen – denn wenn der Strom zur Neige geht, springt ein Benzinmotor an. Die Logik des Konzepts überzeugt: Der Ampera kann den Großteil der täglichen Einsätze elektrisch bewältigen und hat die Autonomie eines vollwertigen Autos. Scheitern kann er aber am Preis: Der Wagen wird 42 900 Euro kosten, sehr viel für einen Opel. Das Prinzip wird auch unter prestigeträchtigeren Marken Nachahmer finden. Viele Hersteller, unter ihnen Daimler, BMW und Audi, haben bereits vergleichbare Fahrzeuge in Vorbereitung und bekunden hohen Respekt vor dem OpelVorstoß. Verwunderung weckt in der gesamten Branche dagegen die Offensive des Her141
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YEVGENY KONDAKOV / DER SPIEGEL
stellerverbunds von Renault und Nissan. Konzernchef Carlos Ghosn kündigte Anfang 2008 an, „Marktführer bei Elektroautos“ zu werden und im Jahr 2011 mit der „Massenvermarktung“ zu beginnen. In der Folge passierte allerlei Rätselhaftes. Mal feuerte Ghosn einige Spitzenmanager aufgrund von Spionagevorwürfen, die sich später als haltlos erwiesen. Dann gab es Krach um eine Batteriefabrik, die im französischen Flins entstehen sollte und nun frühestens 2014 die Produktion aufnehmen wird, zwei Jahre später als vorgesehen. Im Jahr der geplanten Großoffensive wird es nun bald Herbst, und das Einzige, was Renault zu bieten hat, ist ein poppiger Internetauftritt zum Elektrothema. Es gibt Links zu Facebook und Twitter sowie ein Filmchen, in dem ein weißbekittelter Dozentendarsteller „Vorurteile“ über Batteriekapazitäten und Reichweiten ausräumen will, dabei physikalisch falsche Begriffe verwendet („Kilowatt pro Stunde“ statt Kilowattstunden) und weissagt, der Renault Fluence Z. E. werde mit einer Batterieladung 185 Kilometer weit fahren. Das Auto, das dieses Versprechen halten soll, ist der provisorisch anmutende Umbau einer konventionellen Limousine in ein E-Mobil. Die Batterie wird vertikal hinter der Rücksitzlehne untergebracht sein und 22 Kilowattstunden Strom speichern. Zu erwarten sind Praxis-Reichweiten von bestenfalls 100 Kilometern. Renaults Beitrag zur Elektromobilität ist fürs Erste auch nur ein Auto, das wenig kann und viel kostet. Für 26 180 Euro soll der Elektro-Fluence angeboten werden – allerdings ohne Batterie. Der Akku bleibt Eigentum des Herstellers und wird dem Kunden für 79 Euro pro Monat vermietet. Den Fluence mit Verbrennungsmotor gibt es bereits für knapp 8000 Euro weniger – einschließlich Tank. Den Weg zur Massenvermarktung wird dieses Produkt nicht ebnen, und es mag tröstlich sein, dass dazu auch im Sinne der Umwelt noch gar keine Dringlichkeit besteht. Öko-Analysen haben längst belegt, dass ein Elektroauto, das aus dem aktuellen deutschen Kraftwerkmix seinen Strom bezieht, das Klima kaum weniger belastet als ein sparsames konventionelles Auto. Alles spricht dafür, den Elektroantrieb noch einige Jahrzehnte reifen zu lassen, statt einen Durchbruch herbeizupredigen, der so schnell nicht kommen kann. Auch die geplanten E-Rennen der Fia werden kaum Reklame machen für die neue Antriebsart, vielmehr deren Schwachpunkt illustrieren. Ein solcher Strom-Grand-Prix wird gut 15 Minuten dauern. Mehr schaffen die Akkus nicht. CHRISTIAN WÜST
Produktionshalle des Suchoi Superjet: Sogar aus Amerika liegen Bestellungen vor L U F T FA H R T
Fliegende Ladas Eine Unglücksserie suchte Russland heim. Der Kreml schmiedet dennoch Pläne zur Belebung der Flugzeugindustrie.
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rgendwann gingen die roten Nelken aus. Deshalb legten die Menschen Gladiolen und Chrysanthemen an die Mauer des Eishockey-Stadions von Jaroslawl. Im Innern des Gebäudes bat Präsident Dmitrij Medwedew seinen türkischen Amtskollegen Abdullah Gül und 300 weitere Ehrengäste um eine Schweigeminute. Man gedachte der 43 Toten des Absturzes einer Jak-42, darunter 26 Spieler des gefeierten Eishockeyteams Lokomotive, das in dieser Halle große Triumphe gefeiert hatte. Auch der deutsche Nationalspieler Robert Dietrich zählt zu den Opfern. Nach der Stille wandte sich der KremlChef wieder seinen Lieblingsthemen zu: dem Fortschritt des Internets in Russland und der Modernisierung seines Riesenreichs. Die trauernden Fans hätte er mit solchen Parolen kaum überzeugen können. Medwedews Modernisierung kommt für die Opfer des Absturzes zu spät. Eine Frau hatte ein Plakat an die Arenamauer geheftet, auf dem die Bürger von Jaroslawl kondoliert hatten. „Verzeiht uns“, stand da in krakeliger Schrift. Das sollte wohl zum Ausdruck bringen, dass etwas nicht stimmt im Land, das sich selbst als Weltmacht sieht, dessen Infrastruktur aber vielfach an ein Entwicklungsland erinnert. Bei acht schweren Flugzeugabstürzen kamen allein in diesem Jahr 119 Menschen ums Leben. Im gleichen Zeitraum wiesen die führenden westlichen Airlines eine crashfreie Bilanz auf. D E R
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Die Jak-42 gilt als besonders unfallträchtig. Mehr als 180 Maschinen dieses Typs wurden von 1979 bis 2002 in Saratow und Smolensk produziert. Neun verunglückten, 569 Menschen starben. Die Fluggesellschaft Jak-Service stand sogar schon auf der schwarzen Liste der europäischen Luftfahrtbehörden und durfte einige Zeit nicht mit ihren Maschinen in die EU einfliegen. Grund waren Mängel im Sicherheits- und Dokumentationswesen der Fluglinie. Fliegen in Russland, der Rohstoffsupermacht, die über die drittgrößten Devisenreserven der Welt verfügt, ist inzwischen gefährlicher als in vielen Krisenländern Afrikas. „Für eine stolze Luftfahrtnation ist das deprimierend“, sagt der Hamburger Flugsicherheitsstatistiker Jan Richter. Noch im Frühjahr hatte Präsident Medwedew eine gesunde Flugzeugindustrie zu einer „Schlüsselbedingung für die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft“ erklärt. An der Absturzstelle wütete er nun: „Natürlich soll man an die Seinen denken. Aber wenn die es nicht gebacken kriegen, müssen wir eben im Ausland Flugzeuge kaufen.“ Der leistungsstärkste Hubschrauber (Mi-12), das größte Transportflugzeug (An-225), der erste zivile Überschalljet (Tu-144) der Welt: Wie glanzvoll hatte die Branche einst dagestanden. Die Fabriken stellten mehr als 350 Zivilflugzeuge im Jahr her, allein vom Vorgänger der Jak42 wurden mehr als tausend produziert. Heute ist Russlands Anteil am Weltmarkt auf kümmerliche anderthalb Prozent geschrumpft. Obwohl der Kreml Milliarden Rubel in die vaterländische Luftfahrt pumpt, produzierte das östliche Riesenreich im vergangenen Jahr gerade einmal sieben große Passagierflugzeuge. Nun ruhen die Hoffnungen des Kreml auf einem neuen Regionalflugzeug, dem Suchoi Superjet 100. 170 Bestellungen liegen vor, darunter sogar einige aus Amerika. Die ersten drei Maschinen wurden bereits ausgeliefert.
Technik
MAXIM SHIPENKOV / DAPD
Mit dem Superjet soll die Wiedergeburt der russischen Zivilluftfahrt beginnen. Montiert wird er acht Flugstunden von Moskau entfernt unweit der chinesischen Grenze in Komsomolsk am Amur. Die graue 270 000-Einwohner-Stadt trägt ihren Namen, weil sie angeblich einst von enthusiastischen Freiwilligen des kommunistischen Jugendverbands Komsomol aus dem Boden gestampft wurde. In Wirklichkeit waren größtenteils Zwangsarbeiter am Werk. Bis 1990 war Komsomolsk eine geschlossene Stadt. Ausländer durften sie nicht besuchen und Sowjetbürger nur mit Genehmigung. Der Geist der Geheimniskrämerei hat überlebt, wohl eher aus Scham als aus Angst vor Industriespionage. In manch einer der mehr als 50 Jahre alten Hallen tropft es durchs Dach. Im Hof der Mittelschule Nr. 7 steht heute noch eine Lenin-Statue. Ortsfremde finden in den Nächten wenig Schlaf. Sie sind das Dröhnen der Kampfflugzeuge nicht gewöhnt, die im Viertelstundentakt starten und landen. Komsomolsk war einst eine Perle der Moskauer Rüstungsindustrie. Bis heute sind die SuchoiKampfflugzeuge ein Exportschlager.
Wrack der Jak-42 am 8. September
Führte schlechtes Kerosin zum Absturz?
Die Fabrik des neuen Jets liegt auf einem Gelände, das so groß ist, dass Linienbusse von Halle zu Halle fahren. Die genaue Hektarzahl gilt noch immer als Militärgeheimnis. Hier eine moderne Industrie zu erschaffen ist eine Herausforderung. Im ganzen Land fehlt es an modernen Maschinen, an Wissenschaftlern, an qualifiziertem Personal. Das Durchschnittsalter der Ingenieure in Russlands Flugzeugfabriken beträgt 56 Jahre. Vor einem Jahr machte die Flugzeugschmiede in Komsomolsk Schlagzeilen: Mehr als 70 Spezialisten hatten sich mit gekauften Diplomen eine Anstellung erschlichen. Über diesen Skandal reden die Fabrikchefs nicht gern. Lieber führen sie die Produktionsstätten vor, in denen der neue Superjet 100 gebaut wird. Roboter aus Deutschland und Frankreich pressen D E R
Aluminiumplatten. „Früher hat es eine Woche gedauert, sie in die richtige Form zu bringen, heute schaffen wir das in weniger als 20 Minuten“, sagt einer der Chefingenieure. Innenausstattung, Räder und Elektrik kommen aus den Vereinigten Staaten, das Steuerungssystem aus Deutschland, der Pilotensessel aus Großbritannien, die Triebwerke von einem russisch-französischen Joint Venture. Der neue Jet soll Exportmärkte erobern und in Russland neben den Jaks vor allem die überalterten Tu-134-Flugzeuge ersetzen. 852 der Maschinen, die der Volksmund als „fliegende Ladas“ verspottet, wurden zu Sowjetzeiten gebaut. 72 erlitten einen Totalschaden, die letzte im Juni dieses Jahres. 47 Menschen starben. Im April 2010 zerschellte eine Maschine des größeren Typs Tu-154 beim Landeanflug auf Smolensk, an Bord war der polnische Präsident. Im Dezember schoss eine Tu-154 über die Landebahn eines Moskauer Flughafens hinaus. Im Januar explodierte ein Triebwerk einer Maschine beim Rollen zum Start in der sibirischen Stadt Surgut. Und jede neue Katastrophe verfinstert die Aussichten des Superjets. „Dabei sind selbst die alten Sowjetmaschinen bei einwandfreier Wartung ein sehr zuverlässiges Fluggerät“, sagt William Voss, Präsident der Flight Safety Foundation. Und russische Piloten, die häufig unter extremen Wetterbedingungen operieren, könnten oft sogar besser fliegen als ihre westlichen Kollegen, findet der Avioniker. Dennoch ist menschliches Versagen neben schlampiger Wartung und der allzu großen Zahl kapitalschwacher ZwergFluglinien ein Hauptgrund für Russlands traurige Absturzbilanz. Als im März 1994 ein Airbus der staatlichen Fluglinie Aeroflot über Sibirien abstürzte, registrierte der Stimmenrecorder Kinderstimmen im Cockpit: „Papa, kann man an diesem Knopf drehen?“, sagt die 13-jährige Yana, die Tochter des Piloten. Seinem 15-jährigen Sohn Eldar überließ er wenig später die Steuerung. 75 Menschen starben. Im Dezember 2008 weigerte sich Glamourgirl und Putin-Freundin Xenia Sobtschak, mit einem Piloten zu fliegen, der seine Ansage für den Flug von Moskau nach New York offenkundig angetrunken ins Mikro lallte. Über die Ursachen für den Absturz der Jak-42 wurde am Freitag noch spekuliert. Die Piloten sollen die Medizinkontrolle umgangen haben, meldeten Zeitungen; womöglich seien sie nicht ganz nüchtern an den Start gegangen. Aus Kreisen der Ermittler in Jaroslawl hieß es, auch schlechtes Kerosin komme als Ursache in Frage. In Russland, der größten Ölfördernation der Welt, war es zu einem Engpass an Treibstoff gekommen.
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Szene BUCHMARKT
Osama zum Ausmalen B
ücher über die Terroranschläge vom 11. September 2001 und ihre Folgen bilden mittlerweile ein eigenes Genre – Rekonstruktionen, Analysen, Bildbände. Der Blickwinkel von Kindern, die Jahre nach den Gräueltaten geboren wurden, blieb dabei bisher weitgehend unbeachtet. Wie sollen sie verstehen, dass in diesem Frühjahr viele Amerikaner feierten, weil ein bärtiger alter Mann namens Osama Bin Laden in seiner eigenen Blutlache lag? Das Kindermalbuch „We Shall Never Forget 9/11: The Kids’ Book of Freedom“ von Wayne Bell will jetzt kleinen Amerikanern die Ereignisse spielerisch begreifbar machen. In patriotisch triefenden Sätzen und simplen Zeich- Malbuch-Illustration, -Cover nungen, die farbig ausgemalt werden können, versucht es auf 36 Seiten, die Ereignisse vom 11. Sep- kritisiert der Rat für Amerikanisch-Islamitember bis zur Tötung Bin Ladens zu erklären. Der Leser er- sche Beziehungen, eine Bürgerrechtsorganifahre, was mit Terroristen geschehe, die „unsere friedliebende, sation. Tatsächlich können Kinder das Buch wundervolle Nation bombardieren“, wirbt der Verlag. Das noch so farbig bemalen, wie sie wollen – die Buch verallgemeinere und verbreite Stereotype über Muslime, Sichtweise bleibt schwarzweiß.
„Mein Stück vom Kuchen“.
nicht mehr ganz jungen Aschenputtelfrau aus Dünkirchen, die ihren Job in einer Fabrik verliert und sich in Paris bei einem Börsenprinzen als Putzund Kinderfrau verdingt. Der Finanzhai, den Gilles Lellouche spielt, und die Proletariermutti (Karin Viard) finden auf eine Art zusammen und ins Bett, die nicht von ungefähr an „Pretty Woman“ erinnert. Schicke Kleider, blinkende Computer, kühle Möbel – Reichtum sieht hier besonders gut aus. Regisseur Klapisch schmeißt sich seinen Proletarierhelden schamlos an den Hals, tut aber auch den Bonzen nicht weh. So streut „Mein Stück vom Kuchen“, in Frankreich im Frühjahr ein Hit, den Kinozuschauern des Kapitalismus-Krisenjahrs 2011 nicht Sand, sondern Zucker in die Augen. KINOWELT
Noch exotischer als die Altherrenphantasien des französischen Kinos, in denen sich regelmäßig brünstige junge Frauen für Großväter im Strauss-Kahn-Alter die Kleider vom Leib reißen, sind nur dessen Sozialschmonzetten. Der 50-jährige RegieRoutinier Cédric Klapisch („L’auberge espagnole“) erzählt hier von einer
Viard in „Mein Stück vom Kuchen“ 144
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SENATOR
KINO IN KÜRZE
Gong in „Shanghai“
„Shanghai“ spielt im gleichen Milieu wie einst der Klassiker „Casablanca“: Er zeigt ein Vielvölkergemisch von Menschen, die sich vor dem Zweiten Weltkrieg in Sicherheit wähnen, aber immer mehr zwischen die Fronten geraten. Ein innerlich zerrissener Held (John Cusack), eine schöne, undurchschaubare Frau (Gong Li), dämmrige Straßen und verrauchte Opiumhöhlen – Regisseur Mikael Håfström bastelt sich aus dem Baukasten des Genre-Kinos eine Welt zusammen, die bis zur letzten Einstellung künstlich bleibt.
Kultur Wells, geboren 1984 in München, hat jetzt diese Story aus dem Giftschrank der Genetik wiederentdeckt und um sie herum einen faszinierenden Roman entwickelt. Es ist, trotz der irrrancis muss ohne Vater auskomwitzigen Umstände, kein Stoff aus men, sein ganzes Leben schon. Er dem Labor, sondern aus dem Leben: hat einfach keinen, und Francis’ Muteine universelle Geschichte über das ter weigert sich lange, über das Thema Erwachsenwerden, berührend und zu sprechen. Bis sie eines Tages, spannend. „Ich habe Dinge gesehen, Francis ist 17, einen Selbstmordversuch die ihr Menschen niemals glauben unternimmt. Zuvor hat sie ihrem Sohn würdet“, zitiert Francis aus seinem noch einen Brief geschrieben, die Lieblingsfilm „Blade Runner“, ein Wahrheit über seine Herkunft: Er ist Satz, der auch auf sein eigenes Leben ein Retortenkind, ein Produkt der bezu passen scheint. Der junge rüchtigten Samenbank eines Mann, bisher ein schlechter US-Millionärs. Dieser hatte Schüler ohne große Zukunft, sich zum Ziel gesetzt, besonwill nicht nur seinen Vater ders intelligente Kinder zu finden, der in Kalifornien züchten. Als Spermaspender wohnen soll; vor allem sucht sollten deshalb bevorzugt er nach dem Sinn des Lebens. Nobelpreisträger zum Einsatz Er verliebt sich in die schöne kommen. Francis ist eine Anne-May, er fährt mit ihr Fiktion, der Held von Beneund seinem Schulfreund Grodict Wells’ neuem Roman ver einmal quer durch Ameri„Fast genial“. Die noble SaBENEDICT ka, von New Jersey über Las menbank aber gab es tatsächWELLS Vegas bis nach Kalifornien lich. Mehr als 200 Kinder sind Fast genial Diogenes Verlag, und Mexiko. Natürlich ist der aus ihr hervorgegangen, bevor Zürich; Weg das Ziel, und natürlich das Unternehmen 1999, zwei 336 Seiten; Jahre nach dem Tod des Grünbraucht der Held für diese 19,90 Euro. ders Robert Klark Graham, Erkenntnis ein wenig länger geschlossen wurde. als der Leser. L I T E R AT U R
Nobles Sperma
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der wichtigsten Bankenplätze der Welt, und die Familien Medici und Strozzi waren mächtiger als heute Goldman Sachs. Um ihren Einfluss zu mehren, beauftragten die Florentiner Bankiers die besten Künstler ihrer Zeit – eine Prestigeangelegenheit, die anken sind nicht besonders beliebt bis dahin Kirche und Königshäuser für und müssen deshalb in ihr Image sich beansprucht hatten. Von Samstag investieren – eine Erkenntnis, die einidieser Woche an zeigt eine Ausstelgen Bankiers in Italien schon vor 500 lung im Palazzo Strozzi in Florenz eiJahren kam. Damals war Florenz einer nige der prächtigsten Ergebnisse dieses Mäzenatentums: „Geld und Schönheit. Bankiers, Botticelli und das Fegefeuer der Eitelkeiten“ präsentiert mehr als hundert Meisterwerke von Renaissance-Malern wie Sandro Botticelli oder Marinus van Reymerswaele (bis 22. Januar). Sie zeigen Bankiers in Heldenpose oder Geldwechsler beim Zählen von Münzen. Die Investition in Kunst hat sich in jedem Fall gelohnt: Viele der Bilder sind Reymerswaele-Werk „Der Geldwechsler und seine Frau“, 1539 heute unbezahlbar. AU S ST E L LU N GE N
Botticelli und die Banken
MUSEO NAZIONALE DEL BARGELLO, CARRAND LEGACY
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Historiker Englund: Das Leben eines Gelehrten, Kriegsreporters und Nobelpreischefs
M. MARCETIC / AG. FOCUS / DER SPIEGEL (L.); BETTMANN / CORBIS (R.)
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Berauscht und heiter in den Krieg Peter Englund, Historiker und Sprecher der Literaturnobelpreisjury, zeigt in seinem Buch über den Ersten Weltkrieg, wie aufregend Geschichtsschreibung sein kann, wenn sie von der Literatur und von den ganz normalen Menschen lernt. Von Susanne Beyer
E
s ist, sagt Peter Englund, das zweitschönste Büro Schwedens. Die Räume weiß und gold und schwedenblau, von den Ölgemälden an den Wänden blicken seine Vorgänger ernst auf ihn hinunter. Seit zwei Jahren ist Englund, 54, Ständiger Sekretär der Schwedischen Akademie und damit Sprecher der Jury, die den Literaturnobelpreis vergibt. Er sagt, dass nur der Außenminister ein Büro habe, das besser sei als seins. Man könnte denken, dass jemand, der über den wichtigsten Literaturpreis der Welt mitentscheidet, ein Vielleser und Intellektueller ist, dem schon der tägliche Gang in sein Büro in der Altstadt von Stockholm zu viel an Welterfahrung ist. 146
Doch Englund will hinein in die Welt. Dorthin, wo am ehesten zu erkennen ist, wie sie funktioniert. Dorthin, wo die härtesten Konflikte sind. Bevor Englund Ständiger Sekretär der Akademie wurde, führte er ein anderes Leben. Er war Kriegsberichterstatter. Es war sein Einblick ins Innere der Geschichte. Das erste Mal fuhr er 1991 nach Kroatien. Seine Frau war dagegen, die beiden Söhne waren noch klein. Er hat nicht auf seine Frau gehört. Als sie ihn verabschiedete, fragte sie: „Was ist, wenn du auf den Geschmack kommst?“ Im Jahr darauf fuhr er in den Bosnien-Krieg. An einem Morgen in diesem Krieg ging er mit seinem Fotografen hinaus in D E R
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den Frühling. Sie legten ihre Helme ab und die Westen, ließen sich auf einer Wiese nieder, sprachen über das Leben, die Liebe, die Frauen. Sie bemerkten den Panzer nicht, der herangerollt kam. Hinter ihren Köpfen explodierte eine Granate. „Einen solchen Knall so nah am Ohr – es war unbeschreiblich“, sagt Englund. Einen leichten Hörschaden hat er seitdem. Aber wenn Englund heute von dem Anschlag erzählt, dann vor allem von der Euphorie, die ihn damals überflutete: „Ich lebe, ich lebe, ich habe es überlebt.“ Afghanistan 2001 war noch schlimmer. Er hatte sich zu nahe an die Frontlinie begeben, begleitete nachts eine Patrouille,
Schlacht an der Westfront 1918: Krieg bedeutet Zerstörung von Zivilisation, aber auch Fortschritt beim Wiederaufbau
überall lagen Tote. Einmal ging er in einem Minenfeld verloren, sah zerfetzte Kinderkörper. Das war zu viel. Nie wieder möchte er tote Kinder sehen. Diese Woche erscheint in Deutschland ein Buch von ihm, das seine beiden Leben miteinander verknüpft, das Leben des Kriegsreporters und das des Literaturliebhabers. Es heißt „Schönheit und Schrecken“ und ist der Versuch, einen der schwierigsten Konflikte der Geschichte, den Ersten Weltkrieg, wie ein Literat zu erzählen, ganz nahe bei den Menschen im Krieg, ihnen in den Schützengraben und ins Lazarett zu folgen, ohne die Fakten zu verraten und die Phantasie zu benutzen*. Das klingt dann so: „Pollard will einem Soldaten gerade einen Sack Handgranaten geben, als der Mann plötzlich zusammenbricht. Gleichzeitig spürt Pollard, wie seine eigene rechte Hand herunterfällt und der Sack seinem Griff entgleitet. Eine Kugel hat den Mann vor ihm gerade durchbohrt, dann die Richtung geändert und ist mit der stumpfen Seite nach vorn in Pollards * Peter Englund: „Schönheit und Schrecken. Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen“. Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin; 704 Seiten; 34,95 Euro.
Das Buch endet im November 1918, da Schulter gedrungen. Das Letzte, woran er sich erinnert, ist der Gedanke, nicht sind zwei Protagonisten tot, und alle anohnmächtig werden zu dürfen: ‚Nur Mäd- deren haben sich verändert. So sehr, wie chen werden ohnmächtig.‘ Dann verliert ihre Zeit, ihre Länder, die ganze Welt. Englund ist Historiker, er hat an der er das Bewusstsein.“ Von dem Anfang 20-jährigen briti- Universität gelehrt und viel über Kriege schen Infanteristen Alfred Pollard erzählt geschrieben. Er hat ein Buch über den dieses Buch und von 18 weiteren Men- Dreißigjährigen Krieg verfasst. An dieses schen. Es ist kein geschlossenes Erzähl- Buch, das einen weiten erzählerischen system, so wie auch in diesem Krieg alles Bogen spannt und die Einzelschicksale offen war. Englund tauscht für manche ins große Ganze streut, glaubt er heute der ausländischen Ausgaben einfach Prot- nicht mehr. „Wir Historiker suchen nach agonisten aus. Und diese Protagonisten einem verborgenen Sinn, ordnen die Ersind nicht die Herrscher und die Generä- eignisse nach einer inneren Logik – schön, le, wie in der klassischen Kriegsge- wenn es diesen Sinn gibt und diese Logik, schichtsschreibung üblich, sondern ganz aber was, wenn nicht?“ Und wenn es normale Leute, deren Tagebücher, Me- dann nur die Logik des Autors ist, die die moiren und Briefe er ausgewertet hat: Vergangenheit formt? Und geht es im eine englische Krankenschwester in der Krieg überhaupt in erster Linie um Lorussischen Armee, ein Kampfflieger der gik? Oder um etwas anderes: die Euphobelgischen Luftwaffe, ein ungarischer Ka- rie der Überlebenden, den Rausch und vallerist, es sind Kinder von Arbeitern den Schrecken des Kampfes? Also hat Englund dieses neue Buch geund von Bankiers. Englund verfolgt den Weg seiner schrieben, ein riskantes, aufregendes Protagonisten durch den Krieg, gibt wie- Werk, das die Gesetze des Genres der, was sie fühlen, was sie sehen, wie sprengt. Zwar ist es in den vergangenen sie reagieren, als im Sommer 1914 der Jahrzehnten üblich geworden, die SchickKrieg ausbricht, und wie es dann weiter- sale ganz normaler Leute zu schildern, geht mit jenen, die am Anfang skeptisch „Geschichte von unten“ heißt das dann, waren, und jenen, die euphorisch gewe- aber Englund versucht in seinem Buch etwas anderes: Er legt eine Geschichte sen sind. D E R
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PAUL HANSEN (O.); PETER ENGLUND (3, U.)
von innen vor. Die Krankenschwester Im Zweiten Weltkrieg gab es auch sehr dass es die Emotionen waren: die AnspanFlorence zum Beispiel verspürt eine viel mehr Tote – 60 Millionen Tote im nung im ersten Halbjahr 1914, die sich „wilde Heiterkeit“ auf dem Weg an die Vergleich zu 15 Millionen im Ersten –, entladen will, dann der Rausch des Anund der Zweite Weltkrieg ist den heute fangs. Auch in der Fortsetzung des Kriegs: Front. Die inneren Zustände und Details, die Lebenden näher. Englund aber sieht Gefühle. Wachsende Enttäuschung, Ohner beschreibe, könne er belegen, sagt noch einen anderen Grund: Er glaubt, macht, der Verdacht, von den Mächtigen Englund und weist darauf hin, dass jene dass es leichter sei, den Zweiten Welt- missbraucht zu werden. Am Ende bricht Generation – die jungen Leute, diejeni- krieg darzustellen, es sei die bessere Ge- Wut durch, die Wut auf die Mächtigen, gen, die dem Krieg nicht entkamen – eine schichte: Gut gegen Böse. „Die Guten die in der Revolution endet und damit lesende, eine schreibende Generation ge- werden von einem Monster angegriffen, dann endlich in einer Idee: anders zusamwesen sei. Sie sei es gewohnt gewesen, sie beginnen zu kämpfen, das Monster menleben zu wollen als bisher. Die parschriftlich über sich Auskunft zu geben. gewinnt den Kampf beinahe, aber die lamentarische Demokratie setzt sich In vielen Rucksäcken, die auf die Helden stehen zusammen, bezwingen durch. Wegen des grundlegenden Schlachtfelder mitkamen, waWechsels der politischen Sysren Bücher und Schreibkladteme ist dieser Krieg für Engden. Heute, so hat Englund bei lund das wichtigste historische seinen Reisen in die Kriege beEreignis seit dem Untergang obachtet, halten die Soldaten des Römischen Reichs 476/480. ihre Eindrücke mit DigitalkaDie Demokratisierung gromeras fest – Geschichtsschreißer Teile Europas war das gute bung wird sich dadurch verErbe eines fürchterlichen Konändern. flikts. Auch das erzählt EngPeter Englund verschränkt lund indirekt über die vielen in seinem Buch die Schicksale Figuren seines Buches, dass seiner Figuren ineinander, er nämlich der Krieg viele Folgen gibt ihnen immer nur kurze hat: die Zerstörung einer ZiviAuftritte. Sie tauchen auf, verlisation und zugleich den Fortschwinden wieder und lassen schritt beim Wiederaufbau. die Leser im Ungewissen, Diese verstörende Ambivawann sie wieder da sein werlenz des Kriegs fasst Englund den. Das Buch wirkt wie ein in seinem Titel zusammen: Mosaik oder ein Gemälde des Reporter Englund im Irak: Einblick ins Innere der Geschichte „Schönheit und Schrecken“. Pointillismus, zusammengeSelbst die vernünftigen, lesetzt aus Einzelteilen, verschiebenserfahrenen Helden seines denen Tupfern. Ein Element Buches, der Mitte 40-jährige für sich genommen wäre veramerikanische Feldchirurg loren, doch gemeinsam mit Harvey Cushing etwa, können den anderen ergibt es ein Bild, sich der Doppelgesichtigkeit flirrend und schwebend. des Kriegs nicht entziehen. Leser müssen Englunds GeCushing ist angeekelt und schichte Zeit geben. Weil es doch fasziniert von der viele Personen sind, vielleicht Schlacht. Und fast alle unterauch zu viele, dauert es, bis liegen der einen großen Täusich ein Sog entwickelt. Aber schung: Die Welt scheint siwas Englund den Lesern zucher. Am Anfang ist der Krieg mutet durch die Fülle des Madeswegen für sie noch Abenterials und Personals, macht er teuer, eine Erlösung aus dem durch die Genauigkeit seiner Immergleichen. Olive King, Schilderung wieder wett. eine von Englunds Heldinnen, Englund nennt den Peruahatte den Krieg herbeigesehnt ner Mario Vargas Llosa als Vor- Protagonisten Cushing, Pollard, King: Unvergängliches Grauen und zu Gott gebetet: „Schick bild, der im vergangenen Jahr den Literaturnobelpreis bekam. In sei- das Monster, das sich schließlich selbst mir eine Trauer, um meine Seele aus diesem alles verschlingenden Dämmerschlaf nem Roman „Gespräch in der ‚Kathedra- umbringt.“ Aus dem Ersten Weltkrieg aber lasse zu erwecken.“ Als der Krieg einmal bele‘“ lieferte Vargas Llosa eine umfassende Beschreibung der peruanischen Gesell- sich keine moralische Story machen, zwar gonnen hatte, ließ sich nichts mehr zuschaft, indem er mehr als 70 Einzelschick- liege auch hier die Schuld bei den Deut- rückdrehen. Vier Jahre später blicken die sale über einen Zeitraum von 14 Jahren schen, aber zugleich auch bei vielen an- Menschen auf ein kolossales Desaster, die deren: „Die Deutschen marschieren in Imperien des alten Mitteleuropas – beschrieb. Genau das will Englund auch: Kom- Belgien ein, Frankreich in Deutschland, Deutschland, Österreich, Frankreich, plexität. Nur so könne man der Geschich- Russland in Deutschland und Russland in Großbritannien – haben Kraft verloren, te des Ersten Weltkriegs gerecht werden. Österreich-Ungarn und Österreich-Un- die Sowjetunion und die USA kommen In Deutschland, aber auch in Schweden garn in Serbien. Gute und Böse auf allen hinzu, werden später zu Supermächten. Der Erste Weltkrieg zieht den Zweiten gibt es viel mehr Bücher über den Zwei- Seiten.“ Englund weigert sich, die eine übergrei- Weltkrieg nach sich, der Zweite Weltkrieg ten Weltkrieg als über den Ersten, wohl auch, weil die Verbrechen der Deutschen fende Idee erkennen zu wollen, die zum den Kalten Krieg. Seine Helden haben Englund gelehrt, im Zweiten Weltkrieg so unfassbar wa- Ersten Weltkrieg geführt habe. Er glaubt ren, dass sie die Menschheit noch bis ans nicht, dass es die rationalen Ideen waren, nicht an die Durchsetzungsfähigkeit der Ende ihrer Existenz beschäftigen werden. die zu diesem Konflikt führten, er glaubt, Vernunft zu glauben. Und was sie ihm 148
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Kultur aus der Vergangenheit zuraunen, deckt sich mit seinen Beobachtungen heutiger Konflikte. Den Amerikanern war es möglich, ihren Angriff auf den Irak auch mit dem Verweis auf die Anschläge des 11. September zu beginnen. „War das rational? War nicht auch hier wieder ein Gefühl ausschlaggebend? Das Gefühl, endlich handeln zu wollen, irgendeinen Feind bekämpfen zu wollen, auch wenn es nur der halbwegs richtige Feind war?“ Die allzu schöne These vom „Ende der Geschichte“, die der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama im Jahr des Mauerfalls aufgestellt hat, war entstanden im Glauben an die Vernunft: Nach dem Ende der Ideologien habe die Menschheit die Chance, die Demokratie als die beste aller Staatsformen zu akzeptieren. Doch die Geschichte geht auf ihre Weise weiter. Auf Logik ist kein Verlass. Nur auf eines: Wir können uns nie sicher sein. Wir sollten uns nie sicher sein. Nicht über uns selbst und nicht über den Zustand der Welt. Eine Erklärung für all das, was im Ersten Weltkrieg passierte, ist in diesem Buch nicht zu finden. Stattdessen überlässt Englund der Literatur das Wort und stellt dem Buch ein längeres Zitat aus dem einzigen Roman von Rainer Maria Rilke voran, „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“. Für diesen Roman hatte Rilke die Form des Tagebuchs gewählt, das Romanhafte also kaschiert: „Alles, was sich an Qual und Grauen begeben hat auf den Richtplätzen, in den Folterstuben, den Tollhäusern, den Operationssälen, unter den Brückenbögen im Nachherbst: alles das ist von einer zähen Unvergänglichkeit, alles das besteht auf sich und hängt, eifersüchtig auf alles Seiende, an seiner schrecklichen Wirklichkeit. Die Menschen möchten vieles davon vergessen dürfen; ihr Schlaf feilt sanft über solche Furchen im Gehirn, aber Träume drängen ihn ab und ziehen die Zeichnungen nach.“ Das Grauen, das ist Rilkes Wahrheit, setzt sich fort, setzt sich durch. Von Rilke stammen auch die berühmten Worte, dass das Schöne „nichts als des Schrecklichen Anfang“ sei. Die Welt jedoch, in der Englund lebt und arbeitet, hat nichts von diesem Pessimismus. Stockholms Altstadt erstrahlt in schönster Pracht, sie hat ein Schloss, in dem noch heute eine königliche Familie den Staat repräsentiert. Als ob die Dinge im Laufe der Geschichte doch heil bleiben könnten. In der Auslage einer Designer-Boutique in der Altstadt hängt ein Jackett, militärisch geschnitten, fast wie für einen General. Auf den ersten Blick sieht es aus, als hingen Orden daran. Man muss nur etwas genauer hinschauen, und man erkennt kleine Skelette, tote Menschen in Miniaturformat. 150
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D ER KU SS DER MACH T FRA N K REICH S POLIT I K E R U N D DI E KU N S T DE R VE RF Ü H RU NG VON EL AI N E S CI OL I NO einen ersten baisemain, meinen ersten Handkuss, be- unbedingt ein Mann, der andere zum Beischlaf verführt. Vielkam ich im Elysée-Palast. Der Küssende war der fran- leicht besitzt er die Gabe, mit Worten zu liebkosen, Menschen zösische Präsident Jacques Chirac. Das war im Jahr mit einem Blick einzufangen – eine Art Charmeberieselung, 2002, die Bush-Regierung steuerte auf einen Krieg im Irak zu, die auf das Objekt eine geradezu magnetische Anziehungskraft und ich war gerade zur Chefin des Pariser Büros der „New ausübt. Dominique Strauss-Kahn allerdings gehört nicht zu York Times“ ernannt worden. Chirac hatte Journalisten einge- dieser Sorte Männer. Doch dazu später. laden, um ihnen eine französische Initiative zu erläutern, die In Frankreich gilt das Verführen von Frauen und der Spaß den Ausbruch des Krieges verhindern sollte. am Sex mit ihnen, egal ob in oder außerhalb der Ehe, als eine Chirac griff nach meiner rechten männliche Kernkompetenz. Kein Hand und umfasste sie, als wäre sie männlicher Politiker kann es riskieein Stück Porzellan. Er hob sie auf ren, hier als unzulänglich zu gelten. Diese Aura der Virilität und sexuelBrusthöhe, beugte sich vor, um ihr len Potenz ist mehr als nur ein Boauf halber Strecke entgegenzukomnus. Sie ist unerlässlich. Ein politisch men, und atmete ein, so als wollte aktiver Mann, der seine sexuelle er ihren Duft kosten. Lippen berührLeistungsfähigkeit erkennen lässt, ten Haut. Der Kuss war kein Akt beweist seine Gesundheit und seine der Leidenschaft. Trotzdem hatte er Vitalität: Er zeigt seinen Wählern, eine verstörende Wirkung auf mich. dass er voll und ganz, und auch körEin Teil von mir fand ihn charmant perlich, in der Verfassung ist, das und schmeichelhaft. Aber in einem Land zu führen. Zeitalter, in dem Frauen hart daran Als die Zeitschrift „Actuel“ im arbeiten, ernst genommen zu werJahr 1992 zahlreiche Politiker fragte, den, war es mir auch irgendwie unob sie jemals ihre Ehefrauen betroangenehm, dass Chirac dieser berufgen hätten, bejahten die meisten Giscard mit Prinzessin Diana 1994 lichen Begegnung eine persönliche von ihnen die Frage. „Ich werde Sie Dimension gab. Chiracs damalige nicht belügen“, antwortete ein SeSprecherin, Catherine Colonna, ernator. „In Marseille gibt es keine Gezählte mir später, dass Chirac eigentheimnisse. Ich trinke nicht. Ich raulich ganz wunderbar küssen würde, che nicht. Ich zocke niemals. Aber aber sich dabei möglicherweise nicht ich habe eine Leidenschaft, ich ganz an die Regeln halte. „Ein Handwiederhole, Leidenschaft: Ich liebe kuss“, sagte sie, „soll in der Luft Frauen. Ich bin ein ganz, ganz, ganz schweben, nie auf der Haut landen.“ großer Frauenheld.“ Um seine Ziele zu erreichen, nahm „Wer an die Macht will, muss verChirac offensichtlich einen kleinen führen. Und um an der Macht zu Regelverstoß in Kauf. bleiben, muss man beweisen, dass Dieser Kuss der Macht war eine man ‚vigoureux‘, dass man stark ist“, meiner ersten Lektionen darin, wie schreibt Jacques Georgel in seinem wichtig das Konzept der „séducBuch „Sexe et politique“. Politiker tion“, der Verführung, in Frankreich werden nicht wegen sexueller VerChirac mit Königin Rania von Jordanien 1999 ist. Und im Laufe der Zeit wurde fehlungen aus dem Amt gejagt, und mir klar, wie sehr sie alles beherrscht und bestimmt: ein Diplomat, der komplizierte politi- die Öffentlichkeit ist oft gern bereit, ihre Geheimnisse offiziell sche Dinge diskutiert, aber dennoch einen fast beunruhigend unter Verschluss zu halten. Und doch ist die Idee der Verfühintimen Blickkontakt sucht; der ältere Nachbar, dessen Um- rung allgegenwärtig, sie schwingt stets mit, im öffentlichen und gangsformen übertrieben höflich sind; die Flirtereien einer im privaten Leben. Es gehört zum nationalen Diskurs, sich Freundin, die auf Dinnerpartys zerfloss wie Honig. Irgendwann über das Privatleben von Politikern zu unterhalten. Französischen Politikern ist es erlaubt, die vielen Gelegenheiwar es so weit, dass ich das alles für ganz normal hielt, ja geraten, die ihnen ihre Macht bietet, auch zu nutzen und zu dezu erwartete. Im Englischen hat das Wort „seduce“ einen negativen und genießen. Die Geschichte ist voll von Präzedenzfällen. Französiausschließlich sexuellen Beigeschmack; im Französischen ist sche Könige hatten viele Frauen: Ehefrauen, Nebenfrauen (sogeseine Bedeutung vielschichtiger. Die Franzosen verwenden das nannte Favoritinnen) und solche Frauen, die sich nur für kurze Wort „verführen“ in Situationen, in denen Briten und Ameri- Zeit am Hofe aufhielten und bereit waren für ein flüchtiges kaner vielleicht auch „bezaubern“ oder „unterhalten“ sagen Abenteuer. Noch heute werden die königlichen Eskapaden rewürden. Verführung bedeutet in Frankreich nicht notwendi- gelmäßig in Titelgeschichten der großen Nachrichtenmagazine gerweise körperlichen Kontakt. Ein „grand séducteur“ ist nicht zum Besten gegeben, so als müssten sie in Erinnerung bleiben. ACTION PRESS
JOHN SCHULTS / REUTERS
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Diese Tradition wird weitergeführt. Edgar Faure, ein Politiker, sives. Vielleicht war es Zufall. Vielleicht ist es auch gar nicht der unter Pseudonym Krimis verfasste und Mitglied der Acadé- passiert. mie française war, pflegte zu sagen, er habe alle Zeit der Welt, Dann berührte er ihn ein zweites Mal. um seine Verführungsunternehmungen erfolgreich abzuschlieUnd Strauss-Kahn, der Mann auf dem Weg zur Präsidentßen. Als Faure in den fünfziger Jahren Präsident des Rats wurde schaft? Auch er war ein „grand séducteur“. Schon seit Jahren (de facto also Premierminister), nutzte er alle Gelegenheiten, gab es Gerüchte. Wie bei einer Art von französischem Geselldie sein Amt ihm bot. „Als ich Minister war, gab es noch Frauen, schaftsspiel zitierten sich die Journalisten und Autoren dabei die mir widerstanden“, wird er in dem Buch „Sexus politicus“ gegenseitig, um keine Verantwortung für die Geschichten übernehmen zu müssen (und um Klagen aus dem Weg zu gehen). zitiert. „Als Präsident gab es keine einzige.“ Als Valéry Giscard d’Estaing 1974 für das französische Präsi- Die Artikel enthielten genügend Details und Andeutungen, dadentenamt kandidierte, glaubte er das Geheimnis zu kennen, mit jeder Leser die richtigen Schlüsse ziehen konnte. Irgendwie, wie man Wahlen gewinnt. Er baute nicht auf ausgeklügelte so war die Meinung, musste da ja etwas dran sein, und das Meinungsumfragen oder eine straff organisierte Basis in seiner machte Strauss-Kahn zu einer lebenden Legende: So ein hochPartei oder auf brillante Redenschrei-ber. Giscard hatte eine rangiger Politiker und dennoch so viel Zeit für ein aktives Priviel einfachere Lösung: Er umwarb die Frauen. Und er tat dies vatleben? Es gab viele in Frankreich, die das bewunderten. nicht mit dem Versprechen auf Lohngleichheit oder bessere Kinderbetreuung, sondern mit dem, was die Franzosen „le reeine Frau, Anne Sinclair, eine der angesehensten Ferngard“ nennen, den Blick. Diesen Moment, wenn sich die Augen sehjournalistinnen Frankreichs, schienen die Geschichten zweier Menschen treffen und eine Verbindung entsteht. nicht weiter zu beunruhigen. Als sie 2006 gefragt wurde, Trotz Giscards „opération séduction“ wurde er 1981 nicht ob sie unter dem Ruf ihres Mannes als Verführer litt, entgegnete für eine zweite Amtszeit gewählt. Aus seiner Sicht hatten die sie: „Nein, tatsächlich bin ich ziemlich stolz! Für einen Politiker Franzosen einen Fehler gemacht, ist es wichtig zu verführen. Solange und er machte sich zur Aufgabe, ihich weiß, dass ich ihn verführe und nen zu zeigen, dass er nicht nur lieer mich verführt, reicht mir das.“ benswert, sondern richtig sexy ist. Strauss-Kahns Ruf schien auch sei1994 veröffentlichte er einen sentinen politischen Ambitionen nicht mentalen, melodramatischen Sexroweiter zu schaden. Er hatte vor, für man. „Le passage“ erzählt eine Gedie Präsidentschaftswahlen im komschichte von Jagd und Liebe, in der menden Jahr zu kandidieren, in den Charles, ein eigenbrötlerischer, pasMeinungsumfragen lag er vor dem siver Mann mittleren Alters, Natalie, Amtsinhaber Nicolas Sarkozy. Dann einer mysteriösen blonden 20-jähriwurde Strauss-Kahn in New York gen Tramperin, verfällt. wegen versuchter Vergewaltigung eiUnd selbst als Mann in den Achtnes Zimmermädchens angezeigt. zigern ließ Giscard nicht davon ab, „Séduction“ hat etwas Magisches, sein Image als sexuell potenter sie ist nie eindeutig, sie hat etwas Mann zu fördern. 2009 veröffentlichZerbrechliches, aber sie kann jederte er einen zweiten Roman, der seizeit auch ein unglückliches Ende Strauss-Kahn mit Ehefrau Sinclair 2005 ne Leser mit der Andeutung übernehmen. Sie kann zur Antithese der raschte, er selbst könnte eine LieVerführung verkommen, ich nenne besaffäre mit der britischen Prinzesdas Antiverführung. sin Diana gehabt haben. „La prinDer DSK-Skandal hat Frankreich cesse et le président“ erzählt von erschüttert, ein immer noch von der „heftigen Leidenschaft“ zwiMännern dominiertes Land, in dem schen einem französischen Staatsdie Gehälter von Frauen durchoberhaupt und einem Mitglied des schnittlich 27 Prozent unter denen britischen Königshauses namens Pader Männer liegen und wo in der Natricia. Das Buch endet damit, dass tionalversammlung nur 18 Prozent der Präsident und die Prinzessin gealler Abgeordneten weiblich sind. meinsam in die Toskana ziehen. Auf einmal ist eine ernste Diskussion „Dieses Buch“, sagte Giscard einmal, über Machtmissbrauch in Frankreich „ist natürlich eine reine Erfindung, entbrannt und auch darüber, dass es aber Diana sagte mir – ich kannte sexuelle Verhaltensweisen gibt, die sie etwas, nicht gut, nur ein wenig, strafbar sind und die nicht mehr stillSarkozy mit Ehefrau Carla Bruni 2010 aus Unterhaltungen –, sie sagte mir schweigend geduldet werden sollten. also: ‚Sie sollten schreiben, was geschehen würde, wenn sich Der Skandal hat außerdem Zweifel daran aufkommen lassen, zwischen zwei großen führenden Persönlichkeiten der Welt ob das Privatleben der Reichen, Berühmten und Mächtigen eine Liebesgeschichte entwickeln würde.‘“ wirklich tabu ist und keiner öffentlichen Prüfung ausgesetzt werden darf. In New York kam es zu keiner strafrechtlichen Anklage. In ines Morgens, nicht lange nach der Veröffentlichung dieses jüngsten Romans, besuchte ich Giscard in seinem Frankreich läuft ein weiteres Verfahren, weil eine Schriftstellerin Haus voller Antiquitäten im 16. Arrondissement in Paris. Strauss-Kahn wegen versuchter Vergewaltigung angezeigt hat. Da war er also, dieser Mann in den Achtzigern, mit faltigen Nach seiner Rückkehr in die Heimat haben sich die Franzosen Händen, schütterem Haar und Furchen im Gesicht, der es ge- in Umfragen gegen seine Rückkehr in die Politik ausgesprochen. nießt, öffentlich von einer Liebesaffäre mit einer schönen Prin- Auch für sie ist Strauss-Kahn mittlerweile ein Antiverführer. zessin zu träumen. Es hatte etwas Rührendes. Als wir uns später voneinander verabschiedeten, schien Elaine Sciolino ist Paris-Korrespondentin der „New York es so, als berührte seine Hand einen Moment lang den Times“. Ihr Buch „La Seduction. How the French Play the Hintern meiner jungen Assistentin. Es hatte nichts Aggres- Game of Life“ ist im Juni im Verlag Times Books erschienen. ALFRED / SIPA PRESS
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Der Sprengmeister
MAURICE WEISS / DER SPIEGEL
Der französische Künstler Cyprien Gaillard baut Pyramiden aus Flaschenbier und dreht im Irak mit dem iPhone einen Film. In seiner neuen Heimat Berlin gilt er längst als Star.
Künstler Gaillard: Er traut sich sogar, eine Botschaft zu haben
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CYPRIEN GAILLARD COURTESY SPRÜTH MAGERS BERLIN LONDON (L.); CYPRIEN GAILLARD COURTESY SPRÜTH MAGERS BERLIN LONDON / BUGADA & CARGNEL PARIS / LAURA BARTLETT GALLERY LONDON (M.); COURTESY KW INSTITUTE FOR CONTEMPORARY ART, PHOTO: ANNA.K.O. (R.)
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KUNST
yprien Gaillard sitzt in dieser lichten alten Fabriketage in Berlin und wirkt erst einmal nicht wie jemand, der sich für seine Kunst in Gefahr begibt. Er trägt eine schimmernde Halskette zum gestreiften Hemd, die Stoffschuhe sind rot gemustert, das dunkle Jackett hängt über dem Stuhl. Andere Hauptstadtkünstler wirken unauffälliger, abgerissener, ein wenig dreckiger womöglich, auch wenn sie nie dorthin gehen, wo es dreckig ist. Gaillard ist ein junger Mann aus Frankreich, selbstbewusst, enthusiastisch. Vor kurzem war er für zehn Tage im Irak, er ist mit einem privat angemieteten Konvoi durchs Land gefahren, weil er einen Film drehen wollte. Er hat dort, unter anderem, die großen mythischen Stätten des Altertums besucht, Babylon und auch das einstige Ur. Gaillard wollte wissen, wie es aussieht auf diesem historischen Stück Erde, nachdem das amerikanische Militär „dort jahrelang Sandsäcke aufgefüllt hat“. Der Film, der den Titel „Artefact“ trägt, ist eine Collage, keine Dokumentation, er hat etwas Unbestimmtes und Magisches, manchmal auch Gespenstisches. Acht Minuten Film sind auf dieser gefährlichen Reise in den Irak entstanden. In einer Szene schlendert ein Wächter im langen Gewand durch eine Sandgrube, fast wirkt er verloren, oben am Rand der Grube sieht man den Schattenwurf irgendwelcher Leute. Aufnahmen eines verwaisten Palastes von Saddam Hussein kommen vor, antike Felder und archäologische Scherben, ein Helikopter am Himmel, Laserstrahlen in der Nacht, eine Moschee von größenwahnsinnigen Ausmaßen und noch im Rohbau, und irgendwann, nach einem fast kitschigen Übergang, das Pergamonmuseum in Berlin mit dem originalen Stadttor aus Babylon. Aber man erkennt es kaum. Und immer wieder singt eine melancholische Stimme „Babylon“. Gaillard hat dieses eine Wort aus einem Popsong herausgeschnitten und wiederholt den Schnipsel endlos. Es ist eines jener Lieder, die Soldaten Häftlingen in Guantanamo in schmerzhafter Lautstärke vorspielten. Gaillard stammt aus Paris, lebt in Berlin. Seine Kunst handelt von einem Draußen, von einer Welt weit jenseits unserer Alltagswahrnehmung. Und im Irak, diesem alten Land, sieht für ihn vieles aus wie düstere Science-Fiction. Er traut sich sogar, eine Botschaft zu haben, obwohl das so aus der Mode gekommen war wie Männerhalsketten. Gemeint ist die Kritik daran, wie brutal wir unsere Welt gestalten, wie schnell wir bereit sind, kulturelles Erbe zu zerstören. Die Museen reißen sich um ihn. Sein Thema ist Verfall, Zerstörung, alle Arten von Ruinen, neue und alte. Es ist ein angemessen großes Thema für jemanden,
dessen Künstlerego auch nicht gerade klein ist. Gaillard spricht fließend Englisch mit französischem Akzent, er erwähnt seine „tiefe Leidenschaft für die Kunst“ und auch, dass sich seine Kunst selbst zerstört. Jedenfalls sein Irak-Film, den er mit einem iPhone aufnahm. Das Material ließ er dehnen auf altmodisch anmutendes 35-Millimeter-Format, wegen der unterschiedlichen Laufgeschwindigkeiten wackelt es. Bald wird diese Kopie blasser und blasser werden. Vergänglichkeit will Gaillard in Bilder fassen, seine Bilder sollen es auch sein. Als einer von vier Kandidaten ist er in Berlin für den Preis der Nationalgalerie nominiert, und der Film ist sein Beitrag für die dazugehörige Schau, die gerade eröffnet worden ist. Im Grunde brauchen alle vier Bewerber die Trophäe nicht mehr, die eine Förderung für herausragende junge Kunst aus der Hauptstadt sein will. Für Gaillard gilt das aber deutlich mehr als
nes Jacketts. Er hat sie gestern in Paris gemacht, dunkle Ecken in den Metrostationen, „superapokalyptisch“, sagt er, und es klingt stolz. Auch diese Sofortbilder – einst bewundertes Hightech – scheinen nicht mehr in diese Zeit zu gehören, auch sie werden irgendwann ihre Farbe verlieren. Er ordnet sie zu Bilderclustern, bei denen die Aufnahme eines zerschossenen Botschafterautos im Nahen Osten neben einer Skulptur aus New York klebt. In den vergangenen Jahren war Gaillard fast pausenlos unterwegs. Er besuchte Tschernobyl ebenso wie Belgrad oder Detroit, er reiste nach Syrien, Libyen, Kambodscha und in die Bronx. Man sieht auf den Fotos verfallene Anwesen in Baltimore, aber auch Bilder aus dem Berliner Club Berghain an einem Montagmorgen, wenn die Hallen leer und schal sind. In jeder Stadt geht er dorthin, wo sie garantiert nicht schön ist. Oft sucht er nach den Abdrücken, die die Utopien des
paar Monaten eine riesige Pyramide aus Kartons aufgebaut hat, die mit Bierflaschen gefüllt waren. 72 000 Flaschen Bier, die Besucher durften das Werk leertrinken. Man könnte von einem gewollten Bildersturm sprechen, am Ende blieb auf jeden Fall ein Haufen Müll und Gestank zurück. Wieder eine Ruine. Eine Menge YouTube-Filme wurde darüber gedreht. Dass es sich um türkisches Bier handelte, ist von Bedeutung. Der Markenname Efes bezieht sich auf den antiken Ort Ephesos, und der wurde vor langem geplündert von westlichen Archäologen: So funktioniert Kunst bei Gaillard, seine lustige Pyramide ist ein Querverweis auf unseren Umgang mit Kulturgut, gestern und auch heute. Bei ihm unterteilt sich die Geschichte in Rauschzustände einerseits und das Erkennen der ernüchternden Konsequenzen andererseits. Was genau das für eine Kunst ist, die Gaillard produziert, lässt sich bei alldem
Szenen aus Gaillard-Filmen „Artefact“ 2011, „Pruitt Igoe Falls“ 2009, Pyramide „The Recovery of Discovery“ 2011: Geschichte als Rauschzustand
für die anderen drei. Er hat in Frankfurt, Kassel, London, Tokio und Moskau und eigentlich überall ausgestellt, er hat sogar die New Yorker Kunstkritiker begeistert und ist immer noch erst 31 Jahre alt. Vom 21. September an feiert ihn auch Paris, seine Heimatstadt. Das Centre Pompidou richtet ihm als dem Träger des Marcel-Duchamp-Preises eine Einzelschau aus. Weil er einiges vorbereiten muss, sitzt er also in Moabit in dieser Halle, die einer Kunstspedition gehört. Er hat kein Atelier, aber das hier ist nicht der schlechteste Ort zum Arbeiten. Wichtige Werke der Gegenwartskunst stehen herum, verschlossen in riesigen Holzkisten. Arbeiten von Künstlern wie Richard Artschwager oder Rosemarie Trockel. Sie werden von der Galerie vertreten, die auch Gaillard unter Vertrag genommen hat. Er hockt sich mit Schwung auf eine Kiste mit Trockel-Kunst und lässt die Beine baumeln. Er ist die nächste Generation. In einer Ecke des riesigen Raums hat er auf langen Tischreihen Polaroidfotos ausgebreitet, Hunderte, vielleicht Tausende. In einer Kiste stecken noch viel mehr, zehntausend, schätzt Gaillard, ein paar weitere zieht er aus der Innentasche sei-
vergangenen Jahrhunderts in der Jetztzeit hinterlassen haben, den bröckelnden Modernismus des Ostblocks etwa, vor dem sich Gangs prügeln, und es spielt fast keine Rolle, in welcher Stadt genau sie sich blutig schlagen. Die Umgebung macht etwas mit den Menschen, das wird deutlich. Als Kind hat Gaillard sechs Jahre in Kalifornien gelebt, als Jugendlicher erkundete er mit dem Skateboard leerstehende Gebäude und U-Bahn-Tunnel in Paris, Orte, an denen sich Jugendliche herumtreiben. Er sucht Orte, die andere meiden. „Sie sind“, sagt er, „die Realität.“ Er hat auch Sprengungen fotografiert und gefilmt und verarbeitet: Aus dem Schutt eines gesprengten Häuserblocks in Glasgow ließ er einen Obelisken im antiken Stil anfertigen. Vor einem Renaissanceschloss in Frankreich hat er eine Allee mit Steinen ausgelegt, die mal ein Wohnghetto in der Nähe von Paris waren. Seine Kunst handle weniger von Menschen, sagt er, als von den Spuren der Menschheit. Die beweisen: Wir alle leben in einer absurden Welt, in der nichts zusammenpasst. In Berlin hat er unter anderem deshalb eine Fangemeinde, weil er vor ein D E R
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kaum noch fassen. Installations- und Konzeptkunst? Ready Mades? Land Art? Field Art? Kunst eines Hobby-Archäologen, der gegen das Verrinnen der Zeit arbeitet? Journalistische Kunst gar, die viele Fragen stellt, Bilder produziert und nach der großen Wahrheit sucht? Noch kosten seine Werke höchstens 50 000 Euro und nicht 500 000. Aber die wichtigen Galerien in Paris und Berlin investieren in ihn. Er ist ein kostenintensiver Künstler, so viel, wie er reist. Den Preis in Berlin, mit 50 000 Euro dotiert, braucht er vielleicht nicht, aber er hätte ihn verdient. Seine Laufbahn begann mit einem Coup. Das Studium in Lausanne beendete er mit einer Arbeit, die ein von ihm beauftragter Künstler gemalt hatte: Es waren gesichtslose Wohnblocks in idyllischer Schweizer Umgebung. Beide haben die Werke signiert, der Maler auf der Vorderseite der Leinwand, Gaillard auf der Rückseite. Die Professoren fanden die Bilder scheußlichst. Die Prüfung hat er trotzdem bestanden. An einer Wand in der Lagerhalle hängt ein Zettel, auf dem Cyprien Gaillard einen Spruch geschrieben hat: „Schönheit überwindet Zynismus“. ULRIKE KNÖFEL 155
Kultur
SPI EGEL-GESPRÄCH
„Alice, räche uns“ SPIEGEL: Frau Schwarzer, Sie haben Ihr Leben lang über die Beziehungen von Männern und Frauen geschrieben. Im Alter von 68 kommen Sie in Ihrer Autobiografie nun zum ersten Mal auf Ihr eigenes Liebesleben zu sprechen. Warum so spät? Schwarzer: Ich habe bisher nie öffentlich über meine Liebesbeziehungen gesprochen, weil ich ein tiefes Bedürfnis nach Schutz meines Privatlebens habe. Gerade Sie wissen doch, was mit Menschen passiert, die ihre Tür aufmachen, das Hemd aufreißen und ihr Leben ausplaudern: Sie werden einfach verhackstückt. SPIEGEL: Wer eine Autobiografie schreibt, kommt um gewisse Themen nicht herum. Schwarzer: Darum habe ich mich auch entschlossen, ehrlich zu sein. Mir war plötzlich nach einem Befreiungsschlag. Jeder glaubt ja zu wissen, wer Alice Schwarzer ist, da hat sich ein Klischee aufgebaut. SPIEGEL: Sie berichten offen darüber, dass Sie seit vielen Jahren in lesbischen Beziehungen leben. Sie erzählen aber auch von zwei großen Liebschaften zu Männern. Welches Geständnis war befreiender? Schwarzer: Was heißt Geständnis? Ich schulde ja niemandem Rechenschaft. Aber bei meinem Ruf ist die eigentliche Überraschung vermutlich meine Beziehungen mit Männern. Wenn man das Buch liest, sagt man wahrscheinlich: Wie bitte, Frau Schwarzer, Sie hatten zehn Jahre lang einen Lebensgefährten? SPIEGEL: Ein junger Mann aus Paris namens Bruno, den Sie im Urlaub kennenlernten. Schwarzer: Ja, 1964 in Sainte-Maxime. Er saß am Strand, allein, und las eine Studie über Karl Marx. Er hätte meinetwegen auch Micky Maus lesen können. Er war genau mein Typ, groß, dunkel, mit einem ausdrucksstarken Gesicht. SPIEGEL: Warum haben Sie ihn über all die Jahre verschwiegen? Sie sind lange als Männerhasserin denunziert worden. Schwarzer: Sicher, ich hätte leicht sagen können: Ich bin zwar Feministin, habe aber trotzdem einen Mann. Darf ich vorstellen, Bruno. Aber ich wollte mich als Feministin nicht legitimieren, ich hätte das als unter meiner Würde empfunden. Der Witz bei mir ist ja, dass mir Männer immer sehr nahe waren und ich zeit meines Lebens ein sehr vertrauensvolles Verhältnis zu ihnen hatte. Darum nehme ich sie auch so ernst. SPIEGEL: Sie hatten Schlag bei Männern?
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ALBRECHT FUCHS / DER SPIEGEL
Vor 40 Jahren machte Alice Schwarzer mit der Aktion „Wir haben abgetrieben“ die Frauenbewegung zu einer politischen Kraft. Nun erscheint der erste Teil ihrer Autobiografie. Ein Gespräch über Feminismus und Männer, Sex und Politik und ihr spätes Coming-out als Frau, die Frauen liebt.
Feministin Schwarzer, mit Freundinnen um 1975 (2. v. r.): „Das Zusammenleben mit Frauen ist Schwarzer: Kann ich nicht leugnen. SPIEGEL: Die Autorin Claire Goll hatte ih-
ren ersten Orgasmus im Alter von 76. Wie war das bei Ihnen? Schwarzer: Um mein Liebesleben brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Seit meinem 19. Lebensjahr läuft alles bestens, danke der Nachfrage. SPIEGEL: In Ihrem Buch „Der kleine Unterschied“, das Sie 1975 in Deutschland berühmt machte, heißt es über das erste Mal: „Für alle ist es ein traumatisches Erlebnis. Allen tut es weh.“ Das war bei Ihnen offensichtlich anders. Schwarzer: Ich schreibe das in Bezug auf die 17 Frauen, die ich für das Buch befragt hatte. Ich war damals selber entsetzt, wie groß das sexuelle Elend der Frauen war. Jede Zweite galt damals ja als frigide. D E R
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SPIEGEL: Das ganze Buch durchzieht ein
sehr apodiktischer Ton, und am Ende steht die Erkenntnis, dass Sexualität immer Machtausübung von Männern über Frauen bedeute. Schwarzer: Es waren auch kämpferische Zeiten. Ich habe bei der Recherche in Abgründe geguckt, die ich nicht vermutet hatte. „Der kleine Unterschied“ hat auch mich radikalisiert. Ich war bis dahin eher eine gemäßigte Feministin, weil ich persönlich mit Männern gut auskam. SPIEGEL: Am Anfang Ihres Lebens steht eine Zurückweisung. Ihre Mutter wurde ungewollt schwanger und hat Sie gleich nach der Geburt bei den Großeltern abgegeben. Wie sehr hat diese Kränkung Ihr Leben bestimmt?
Schwarzer: Ich frage mich, ehrlich gesagt,
ter gesagt: „Das verzeihe ich meinem Vater nie, dass nur meine Brüder studieren durften.“ Klarer kann man es ja nicht mitteilen. SPIEGEL: In Ihrer Familie war nicht der Mann der Täter, sondern die Frau? Schwarzer: Ja, absolut. Ich hab das meiner Großmutter auch nie verziehen. Sicher, wenn ich mich von außen als Feministin über das Leben dieser wirklich sehr eigenwilligen Frau gebeugt hätte, dann hätte ich vermutlich mit tiefem Verständnis
Schwarzer: Die Handtasche auf den Boden knallen, laut werden, wenn ich mich unverstanden fühlte. Es hat auch länger gebraucht, bis ich gemerkt habe, dass ich Menschen manchmal einschüchtere, obwohl ich das gar nicht will. Ich habe offensichtlich etwas von der Schärfe meiner Großmutter geerbt. SPIEGEL: Ihr polemisches Talent ist bis heute gefürchtet. Schwarzer: Ja? Das ist doch gut. Ich bin in meiner Familie eben nicht ausreichend
über dieses Opfer des Patriarchats geschrieben. Aber wenn man betroffen ist, sieht man die Dinge manchmal anders. In diesem Fall war ich die Leidtragende, ein kleines Mädchen, das andauernd Zank in der Bude hatte und irgendwie den Großvater beschützen musste. SPIEGEL: Aus der Familienforschung ist bekannt, dass Erwachsene die Art der Konfliktlösungen reproduzieren, die ihnen als Kinder vorgelebt wurde. Gilt das auch für Sie? Schwarzer: Wenn Sie mich das vor 20 Jahren gefragt hätten, dann hätte ich das sicherlich abgestritten. Aber über die Jahre bin ich mir selbst auf die Schliche gekommen. Auch ich konnte früher Heftigkeiten haben. Aber das ist vorbei. SPIEGEL: Was heißt Heftigkeiten?
auf artig dressiert worden. Für mich gilt wohl, was man in der Psychologie den Auftrag der Mutter nennt, nur ist es bei mir der Auftrag der Großmutter: Gehe raus in die Welt, werde selbständig, misch dich ein. Was ich ja getan habe. SPIEGEL: Sie waren 22, als Sie das erste Mal nach Paris gingen. Ab 1970 gehörten Sie zu den feministischen Pionierinnen in Frankreich. Warum eigentlich, mit Männern hatten Sie doch nur gute Erfahrungen gemacht? Schwarzer: In der Gesellschaft waren die Grenzen für die Frauen allgegenwärtig, gegen die ist ein anarchisches und stolzes Mädchen wie ich ziemlich schnell gestoßen. Wir waren einfach nicht gleich, und die Welt war zu eng für uns Frauen. Man hatte aber keine Worte dafür. Dann lasen
PRIVATBESITZ ALICE SCHWARZER
ob ich das überhaupt als Kränkung empfunden habe. Auch wenn man auf sein eigenes Leben guckt, findet man ja nicht alle Antworten. Ich wusste natürlich, da ist eine Mutter, die tauchte ab und zu auf, eine strahlende Frau, frisch geschminkt, die Sachen sagte wie: „Vorsicht, nimm mich nicht in den Arm, du verwischst mir den Lippenstift.“ Vermutlich gab es wohl doch eine Sehnsucht des kleinen Mädchens.
nicht einfacher“ SPIEGEL: Ihr Großvater übernahm alle
Mutterpflichten und zog Sie auf. Schwarzer: Bei uns gab es eine Rollenumkehr, meine Großmutter hätte rausgehört in die Welt. Sie war interessiert und sehr politisch, sie hat die Nazis gehasst. Sie hätte das Zeug zu einer Politikerin oder Menschenrechtlerin gehabt. Aber das ging damals nicht. Deshalb hat sie den ganzen Druck der frustrierten Hausfrau an ihrem Mann abgelassen. Meinem Großvater ist es schwergefallen, sich gegen sie zu wehren: Er war einfach ein zu freundlicher Mensch, einfühlsam, lustig, fürsorglich. SPIEGEL: Wie hat sich die Frustration Ihrer Großmutter geäußert? Schwarzer: Sie hat Szenen gemacht. Das kennt man ja von Frauen. Sie hat noch wenige Tage vor ihrem Tod zu ihrer Toch-
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Kultur wir Betty Friedan und Simone de Beauvoir und fanden endlich die Worte für unser bis dahin wortloses Unbehagen. SPIEGEL: Ihre erste Begegnung mit Simone de Beauvoir verlief nicht besonders glücklich, wie Sie in Ihrer Biografie schreiben. Schwarzer: Das stimmt. Jean-Paul Sartre hatte mir ein Interview zu dem damals hochaktuellen Thema der sogenannten revolutionären Gewalt zugesagt. Er empfing mich in seiner Wohnung, ein einziger Raum, viele Bücher, sein Holzschemel aus dem Elsass. Sartre hat ja lebenslang wahnsinnig bescheiden gelebt. Es war Sommer, es war heiß, ich trug eines dieser Minikleider, die damals in Mode waren. Es gibt ein Foto davon, und man sieht: Das Kleid ist ziemlich weit hochgerutscht. SPIEGEL: Noch im züchtigen Bereich? Schwarzer: Äußerst knapp. Es bedeckte gerade den Venushügel. SPIEGEL: Hat sich Sartre noch konzentrieren können? Schwarzer: Es ist ein sehr interessantes, sachliches Interview geworden, das ging schon. Sartre hatte mir eine halbe Stunde gewährt. Nach 20 Minuten drehte sich der Schlüssel in der Tür, herein kam Beauvoir, ausgerechnet. Mir blieb das Herz stehen. Ich dachte, verdammt, die hält mich für so eine blonde Mieze. Beauvoir sagte nur schneidend: „Sartre, Sie haben nicht vergessen, dass wir gleich verabredet sind?“ Wir fuhren anschließend in einem dieser kleinen Aufzüge, wie es sie in Frankreich gibt. Vier Stockwerke. Ich versuchte, irgendwie mit Madame ein Gespräch zu beginnen. Aber sie hat mich ganz kalt abfahren lassen. Als wir später Freundinnen geworden waren, habe ich ihr von unserer ersten Begegnung erzählt. Sie musste sehr lachen, konnte sich aber nicht daran erinnern, klar. SPIEGEL: Sie zitieren in Ihrer Autobiografie Simone de Beauvoir mit den Worten: „Ich hätte gern eine wirklich sehr ehrliche Bilanz meiner eigenen Sexualität gezogen. Und zwar vom feministischen Standpunkt aus.“ Was hat Beauvoir abgehalten? Schwarzer: Simone de Beauvoir war ihr Leben lang bisexuell. Natürlich war Sartre ihre zentrale Beziehung, aber sie hat daneben immer auch andere Beziehungen gehabt, auch zu Frauen. Wenn diese Ikone des Feminismus, die ohnehin schon einen wahnsinnigen Ärger am Hals hatte, diese Seite öffentlich eingestanden hätte, wäre sie erledigt gewesen. Die Verbindung von Feminismus und Lesbischsein ist ja sogar heute, in Zeiten der HomoEhe, noch heikel. SPIEGEL: Haben Sie aus dem gleichen Grund 30 Jahre lang über Ihre Beziehungen zu Frauen geschwiegen? Schwarzer: Ich habe bisher über mein ganzes Privatleben geschwiegen. Der Stoff einer Autorin wie Beauvoir ist von Anfang an das eigene Leben gewesen, und 158
zwar auf eine gewisse, und das sage ich jetzt ganz wertfrei, exhibitionistische Art und Weise. Das ist nicht meine Sache. SPIEGEL: Es gibt den berühmten Satz von 1968, wonach das Private politisch sei. Den haben auch Sie gern verwendet. Warum galt er nicht für Sie? Schwarzer: Das ist ein gewaltiges Missverständnis. Dieser Satz war nie als Aufforderung zu Geständnissen gemeint. Es ging darum, Frauen und Männern zu sagen: Was ihr als euer Privatproblem betrachtet, hat in Wahrheit gesellschaftliche Ursachen. Aber das heißt doch um Gottes willen nicht, dass man sein Privatleben öffentlich ausliefert oder gar, dass andere das Recht hätten, das zu tun. SPIEGEL: Sie waren 31 Jahre alt, als Sie nach zehn Jahren Ihren Freund für eine
hungen und Gefühle in meinem Leben leugnen, die mir bis heute sehr teuer sind. Damit kann ich also nicht dienen. SPIEGEL: Viele Frauen hätten sich gewünscht, Sie wären mit gutem Beispiel vorangegangen. Schwarzer: Das glaube ich gerne. Ich bin ja auch bereit, viel für die gemeinsame Sache zu tun. Aber ich verlüge nicht mein eigenes Leben. Und eine solche Deklaration wäre einfach eine ideologische Verbiegung meiner Biografie. Mal davon abgesehen, dass ich lange Zeit ohnehin als die Lesbe der Nation galt. SPIEGEL: Könnten Sie sich heute noch in einen Mann verlieben? Schwarzer: Warum nicht? Ich verliebe mich in Menschen, nicht in Geschlechter. Aber da ich seit langem in einer glück-
Großvater Schwarzer mit Enkelin Alice, Journalistin Schwarzer, Interviewpartner Sartre, Lebensgefährten
Frau verließen. Gehörte dieser Schritt dazu, um in der Bewegung akzeptiert zu werden? Schwarzer: Nein, das hat sich einfach ergeben. Man fängt doch nicht aus politischer Korrektheit eine Beziehung an. Es war für uns Feministinnen einfach so, dass das Tabu der Homosexualität gefallen war. Wir haben die Frauen entdeckt, auf allen Ebenen. SPIEGEL: Sie haben sich einfach verliebt? Schwarzer: Das kann ja mal passieren. SPIEGEL: Ist das Zusammenleben mit einer Frau einfacher? Schwarzer: Für mich persönlich nicht. Ich muss zugeben, dass ich mit meiner ersten Freundin mehr Probleme mit der Hausarbeit hatte, als es jemals mit Bruno der Fall war. SPIEGEL: Bis heute vermeiden Sie es dennoch, sich als lesbisch zu bezeichnen. Schwarzer: Weil ich es nicht bin. Wenn ich das sagen würde, dann würde ich BezieD E R
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lichen Beziehung bin, sehe ich keinen Handlungsbedarf. SPIEGEL: 1974 kamen Sie nach Deutschland zurück. Von Anfang an gab es Spannungen zwischen Ihnen und Vertreterinnen des deutschen Feminismus. Schwarzer: Als ich nach Berlin kam, war das für mich ein wahrer Kulturschock. Ich weiß noch, wie ich das erste Mal im Frauenzentrum saß, da hob eine Frau zwei Hände. Ich fragte, warum hebt die denn zwei Hände? Da hieß es: Meldung zur Geschäftsordnung. Bei uns in Frankreich hatte man einfach lauter geschrien als die anderen, wenn man was sagen wollte. In Deutschland ermahnte mich die Protokollführerin, sie hieß Regula: „Setz dich, du bist noch nicht dran. Außerdem weißt du immer alles besser.“ SPIEGEL: Vermutlich haben Sie sich das nicht bieten lassen. Schwarzer: Doch, wir waren schließlich eine Basisbewegung, da war das Kollektiv
Schwarzer: Das Härteste ist der Verrat aus der Nähe. Wenn irgendjemand in Honolulu oder Berlin-Mitte irgendwas schreibt, da sagt man sich: Also, na komm, geschenkt. Viel schlimmer ist, wenn es einen ganz unvorbereitet von hinten trifft. SPIEGEL: Haben Sie das erlebt? Schwarzer: Natürlich. Zum Glück nicht oft. SPIEGEL: Können Sie das konkreter machen? Schwarzer: Ungern. SPIEGEL: Plötzlich tauchen Leute, denen man vertraut hat, mit Zitaten gegen einen auf? Schwarzer: Die Versuchung ist groß, gerade bei mir. Wenn man sich von der Schwarzer distanziert, kommt man vielleicht in die Zeitung und macht sich be-
FOTOS: PRIVATBESITZ ALICE SCHWARZER
angesagt. Also schwieg ich erst mal. Als ich dann endlich drankam, war das Thema natürlich längst durch. „Ich hab mal eine Frage“, habe ich da gesagt, „wie ist es denn, wenn ich wirklich etwas besser weiß?“ Darauf antwortete Regula: „Auch dann sollst du die Klappe halten.“ Das war ein Schlüsselerlebnis. Da dachte ich, nein, Mädels, das mache ich nicht mit, ich lasse mir nicht das Denken verbieten. SPIEGEL: Wenn man sich die Fotos aus den Siebzigern ansieht, gibt es bei Ihnen eine interessante Veränderung: Statt Kontaktlinsen und Minirock tragen Sie plötzlich Eulenbrille und Sackkleider. Schwarzer: Das berühmte Schlabberkleid war von Dorothée Bis, dem damaligen In-Label in Frankreich. Aber Sie haben recht, mir ist das auch aufgefallen. Es gab
Schwarzer, Bruno*: „Der Witz bei mir ist ja, dass mir Männer immer sehr nahe waren“
sicher ein paar Jahre, in denen ich mich ein bisschen versteckt habe. Ich war dieser ganzen Anfeindungen müde. SPIEGEL: Waren Sie auch einsam? Schwarzer: Damals ja, manchmal sehr. SPIEGEL: „Manchmal frage ich mich, wie ich das überlebt habe“, schreiben Sie im Rückblick. Überleben ist ein sehr starkes Wort. Schwarzer: Es waren auch extrem harte Zeiten. Eine wie ich ist ja vogelfrei. Seit fast 40 Jahren rollen in regelmäßigen Abständen diese Angriffswellen über mich hinweg. Und wenn jemand zum Abschuss freigegeben ist, entsteht so ein ekliger Mechanismus: Alle machen mit. Aber ich bin allein. Ich habe niemanden hinter mir, keine Partei, keine Organisation, keine Firma. Ich bin ich, sonst nichts. Das ist manchmal schwer auszuhalten. SPIEGEL: Was genau? * Links: um 1943; Mitte: 1970; rechts: um 1966.
liebt. Hinzu kam früher das Problem, dass ich als „Star“ einer Bewegung galt, die das Wir über das Ich gestellt hatte. SPIEGEL: Sie schreiben Starfeministin bis heute mit Anführungszeichen. Warum? Schwarzer: Weil es ein lächerlicher Begriff ist. Ich bin ja kein Star. SPIEGEL: Sondern? Schwarzer: Ich bin Journalistin, Essayistin und Feministin. SPIEGEL: Sie sind heute sogar die beliebteste Feministin des Landes. Sie haben mit Biolek gekocht, bei Gottschalk gesessen und mit Karamellen beim Kölner Karnevalszug geworfen. Sie haben nichts ausgelassen. Schwarzer: Es kommt vor, dass ich anfange, mich zu langweilen. Ich bin ja Rheinländerin. Ab und zu muss ich dann etwas machen, was sich nicht gehört. Das Anstößigste war sicher, auch für einige meiner klugen Freundinnen, als ich plötzlich neben Sepp Maier in dem Ratespiel „Ja D E R
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oder Nein“ saß. Mich hat es amüsiert. Ich fuhr für die Aufzeichnungen nach München und wohnte im Vier Jahreszeiten. Der Portier sagte zu mir: „Gnädige Frau, mal wieder im Haus.“ Herrliches Leben. SPIEGEL: War es schön, mal vorbehaltlos gemocht zu werden? Schwarzer: Dieses Gefühl kenne ich schon länger. Es gab von Anbeginn, neben allen Anfeindungen, auch viel Zuneigung. Übrigens immer auch von einer Minderheit von Männern, und die werden mit der Zeit sogar immer mehr. SPIEGEL: Wie eitel sind Sie? Schwarzer: Ich weiß nicht, was eitel ist. Ich freue mich über Erfolge, aber ich mache nichts, um zu gefallen. SPIEGEL: Ist womöglich das Gegenteil richtig: Sie genießen es, wenn man sich über Sie aufregt? Schwarzer: Da ist was dran. Wenn mich jemand anmacht, gibt mir das einen Adrenalinstoß. Da erfüllt sich wieder der Auftrag der Großmutter: Alice, räche uns. Angriffe unter die Gürtellinie bringen mich in Stimmung. Gerade denke ich: lange nicht mehr mit einem oder einer angelegt. SPIEGEL: Das kann man so nicht sagen. Vor kurzem erst haben Sie sich über Charlotte Roche hergemacht. Schwarzer: Nachdem ich die Ehre habe, als feministischer Racheengel durch ihren ganzen Roman zu schweben, habe ich mir erlaubt zu antworten. Was uns hier im Namen eines sogenannten neuen Feminismus als verwegen und sündig verkauft wird, ist in Wahrheit ziemlich spießig und arm. Wir haben es in dem Buch mit einer verstörten Frau zu tun, die um jeden Preis versucht, ihr kleines Glück zu zimmern. Das hatten wir doch schon mal. SPIEGEL: Liegt Ihr Problem mit dem Buch womöglich darin, dass Sie als eine Figur von gestern dargestellt werden? Schwarzer: Den Eindruck hatte ich gar nicht, ich bin darin ja allgegenwärtig. SPIEGEL: Sie sind in „Schoßgebete“ die Spaßverderberin. Immer wenn es um das Ausleben von Sexphantasien geht, schauen Sie der Protagonistin missbilligend über die Schulter. Schwarzer: Der Ehemann verstößt gegen Papas Katholizismus, die Ehefrau sündigt wider Mamas Feminismus. Wenn man’s braucht, meinetwegen. SPIEGEL: Ist das nicht der Spaß am Sex? Schwarzer: Ich muss nicht sündigen, mir kann es auch so Spaß machen. SPIEGEL: Im „Kleinen Unterschied“ war Ihr Grundgedanke, dass sich das Machtgefälle zwischen Mann und Frau in der Sexualität widerspiegelt. Deshalb ist die Frage der Sexualpraktiken für den Feminismus so bedeutend. Wie sieht feministisch korrekter Sex aus? Schwarzer: Feministisch korrekten Sex stelle ich mir total abtörnend vor. Schließ159
PRIVATBESITZ ALICE SCHWARZER (L.); ALBRECHT FUCHS / DER SPIEGEL (R.)
Kultur
Frauenrechtlerin Schwarzer (hinten)*, Autorin Roche: „Die sexuelle Befreiung ist von Feministinnen angezettelt worden“
lich ist die sexuelle Befreiung von Feministinnen wie mir angezettelt worden. Es ist nicht ohne Komik, dass nun ausgerechnet ich die Zuchtmeisterin sein soll. SPIEGEL: Ein Blowjob geht aus Ihrer Sicht in Ordnung? Schwarzer: Von mir aus können Sie sich nackt an den Kronleuchter hängen. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau ist eine Frage von gesellschaftlichen Stellungen, nicht von körperlichen. SPIEGEL: Dann hat sich seit dem „Kleinen Unterschied“ ja einiges verändert, und die Heldin in „Schoßgebete“ braucht gar kein schlechtes Gewissen zu haben. Schwarzer: Zwingen Sie mich bitte nicht, mehr darüber zu sagen. Die Emanzipation ist noch nicht so weit vorgeschritten, dass zwei Frauen sich öffentlich kontrovers auseinandersetzen können, ohne dass dies gleich als Hennenkampf etikettiert wird. SPIEGEL: Sie waren mal befreundet. Schwarzer: Charlotte sagt, wir waren nicht befreundet. Das ist ihr gutes Recht. Ich muss nicht gegen Charlottes Willen mit Charlotte befreundet gewesen sein. Lassen Sie es mich so sagen: Wir hatten einen freundschaftlichen Kontakt. SPIEGEL: Wann kam der Bruch? Schwarzer: Das brach irgendwann ab. SPIEGEL: Frau Roche sagt, dass sie über Ihr Engagement für „Bild“ schockiert gewesen sei.
Schwarzer: Wie lächerlich. SPIEGEL: Warum haben Sie Werbung für
die „Bild“ gemacht?
ALBRECHT FUCHS / DER SPIEGEL
Schwarzer: Im Gegensatz zu vielen ande-
Schwarzer beim SPIEGEL-Gespräch*
„Zwingen Sie mich nicht, mehr zu sagen“ 160
ren Menschen habe ich keine Werbung gemacht. Ich habe mein Foto für eine Imagekampagne zur Verfügung gestellt. SPIEGEL: Der Unterschied ist von außen schwer zu erkennen. Schwarzer: Tatsächlich? Es scheint immer noch Menschen zu geben, für die sich die Welt in Gut und Böse unterteilt: „Bild“ böse, SPIEGEL gut. Aber wenn ich Ihnen eine Liste der abgefeimtesten, hinterfotzigsten Medien in Bezug auf mich und den Feminismus aufstellen müsste, wären Sie überrascht. Sie würde von sehr feinen Medien angeführt, mit Sitz im Norden und Süden der Republik. SPIEGEL: Sie haben für „Bild“ den Kachelmann-Prozess kommentiert. Die Schuld des Mannes stand für Sie von vornherein fest. Sind Frauen für Sie automatisch immer Opfer? Schwarzer: Keineswegs, wie schon die Geschichte mit meiner Großmutter zeigt. Für einige andere Journalistinnen stand bereits vor Beginn des Prozesses fest, dass die Ex-Freundin lügt, um sich zu rächen. Darum bin ich eingestiegen und habe gegengehalten. Aber ich habe nicht behauptet, Kachelmann sei schuldig. Ich habe nur geschrieben: Es könnte ja auch sein, dass die Frau die Wahrheit sagt. SPIEGEL: Können Sie den Freispruch akzeptieren? Schwarzer: Selbstverständlich. Außerdem ist Kachelmann ja nicht aus erwiesener Unschuld freigesprochen worden, sondern weil es Restzweifel an seiner Schuld gab. SPIEGEL: Sie werden im nächsten Jahr 70. Sie leiten seit über 30 Jahren die „Emma“, weit und breit ist keine Nachfolgerin in Sicht. Woran liegt das? * Oben: Für einen Beitrag zum Paragrafen 218, der in „Panorama“ gezeigt werden sollte, ließ Schwarzer 1974 eine illegale Abtreibung in einer Wohnung in Berlin filmen; unten: mit den Redakteuren Jan Fleischhauer und Claudia Voigt in Schwarzers Kölner Büro. D E R
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Schwarzer: Worauf wollen Sie hinaus? SPIEGEL: Sie können nicht loslassen. Schwarzer: Was soll ich denn loslassen?
Ich bin die Verlegerin der „Emma“, mir gehört der Laden. Meinen Sie, ich bin wild darauf, noch im 34. Jahr Konferenzen zu leiten und Manuskripte zu redigieren? Ich suche schon lange nach einer Chefredakteurin. SPIEGEL: Dass es keine fähigen Frauen für Führungspositionen gebe, ist ein typisches Männerargument. Schwarzer: Es gibt etliche sehr tüchtige Kolleginnen, denen der Job regelrecht nachgetragen wurde und die das am Ende dann lieber doch nicht gemacht haben. Ich glaube, dass es Frauen oft auch Angst macht, an der Spitze eines solchen Blattes zu stehen. Wenn Sie „Emma“ leiten, sind Sie politisch sehr stark exponiert. Das muss man aushalten können. SPIEGEL: Vielleicht sind Sie zu dominant? Schwarzer: Zu dominant, um eine Chefredakteurin in meinem Verlag anzustellen? Hinter diesem ganzen Gerede steckt doch in Wahrheit etwas anderes: der Neid einiger mitteljunger Frauen auf meine Position. Ich nutze die gute Gelegenheit, im SPIEGEL endlich einmal klarzustellen: Ich bin nicht gewählt wie die Kanzlerin und auch nicht die Vorsitzende der Frauenbewegung. Ich kann nur alle Frauen, die eine ähnliche Rolle in der Öffentlichkeit spielen wollen, ermuntern, es ganz einfach zu tun. Wenn die Schwarzer mal nicht mehr sein sollte, weil sie sich nach Frankreich verdrückt hat oder in den Rhein gefallen ist – ja, dann bleibt ihr Stuhl leer. Das ist nämlich der Stuhl von Alice. SPIEGEL: Frau Schwarzer, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. Video: Claudia Voigt und Jan Fleischhauer über das Interview mit Alice Schwarzer Für Smartphone-Benutzer: Code scannen, z. B. mit App „Scanlife“.
Puzzle des Untergangs Buchkritik: Edmund de Waal erzählt in „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ das Schicksal seiner jüdischen Familie.
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DANIEL LYNCH / DAVID LYNCH / EYEVINE / PICTURE PRESS (L.); EDMUND DE WAAL (R.)
s fängt winzig an. Edmund de Waal ren, ihre Haltungen und kulturellen Vor- spielen dürfen, während ihre Mutter die hält eine aus Kastanienholz ge- lieben. In Paris befasst er sich mit impres- Abendroben anprobiert. In Wien wird die Stimmung gegenüber schnitzte Mispel, eine Rosenfrucht, sionistischer Malerei, in Wien liest er in seinen Händen. So klein, dass sie „zwi- Bücher Arthur Schnitzlers oder hört die den Weizenkönigen immer rauer. Als schen Schlüsseln und Wechselgeld bei- Musik von Gustav Mahler. Wie in einem Schmarotzer, die unlautere Geschäfte benahe verschwindet.“ Netsuke wurden Puzzle setzt er die Geschichte seiner Fa- treiben, stellt man sie hin. Beklemmend schildert de Waal den diese Schmuckstücke genannt, mit denen milie zusammen. Die erste Station ist Paris. Hier lebte Niedergang seiner Familie, die 1938 von japanische Damen einst ihren Kimono Charles Ephrussi, ein Dandy, der angeb- den Nazis enteignet wird. Was passiert zierten. Nun ist die Mispel zusammen mit 263 lich Marcel Proust als Vorbild für seine mit den Netsuke? Sie werden von Anna, anderen Netsuke im Besitz de Waals, ein Romanfigur Charles Swann gedient ha- einem Dienstmädchen, gerettet. Als die Erbstück, weitergereicht über vier Gene- ben soll. Anstatt sich den täglichen Bank- Ephrussis vor dem NS-Regime fliehen, rationen. Ein Sammelsurium aus Holz geschäften zu widmen, sammelt Charles bewahrt sie die Figuren in ihrer Matratze oder Elfenbein, filigran geschnitzte lieber Kunst. Als in Paris diese kleinen auf. „Während Anna auf ihnen schläft, werden die Netsuke mit Miniaturen, so groß wie mehr Respekt behandelt ein Knopf, die Pflanzen, als jemals zuvor“, schreibt Schlangen, Ratten, nackte de Waal. Frauen, Hasen und Kröten Nach dem Zweiten darstellen. Wesen aus einer Weltkrieg übergibt Anna anderen Welt, Relikte eidie Sammlung an Elisaner Dynastie, an denen beth, der emanzipierten entlang der Brite Edmund Tochter von Viktor und de Waal, 47, die GeschichEmmy. Sie bewahrt die te seiner jüdischen GroßFiguren in Tunbridge bürgerfamilie erzählt. Wells auf, einer KleinUnd am Ende wird aus stadt in der Nähe Londem Kleinen, Winzigen etdons. Die Ephrussis finwas ganz Großes: ein Buch den nun als Familie nicht über die Geschichte Asiens mehr zusammen, sie sind und Europas, die Dekaversprengt über die ganze denz des Bürgertums, den Welt. Antisemitismus der verganBei Elisabeth bleiben genen beiden Jahrhunderdie Netsuke nur sehr kurz, te, die Kunst des Impresschon 1947 nimmt Ignaz, sionismus, auch über Lieihr Bruder, die Figuren be, Angst und Verlust, und Autor de Waal, Vorfahren Viktor und Emmy Ephrussi 1938 mit sich nach Tokio, wo er vor allem beschreibt de als Getreidehändler ein Waal in seinem Buch „Der neues Leben beginnt. Hase mit den BernsteinIn einer beleuchteten Glasvitrine dort augen“ den Niedergang dieser, seiner Figuren aus Japan gerade en vogue sind, wird 1871 aus Yokohama eine Netsuke- in ihrer alten Heimat verlieren die FiguFamilie. Rois du blé, Weizenkönige, nannte Sammlung eingeschifft. Für Charles ren ihre Exotik, die ihnen in Europa stets man die Ephrussis im 19. Jahrhundert. Sie und seine Geliebte Louise haben diese anhaftete. Jetzt stehen sie wie selbstverhatten es mit Getreidehandel in Odessa exotischen Schnitzereien etwas von ei- ständlich neben goldenen Wandschirmen zu Reichtum gebracht, die Söhne zogen nem Fetisch, den sie begierig berühren und japanischen Schriftrollen. Doch Ignaz aus in die europäischen Metropolen und und streicheln. „Beide sind sie schwel- nimmt sie regelmäßig vorsichtig von den investierten in Bauprojekte. Aus einem gerisch und kapriziös, von jähen Be- Regalen, um sie zu entstauben und damit Handelshaus machten sie ein Finanz- gierden getrieben“, schreibt de Waal in die Geschichte der Familie lebendig zu unternehmen, und wie die Rothschilds seinem Buch. „Was sie sammeln, sind erhalten. Hier berührt in den neunziger Jahren lebten sie in Palästen und verkehrten in Objekte, die man mit der Hand entdeauch sein Großneffe Edmund de Waal, cken kann.“ höchsten Kreisen. Ganz anders ist das bei Viktor, der die der dank eines Stipendiums für ein Jahr Von all dem Glanz ist nicht mehr viel übrig. De Waal selbst ist ein in Großbri- Familiengeschäfte in Wien vertritt und in Tokio lebt, erstmals diese kleinen tannien erfolgreicher Künstler, der mit die Figuren erbt. In seinem Palais steht Schmuckstücke, die so viel erzählen von Porzellan arbeitet. Er machte sich auf die die Glasvitrine nicht mehr im Salon, son- dem Reichtum und der Pracht seiner FaSuche nach seinen Wurzeln, besuchte die dern versteckt im Ankleidezimmer von milie als auch von ihrem Niedergang. Wenig später stirbt sein Großonkel Städte seiner Vorfahren, Paris, Wien, To- Emmy – der Hausherrin, die ihren Ehekio, Odessa und fand ihre alten Häuser. mann nie wirklich liebte. Die Netsuke Ignaz. Nun gehören sie Edmund. Er versuchte ihre Leben zu rekonstruie- sind jetzt Nippes, mit dem die Kinder JOHAN DEHOUST D E R
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Medien
Trends AC T I O N -T V
Hermann Joha, 51, Produzent der RTL-Reihe „Alarm für Cobra 11“, über den seit 15 Jahren andauernden Erfolg seiner Autobahnpolizei-Serie SPIEGEL: Zu Beginn jeder Folge fliegt oft ein Auto in die Luft, am Ende wird der Täter nach wilder Verfolgungsjagd gefasst. Wäre nicht zum 15-Jahr-Jubiläum mal eine Überraschung fällig? Joha: So einfach funktioniert ActionFernsehen doch gar nicht. Es braucht hochemotionale Momente und extrem sympathische Charaktere neben unseren Stunts. SPIEGEL: Mit der Zerstörungswut allein ist es also nicht getan? Joha: Wir sind jetzt in einer anderen Fernsehepoche. Die Zuschauer wollen die Serienfiguren besser kennenler-
BRIGHTLIGHT PICTURES / KOBAL COLLECTION
HORST GALUSCHKA / DPA
„Auf dem Niveau von Winnetou“
Schweiger
T V- K R I M I S
Pläne für „Tatort“ mit Schweiger T
RTL
il Schweiger ist als neuer „Tatort“-Kommissar im Gespräch. Aus dem Umfeld des NDR heißt es, man erwäge, die Rolle des Hamburger Ermittlers mit dem 47-Jährigen Schauspieler und Regisseur („Keinohrhasen“, „Kokowääh“) zu besetzen. Anfang des Jahres war bekannt geworden, dass Mehmet Kurtulus, der seit 2008 an der Elbe auf Verbrecherjagd geht, die Reihe verlässt. Der von ihm gespielte verdeckte Ermittler Cenk Batu war von der Kritik hoch gelobt worden, die Quoten jedoch blieben mau. Schweiger hatte in den neunziger Jahren in der ARD-Krimireihe „Die Kommissarin“ einen Polizisten gespielt. Der „Tatort“ wurde bisher von der NDR-Tochter Studio Hamburg produziert – das könnte sich bei einer Entscheidung für Schweiger ändern: Der Schauspieler wird von Fred Kogel beraten; der frühere Sat.1-Chef und jetzige Geschäftspartner von Harald Schmidt sitzt im Aufsichtsrat der Constantin Film, die diverse Produktionsfirmen unterhält, darunter auch ein Gemeinschaftsunternehmen mit Studio Hamburg. Offiziell will der NDR sich nicht zu der Personalie äußern.
Szene aus „Alarm für Cobra 11“
SOZIALE NETZWERKE
Aigner fordert Facebook-freie Regierung
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erbraucherschutzministerin Ilse Aigner (CSU) fordert ihre Kabinettskollegen zum Facebook-Verzicht auf. „Nach eingehender rechtlicher Prüfung halte ich es für unabdingbar sicherzustellen, dass der Facebook-Button auf regierungsamtlichen Internetseiten in unserer jeweiligen Verantwortung nicht verwendet wird“, heißt es in einem Brief von Aigner, der Ende vergangener Woche an alle Bundesministerien versendet wurde. Auch auf „Fanpages“ für Ministerien solle „angesichts begründeter rechtlicher Zweifel“ verzichtet werden. Ob ein Abgeordneter eine „Fanpage“ unterhalte, sei seine persönliche Entscheidung, so Aigner. Die Grundproble- Aigner D E R
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matik sei allerdings dieselbe. Sie selbst sei vor einem Jahr bei Facebook ausgetreten. Ihr Ministerium unterhalte „konsequenterweise“ weder eine „Fanpage“, noch verwende es den „Gefällt mir“-Button. Sowohl Regierungsressorts als auch Parlamentarier sollten mit „gutem Beispiel vorangehen und dem Schutz persönlicher Daten einen hohen Stellenwert einräumen“. Facebook habe sich an deutsches und europäisches Recht zu halten, so Aigner. Hintergrund: Datenschützer halten die Verwendung von Facebook-„Fanpages“ und des „Gefällt mir“-Buttons für einen Verstoß gegen deutsches und europäisches Recht. FRANK OSSENBRINK
nen. Wir haben Handlungsstränge eingebaut, die sich über mehrere Folgen erstrecken. Unsere Ermittler heiraten, bekommen Kinder, haben Auseinandersetzungen in ihren Teams. Da ist ganz viel Gefühl im Spiel. SPIEGEL: Wie viele Autos haben Sie eigentlich seit Beginn der Serie explodieren lassen? Joha: In den 15 Jahren, in denen ich das jetzt mache, haben wir bestimmt 4000 Autos zerlegt. Und selbst Dutzende von Hubschraubern haben wir in die Luft gejagt. SPIEGEL: Müssen die Stunts heute brutaler sein als früher? Joha: Nein, ich finde uns sogar absolut harmlos. Bei dem Pilotfilm zur jüngsten Staffel haben wir die Hälfte der Szenen wieder rausstreichen müssen. Wir arbeiten heute ja sogar mit dem Jugendschutz zusammen. Mancher „Tatort“ ist brutaler. Wir sind eher auf dem Niveau der „Winnetou“-Filme, zumal unsere Crashs eher Comic sind.
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Medien
ETHIK
Marketing für einen Mörder Seit dem Amoklauf von Utøya diskutiert Norwegen über die Rolle der Medien. Es geht um Fragen, die auch den anstehenden Prozess betreffen: Wie viel Aufmerksamkeit soll der Täter bekommen? Und was darf den Überlebenden zugemutet werden?
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r hatte die Zeitung im Vorbeigehen gekauft, ohne darüber nachzudenken, dass sie ihm weh tun könnte. Und dann, sagt Simen Brænden Mortensen, „war da plötzlich dieses Bild“. Es zeigte den Massenmörder Anders Behring Breivik, die Arme gebeugt, als hielte er ein Gewehr. Im Gesicht trägt er ein kaltes, überhebliches Lächeln. „Mir ist übel geworden“, sagt Mortensen, „ich hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen.“ Das Bild zu zeigen hält er für unverantwortlich. „Viele von uns Überlebenden sind zusammengebrochen, als sie das Foto sahen.“ Mortensen, 22, der an jenem 22. Juli den Zugang zur Fähre nach Utøya kontrollierte, hatte Breivik passieren lassen. Dieser hatte sich als Polizist ausgegeben und trug ein Gewehr. Die Aufnahme, von der er spricht, stammt von der Begehung der Insel nahe Oslo, es war Breiviks Rückkehr zum Tatort, angeordnet von der norwegischen Polizei. Die größte Boulevardzeitung des Landes, „Verdens Gang“ („VG“), veröffentlichte das Foto und stieß damit Hinterbliebene und Überlebende vor den Kopf. Mortensen klagt: „Aufmerksamkeit ist das, was er wollte. Die bekommt er immer wieder. Das ist bitter.“ Die bizarren Bilder gingen um die Welt: Breivik, der mit einer Leine gebändigte Massenmörder, stolziert über jenen idyllischen Ort, an dem er 69 Menschen niedergemäht hat. Die Veröffentlichung entfachte eine leidenschaftliche Debatte um die Rolle der Medien in jener Tragödie. Es geht darum, wie weit die Dokumentationspflicht der Presse reicht, wie groß das Forum für einen Mörder sein darf und wie viel Rücksicht die Medien auf Überlebende und Hinterbliebene nehmen müssen. Schon beginnt die Diskussion darüber, ob es statthaft wäre, nach dem Prozess Interviews mit Breivik zu führen. Anfragen aus dem In- und Ausland sind bei seinem Anwalt längst eingegangen. 164
Mittlerweile hat sich der Opferverbund von Utøya mit einem Appell an die Medien gewandt. „Zeigt ihn nicht auf den Titelseiten“, fordert Tove Selbekk, CoVorsitzende des Vereins und Mutter einer Überlebenden. „Wir können nicht in den Supermarkt gehen, ohne zu fürchten, in sein Gesicht sehen zu müssen.“ Mehr als 20 Beschwerden wegen der Bilder von der Tatortbegehung sind beim norwegischen Presserat eingegangen; es dürften noch mehr werden. Magnus Håkonsen, 18, war der Erste, der sich an den Presserat wandte. Er hatte Breivik mehrmals ins Gesicht geschaut, bevor er ins Wasser sprang und sich unter einem Felsüberhang verstecken konnte. „Ich versuche, diesen Menschen aus meinem Kopf herauszubekommen“, sagt er. „Bilder wie diese sind da wenig hilfreich.“ Am Anfang drehte er im Supermarkt die Zeitungen um, wenn er ein Bild von Breivik sah. „Das habe ich aufgegeben.“ Breivik selbst hat das ethische Dilemma für die Journalisten noch verschärft. Das Diplomatenkind aus der Mittelschicht behauptet in seinem 1500-seitigen Manifest, das er Stunden vor der Tat im Internet verbreitete, ihm sei es „um Marketing“ gegangen: für sein Werk und sein Anliegen, die Norweger vor einer islamistischen Machtübernahme zu warnen. Das Bild des Täters, wie er zufrieden grinsend vom Termin beim Haftrichter zurück zum Gefängnis gefahren wurde, hat sich schmerzlich ins Bewusstsein des Fünf-Millionen-Volks eingebrannt. Viele Norweger aber haben genug von der Berichterstattung über Breivik. „Wir bekommen eine Menge Mails und Briefe von Zuschauern, die am liebsten nichts mehr von dieser Person hören wollen“, sagt Per Arne Kalbakk, Programmdirektor beim öffentlich-rechtlichen Sender NRK. Soll man Breivik also besser totschweigen, wegstreichen aus der Öffentlichkeit? Studien belegen, wie die Berichterstattung mögliche Nachahmer ermuntern kann. Insel Utøya, wartende Fotografen vor dem Gericht D E R
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JONATHAN NACKSTRAND / AFP (O.); CHRISTOPHER OLSS/ LAIF (U.)
in Oslo im Juli: Schmerzlich ins Bewusstsein eingebrannt D E R
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Wenn sich Massenmorde wie jene an der Columbine High School 1999 oder am Erfurter Gutenberg-Gymnasium 2002 jähren, gibt es oft Nachahmerhandlungen. Tim K., der 17 Jahre alte Amokläufer aus dem württembergischen Winnenden, hatte sich im Internet über beide Massaker informiert, bevor er 15 Menschen erschoss. Wie alle großen Medien berichtete auch der SPIEGEL über diese Verbrechen ausführlich. Die Redaktion ist davon überzeugt, dass die Öffentlichkeit Informationen über die Biografie solcher Täter braucht, um das kaum Begreifbare begreifen zu können. Doch bei Angehörigen der Opfer und Lesern stieß die Titelgeschichte über Winnenden auf Kritik. Ihnen missfiel besonders, dass der Täter Tim K. auf dem Cover abgebildet war. Bei Anders Behring Breivik wählte der SPIEGEL für den Titel ein Konterfei aus, auf dem der Attentäter nur schemenhaft zu sehen war, was ebenfalls von Lesern kritisiert wurde. „Die Medien haben aus Winnenden nichts gelernt“, kritisiert indes Gisela Mayer, die Sprecherin des Aktionsbündnisses Winnenden, die bei dem Amoklauf vor zwei Jahren ihre Tochter verlor. „Sie haben die toten Körper abgelichtet, und sie haben den Täter in Schusspose gezeigt. Diese Bilder wirken stark.“ Der Fall Breivik sei anders gelagert, gibt dagegen Sven Egil Omdal zu Bedenke, Norwegens bekanntester Medienkritiker. „Die Täter von Columbine, Erfurt und Winnenden haben aus persönlichen Motiven gehandelt und sich an jenen gerächt, von denen sie sich ungerecht behandelt gefühlt haben.“ Breivik indes hat seine Tat politisch begründet und mit einer Botschaft versehen. „Die Medien müssen sich deshalb mit diesem rechten, antiislamischen Milieu auseinandersetzen“, sagt Omdal. Es gehe um Hintermänner, geistige Brandstifter, ja um die Frage, wie viele potentielle Breiviks es gebe, die eine verquere Ideologie in eine brutale Tat umzusetzen bereit seien. Statt den Massenmord zu ignorieren, sei von den Journalisten nun „alle investigative Kraft“ gefragt. Auch NRK-Programmdirektor Kalbakk hält nichts von Selbstzensur. Doch er ordnete in seinem Sender an, sparsam mit Bildern von Breivik umzugehen. Der Druck der Norweger auf die Medien hat auch dazu geführt, dass noch kein heimisches Medium sich nach Utøya gewagt hat. Die Insel gehört der Jugendorganisation der Sozialdemokraten, die Polizei hat sie zum Betreten freigegeben. Das Jedermannsrecht billigt jedem zu, eine Insel zu betreten, selbst wenn sie in Privatbesitz ist. Die Jungsozialisten hatten kurz vor der Freigabe die Medien dazu aufgerufen, nicht auf die Insel zu gehen, bevor alle Angehörigen dort gewesen seien. Als Erste schickten die englischen Zeitungen 165
Medien
FIKKE HEIDI MARIE / AFTENPOSTEN / SCANPIX
„Sun“, „Daily Mirror“ und „Telegraph“ keine Nahaufnahmen der Hinterbliebeihre Reporter und wurden von der Orga- nen.“ Tatsächlich senkten sich die Objektive. Die Grausamkeit der Ereignisse hatnisation dafür heftig angegangen. Die Anschläge vom 22. Juli haben die te auch die professionellen Reflexe der beschauliche Presselandschaft Norwegens Berichterstatter lahmgelegt: Viele beobdurcheinandergewirbelt. Von Anfang an achteten mit geröteten Augen, wie die waren die Journalisten vor ungeahnte Trauernden an ihnen vorbeizogen. Die norwegischen Medien rechtfertiethische Herausforderungen gestellt. Das fing schon an, als die Meldungen aus gen ihre ausführlichen Opferberichte mit Utøya eintrafen, zunächst nicht verifizier- dem großen Informationsbedürfnis ihrer bar waren und die Redakteure des Sen- Landsleute. „Wir haben die Hinterbliebeders NRK zum Telefon griffen und die nen stets in einem heroischen, positiven Parteifunktionäre der Jungsozialisten auf Licht dargestellt“, sagt NRK-Programmder Insel anriefen. Viele von ihnen hatten chef Kalbakk. Er hoffe, dass psychische sich versteckt, das Bimmeln brachte sie Kollateralschäden bei den Gezeigten dadurch abgemildert würden. in eine gefährliche Lage. Ein möglicher Verstoß gegen die FürNRK hatte einen Hubschrauber über Oslo in der Luft mit einem Reporter, er sorgepflicht für die Opfer wurde in einem Fall diskutiert: Die Internetzeitung „Netfilmte aus 200 Meter Höhe. tavisen“ warf indirekt die FraEs waren Dokumente des ge auf, warum der VorsitzenSchreckens, wie sich nach seide der Jungsozialisten mit wener Rückkehr in die Redaktion nigen Genossen schon kurz herausstellte. „Auf den Bilnach dem Beginn der Schiedern sahen wir Breivik, wie er ßerei an Bord der Fähre abauf die Jugendlichen schoss, legte, zum Festland fuhr – wir sahen Dutzende reglose und auch nicht mehr zurückMenschen am Boden liegen“, kehrte, um Flüchtende aus sagt Programmdirektor Kaldem Wasser zu ziehen. Die bakk. „Die Bilder waren so Fähre, so „Nettavisen“, sei grausam, ich war heilfroh, doch aus Metall und hätte eidass ich die Sequenzen nicht nen Schutz gegen Gewehreinfach live gesendet hatte.“ kugeln geboten. „Nettavisen“ Er wies die Redaktion an, TV-Mann Kalbakk die Opfer sorgfältig zu verpi- „Schwer auszuhalten“ geriet in die Kritik. „Es ist anmaßend, in einer solchen Ausxeln, nicht nur die Gesichter, auch die Kleidung. Einige hätten so auf- nahmesituation Menschen für ihre Entfällige Sachen getragen, dass Angehörige scheidungen verantwortlich zu machen“, ihre toten Kinder hätten identifizieren sagt der Medienkritiker Omdal. „Keiner von uns kann vorhersehen, wie er sich in können. Ausländische TV-Stationen, die das einer ähnlichen Lage verhalten würde.“ „Nettavisen“ blieb bei seiner DarstelBildmaterial zugespielt bekamen, waren weniger bemüht, die Opfer unkenntlich lung, doch der Vorwurf tauchte nicht zu machen. Sie zeigten die Leichen so noch einmal auf. Auch der Appell der Opferverbände, drastisch, dass NRK in der Folgezeit nur Breivik nicht mehr auf Titelseiten abzunoch verpixelte Bilder herausgab. In den darauffolgenden Tagen stellte bilden, scheint eine gewisse Wirkung zu sich die Frage, wie mit den vielen Berich- haben. Die Verantwortlichen des Fernten der Überlebenden umzugehen sei. sehsenders NRK überlegen sich bei jedem „Viele Kinder standen unter Schock“, er- Bericht aufs Neue, ob es notwendig ist, zählt auch Torry Pedersen, Chefredak- ihn zu zeigen. Ein Ende der Auseinandersetzung mit teur der Zeitung „VG“. „Wir haben versucht, uns so genau wie möglich zu er- der kruden Gedankenwelt des Attentäters kundigen, wie es ihnen geht, bevor wir bedeutet dies jedoch nicht. Das gilt besonders für den bevorstehenden Prozess. mit ihnen sprachen.“ Es kam zu erstaunlichen Verabredun- „Es ist schwer auszuhalten, aber selbst gen. Die norwegischen Medien einigten ein solcher Angeklagter hat das Recht auf sich darauf, einen Fährmann, der Breivik ein eigenes Plädoyer. Über dessen Inhalt auf die Insel gebracht hatte und dessen werden wir berichten müssen“, sagt NRKFrau das erste Opfer des Attentäters wur- Programmdirektor Kalbakk. Für Hinterbliebene und Überlebende de, nicht zu behelligen. Spontan übten sich Fotografen und Ka- wird es eine Pein sein. Dennoch, sagt Kalmeraleute in Selbstbeschränkung: Am bakk, müssten sie mit der Konfrontation Sonntag nach den Anschlägen, vor dem leben. In einem folgen die Medien ÜberGedenkgottesdienst in einer Kirche nahe lebenden wie dem 22-jährigen Simen Utøya, standen die Teams Spalier, als der Brænden Mortensen oder dem 18-jähriBus mit fast hundert Angehörigen vor- gen Magnus Håkonsen: Den Namen des fuhr. Eine Pressefrau der Polizei und die Täters nennen sie so gut wie nicht mehr. örtliche Bischöfin redeten auf die Meute KATHARINA HÖLTER, ALEXANDER KÜHN, GERALD TRAUFETTER, ANTJE WINDMANN ein: „Schalten Sie die Kameras ab, bitte 166
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Mathias Müller von Blumencron ST ELLV. CHEFREDAKTEURE Klaus Brinkbäumer, Dr. Martin Doerry DEUTSCHE POLITIK · HAUPTSTA DT BÜRO Leitung: Dirk Kurbjuweit, Michael Sauga (stellv.), Christoph Schwennicke (stellv.). Redaktion Politik: Ralf Beste, Petra Bornhöft, Ulrike Demmer, Christoph Hickmann, Wiebke Hollersen, Kerstin Kullmann, Ralf Neukirch, René Pfister, Christian Schwägerl, Merlind Theile. Autor: Markus Feldenkirchen Meinung: Dr. Gerhard Spörl Redaktion Wirtschaft: Markus Dettmer, Katrin Elger, Peter Müller, Alexander Neubacher, Christian Reiermann. DEUTSCHL AND Leitung: Konstantin von Hammerstein, Alfred Weinzierl; Hans-Ulrich Stoldt (Panorama, Personalien). Redaktion: Jan Friedmann, Michael Fröhlingsdorf, Carsten Holm (Hausmitteilung, Online-Koordination), Anna Kistner, Petra Kleinau, Guido Kleinhubbert, Bernd Kühnl, Gunther Latsch, Udo Ludwig, Christoph Scheuermann, Katharina Stegelmann, Andreas Ulrich, Dr. Markus Verbeet, Antje Windmann. Autoren, Reporter: Jürgen Dahlkamp, Dr. Thomas Darnstädt, Gisela Friedrichsen, Beate Lakotta, Bruno Schrep, Dr. Klaus Wiegrefe Berliner Büro Leitung: Holger Stark, Frank Hornig (stellv.). Redaktion: Sven Becker, Markus Deggerich, Sven Röbel, Marcel Rosenbach, Michael Sontheimer, Andreas Wassermann, Peter Wensierski. Autoren: Stefan Berg, Jan Fleischhauer W I RT S C H A F T Leitung: Armin Mahler, Thomas Tuma. Redaktion: Susanne Amann, Markus Brauck, Isabell Hülsen, Alexander Jung, Nils Klawitter, Alexander Kühn, Martin U. Müller, Jörg Schmitt, Janko Tietz. Autoren, Reporter: Markus Grill, Dietmar Hawranek, Michaela Schießl AUS L A N D Leitung: Hans Hoyng, Dr. Christian Neef (stellv.), Britta Sandberg (stellv.), Bernhard Zand (stellv.). Redaktion: Dieter Bednarz, Manfred Ertel, Julia Amalia Heyer, Jan Puhl, Daniel Steinvorth, Helene Zuber. Reporter: Clemens Höges, Susanne Koelbl, Walter Mayr, Christoph Reuter, Mathieu von Rohr Diplomatischer Korrespondent: Dr. Erich Follath WISSENSCHAFT UND TECHNIK Leitung: Johann Grolle, Olaf Stampf. Redaktion: Jörg Blech, Manfred Dworschak, Dr. Veronika Hackenbroch, Julia Koch, Cordula Meyer, Hilmar Schmundt, Matthias Schulz, Samiha Shafy, Frank Thadeusz, Christian Wüst. Autorin: Rafaela von Bredow KU LT U R Leitung: Lothar Gorris, Dr. Joachim Kronsbein (stellv.). Redaktion: Lars-Olav Beier, Susanne Beyer, Dr. Volker Hage, Ulrike Knöfel, Philipp Oehmke, Tobias Rapp, Nora Reinhardt, Elke Schmitter, Claudia Voigt, Martin Wolf. Autoren, Reporter: Georg Diez, Wolfgang Höbel, Dr. Romain Leick, Matthias Matussek, Katja Thimm, Dr. Susanne Weingarten KulturSPIEGEL: Marianne Wellershoff (verantwortlich). Tobias Becker, Anke Dürr, Maren Keller, Daniel Sander GESELLSCHAF T Leitung: Matthias Geyer, Cordt Schnibben, Barbara Supp (stellv.). Redaktion: Hauke Goos, Barbara Hardinghaus, Ralf Hoppe, Ansbert Kneip, Dialika Krahe, Takis Würger. Reporter: Uwe Buse, Jochen-Martin Gutsch, Thomas Hüetlin, Alexander Osang SPORT Leitung: Gerhard Pfeil, Michael Wulzinger. Redaktion: Lukas Eberle, Cathrin Gilbert, Maik Großekathöfer, Detlef Hacke, Jörg Kramer SONDERTHEMEN Leitung: Dietmar Pieper, Annette Großbongardt (stellv.), Norbert F. Pötzl (stellv.). Redaktion: Annette Bruhns, Angela Gatterburg, Uwe Klußmann, Joachim Mohr, Bettina Musall, Dr. Johannes Saltzwedel, Dr. Rainer Traub MULTIMEDIA Jens Radü; Nicola Abé, Roman Höfner, Bernhard Riedmann C H E F V O M D I E N ST Thomas Schäfer, Katharina Lüken (stellv.), Holger Wolters (stellv.) SCHLUSSREDAKTION Christian Albrecht, Gesine Block, Regine Brandt, Reinhold Bussmann, Lutz Diedrichs, Bianca Hunekuhl, Anke Jensen, Maika Kunze, Stefan Moos, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Manfred Petersen, Fred Schlotterbeck, Tapio Sirkka, Ulrike Wallenfels PRODUKTION Solveig Binroth, Christiane Stauder, Petra Thormann; Christel Basilon, Petra Gronau, Martina Treumann BILDREDA KT ION Michael Rabanus (verantwortlich für Innere Heftgestaltung), Michaela Herold (stellv.), Claudia Jeczawitz, Claus-Dieter Schmidt; Sabine Döttling, Torsten Feldstein, Thorsten Gerke, Andrea Huss, Antje Klein, Elisabeth Kolb, Matthias Krug, Peer Peters, Karin Weinberg, Anke Wellnitz. E-Mail: bildred@spiegel.de SPIEGEL Foto USA: Susan Wirth, Tel. (001212) 3075948 GRAF IK Martin Brinker, Johannes Unselt (stellv.); Cornelia Baumermann, Ludger Bollen, Thomas Hammer, Anna-Lena Kornfeld, Gernot Matzke, Cornelia Pfauter, Julia Saur, Michael Walter L AYOUT Wolfgang Busching, Ralf Geilhufe (stellv.), Reinhilde Wurst (stellv.); Michael Abke, Katrin Bollmann, Claudia Franke, Bettina Fuhrmann, Kristian Heuer, Nils Küppers, Sebastian Raulf, Barbara Rödiger, Doris Wilhelm Sonderhefte: Jens Kuppi, Rainer Sennewald TITELBILD Stefan Kiefer; Iris Kuhlmann, Gershom Schwalfenberg, Arne Vogt REDA KT IONSVERT RE TUNGEN DEUTSCHL AND BERLIN Pariser Platz 4a, 10117 Berlin; Deutsche Politik, Wirtschaft
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Das Jahrhundert der Kinder
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Das 20. Jahrhundert werde das „Jahrhundert des Kindes“, postulierte die Pädagogin Ellen Key in ihrem gleichnamigen Buch, das 1902 in Berlin erschien – und tatsächlich veränderten sich die Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen in diesen hundert Jahren entscheidend. SPIEGEL Geschichte zeigt in einer vierteiligen Dokumentationsreihe, wie sich die Kinderwelten und Jugendkulturen wandelten – vom Verbot der Kinder-
THEMA DER WOCHE
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JOHN GRESS / REUTERS
Was wir aus der Krise lernen Vor drei Jahren ging die Investmentbank Lehman Brothers pleite. Mehr als tausend Tage im Notmodus haben die Welt stärker verändert, als die meisten glauben. SPIEGEL ONLINE stellt die wichtigsten Lehren vor:
Märkte können Staaten erpressen Die Grenzen der Verschuldung sind erreicht Das Finanzsystem braucht neue Regeln
POLITIK | Die Hauptstadt wählt Klaus Wowereit will Berlins Regierender Bürgermeister bleiben. GrünenKandidatin Renate Künast und CDU-Mann Frank Henkel drängen auf einen Wechsel. Wer setzt sich durch?
WISSENSCHAFT | Böses Erwachen Es ist der Alptraum jedes Patienten: trotz Vollnarkose während der Operation aufzuwachen. Keine Methode kann die Wachzustände zuverlässig erkennen.
Schüler in den Ferien auf Sylt um 1925
arbeit und der Einführung der Schulpflicht über die politische Instrumentalisierung der Jugend durch die Nazis bis hin zu den Entwicklungen der Nachkriegszeit, als erst die Halbstarken mit Rock’n’Roll, Jeans und Coca-Cola gegen die Spießigkeit der Eltern rebellierten und schließlich die 68er die deutsche Gesellschaft fundamental veränderten. Heute sind die Lebenswelten der jungen Deutschen geprägt von Konsumkultur und Individualisierung, von Kinderarmut und Jugendarbeitslosigkeit. SONNTAG, 18. 9., 22.10 – 22.55 UHR | RTL SPIEGEL TV MAGAZIN
Eine für Alle – Merkel als einsame Euro-Retterin; Hobby-Extrem – mit der
Privat-Drohne durch Deutschland; Eine Nummer für die schnelle Nummer –
Bonn und seine neue Sex-Steuer.
Mit fremden Lorbeeren auf den FilmOlymp: Die Axtszene aus „Shining“ schrieb Kinogeschichte. Dabei hatte Stanley Kubrick sie aus einem anderen Film geborgt. Etliche Starregisseure kupferten bei Kollegen ab und schufen so herrliche Hommagen – und auch dreiste Kopien. einestages.de präsentiert unvergessliche Filme und ihre vergessenen Vorbilder.
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CINETEXT
| Die Nachdreher
Sex-Steuer-Automat in Bonn
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CHRISTOPHER ADOLPH / ACTION PRESS
Sándor Képíró, 97. Der ehemalige ungarische Gendarmeriehauptmann war zuletzt die Nummer eins auf der Liste der NaziJäger des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem. Dass der Offizier Képíró an der brutalen Zusammentreibung der Opfer des Massakers von Novi Sad am 23. Januar 1942 beteiligt war, bei dem durch Nazi-Verbündete mehr als 1000 – meist jüdische – Männer, Frauen und Kinder aufgereiht, erschossen und in die Donau geworfen wurden, galt immer als sicher. Unklar war das Ausmaß seiner Schuld: War er Handlanger oder Haupttäter? 1944 zu zehn Jahren Haft verurteilt, konnte er bald nach Argentinien fliehen; 50 Jahre später kehrte er nach Budapest zurück, wo er 2006 von NaziJägern aufgespürt wurde. Bis zum Schluss gab er sich uneinsichtig und selbstbewusst: „Ich bereue nichts“, sagte er dem SPIEGEL. Er habe in Novi Sad sogar „einer Familie das Leben gerettet“. Den Leiter des 170
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Horst Kasner, 85. In der Öffentlichkeit hat sich der Vater von Bundeskanzlerin Angela Merkel selten gezeigt, auch zu ihrer Arbeit äußerte er sich fast nie. Dabei war der Pfarrer ein politischer Mensch, der sich lange Zeit Gedanken darüber machte, wie die DDR zu reformieren wäre. Nach seinem Theologiestudium in Hamburg war der in Berlin-Pankow geborene Kasner mit seiner Frau zurück in die DDR gezogen und damit dem Ruf der Kirche gefolgt, die dort dringend nach Pfarrern suchte. Kasner wollte außerdem der „atheistischen Propaganda des SED-Staates“ entgegentreten. Er galt als kämpferisch und engagiert, seine Tochter Angela Merkel charakterisierte ihn einmal als „emsig und sehr gründlich“, als Mann, „der auf Menschen zugehen und mit ihnen gut ins Gespräch kommen“ konnte. Als Angela Merkel zur Kanzlerin gewählt wurde, kommentierte ihr Vater nüchtern: „Das kommt nicht alle Tage vor.“ Horst Kasner starb am 2. September in Templin. SEYBOLDT / ULLSTEIN BILD
Hans Apel, 79. Vom Kanzleramt trennte den Hamburger Sozialdemokraten nur ein Herzschlag, denn er galt jahrelang als Kronprinz von Kanzler Helmut Schmidt. Apels Bürgernähe war legendär, der private Anschluss stand im Telefonbuch, die Sprüche des Anhängers des FC St. Pauli waren gefürchtet. 1972 wurde er Staatssekretär im Auswärtigen Amt und sorgte gleich für einen Eklat, weil er im europäischen Ministerrat erklärte: „Wir sind nicht der Zahlmeister Europas.“ Knapp zwei Jahre später berief Schmidt den promovierten Europaexperten zum Finanzminister. Im Rückblick bedauerte Apel, die wachsende Staatsverschuldung nicht eingedämmt zu haben, aber damals war sein Kurs populär. Der „Abstieg“ (Apel) begann mit der Übernahme des Verteidigungsministeriums 1978. Einst hatte sich der bekennende Christ aus Protest gegen die Wiederbewaffnung der SPD angeschlossen, nun musste er den Nato-Doppelbeschluss verteidigen, der die Friedensbewegung hervorrief und die SPD spaltete. Mit Bitterkeit registrierte Apel, wie sein Freund und Förderer Schmidt sich zeitweise von der sogenannten Nachrüstung abzusetzen suchte. Nach dem Ende der sozial-liberalen Koalition 1982 kandidierte er vergeblich als Berliner Bürgermeister, wurde später aus dem SPD-Parteivorstand abgewählt und zog sich 1990 aus der Politik zurück. Fortan erregte er mit bissiger Kritik am Parteienstaat und der Verschuldung Aufsehen. Hans Apel starb am 6. September in Hamburg.
Wiesenthal-Zentrums verklagte Képíró, weil der ihn einen „Kriegsverbrecher“ genannt hatte. Erst im Mai 2011 musste er sich vor einem Budapester Gericht verantworten. Das Verfahren endete mit Freispruch mangels Beweisen. Sándor Képíró starb am 3. September in Budapest.
Bernhard Blume, 73. Er gehörte zu der seltenen Spezies des Künstlers mit Humor. In den wilden sechziger Jahren hatte er in Düsseldorf Kunst studiert und sich später zum Philosophen ausbilden lassen; dabei hatte er vor allem eins gelernt: die Welt nicht mehr ganz so ernst zu nehmen. Als Fotograf arbeitete er meist zusammen mit seiner Ehefrau Anna. Die beiden hatten sich auf der Akademie in Düsseldorf kennengelernt und in mehr als 40 gemeinsamen Jahren einen, wie sie es nannten, „lebenslänglichen Fotoroman“ über das Wesen des deutschen Spießers entwickelt. Ihre Fotos waren meistens Selbstinszenierungen, gern in Küchen und Wohnzimmern, voller Anspielungen auf eigene Kleinbürgerlichkeit, und nicht selten plünderten sie die Kunstgeschichte, immer auf der Suche nach ein paar absurden Pointen. Bernhard Blume starb am 1. September in Köln.
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BARTILLA / POP-EYE
GESTORBEN
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Personalien Volker Beck, 50, Parlamentarischer Ge-
Beth Tash, 27, ist Englands erste PartyGeistliche. Im Auftrag der Anglikanischen Kirche wird sie von nun an als „Pionierpastorin für Nachtleben“ den Clubgängern der Universitätsstadt Leeds geistlichen Beistand leisten. Tash, die in der nordenglischen Großstadt studiert hat, gehörte noch vor kurzem selbst zur örtlichen Feiergemeinde. Bevor sie sich unter das Partyvolk mischt, will die Pastorin zunächst die Kneipiers der Stadt näher kennenlernen. Außerdem plant sie die Eröffnung eines „heiligen Raums“ im Ausgehviertel. Tashs Einführungsgottesdienst fand vergangenen Mittwoch in Leeds’ königlicher Waffensammlung statt. Erzdiakon Peter Burrows, der die Zeremonie leitete, versicherte ihr freie Hand bei der Ausgestaltung des neuen Jobs: „Wir erwarten nicht, dass Beth von Barhockern herab das Evangelium verkündet.“
TIM FAHLBUSCH / ICON
HANS-GÜNTHER OED
schäftsführer der Grünen-Bundestagsfraktion, hat einen ganz besonderen Willkommensgruß für den Papst vorbereitet. Auf seine Initiative hin haben die Grünen bereits vor Monaten einen Gesetzentwurf zur Gleichstellung der Ehe von Homosexuellen vorbereitet. Jetzt setzte Beck im Ältestenrat durch, dass der Vorschlag zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs ausgerechnet am Vorabend der Papstrede in der nächsten Woche im Bundestag beraten wird. Beck hofft auf „ausführliche BerichtBeck erstattung“ über die Debatte, damit Benedikt XVI. der Frage nicht aus dem Weg gehen könne. Beck erwartet sich allerdings wenig Neues von der Entgegnung des Kirchenmanns, der mit seiner Kritik an Schwulen mehrmals für Aufsehen sorgte. Im Ältestenrat hatte der Grünen-Politiker sogar „Bedenken“ gegen den Papstbesuch angemeldet. Der Sitzung wolle er trotzdem beiwohnen; er wisse, „was sich gehört“, so Beck: „Ich erwarte aber, dass sich der Papst als ausländischer Staatsgast nicht in die deutsche Familienpolitik einmischt.“
DIOCESE OF RIPON AND LEEDS
Joan Smalls, 23, Top-Model aus Puerto Rico, setzt die Erträge ihrer Schönheit in
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praktische Dinge um. Von ihren ersten Einnahmen kaufte die zarte 1,79-MeterFrau einen Pick-up für ihren Vater. 2007 war die damalige Psychologiestudentin von ihrer Inselheimat nach New York gezogen. Der Durchbruch gelang ihr mit einem Exklusivvertrag mit Givenchy. Seit knapp zwei Jahren gehört Joan Smalls nun zum Jetset: Sie lief bereits Modenschauen für Gucci, Prada, Yves Saint Laurent, Valentino in London, Mailand, Paris und New York. Außerdem ist sie das erste hispanische Gesicht der Kosmetikfirma Estée Lauder. Von Diäten hält die Puerto Ricanerin nichts, sie bleibt den Genüssen ihrer Kindheit treu: viel Bohnen, Fleisch und „fettiges Essen“. Ihre Figur trainiert sie mit Sport – darunter Boxen. D E R
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DOMINIQUE ECKEN / DAVIDS
Christine Lagarde, 55, Chefin des Internationalen Währungsfonds, lehnt Drill, Druck und übertriebene Disziplin in der Kindererziehung ab. Einen pädagogischen Stil, wie ihn die chinesisch-amerikanische Bestsellerautorin Amy Chua („Die Mutter des Erfolgs“) propagiert, hält Lagarde für „unproduktiv“. Das wisse sie aus eigener Erfahrung: Als ihr inzwischen erwachsener Sohn sieben Jahre alt gewesen sei, habe sie ihn zum Klavierspielen zwingen wollen. Das Projekt sei gründlich schiefgegangen. Mit 15 Jahren habe er aber freiwillig begonnen, Gitarre zu lernen, und das gar nicht mal so schlecht. Eine „Tigermutter“ sei sie nie auch nur ansatzweise gewesen, so Lagarde: „Dazu hätte ich auch gar keine Zeit gehabt.“ Patrick Boyle, 72, Graf von Glasgow, will
Christian Berkel, 53, international gefragter deutscher Filmschauspieler („Inglou-
sich nicht mehr von der quietschbunten neuen Fassade seines über 750 Jahre alten Schlosses Kelburn Castle trennen. 2007 hatten vier brasilianische Graffiti-Künstler den Südflügel mit Spraydosen bear-
rious Basterds“, „Mogadischu“), stand für ein Bild bis zum Bauchnabel im Wasser. Er folgte einem Wunsch des Malers Aris Kalaizis, 45, der ihn in einem Teich bei Klinga als Vorlage für ein Ölgemälde fotografierte. Auf dem Bild zeigt Kalaizis den Mimen gleich doppelt und lässt weiße Zylinder neben ihm schwimmen. Er sei bestrebt gewesen, die „tiefere, dunklere Seele“ seines Models „herauszukitzeln“, so der Leipziger. Auch Berkels Lebensgefährtin, die „Tatort“-Schauspielerin Andrea Sawatzki, stand für Kalaizis Modell – das Paar ist mit dem Realismus-Maler befreundet. Die Ölschinken mit den TV-Größen hängen jetzt in der Kalaizis-Ausstellung „Parallelwelten II“ in der Berliner Maerzgalerie. Das Berkel-Bild hat eine internationale Sammlung bereits für 36000 Euro erworben. Er hätte damit „Schwierigkeiten“, sagte der Schauspieler, sich „an den eigenen vier Wänden zu sehen“.
Boyle (r.) mit Sohn
beitet. Das Street-Art-Projekt an der schottischen Westküste war die Idee von Boyles Kindern. Die Behörden genehmigten die urbane Verzierung, aber nur übergangsweise bis zum Beginn der ohnehin notwendigen Renovierung. Doch die farbenfrohe Burg entwickelte sich zur Touristenattraktion. Sein Bewohner hat die Denkmalschutzbehörde kürzlich gebeten, das Kunstwerk als charakterbildendes Merkmal des Schlosses anzuerkennen und dauerhaft zu erhalten. „Alle Gebäude, die wir heute als historisch bezeichnen, waren bei ihrer Entstehung Trendsetter“, glaubt der Graffiti-Graf.
Familie Guttenberg D E R
S P I E G E L
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irischer Langstreckenschwimmer, hat als erster Mensch den berüchtigten Fastnet-Felsen in der Keltischen See von Land aus umschwommen. Die 40 Kilometer lange Strecke galt bisher wegen der tückischen Strömungen, des Seegangs und des hohen Hai-Aufkommens Redmond als unbezwingbar. Tatsächlich hatte der Mann aus Ballydehob, Mitarbeiter eines Werkzeugverleihs, drei vorhergehende Versuche abbrechen müssen. Diesmal ließ Redmond sich vor dem Kraftakt von einer Hypnotiseurin in eine Art Trance versetzen. Dann kraulte er 13 Stunden und 25 Minuten lang ohne Pause. Die niedrigen Wassertemperaturen von 12 bis 13 Grad zehrten am meisten an seinen Kräften. Der Ire trug keinen Anzug, sondern hatte den nackten Körper mit Schafsfett eingerieben; während des Schwimmens trank er heißes Wasser. Nach sechs Stunden musste er sich erbrechen. Doch der Mann, der bereits den Ärmelkanal und die Enge von Gibraltar durchquert hat, hielt durch. Seinem Begleitboot hatte er strikte Order gegeben: „Holt mich nur raus, wenn ich sterbe.“
ANNE MINIHANE
liger Verteidigungsminister und ehemaliger Doktor der Jurisprudenz, hat sich in eine der exklusivsten Gegenden der USA eingekauft. Nahe der Stadt Greenwich, rund eine Autostunde von New York entfernt, hat er mit seiner Familie ein über drei Millionen Euro teures Anwesen bezogen. Die Region, bekannt für höchste Grundstückspreise und die vielen dort ansässigen Hedgefonds und Investmentfirmen, wird auch von Showgrößen wie Diana Ross oder Justin Timberlake als diskretes Refugium geschätzt. Seinen Abschied aus Deutschland hatte der Freiherr im August mit Freunden in einer Berliner Szenebar bis in die Morgenstunden gefeiert. Spätestens Ende September will die Staatsanwaltschaft Hof bekanntgeben, ob sie in der Plagiatsaffäre um seine Doktorarbeit gegen ihn Anklage wegen Urheberrechtsverletzungen erhebt. DANIEL KARMANN/PICTURE-ALLIANCE/DPA
JEFF J. MITCHELL / GETTY IMAGES
Karl-Theodor zu Guttenberg, 39, ehema- Steve Redmond, 46,
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Hohlspiegel
Rückspiegel
Aus dem „Handelsblatt“: „Die Angeklagten äußerten sich nicht zu keinem Tatvorwurf.“
Zitate
Aus „Sonntag Aktuell“: „Das analytische Ohr katapuliert vor dem ozeanischen Wogen und Brausen inmitten dieses geschichtsträchtigen Gotteshauses.“
Aus dem „Mindener Tageblatt“ Aus der „Süddeutschen Zeitung“: „Wohl aber sein Vater, Fred Kraus. Der 1993 verstorbene Schauspieler und Kabarettist wird nicht anwesend sein, wenn Margit Bönisch, Leiterin der Komödie im Bayerischen Hof, zum Jubiläum am 31. Oktober alte Wegbegleiter einlädt.“
Das „Handelsblatt“ zitiert SPIEGELGründer Rudolf Augstein zum Euro (SPIEGEL SPECIAL Nr. 2/1998): Fast – so scheint es – behalten die Warner von damals recht. So warnte etwa der SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein bereits im Jahr 1998: „Der Euro kommt. Er wird ein weiches Ei. Er wird so, wie die Bundesbank oder Helmut Kohl sich das in ihren Träumen ausgedacht haben, nicht funktionieren.“ Die „Thüringer Allgemeine“ über die Reaktion des Fraktionsvorsitzenden der thüringischen Linken, Bodo Ramelow, auf ein Interview mit dem SPIEGEL (Nr. 26/2011): Er verlangt offenbar, zumindest vom SPIEGEL, dass er – der Politiker – der Presse Themen vorschreiben kann. Stellt sich die Frage: Welche Zeitung kann mit dem Linken Ramelow noch ein Interview führen, ohne dass Leser vermuten: Dürfen die nur fragen, was Herr Ramelow erlaubt hat? Die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ über den Polit-Thriller von SPIEGEL-ONLINE-Redakteur Yassin Musharbash („Radikal“. Kiepenheuer & Witsch; 400 Seiten; 14,99 Euro):
Aus dem „Plus Magazin“ Aus der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“: „Nach der kirchlichen Trauerfeier in Moers waren die frisch Vermählten in eine Pferdekutsche gestiegen, um so stilvoll zu ihrer Hochzeitsfeier nach Duisburg zu fahren.“ Aus der „Frankfurter Allgemeinen“: „Zu den strategischen Metallen zählen auch die seltenen Erden, neben Neodym noch 16 andere Metalle und Oxide, die in aller Munde sind, seitdem China im vergangenen Jahr den Export beschränkte.“
Aus dem Garbsener „Hallo Sonntag“ Aus dem „Quickborner Tageblatt“: „Bei seinem wie immer launisch gehaltenen Grußwort richtete sich Rendsburgs Bürgermeister Andreas Breitner …“ 174
Der Autor erlaubt sich weniger Phantasie als der Bundesinnenminister. Hier gelangen die Terroristen nicht an Atomwaffen, worüber Wolfgang Schäuble mal sinnierte, sie morden auch nicht gleich Hunderte von Zivilisten wie einst in Bombay, eine Vorstellung, die Thomas de Maizière im letzten Advent ja dazu inspirierte, die deutschen Weihnachtsmärkte wie Erstschlagziele abzusichern. Eben aus diesem Verzicht auf Sensationen rührt die Relevanz des Buches, so generiert es den Schrecken, der zum Weiterlesen zwingt. Man sorgt sich um diese so unfertigen und verwundbaren Figuren, die, ganz in der Tradition John le Carrés, dessen Mitarbeiter Musharbash einst war, planlose bis komische Helden sind … „Radikal“ ist ein Buch über Wurzeln: Die Protagonisten erkunden das Berlin und die Welt von heute und wollen wissen, woher die Gefahr des Terrorismus erwächst … Und da wissen nicht einmal die Profis weiter, zu denen auch der Autor zu zählen ist. Yassin Musharbash, Sohn eines aus Jordanien immigrierten Lehrers und einer Deutschen, ist bei SPIEGEL ONLINE für den islamistischen Terror zuständig … Er kennt jene al-Qaida-Seiten, auf denen die offiziellen Bekanntmachungen zu finden sind, und versteht es, den Chatter zu lesen, die diffusen Kommunikationsströme der Terrorbrüder und -schwestern. D E R
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