DE Ein Auto rast 90 Minuten lang auf einen Abgrund zu. Auf den Klimakollaps? Auf das Ende der Menschheit? Oder fährt es doch ins Krankenhaus, um ein Kind zur Welt zu bringen? Die genauso ungewöhnliche wie magnetisierende erste Theaterinszenierung der bildenden Künstlerin Agnieszka Polska, die mit dem renommierten Preis der Nationalgalerie Berlin ausgezeichnet wurde, ist ein hypnotischer ScienceFictionRoadtrip. Während Landschaften vorbeirauschen, wird unter atmosphärischer Musik das verhängnisvolle Verhältnis von Mensch und Maschine, von ökologischer und humanitärer Katastrophe radikal auf die Bühne gebracht. Die Spieler:innen im Auto wechseln dabei unablässig ihre Rollen: mal sind sie VaterMutterKind, mal GelegenheitsMitfahrer:innen. Die rasende Fahrt bringt sie aus einer düsteren Vergangenheit in eine ungewisse Zukunft. Die Frage ist nur: Was ist schlimmer – was hinter oder was vor uns liegt?
EN A car is racing towards an abyss for ninety minutes. Climate collapse? The end of humanity? Or is it going to a hospital, for a child to be born? Visual artist Agnieszka Polska, awarded the renowned Preis der Nationalgalerie in Berlin, brings her first production to the stage. It is as unusual as it is magnetising – a hypnotic science fiction road trip. While landscapes rush by and atmospheric music sounds, the disastrous relationship of human and machine, of ecological and humanitarian catastrophe is radically enacted on stage. The actors in the car are constantly switching their roles: one minute they are motherfather child, the next they are occasional car sharers. The breakneck drive is taking them from a dark past into an uncertain future. The only question is: what is worse –that which is behind us or that which is yet to come?
16. / 17. / 18. Juni, 20.30 Uhr
Halle G im MuseumsQuartier
Englisch
deutsche Übertitel
1 Std. 25 Min.
Publikumsgespräch
17. Juni, im Anschluss an die Vorstellung
Hinweise
Empfohlen ab 14 Jahren
In der Vorstellung werden Stroboskopeffekte eingesetzt.
Bei der deutschen Übertitelung wird aufgrund begrenzter Zeichenanzahl und hoher Lesegeschwindigkeit auf das Gendern verzichtet. Wir bitten um Verständnis.
Text, Regie Agniezska Polska Mit Albano Jerónimo, Iris Cayatte, Vera Mantero, Bartosz Bielenia, Nina Guo Voice-over Jasmina Polak Dramaturgische Beratung Olga Drygas Musik Igor Klaczyski Licht Rui Monteiro Lichttechnik Teresa Antunes Video, Sounddesign André Teixeira Digitale Animation Puppen Jeremy Coubrough Animation Bühnenvideos Ewa Polska Produktionsleitung Hugo Alves Caroça (BoCA) Technische Leitung Alexander Istrate Übersetzung Übertitel, Übertitel Simona Weber
Auftragswerk und Produktion BoCA – Biennial of Contemporary Arts (Lissabon) Coproduction DE SINGEL (Antwerpen), Nowy Teatr (Warschau) durchgeführt vom Team der Wiener Festwochen | Freie Republik Wien
Uraufführung September 2023, BoCA – Biennial of Contemporary Arts (Lissabon)
AGNIESZKA POLSKA IM GESPRÄCH
Wie ist The Talking Car entstanden? Welche Idee gab den Anstoß für diese Geschichte?
The Talking Car beruht auf vielen verschiedenen Methoden, die ich als bildende Künstlerin und Filmemacherin entwickelt habe. Ich hatte die Vision eines Stücks, in dem Menschen in einem Auto festsitzen. Mich interessierte die Choreografie dieser Situation, in der sich die Darsteller:innen für die gesamte Dauer in einem geschlossenen Raum befinden. Die wichtigsten Themen dieses Werks auf der Gefühlsebene sind Verwirrung und Desorientierung in der heutigen Welt im Zusammenhang mit der Technologie. Das ist es, womit sich die Figuren auseinandersetzen müssen. Sie blicken der Zukunft voll Angst entgegen, aber auch voller Hoffnung. Und natürlich sind diese beiden Gefühle miteinander verbunden. Ihre Beziehung zu Marlene, dem Auto, das im weiteren Sinn für künstliche Intelligenz steht, ist stark dysfunktional. Sie erwarten von Marlene, dass sie den Menschen auf vollkommene Weise dient. Letztlich gibt es jedoch zwischen den Menschen und Marlene kein echtes Verständnis.
Die Figuren im Stück wirken, nicht zuletzt aufgrund ihrer Namen, wie Allegorien bestimmter Gefühle, gemeinsamer Geschichten und Sozialisierungsformen. Da ist eine Schwangere, die eine komplexe und schwierige Beziehung zu ihrer Mutter bzw. Erinnerung an sie hat; ein Bursche, der seinen verschollenen Freund sucht; und ein Mann, der aus armen Verhältnissen stammt und sein Schicksal oder das, was er als seine Mission sieht, nicht verwirklichen kann. Was stellen diese Figuren in unserer heutigen Welt dar und was könnte ihre Bedeutung in Hinblick auf die Zukunft sein?
Ich sehe diese Figuren nicht als Allegorien. Für mich stehen sie vielmehr für sehr reale psychologische Konstrukte, wenn auch eingebettet in die surrealen Verhältnisse einer apokalyptischen Welt. So weit hergeholt ist das übrigens gar
nicht, schließlich leben wir tatsächlich in einer apokalyptischen Welt. Aber im Stück wird es natürlich auf die Spitze getrieben.
Die Figuren beruhen, wie das Stück selbst, in einem gewissen Ausmaß auf Referenzen. Zum Beispiel stellt sich der Bursche als Tom Dacre, der kleine Schornsteinfeger aus einem Gedicht von William Blake, vor. Der Mann träumt von der Stadt Bellona aus Samuel L. Delanys Dhalgren – und fairerweise muss ich erwähnen, dass das gesamte Setting des Stücks an die zerrüttete und unwirkliche Atmosphäre in Delanys Roman angelehnt ist. Die Frau wiederum ist schwanger, so wie ich es war, als ich The Talking Car geschrieben habe. Das gesamte Stück ist gespickt von diversen kulturellen und persönlichen Referenzen, die den Zweck haben, die Zuschauer:in nen in ein komplexes Netz zu verstricken, das nicht eindeutig einer einzigen Zeit zuordenbar ist. Der Bursche zum Beispiel ist ein ausgebeuteter Rauchfangkehrer, der tausend Kilometer lange Schornsteine der Zukunft putzt und dessen Leben weniger wert ist als eine Maschine. Ich möchte die ewig wiederkehrenden Motive aufzeigen, die traurigerweise nie nur der Vergangenheit angehören.
Erzählen Sie uns ein wenig über Ihre Arbeit mit einer internationalen Besetzung, die Darsteller:innen aus Portugal, Polen und den Vereinigten Staaten umfasst.
Einige der Darsteller:innen, mit denen ich in The Talking Car arbeite, haben bereits in meinen früheren Arbeiten, in meinen Filmen mitgewirkt. Ich kannte sie also teilweise schon, etwa Bartosz Bielenia, mit dem ich bei meinem ersten Spielfilm Hurrah, we are still alive! und meiner großflächigen Installation The Demon’s Brain zusammengearbeitet habe. Neu war für mich, dass wir eine sehr lange Probenzeit hatten, was beim Film praktisch nie der Fall ist, und das war großartig. Ich war überrascht zu sehen, wie sehr man sich psychologisch auf eine Figur einlassen
kann, wenn man so viel Zeit für die Entwicklung der Charaktere hat. Die Besetzung hat intensiv zusammengewirkt, um die psychologischen Ebenen des Skripts herauszuarbeiten und zu erforschen – Ebenen, die ich zum Teil selbst nicht vermutet hätte. Es war wunderbar, mit dieser Truppe zu arbeiten – Iris Cayatte, Albano Jerónimo, Bartosz Bielenia, Vera Mantero, Nina Guo –, sie alle sind absolut brillant, und wir hatten sehr viel Spaß.
Was war für Sie die größte Herausforderung beim Schreiben und Regieführen für die Bühne?
Üblicherweise schreibe ich Skripts für Filme, unter anderem Spielfilme, weshalb dieser Aspekt für mich nichts Ungewöhnliches war. Die größte Herausforderung beim Schreiben und Regieführen für die Bühne bestand für mich darin, dass die Dinge am Ende außer Kontrolle geraten können. Beim Filmemachen weiß ich, wie das Ergebnis aussehen, wie die Erzählung am Ende klingen wird. Beim Theater hingegen kann immer etwas Unvorhergesehenes passieren. Das ist eine der wertvollsten Qualitäten von Theater: Wir haben es mit etwas zu tun, das sich bei jeder Vorstellung organisch weiterentwickelt.
Das Umweltdesaster ist, ebenso wie die Bedeutung von Geschichten in der äußerst konkreten Gestaltung und Umgestaltung der Welt, ein wiederkehrendes Thema in Ihren Werken. Birgt die Erzählung von The Talking Car ein mögliches Szenario für eine Zukunft, die sich nicht unterkriegen lässt? Ist der Zeitpunkt des Endes der Welt nicht zugleich der ihres Anfangs?
Ich glaube nicht, dass es möglich ist, eine neue Welt auf den Trümmern der alten zu errichten. Andererseits wird die Welt nie aufhören zu existieren, oder? Irgendwie wird es weitergehen, wenn auch vielleicht ohne Menschen. Ich möchte in The Talking Car nicht besonders pessimistisch sein. Ich denke, dass die letzten Szenen des Stücks durchaus Grund zur Hoffnung geben. Diese Hoffnung bezieht sich allerdings auf etwas, mit dem wir nicht unbedingt gerechnet haben. Solche positiven Schlusspunkte werden also im Wesentlichen nicht von uns Menschen geschrieben, auch nicht von unseren Erwartungen oder von unseren Wünschen. Geschichten selbst sind in meinen Augen etwas, das die Menschheit immer schon angetrieben hat: als Quelle unserer Identität, Spiegelbild unserer Visionen von Vergangenheit und Zukunft und Instrument zur Speicherung von Informationen. Es sieht so aus, als würden wir eine Stufe der Entwicklung erreichen, in der unsere Geschichte zwar weitergeht, wir selbst aber nicht mehr die Erschaffenden, sondern die Empfangenden sind. Das Weiterschreiben unserer Geschichte übernimmt nun die Technologie, die wir geschaffen haben. Das ist es, was ich mit den letzten Szenen von The Talking Car andeuten will.
Agnieszka Polska, 1985 in Lublin (Polen) geboren, ist eine polnische Videokünstlerin und Fotografin, die mit Film, Animation und Fotografie arbeitet. Ihre traumartigen Videos erforschen Zeit und Erinnerung. Sie entwickelt ihre computergenerierten Medienarbeiten aus der komplexen Beziehung zwischen Sprache, Wissenschaft und Geschichte, um den Fokus auf das Individuum und die soziale Verantwortung zu richten. Sie versucht, die überwältigende ethische Ambiguität unserer Zeit mit poetischen Mitteln zu beschreiben, genauso wie sie versucht, die Beziehung zwischen einem Individuum und seiner Umgebung durch die ständige Verschiebung der Erzählung anhand verschiedener Größenordnungen zu beschreiben. Die Protagonist:innen ihrer Animationsvideos und -filme sind oft historische Künstler:innen – solche, die die Kunst hinter sich gelassen haben oder ihre eigene Rolle als Künstler:in diskreditiert haben. Polskas Videos nehmen eine halluzinatorische Form an, die größtenteils aus gefundenen, digital manipulierten Bildern besteht. Viele ihrer Arbeiten untersuchen verschiedene Prozesse der Beeinflussung, Legitimierung oder Ausgrenzung in den Bereichen Sprache, Bewusstsein und Geschichte. Um diese Prozesse zu beschreiben, setzt Polska visuelle und akustische Reize ein, um den:die Betrachter:in zu beeinflussen. Agnieszka Polska war 2017 Preisträgerin des Preises der Nationalgalerie (Berlin) und Teil der 57. Biennale von Venedig, kuratiert von Christine Macel. Polskas Soloshows wurden u. a. im Zentrum für zeitgenössische Kunst Schloss Ujazdowski (Warschau), Nottingham Contemporary, Salzburger Kunstverein und Summerhall (Edinburgh) gezeigt. Ihre Filme wurden in der Tate Modern, im Neuen Museum, im Hamburger Bahnhof, auf der 19. Biennale von Sydney, bei den Berliner Festspielen und bei der BoCA (Lissabon) gezeigt. The Talking Car ist ihre erste Theaterarbeit.
IMPRESSUM Eigentümer, Herausgeber und Verleger Wiener Festwochen GesmbH, Lehárgasse 11/1/6, 1060 Wien T + 43 1 589 22 0 festwochen@festwochen.at | www.festwochen.at Geschäftsführung Milo Rau, Artemis Vakianis Künstlerische Leitung (für den Inhalt verantwortlich) Milo Rau (Intendant) Textnachweis Das Interview wurde von Laila Algaves Nuñez und Rita Dias geführt und für die Wiener Festwochen erweitert und bearbeitet. Übersetzung Simona Weber Bildnachweis Cover © Bruno Simao Herstellung Print Alliance HAV Produktions GmbH (Bad Vöslau)
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The English version of the evening programme can be found here! festwochen.at/en/the-talking-car