Zum Buch: Ob Zucker, Wasser oder Kupfer – wir nutzen und benutzen diese
Armin Reller / Heike Holdinghausen
»Stoffe« täglich, aber über ihre physische Realität, ihre Herkunft, ihre Geschichte, ihre Zukunft wissen wir fast gar nichts. Mit ihnen untrennbar verbunden sind Fragen nach Gerechtigkeit und Verantwortung, Energieverbrauch und Wirtschaftlichkeit. Armin Reller und Heike Holdinghausen zeigen anhand von Stoffgeschichten und -kreisläufen, woher Ressourcen wie etwa Coltan oder Baumwolle kommen, wofür wir sie verwenden beziehungsweise verschwenden. Und sie sagen: Wenn wir nicht bald anfangen, verantwortungsvoll mit den Ressourcen umzugehen, konsumieren wir unsere Welt zu Tode.
WIR KONSUMIEREN UNS ZU TODE Warum wir unseren Lebensstil ändern müssen, wenn wir überleben wollen
Armin Reller ist Professor für Ressourcenstrategie an der Universität Augsburg. Zuvor forschte er im Bereich der anorganischen und physikalischen Chemie in Zürich, Cambridge, Bangalore und Hamburg. Er ist Mitherausgeber der Reihe Stoffgeschichten. Heike Holdinghausen ist Redakteurin der taz. Im Ressort Wirtschaft und Umwelt schreibt sie vor allem über Chemikalien-, Abfall- und Rohstoffpolitik.
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Inhalt
1 Stoffe erzählen Geschichten
7
2 Runde Tische – warum wir lernen müssen, in Kreisläufen zu denken
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
13
Ein Promi mit schlechtem Ruf
13
Wasser will fließen
24
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
Die verwundbare Grundlage
33
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
Auf dem Holzweg
44
http://dnb.d-nb.de abrufbar.
3 Der Preis unseres Essens – Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
die Rechnung zahlen andere
54
Der große Unbekannte
55
Alles aus Zucker
62
Die Schweinerei im Ofen
71
4 Hauptsache schön – die hässlichen Folgen unseres Lebensstils
ISBN 978-3-938060-38-4 © Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2011 Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin Umschlagabbildung: picture-alliance/dpa Satz: Publikations Atelier, Dreieich
80
Natürlich aus der Fabrik
81
Pullover aus der Flasche
93
Künstliche Welten
103
Zu klein für Paracelsus
108
5 Gute Fahrt! Aber nicht mit dem Auto, wie wir es kennen
117
Vogelscheuchen für Alberta
119
Nachwachsende Problemfelder
128
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Handys machen Autos flott
137
Printed in Germany
Nicht selten, aber knapp
145
6 Die Welt im Kleinen – warum wir andere Handys brauchen
152
Reichtum, der arm macht
153
Immer noch herrscht Bronzezeit
162
Das Salz in der Suppe
171
1 Stoffe erzählen Geschichten
7 Ein neues Kapitel …
179
Dank
185
Wer existiert, konsumiert. Jedes Lebewesen macht sich in kom-
Anmerkungen
186
plexen Wechsel- und Austauschbeziehungen seinen Lebens-
Literatur
189
raum zunutze. Neben Sauerstoff, Wasser, Licht und Wärme brauchen Menschen auch Nahrung, Kleidung und ein Dach über dem Kopf. Die Werbebotschaften für die verschiedenen Alltagsgüter leuchten in jedem Winkel der Erde. Konsum ist der Motor der Weltwirtschaft. Rund um die Uhr, zu Land, zu Wasser und in der Luft werden Waren auf der Erde bewegt und gehandelt, gekauft, verspekuliert, gehortet, gestohlen, verschenkt, verhökert oder weggeworfen. Was wissen wir über die Zusammenhänge zwischen all den Geldtransaktionen und den Stoff- und Güterströmen? Müssen wir uns um die komplizierten Hintergründe dieses Warenstroms kümmern? Wir wollen kaufen, was wir brauchen, was uns Spaß macht und wir uns leisten können. Wir müssen es sogar! Die »Konsumlaune der Deutschen« wird von Steuerschätzern, Wirtschaftspolitikern und Firmenchefs misstrauisch beäugt, ist sie doch ein Antrieb für das Wirtschaftswachstum, auf dem unser gesamtes Gesellschaftsmodell beruht. Sozial- und Altersversicherung, Steuerund Finanzsystem, sie alle sind auf stetiges Wachstum angewiesen. Geht man von neuesten Berechnungen aus, leben und konsumieren wir so, als stünden uns zumindest 1,4 Planeten zur Verfügung. Die Weltbevölkerung verbraucht also in einem Jahr so viele Ressourcen, wie unser Planet sie allenfalls in 1,4 Jahren zur Verfügung stellen könnte. Wie kann das immer weiter funktionieren, auf wessen Kosten und um welchen Preis? Stoffe erzählen Geschichten 7
Das »Habenwollen« begann in grauer Vorzeit. Schon im
Es dauerte nicht lange, bis diese urtümlichen Produktions-
Neolithikum, in der Steinzeit, haben sich unter den wenigen
güter über die regionalen Kulturgrenzen hinweg in friedlicher
Menschen, die damals die Erde besiedelten – Höhlenbewoh-
oder kriegerischer Weise ausgetauscht wurden: Der Tausch-
ner, Jäger und Sammler – wohl erste Ansprüche unterschied-
handel erblühte. Geld kam als abstraktes Zahlungsmittel erst
lichster Art ausgebildet: Ein schönes Bärenfell, die leuchtende
zirka 2 600 Jahre vor unserer Zeit ins Spiel; bei den Phöniziern
Schminke aus den an der Flussbiegung freigeschwemmten gel-
als Silberbarren, in den ost- und südasiatischen Kulturen als
ben, braunen und roten Sedimenten oder eine aus einem wohl-
Kaurischnecken, bei den Ägyptern als Ringgeld aus Metall.
geformten Flintstein gearbeitete Speerspitze könnten Objekte
Während aber die Güter und Naturalien in der Regel ihre Her-
der Begierde gewesen sein. Vorerst handelte es sich um regio-
kunft oder ihre Entstehungsweise durch spezifische Merkmale
nale, natürliche Produkte. Doch einerlei ob Pflanzen, Holz,
und Eigenschaften aufzeigten und so zumindest einen Teil ih-
Jagdbeute oder Baustoffe konsumiert wurden, schon bald ging
rer Entstehungsgeschichte offenbarten, verwischte das Zah-
es nicht mehr nur um den Ge- und Verbrauch, sondern um den
lungsinstrument Geld diese Kontexte. Der Preis richtete sich
Besitz der guten Dinge. Die Urmenschen der Gattung Homo sa-
nach der Verfügbarkeit, der mehr oder weniger aufwändigen
piens sahen sich schon früh durch Lebensumstände und Natur-
Herstellung und Beschaffung, sicher auch schon nach der Be-
kräfte gezwungen, durch Neugier und Hoffnung mobilisiert,
gehrlichkeit seitens des Händlers oder Käufers. Die Möglich-
ihre Welt als Nomaden zu erforschen. Auf ihren Erkundungs-
keit, mit symbolischen Werten nützliche Alltagsgüter erstehen
zügen trafen sie auf neue Landstriche, fremde Pflanzen und
zu können, veränderte das ehemals auf Naturalientausch beru-
Tiere sowie Stoffe mit unbekannten Eigenschaften. Sie erlern-
hende System grundlegend: Wirtschaftsinstrumente und -ins-
ten, sie zu nutzen oder zu meiden. Sie erweiterten ihr Wissen
titutionen wurden erfunden und etablierten sich in vielfältigen
und ihre Besitztümer. Das fortschreitende Verständnis um das
Formen.
Vorkommen und die Beschaffenheit, die Verarbeitung und Ver-
Schon im dritten Jahrtausend vor Christi beruhte die Wirt-
wendung von Rohstoffen war dabei die Grundvoraussetzung
schaft der Sumerer im Zweistromland im heutigen Irak und in
für kulturelles Leben sowie für die Herausbildung größerer
anderen Frühkulturregionen einerseits auf einer ausgeklügel-
und komplexerer gesellschaftlicher Strukturen. Das spezifische
ten Nahrungsmittelversorgung auf der Basis der Dreifelder-
Wissen über den Umgang mit den natürlichen Gegebenheiten,
wirtschaft, andererseits auf handwerklichen Fertigkeiten, ins-
dem Klima, den nutzbaren Pflanzen und verfügbaren Boden-
besondere auf der Kenntnis der Herstellung von Werkzeugen
schätzen wurde stetig erweitert und in den sozialen Strukturen
und Waffen aus Kupfer. Kupfer wurde durch Erhitzen von Kup-
der ersten Hochkulturen konserviert. In kleinen Mengen ge-
fererz mit Holzkohle gewonnen. Da diese Rohstoffe nicht über-
fundenes Gold, Silber oder Kupfer wurde zu Werkzeugen,
all vorkamen, mussten sie schon sehr früh mühselig über teils
Schmuck, Waffen oder Devotionalien verarbeitet. Das Ton-
große Strecken transportiert werden. Sie wurden je nach Sicht-
brennen wurde erfunden, Rezepturen und Verfahren für die
weise exportiert oder importiert: Das Kupfererz stammte aus
Herstellung von Nahrungsmitteln und Kleidung entwickelt
Minen im Sinai – später bekannt geworden als »Salomos Mi-
und weitergegeben.
nen« – und in Afghanistan. Das Holz wurde im Quellgebiet von
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Stoffe erzählen Geschichten
Stoffe erzählen Geschichten 9
Euphrat und Tigris gefällt und nach Ur geflößt. Zum Abrech-
Feuer. Noch heute wird Gold als verlässliches, sicheres Zah-
nen wurden die herbeigeschafften Baumstämme gezählt. Als
lungs- und Währungsmittel gehortet und gehandelt, das eine
Gedächtnisstütze wurden bald abstrakte Zeichen erfunden, die
Mal virtuell an den Rohstoffmärkten der Börsen, das andere
in Ton- und Wachstäfelchen in Form kleiner Relieflandschaften
Mal physisch.
eingekerbt als Vertrag und als Abrechnung zu Bedeutung ka-
Heute verstellt uns das Zahlungsinstrument Geld den Blick
men. Später hat sich daraus die Keilschrift entwickelt, als Han-
auf die Entstehungsgeschichte eines Konsumguts. Nur der Preis,
delsschrift.
das Erscheinungsbild und die Funktion eines Produkts interes-
Um den Wert eines Baumstamms beurteilen zu können,
sieren. Der Wert einer Banane schließt die Mühen des Erntear-
mussten die sumerischen Handwerker herausfinden, wie groß
beiters, des Plantagenbetreibers, der Kassiererin im Supermarkt
unter optimalen Bedingungen die Kohleportion ist, die aus ei-
ein. Widerspiegelt ihr Preis das? Zahle ich als Konsument die
ner gegebenen Holzportion produziert werden kann. Genauso
Hektoliter Wasser, die zur Bewässerung der Plantage eingesetzt
wichtig war es zu wissen, in welchem Verhältnis die Kupfererz-
wurden, die Gifte gegen Insekten und Unkräuter sowie den Dün-
und Kohleportionen stehen müssen, um eine maximale Aus-
ger, die den Boden belasten und später das Grundwasser? Oder
beute an Kupfer zu erzielen. Zur Bewertung der Rohstoffe so-
den Dieseltreibstoff für den Transport und die Kühlung, das für
wie der erzeugten Materialien waren also die Relationen
die Verpackung in Form von Kunststoff verbrauchte Erdöl, das
zwischen Holz und Kohle sowie zwischen Kohle, Kupfererz
im Karton steckende Holz? All diese Materialien begleiteten den
und Kupfer entscheidend. Auch das Verhältnis des Wertes von
Weg der Banane aus der guatemaltekischen Plantage in den aus
Brot zu Kupfer spielte dabei eine Rolle, um die eingesetzte Ar-
bengalischem Bast kunstvoll gefertigten Früchtekorb einer ganz
beitskraft abgelten zu können. Die Stoffäquivalente ließen sich
normalen Vierzimmerwohnung in Stuttgart. Die Banane ent-
durch Wägung bestimmen, doch um deren maximal nutzbare
puppt sich als facettenreiches Produkt eines hoch organisierten
Werte zu erreichen, war auch handwerklicher, oder wie wir
Wirtschafts- und Handelssystems, zu einem Preis von 99 Cent
heute sagen würden, chemischer Sachverstand und Ingenieur-
pro Kilo. Zweifelsohne könnte diese Bananengeschichte mehr
wissen erforderlich.
erzählen, als uns Konsumenten lieb ist: Sie entblößt uns als ge-
Es war also sehr mühsam, eine Streitaxt oder eine Pflug-
dankenlose Genießer. Wir sind in der bequemen Situation, uns
schar mit Naturalien zu bewerten und zu bezahlen. So wurde
diese Gedankenlosigkeit leisten zu können. Wie Produkte herge-
der Handel – insbesondere über die Kulturgrenzen hinaus –
stellt, gehandelt und genutzt werden, welche Geschichten sie
durch die Einführung von Geld auf der Basis bestimmter Stoff-
mit und in sich tragen, können wir vermeintlich ungestraft aus-
portionen der allgemein geschätzten Edelmetalle Gold oder
blenden. Allerdings kann das nur ein kleiner Teil der Weltbevöl-
Silber, später auch Kupfer oder Bronze, enorm erleichtert.
kerung, denn die Güterströme fließen nur in die Richtung der
Gold eignete sich besonders gut als Zahlungsmittel. Es wurde
Konsumzentren, dorthin, wo das Geld ist.
in elementarer, metallischer Form in der Natur gefunden, war
Doch bleiben wir in der Stuttgarter Wohnung. Dort hat sich
aber damals schon selten. Wenn es nicht mit anderen Metallen
ein Paar eingerichtet, Mitte 40. Am Abend erwarten die beiden
legiert wurde, war es »unveränderbar« und überstand auch
Gäste. Der Wein ist schon geöffnet, im Ofen schmurgelt ein
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Stoffe erzählen Geschichten
Stoffe erzählen Geschichten 11
Braten. Gegessen wird in der Küche, gerade wird der Tisch gedeckt. Tischdecke, Besteck, Kerzen. Die beiden freuen sich auf einen Abend mit gutem Essen und interessanten Gesprächen.
2 Runde Tische – warum wir lernen müssen, in Kreisläufen zu denken
Es wird viel erzählt werden in dieser Küche – und auch die Küche selbst hat viel zu erzählen. Denn der Blick auf die Entstehungsgeschichte eines Gutes eröffnet neue Perspektiven: Seine Produktion kann unter sehr unterschiedlichen Arbeitsbedingungen erfolgen, mit angepassten oder untauglichen Techni-
Das weiße Tischtuch ist glattgestrichen, Teller werden aufge-
ken, mit geringem oder exorbitant hohem Energieverbrauch,
legt. Besteck, Gläser, eine Kerze in die Mitte. Getragen wird die
durch die angemessene Nutzung von Rohstoffen oder durch
Tafel von einem Tisch aus massiver Eiche. Auf vier Beinen ruht
unverantwortlichen Raubbau. Dieses Spektrum von Geschich-
die Tischplatte, das helle Holz ist gleichmäßig gemasert. Jahr-
ten gerät immer mehr in Vergessenheit; und damit die Entste-
hundertelang ist der Baum gewachsen, hat Jahr für Jahr aus
hungs- und vor allem die Wirkungsgeschichte der Dinge aus
Luft, genauer: aus Kohlendioxid, Wasser, Sonnenlicht und den
dem Blick.
Nährstoffen im Boden Holz und Blätter erzeugt. Mit ihren Wur-
Welches sind die lebenswichtigen, essentiellen Konsumgü-
zeln war die Eiche in der Erde verankert und nahm dort Nähr-
ter, deren Geschichte wir kennen und ernst nehmen sollten?
stoffe und Wasser auf. Aus kleinen Öffnungen in ihren Blättern
Die Geschichten des Schweinebratens im Ofen und die des Ti-
gab sie es wieder frei – und ließ durch denselben Weg, durch
sches? Was kann uns das Handy in der Hosentasche des Gast-
die Stomata, CO2 in sich hinein. In dem Baum hat sich der
gebers erzählen, was sein Hemd und was seine Frisur? Wir tun
Kreislauf des Kohlendioxids mit dem des Wassers getroffen
gut daran, diese Geschichten zu kennen. Denn nur dann kön-
und hat den Boden und sein reiches Leben mit der Atmosphäre
nen wir bewusst und verantwortlich mit all den Konsumgütern
verbunden. Bis sie, gehobelt, verzapft und gedrechselt, in die
umgehen, die uns umgeben – und unseren Lebensstil prägen.
Stuttgarter Küche gewuchtet wurde. Der Tisch bildet dort den
Und teilhaben an den im eigentlichen Sinne des Wortes welt-
Mittelpunkt des Abends. Er erzählt nicht nur die Geschichte
bewegenden Stoff- und Produktgeschichten. Nicht um Verzich-
vom Holz selbst, sondern auch die von Kohlendioxid, Wasser
ten und Entsagen geht es dabei. Konsum an sich ist nicht
und dem Boden, auf dem er gewachsen ist.
schlecht, wenn er von Maß und Respekt gegenüber den Dingen bestimmt ist.
Ein Promi mit schlechtem Ruf Kohlendioxid ist der Promi unter den Gasen: CO2 kennt heute beinahe jeder. Viele Menschen haben Angst vor dem farb- und geruchlosen Stoff, denn CO2 gilt als Klimakiller. Dabei ist Kohlendioxid lebenswichtig, und seine Geschichte uralt. Dieses 12
Stoffe erzählen Geschichten
Ein Promi mit schlechtem Ruf 13