Jean Feyder
MORDS HUNGER Wer profitiert vom Elend der armen Länder ? Vorwort von Jean-Claude Juncker Aus dem Französischen von Michael Bayer und Enrico Heinemann
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Inhalt
Vorwort von Jean-Claude Juncker Einleitung
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Teil I Die Gründe der Ernährungskrise
Übersetzung aus dem Französischen von Michael Bayer ( Teil I und III ) und Enrico Heinemann ( Teil II )
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Der Hunger und die Bauern Die Nahrungskrise Die Landwirtschaft, ein vernachlässigter Sektor Falsche Strategien Der Fall Ghana Haiti und die anderen
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Teil II Was tun ? Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http :/dnb.ddb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Die Entwicklungspolitik überdenken Das Recht auf Nahrung Die Lebensmittelhilfe Der Zugang zu Boden Die Landwirtschaft wieder für die Lebensmittelproduktion ankurbeln 12 Eine nachhaltige Landwirtschaft 13 Eine angemessene Regulierung der Agrarmärkte 14 Die Handelspolitik überprüfen 7 8 9 10 11
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Teil III Die wichtigsten Akteure ISBN 978-3-938060-53-7 © Westend Verlag Frankfurt / Main in der Piper Verlag GmbH, München 2010 Satz : Fotosatz Amann, Aichstetten Druck und Bindung : Pustet, Regensburg Printed in Germany
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Die Europäische Union Die Vereinigten Staaten von Amerika China Indien Brasilien Die Agrotreibstoffe
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Vorwort
Schlussfolgerungen
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Dank Glossar Abkürzungen Anmerkungen Literatur
300 301 308 313 327
Alle sechs Sekunden. Alle sechs Sekunden verhungert ein Kind. Tag für Tag sterben 25 000 Menschen an den Folgen von Hunger und Unterernährung – neun Millionen im Jahr. Die Zahl der weltweit Hungernden hat im Jahr 2009 erstmals die Milliardengrenze überschritten. Jeder sechste Mensch auf der Welt ist nicht in der Lage, sich angemessen zu ernähren. Das grundsätzlichste ihrer Menschenrechte wird Tag für Tag mit Füßen getreten. Für die reiche Welt, für Europäer, Amerikaner und andere ist die Botschaft eindeutig : Wir werden unserer Aufgabe in der Welt und für die Welt nicht gerecht. Es ist nicht so, dass wir uns in der Vergangenheit der sich anbahnenden Hungertragödie nicht bewusst gewesen wären. Es ist nicht so, dass wir tatenlos der Verbreitung von Armut und Hunger zusehen würden. Und es ist auch nicht so, dass wir im Kampf gegen den Hunger auf der ganzen Linie versagt hätten. Immerhin ist die Zahl der Hungernden zwischen 1970 und 1995 um fast 100 Millionen gesenkt worden. Immerhin ist die Kindersterblichkeit seit 1990 um 28 Prozent zurückgegangen. Außerdem wurden zwischen 1996 und 2006 die Voraussetzungen dafür geschaffen, um 34 Millionen afrikanischen Kindern den erstmaligen Schulbesuch – ein Menschenrecht – zu ermöglichen. Die Industrieländer leisten pro Jahr Entwicklungshilfe von 100 Milliarden Euro. Die Europäische Union hat im Jahr 2005 – unter Luxemburger Ratsvorsitz – beschlossen, ihr entwicklungspolitisches Engagement in zwei Etappen zunächst auf 0,56 und dann auf 0,7 Prozent ihres nationalen Reichtums anzuheben. Aber es trifft eben auch zu, dass wir Jahr für Jahr mehr als eine Billion Euro – eine Billion ! – für Militärausgaben bereitstellen. Und es ist ebenfalls so, dass die globale Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2007 ungezählte Menschen in Afrika und Asien in die Greifarme des Hungertodes getrieben hat.
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Die Biotechnologien Die transnationalen Unternehmen Steht Afrika zum Verkauf ? Die Rolle der Zivilgesellschaft und der Bauernverbände
Für meine Frau Juana und meine Töchter Nadine und Sophie
von Jean-Claude Juncker
Vorwort
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Dieser trotz jahrelanger Anstrengungen erschütternde Rückfall führt uns vor Augen, dass Hunger, dass das Grundbedürfnis Nahrung auch in Zeiten der Globalisierung, welche immer mehr Länder in die internationale Wirtschaftsentwicklung eingebunden hat, nicht nur immer noch eine Sorge, sondern ein brennend wichtiges Thema ist. Fragen wie jene, warum gerade einige der ärmsten Länder der Welt, warum gerade Afrika im Abseits der Vorzüge der Globalisierung bleibt, von den Nachteilen aber hart getroffen wird, sind, auch angesichts sichtbarer Erfolge, in den letzen Jahren stärker in der Vordergrund gerückt. Nicht nur in der öffentlichen Debatte, auch in der Zielsetzung der westlichen Entwicklungshilfe – ein Ausdruck, den ich nicht mag, ich spreche lieber von einem Angebot zur Zusammenarbeit an die Entwicklungsländer – ist die Frage der Ernährung, also der Landwirtschaft, vernachlässigt worden. Jean Feyder erinnert uns in seinem mutigen Buch, dass Hunger auch heute noch allgegenwärtig ist. Dass zumal im ländlichen Raum Landwirtschaft, nachhaltiger Ackerbau, eine Überlebensfrage ist. Dass auch schon leichte Produktivitätsgewinne im Anbau von Getreide und Gemüse einen bedeutenden Fortschritt im Kampf gegen den Hunger bedeuten würden. Im reichen Westen wurde die Landwirtschaft auf ihren nur noch geringen Anteil am Bruttonationaleinkommen reduziert. Dies war und bleibt ein grundlegender Irrtum. Die Landwirtschaft ist nicht die Spielwiese der Bauern, sie ist die Grundlage unserer Ernährung. Dies wurde von zu vielen vergessen. Wir haben zugelassen, ja es zum Teil gefördert, dass Lebensmittel wie jedes andere banale Konsumprodukt den kalten Regeln des absoluten Marktes unterworfen wurden. Wir haben zugelassen, dass die Finanzmarktjongleure mit ihren perversen Spekulationsgeschäften aus reiner Gier die Preise von Nahrung heute in die Höhe schießen lassen können und morgen jene von Agrarprodukten aus Entwicklungsländern in den Keller fallen lassen können, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Mit einigen kurzen Mausklicks an einem bunten Computerschirm in einem klimatisierten Großraumbüro stehlen einige wenige in Sekunden mehreren Millionen die Lebens8 Vorwort
grundlage. Dies als Kollateralschaden einfach in Kauf zu nehmen ist das Gegenteil einer ethisch fundierten Marktwirtschaft. Es ist nicht nur verwerflich, es ist ganz einfach kriminell. Die Politik muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass sie nicht nur passiver Zuschauer dieser Entwicklungen ist, sondern aktiver Erfüllungsgehilfe. Es ist leicht, sich im Licht der mehr oder weniger großzügigen Entwicklungszusammenarbeit der reichen Welt zu sonnen. Doch während auf der einen Seite die Entwicklungspolitik sich bemüht, den Ärmsten der Armen auf dem Weg zu einem besseren Leben zu helfen, wird oft, eigentlich regelmäßig, zwei Konferenzräume weiter in Ausübung von Machtpolitik in Reinkultur für die Wirtschaftsinteressen westlicher Konzerne gefochten, eine Politik, aus welcher Konsequenzen mit ungleich größerer Wirkung für Entwicklungsländer entstehen. Immer wieder müssen wir feststellen, dass das, was mit der rechten Hand gegeben wurde, mit der linken doppelt und dreifach wieder genommen wurde ; dass, um die Ertragsfähigkeit eines Konzerns bei uns um einige Cent zu erhöhen, ganze Märkte in Afrika untergraben und zerstört werden. Wir müssen endlich zu einer einheitlichen und ganzheitlichen Politik gegenüber den Entwicklungsländern kommen und aus der perversen Logik ausbrechen, in welcher die Entwicklungszusammenarbeit eigentlich nur die Scherben unserer eigenen Wirtschaftsund Handelspolitik zusammenkittet. Während zu Hause Solidarität mit den Ärmsten beschworen wird, verfolgen internationale Organisationen, deren Richtlinien von uns – von Amerikanern und Europäern – bestimmt werden, eine Politik, welche diesen Anstrengungen letztendlich entgegenläuft. Wie oft muss man feststellen, dass ein Bittsteller bei einer internationalen Organisation Bedingungen gesetzt bekommt, welche wir in der reichen Welt nie akzeptieren würden. Gerade die Landwirtschaft ist ein aussagekräftiges Beispiel. Weder die USA noch die Europäische Union haben ihre Landwirtschaft komplett den nackten Regeln des Marktes unterworfen. Im Gegenteil ! Heute kann man feststellen, dass die Zölle auf Agrarprodukte in so manchem Entwicklungsland niedriger sind als die in der reichen Welt. Vorwort
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Bei vielen ist die Versuchung groß, 50 Jahre nach der großen Welle der Entkolonialisierung im Jahre 1960, die Augen von Afrika abzuwenden, jegliche Verantwortung von sich zu weisen. Doch machen wir uns nicht vor. Wenn wir schon nicht aus moralischer Verantwortung den Ärmsten versuchen zu helfen, sollten wir es wenigstens aus Eigennutz tun. Wenn es uns morgen besser geht als heute, es aber den Entwicklungsländern schlechter geht als gestern, dann steuern wir auf eine globale Katastrophe zu, von deren Auswirkungen wir mindestens so betroffen sein werden wie die, die dem Hungertod in die Augen sehen. Wir müssen uns klarmachen, dass die Weltbevölkerung zwischen 2010 und 2050 von 6,8 Milliarden auf 9,1 Milliarden Menschen wachsen wird. In vier Jahrzehnten wird die Zahl derer, die zu Recht so essen – oder sich zumindest satt essen – wollen wie wir, um 34 Prozent steigen. Zu glauben, diese Entwicklung könnte uns bei gleichbleibender, ungerechter Verteilung des Reichtums egal sein, wäre äußerst naiv. Wenn wir durch unser Benehmen diesen Bevölkerungen die letzte Hoffnung auf ein besseres, ein menschenwürdiges Leben nehmen, dürfen wir nicht erwarten, dass ihre Hoffungslosigkeit ohne Konsequenzen auf unser eigenes Leben bleibt. Wenn auch nur zehn Prozent der 1,5 Milliarden Menschen, welche 2020 auf dem afrikanischen Kontinent leben werden, sich in Bewegung setzen, steht Europa vor riesigen Herausforderungen. Wir werden das dann Globalisierung nennen. Es ist aber eigentlich ein hausgemachtes Problem, weil wir absolut vermeiden können, dass es zu dieser interkontinentalen Bewegung kommen wird. Entwicklungspolitik ist nichts anderes als Friedenspolitik mit anderen Mitteln. Mehr Anstrengungen im Bereich der internationalen Solidarität sind daher absolut notwendig. Die Welt muss gerechter werden. Es steht außer Frage, dass Europa dazu einen Beitrag leisten muss. Implizit heißt das, dass wir die Weltwirtschaftsordnung in Richtung Solidarität umorganisieren und folgerichtig zum Teilen bereit sein müssen. Wenige sind so qualifiziert wie Jean Feyder, dieses Problemfeld 10 Vorwort
zu ergründen, zu beschreiben, zu erklären. Als Direktor für Entwicklungszusammenarbeit im Luxemburger Außenministerium hat er zwischen 1998 und 2005 maßgeblich am Ausbau der Solidarität Luxemburgs mit den ärmsten Ländern dieser Welt mitgewirkt. In seiner Amtszeit hat die öffentliche Entwicklungshilfe des Großherzogtums – das wichtigste Stück Außenpolitik, das Luxemburg zu bieten hat – die internationale Zielmarke von 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens überschritten. Sie ist seither auf über ein Prozent gestiegen – was nur noch in zwei anderen Ländern, Schweden und Norwegen, der Fall ist. Die Anerkennung der Sachkenntnis von Botschafter Feyder geht jedoch weit über die Grenzen Luxemburgs hinaus. Seit 2005 ist er bei der Welthandelsorganisation ( WTO ) nicht nur Ständiger Vertreter seines Heimatlandes, sondern – ab 2007 – auch Vorsitzender des Komitees für die am wenigsten entwickelten Länder der Welt. 2009 wurde ihm auch die Präsidentschaft der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung ( UNCTAD ) anvertraut. Wie im Laufe seiner ganzen beruflichen Karriere ist Jean Feyder hierbei trotz aller Zwänge und Gepflogenheiten der Diplomatie seinen ursprünglichen Überzeugungen stets treu geblieben : Nicht zuletzt davon zeugt dieses wichtige und mutige Buch.
Einleitung
Hunger und Mangelernährung gehören immer noch zu den schlimmsten Geißeln der Menschheit. Dabei hatte die internationale Gemeinschaft ihnen im Jahr 2000 den Krieg erklärt, als die Staats- und Regierungschefs der Welt eine neue Strategie der Armutsbekämpfung verabschiedeten und die sogenannten Jahrtausendentwicklungsziele ( MDG s / Millennium Development Goals ) verkündeten. Anhand präziser Indikatoren sollten die verschiedenen Erscheinungsformen von Armut bis zum Jahr 2015 verringert werden. Dabei strebte man an, den Anteil der Hungernden und Unterernährten an der Weltbevölkerung – damals ungefähr 840 Millionen – bis dahin um die Hälfte zu reduzieren. Wie sieht zehn Jahre später die Zwischenbilanz aus ? Statt Fortschritte in der gewünschten Richtung sehen wir im Gegenteil eine rasche Ausweitung der Armut : Heute leiden über eine Milliarde, also fast einer von sechs Menschen, an Hunger und Mangelernährung. Hier zeigt sich wohl eine der tödlichsten Folgen der weltweiten Ernährungskrise sowie der Finanzkrise, die in den letzten Jahren zu einer globalen Rezession geführt hat. Nach Ansicht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UN ( FAO / Food and Agriculture Organization ) kam es durch die beiden rasch aufeinanderfolgenden großen Krisen zu dem schwersten Rückschlag für eine gesicherte Lebensmittelversorgung seit Jahrzehnten. Beide Krisen führten dazu, dass der Hunger auf der Welt nicht zurückging, sondern sogar anstieg. Dabei hebt die FAO hervor, dass die Anstrengungen vor den Krisen nicht groß genug gewesen seien, um das erste der Jahrtausendentwicklungsziele zu erreichen. Und bei diesem Ziel ging es nur um die Hälfte der hungernden Weltbevölkerung. Können wir es hinnehmen, wenn auch nur aus Gründen der Ethik, die andere Hälfte einfach zu vergessen ? 12
Einleitung
Mit Blick auf die Ernährungskrise von 2007 / 2008 wurden als Erklärung zahlreiche Ursachen ausgemacht. Genannt wurden natürliche und konjunkturelle Phänomene wie beispielsweise eine Dürre in Australien. Eine weitere Ursache sah man in den Spekulationen an den Börsen, die heftig kritisiert wurden. Ebenso erkannte man einen Grund für die Ernährungskrise darin, dass landwirtschaftliche Böden zur Erzeugung von Agrokraftstoffen genutzt werden. Trotz letzterer Erkenntnis ist diese Bodennutzung weiter auf dem Vormarsch. Viele begnügen sich mit diesen Erklärungen und fügen noch die staatliche Misswirtschaft und Korruption als weitere Ursachen für die heutige Armut in Afrika und anderswo hinzu. Tatsächlich ist beides in zahlreichen Ländern der Erde ein bedeutendes Problem, das entschieden bekämpft werden muss – einschließlich der Korruption und den zuweilen skandalösen Lobbypraktiken vieler multinationaler Konzerne. Aber auch die tieferliegenden, strukturellen Ursachen für die Armut dürfen nicht vergessen werden. Hierzu gehört, dass in einen lange vernachlässigten Agrarsektor viel zu wenig investiert wurde. So sank zwischen 1980 und 2004 der Anteil der öffentlichen Entwicklungshilfe für den ländlichen und landwirtschaftlichen Bereich von 18 auf vier Prozent. Wie erklärt sich eine solche Verteilung finanzieller Ressourcen zur Armutsbekämpfung angesichts der Tatsache, dass doch drei Viertel der Ärmsten – der Hungernden und Mangelernährten – gerade im ländlichen Raum leben ? Immerhin herrschte auf den Gipfeltreffen der FAO seit 2008 Übereinstimmung darüber, dass hier dringend eine Trendwende notwendig ist. Die landwirtschaftliche Produktion muss mit Hilfe von Investitionen ausgeweitet werden. Dass die Mehrzahl der Hungernden und Mangelernährten auf dem Land lebt – ein Paradox –, ist vielen nicht bekannt. Ebenso wenig wie die Anzahl derer, die noch immer direkt oder indirekt von der Erzeugung von Nahrungsmitteln leben. Sie stellen insgesamt um die 45 Prozent der Weltbevölkerung. In China sind es fast 50, in Indien 60 und in Subsahara-Afrika zwischen 60 und 80 Prozent. Der FAO zufolge sind von den Hungernden und Mangelernährten Einleitung
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50 Prozent Kleinbauern, 20 Prozent landlose Bauern und zehn Prozent viehhaltende Nomaden oder einfache Fischer. 20 Prozent leben
in den Elendsvierteln der Städte. Von diesen Menschen ist nur ein beschränkter Teil von Kriegen, Bürgerkriegen oder Naturkatastrophen betroffen. Dagegen sind alle aus dieser ländlichen sozialen Schicht vornehmlich Opfer einer Marginalisierung und Ausgrenzung von Seiten der politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Eliten der einzelnen Staaten, während die Macht, das Wissen und folglich das Kapital – auch die Entwicklungsgelder – vornehmlich auf die städtischen Milieus konzentriert sind. Eine Kluft aus Gleichgültigkeit, Unverständnis und Herablassung trennt die Stadt vom Land. Josué de Castro, der brasilianische Soziologe und damalige Vorsitzende des Exekutivkomitees der FAO , sagte dazu Anfang der 1950er-Jahre : » Hunger bedeutet Ausschluss. Die Nichtteilhabe am Boden, am Einkommen, an der Arbeit, an der Bezahlung, am Leben und an der bürgerlichen Existenz. Wenn eine Person nichts mehr zu essen hat, fehlt ihr auch alles Übrige. Dies ist eine moderne Form der Verbannung. Sie kommt dem Tod im Leben gleich. «1 Andere tieferliegende Ursachen für Hunger und Mangelernährung sind in der Geschichte und vor allem in den jahrhundertealten Wirtschaftsstrukturen der ärmsten Länder zu finden. Afrikanische und viele andere Entwicklungsländer hatten mindestens fünf Jahrhunderte lang keinerlei Kontrolle über das eigene Schicksal. Auf den Handel mit schwarzen Sklaven ab dem 16. Jahrhundert folgten Jahrhunderte der Kolonialisierung – mit tiefgreifenden Verwerfungen in den ursprünglichen demographischen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnissen. Neue Wirtschaftsstrukturen entstanden, die unter Missachtung der Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung auf die Befriedigung einer Nachfrage in den Kolonialländern abzielten – etwa mit der Anlage von Plantagen für Kaffee, Tee, Kakao, Bananen und Ölfrüchten für den Export. Die Entkolonialisierung setzte erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein, wobei viele afrikanische Länder erst um 1960, also vor gerade einmal 50 Jahren, in die Unabhängigkeit entlassen wurden. Ihr 14 Einleitung
staatlicher Neubeginn erfolgte unter schwierigen Bedingungen, die von den Spannungen und Rivalitäten des Kalten Krieges geprägt waren. Aber viele der neuen Staaten trieben die Entwicklung der Landwirtschaft voran, um ihre Bevölkerung zu ernähren. Trotz ihrer zentralistischen – und damit kostspieligen und ineffizienten – Verwaltungsmethoden erreichten viele ein hohes Maß an Selbstversorgung. Kaum 20 Jahre später führte in den meisten Entwicklungsländern eine Intervention von außen erneut dazu, dass sich ihre Fortschritte um mehrere Jahrzehnte verzögerten : Über 100 vor allem afrikanische und lateinamerikanische Länder waren in die Schuldenfalle geraten und litten unter einer verschlechterten Handelsbilanz, so dass sie bei der Weltbank und beim Internationalen Währungsfonds Kredite aufnehmen mussten. Und die wurden ihnen nur unter der Bedingung einer radikal neuen Politik gewährt. Der in den 1980erJahren eingeführte sogenannte Washington Consensus verlangte Maßnahmen zur Strukturanpassung, mit denen das makroökonomische Gleichgewicht wiederhergestellt werden sollte. Die Stunde der Privatisierung, Deregulierung und Liberalisierung war gekommen. Der Staat sollte sich aus wirtschaftlichen Aktivitäten möglichst weit zurückzuziehen, auch aus der Förderung der Landwirtschaft, des Gesundheitswesens und der Bildung. Die Entwicklungsländer wurden aufgerufen, sich an den angeblichen Vorteilen im internationalen Wettbewerb zu orientieren und erneut die Exportwirtschaft anzukurbeln, um mit den Erlösen ihre Auslandsschulden bedienen zu können. Umgekehrt sollten die Verbraucher durch eine Öffnung der Märkte Zugang zu billigen Importgütern bekommen. Aber nun stellt die Ernährungskrise dieses propagierte Entwicklungsmodell radikal in Frage. Fast drei Jahrzehnte lang wurde die Produktion von Nahrungsmitteln vernachlässigt oder lag ganz danieder. Wer weiß schon, dass Hunderte von Millionen kleinbäuerlicher Familien, die das Gros der hungernden Massen bilden, durchschnittlich nur ein bis zwei Hektar oder noch weniger Boden bebauen – mit einer Hacke und einer Machete als den einzigen Werkzeugen ? Dagegen verfügt ein europäiEinleitung
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scher Bauer beispielsweise in Deutschland im Durchschnitt über 40 Hektar Land, die er mit immer leistungsstärkeren Traktoren und Maschinen und gewaltigen Mengen an Pflanzenschutzmitteln und Düngern bewirtschaftet. Die im Washington Consensus geforderten Maßnahmen zur Strukturanpassung organisierten die Wirtschaft in den Entwicklungsländern grundlegend neu. Die Bauern verloren nicht nur die Unterstützung ihrer Regierungen, sondern litten zudem unter den verheerenden Folgen der neuen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Zwar brachten Importe zu Dumpingpreisen den Verbrauchern in den Städten Vorteile, doch sie benachteiligten die nationalen Erzeuger, deren Produkte immer weniger Käufer fanden. Die rapide steigenden Einfuhren von Hühnerfleisch, Reis, Tomatenkonzentrat und Milchpulver drängten die lokale Produktion ins Abseits und zerstörten die Existenzen von Zigmillionen Bauernfamilien. Derweil verschwanden auch im Handwerk und der Industrie wegen der mangelnden internationalen Wettbewerbsfähigkeit zahllose Arbeitsplätze. Darüber hinaus sorgte die weltweit vorangetriebene wirtschaftliche Liberalisierung dafür, dass die Erzeuger ihre Produktionskosten auf den nationalen und internationalen Märkten nicht mehr decken konnten und können – eine Situation, unter der heute auch Europas Milchbauern leiden. Der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung ( UNCTAD ) zufolge stürzten zwischen 1980 und 2003 die Preise für landwirtschaftliche Rohstoffe und Lebensmittel um 60 beziehungsweise 73 Prozent. 2003 lag der Preis von Kaffee verglichen mit 1980 bei nur noch 17 und der von Baumwolle bei nur noch 33 Prozent.2 Aber während die Erzeuger des Nordens im allgemeinen staatliche Hilfen in Form von Ausgleichszahlungen erhalten, die bei vielen bis zu 60 Prozent der Einnahmen ausmachen, verfügen die Bauern des Südens über keine derartige Unterstützung. Sie können ihre Kosten immer weniger decken. Timothy Wise, Forschungsdirektor an der Tufts University, macht für den Hunger und die anhaltende Armut von Bauern billige Lebensmittel verantwortlich.3 16 Einleitung
Das führt dazu, dass ungefähr 50 Millionen Menschen jedes Jahr in der Landflucht nach wie vor den einzigen Ausweg aus der Hoffnungslosigkeit sehen. Aber welches Leben finden sie in Elendsvierteln vor, in denen sich die Verzweiflung bei jeder Krise in sozialen Unruhen Luft macht ? Den Abstieg der Kleinbauern – mehrheitlich Frauen – in diese Hölle illustriert eine Untersuchung zu den Vorgängen in Ghana und Haiti. Beide Länder konnten sich wie viele andere zu Beginn der 1970er-Jahre mit dem Grundnahrungsmittel Reis praktisch selbst versorgen. Im Zug der verordneten Strukturanpassung sanken die Einfuhrzölle auf ausländischen Reis in Ghana von 50 auf 20 und in Haiti von 50 auf drei Prozent. Haiti wurde so zu dem am stärksten » liberalisierten « Land der Welt. In Ghana, Haiti und vielen anderen Staaten tauchten die – zum Teil hoch subventionierten – Reisimporte gerade zu dem Zeitpunkt auf, da die nationalen Erträge stagnierten oder sogar zurückgingen. Als Ergebnis ruinierten sie Hunderttausende von Kleinerzeugern und trieben sie in die Verzweiflung. Ein ähnliches Schicksal ereilte die lokalen Industrieproduzenten. Ich habe seit Jahren diese Fehlentwicklung für die haitianische Landwirtschaft und Industrie in verschiedenen Gremien der Vereinten Nationen angeprangert : im UN -Menschenrechtsrat ( HRC / Human Rights Council ), im Wirtschafts- und Sozialrat ( ECOSOC / Economic and Social Council ) sowie in der UNCTAD . Dies stieß nicht immer auf Zustimmung. Bemerkenswert ist, dass Bill Clinton, der ehemalige US -Präsident, der gegenwärtig UN -Sonderbotschafter für Haiti ist, im März 2010 vor einem US -amerikanischen Senatsausschuss offiziell einräumte, dass diese Politik, die unter seiner Präsidentschaft forciert worden war, ein Fehler gewesen sei. Bill Clinton ermutigt uns, aus den Krisen die Lehren zu ziehen, für die es nun höchste Zeit ist. Das Entwicklungsmodell muss vornehmlich unter dem Aspekt der Einhaltung der Menschenrechte – und dazu zählt das Recht auf Nahrung – neu überdacht werden. So wie in den Industriestaaten die Regierungen angesichts des Zusammenbruchs der Märkte nach Wegen aus der Finanz- und Wirtschaftskrise suchten, so muss auch in den Entwicklungsländern der Staat angeEinleitung
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messen rehabilitiert werden und seiner Verantwortung nachkommen, um die Entwicklung zu fördern. Es ist notwendig, dass der Staat darauf hinwirkt, dass in verschiedenen Bereichen der Wirtschaft einschließlich der Landwirtschaft größere Produktionskapazitäten und damit möglichst viele Arbeitsplätze entstehen. Auch eine nachhaltige UN -Strategie zur Entwicklung ist gehalten, der Schaffung dieser Kapazitäten Rechnung tragen. Statt nur Symptome zu kurieren, muss sie vornehmlich die Ursachen der Armut bekämpfen. Solange diese Kapazitäten noch im Entstehen begriffen, fragil und im internationalen Wettbewerb schwach sind, benötigen sie den Schutz einer Regulierung. Die Wirtschaftsentwicklung in den europäischen Ländern seit dem Mittelalter, der Marshallplan und die Entwicklung in Ostasien nach dem Zweiten Weltkrieg weisen hier den Weg. Diese historischen Erfahrungen lassen sich zum Vorteil aller Parteien nutzen. Die Strategien, mit denen sich Hunger und Mangelernährung eindämmen lassen, sind komplex und müssen der Vielfalt der Bewirtschaftungsformen und der Verhältnisse im jeweiligen Land angepasst sein. Bei allen Unterschieden stellt sich jedoch in zahlreichen Entwicklungsländern die entscheidende Frage nach einer Agrarreform und dem Zugang zu Boden. Beides bildet eine Voraussetzung für jede erneute Ausweitung der Agrarproduktion und jede substantielle Verringerung von Armut. Die Frage nach der Bodenverteilung hat unleugbar einen heiklen politischen Charakter. Allerdings hat sich gezeigt, dass diejenigen Länder, die eine Bodenreform besonders erfolgreich umsetzten, die Armut tatsächlich zurückdrängen konnten : so China, Südkorea oder Taiwan, um nur die offensichtlichsten Fälle zu nennen. Als eine interessante Option hat China vorgemacht, dass der Staat den Bauern den Zugang zu Boden garantieren kann, ohne ihnen unbedingt individuelle Besitzrechte zuzuerkennen. Eine Lehre aus der Ernährungskrise sollte für verantwortungsvoll handelnde Regierungen darin bestehen, den bäuerlichen Familienbetrieben erneut Priorität einzuräumen. Die Unabhängigkeit von Lebensmittelimporten liegt unmittelbar im politischen Interesse der Staaten, für die sie sogar eine Frage der nationalen Souveränität ist. 18 Einleitung
Die Entscheidung zugunsten einer politischen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit hat bereits die Europäische Union beim Aufbau seiner Gemeinsamen Agrarpolitik ( GAP ) getroffen, und auch Länder wie China und Indien gingen diesen Weg. Wie das Beispiel der Staaten Ostasiens zeigt, bewährte sich der bäuerliche Kleinbetrieb so gut, dass er wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken sollte. Nationale wie internationale Finanzierungen müssen dazu beitragen, die ländlichen Infrastrukturen zu verbessern und den Bauern Zugang zu Rohstoffen, Krediten und Know-how zu erleichtern. Wie von der Weltbank inzwischen zu hören ist, steigern Investitionen in die Landwirtschaft die Produktivität des Sektors nicht nur, sie können Armut auch dreimal so schnell verringern wie Investitionen in andere Wirtschaftsbereiche. Nur dank einer Politik, die zu profitablen und stabilen Preisen führt, kann die Masse der Bauern der Verarmung entkommen, in die sie seit Jahrzehnten immer tiefer hineingerieten. Starke Preisschwankungen hemmen jede Investitionstätigkeit. Diese Schwankungen einzuschränken setzt einen Bruch mit der neoliberalen Wirtschaftspolitik und eine Entkoppelung der Weltmärkte voraus. Neue Regeln für die Agrarmärkte müssen fragile und schwache Wettbewerber in der Landwirtschaft vor Dumping und Preisverfall absichern – insbesondere durch Schutz dieser Märkte und ein öffentliches Vermarktungssystem, das unter Beteiligung der Bauernverbände aufgebaut und betrieben wird. Ergänzt werden könnte diese Struktur durch den Aufbau eines Netzwerks zur Lagerhaltung auf nationaler und regionaler Ebene. Der Klimawandel stellt die Landwirte weltweit vor noch nie dagewesene Herausforderungen. Die Erosion der Böden, die schwindende Artenvielfalt, die Verschmutzung von Gewässern und der Vormarsch der Wüsten zwingen zu schmerzhaften, unvermeidlichen Anpassungen. Wie sich zeigt, ist der bäuerliche Kleinbetrieb am besten geeignet, um sich solchen Herausforderungen zu stellen. Diese eher ökologisch orientierte Landwirtschaft, die Rücksicht auf die Natur nimmt, weist den Weg in eine ausgeweitete, verbesserte Produktion, die mit geringerem Aufwand betrieben wird. Einleitung
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In der Welthandelsorganisation ( WTO / World Trade Organization ) und den Verhandlungen der Doha-Runde spielt die Landwirtschaft inzwischen eine zentrale Rolle. Aber hier gibt es vor allem verbales Bekenntnis, Entwicklung fördern und die Ärmsten unterstützen zu wollen, weniger Taten. Denn von den geltenden und in Vorbereitung begriffenen Regeln für den Welthandel profitieren maßgeblich die reichen Länder, die Schwellenländer und die multinationalen Konzerne. Um die Interessen der Ärmsten zu berücksichtigen, müssen die Ziele der WTO neu definiert werden – so mit Blick auf die Verbesserung des Lebensstandards der Bevölkerungen insbesondere durch wirtschaftspolitische Maßnahmen, die möglichst viel Beschäftigung und Kaufkraft für die untersten Einkommensgruppen schaffen. Zur Förderung der Entwicklung muss das Programm der DohaRunde dem gewaltigen Produktivitätsgefälle in der globalen Landwirtschaft Rechnung tragen : Statt einer weiteren Liberalisierung benötigen die ärmsten Entwicklungsländer einen neuerlichen Schutz ihrer Märkte. Den Dumpingpreisen muss mit der Einführung von transparenten und klaren Regeln Einhalt geboten werden. Die bilateralen Handelsabkommen mit den ärmsten Ländern sollten auf dem Prinzip der Nichtreziprozität beruhen. Die Weltbank, der Internationale Währungsfonds ( IWF ) und die Industrieländer müssen akzeptieren, dass die schwächsten Länder Regeln der WTO , die protektionistische Maßnahmen zulassen, so flexibel wie möglich für sich nutzen.
TEIL I Die Gründe der Ernährungskrise