BENJAMIN BRITTEN
BILLY BUDD
INHALT
S.
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DIE HANDLUNG S.
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ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH S.
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SECHS FRAGEN AN DEN DIRIGENTEN MARK WIGGLESWORTH S.
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BRITTEN – MUSIKDRAMATISCHES SCHAFFEN S.
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DIE LIBRETTISTEN VON BILLY BUDD S.
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DAS LEBEN BENJAMIN BRITTENS ANDREAS LÁNG S.
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KENNZEICHEN DES BÖSEN HANNAH ARENDT S.
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TESTAMENT DES WIDERSTANDES RICHARD MUMMENDEY S.
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DIE SEE ALS RAHMEN FÜR LEBEN & WERK DOROTHEA STEINER S.
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BILLY BUDD – DIE HINRICHTUNG HERMAN MELVILLE S.
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DIE ENTSTEHUNG DER OPER BILLY BUDD ANDREAS LÁNG
S.
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» ICH GÄBE MEIN LEBEN FÜR EUCH, STARRY VERE ! « DONALD MITCHELL & PHILIP REED IM GESPRÄCH S.
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EIN REALISTISCHES MYSTERIENSPIEL WILLI SCHUH S.
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DER KAMPF DER TITANEN PATRICIA HODA S.
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» LOST ON THE INFINITE SEA « OSWALD PANAGL S.
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IM NEBEL DES SCHLECHTEN GEWISSENS CARSTEN FASTNER S.
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ICH SEHE EIN SEGEL IM STURM WILLY DECKER S.
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VERWILDERT, GRAUSAM & SCHRECKLICH ERIC CROZIER S.
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BENJAMIN BRITTENS BALLETTE ALFRED OBERZAUCHER S.
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EIN WURF VON EPISCHER SCHÖNHEIT OLIVER LÁNG S.
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IMPRESSUM
But I’ve sighted a sail in the storm … She has a land of her own where she’ll anchor for ever. Aber ich sah ein Segel im Sturm... Es hat ein eigenes Land, wo es für immer ankern wird. BILLY BUDD, 4. AKT
BENJAMIN BRITTEN
BILLY BUDD OPER in vier Akten Text EDWARD MORGAN FORSTER & ERIC CROZIER nach einer Erzählung von HERMAN MELVILLE
ORCHESTERBESETZUNG 4 Flöten / 2 Oboen 1 Englischhorn 2 Klarinetten / 1 Bassklarinette 1 Altsaxophon / 2 Fagotte / 1 Kontrafagott 4 Hörner / 4 Trompeten / 3 Posaunen / 1 Tuba Pauken / Schlagwerk 1 Harfe / Violine I / Violine II Viola / Violoncello / Kontrabass BÜHNENMUSIK
4 Trommeln
AUTOGRAPH Privatbesitz, als Dauerleihgabe in der Britten-Pears Library Aldeburgh URAUFFÜHRUNG 1. DEZ 1951 Royal Opera House, Covent Garden, London ERSTAUFFÜHRUNG IM HAUS AM RING 12. FEB 2001 Wiener Staatsoper SPIELDAUER
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INKL. 1 PAUSE
DIE HANDLUNG PROLOG Kapitän Edward Fairfax Vere ist nun ein alter Mann. Er erinnert sich an die Zeit der Koalitionskriege gegen Frankreich: 1797, im Jahr der großen Meutereien, als Kommandant des Kriegsschiffes Indomitable, beging er einen großen, nicht wieder gutzumachenden Fehler ...
1. AKT Die Arbeit ist hart auf einem großen Kriegsschiff, dessen Mannschaft zum größten Teil aus Zwangsrekrutierten verschiedenster Gesellschaftsschichten besteht. Die besondere Unruhe unter den Männern geht auf die jüngsten Meutereien von Spithead und Nore zurück, wo die unmenschliche Behandlung durch die Offiziere zu einem Aufstand unter der Besatzung geführt hat. Die Spannungen werden deutlich, als Mr. Flint, der Navigationsoffizier, und der Bootsmann ihre Autorität ausspielen und einen Neuling wegen einer Unvorsichtigkeit zu 20 Peitschenhieben verurteilen. Ein Rekrutierungstrupp kehrt zurück von einer Aushebung. John Claggart, der Waffenmeister, mustert die drei Neuen. Der erste, Red Whiskers, protestiert gegen seine gewaltsame Rekrutierung und wird von Claggart zusammengeschlagen. Der zweite, Arthur Jones, nimmt sie eingeschüchtert hin. Nur der junge Billy Budd freut sich auf das Leben auf einem großen Kriegsschiff. Durch sein gutes Aussehen, seine Frische und Spontaneität gewinnt er sofort alle Herzen für sich. Er zeigt nur eine einzige Schwäche: immer, wenn er sich aufregt, verfällt er in krampfhaftes Stottern. Billy Budd wird zum Dienst am Vortopp eingeteilt. Das ist mehr, als er erwartet hat. Fröhlich verabschiedet er sich von seinem früheren Schiff: »Leb wohl, Rights o’ Man!« Alle sind zutiefst irritiert. Das Wort »Menschenrechte« wurde durch die Französische Revolution zu einer Provokation für die royalistischen Engländer und steht für Seeleute gleich mit Meuterei. Vorige Seiten: KS SIR SIMON KEENLYSIDE als BILLY BUDD JAMES MORRIS als CLAGGART
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DIE HANDLUNG
Claggart wird von den misstrauischen Offizieren beauftragt, ein Auge auf Billy Budd zu haben. Er zwingt den ihm hörigen Squeak, Billys Sachen heimlich zu durchwühlen, um ihn zu provozieren. Der Neuling wird nach der Auspeitschung auf Deck zurückgebracht. Billy ist verstört über diese sinnlose Brutalität. Man warnt ihn vor dem heimtückischen Claggart. Kapitän Vere wendet sich mit einer mitreißenden Ansprache an seine Mannschaft, um sie auf den Kampf vorzubereiten. Die Männer sind bereit, für ihren Kapitän durchs Feuer zu gehen. Auch Billy ist begeistert: »Ich gäbe mein Leben für Euch, Sternen-Vere!«, ruft er aus. Mit seinem Enthusiasmus wird er zu einer Identifikationsfigur für alle.
2. AKT Kapitän Vere hat sich in seine Kajüte zurückgezogen, um zu lesen und nachzudenken. Er lädt die führenden Offiziere Mr. Redburn und Mr. Flint zu sich und trinkt mit ihnen auf den Sieg gegen Frankreich. Die beiden warnen ihn vor Billy Budd, der laut von »Menschenrechten« gesprochen hat und womöglich eine Meuterei plant. Doch Vere ist überzeugt, dass von diesem Burschen keine Gefahr ausgeht. Als feindliches Land gesichtet wird, lassen die Offiziere den Kapitän allein. Billy entdeckt, wie Squeak sich an seinem Seesack zu schaffen macht. Es kommt zum Kampf zwischen Billy und Squeak. Claggart trennt die beiden. Eiskalt lässt er Squeak in Ketten legen. Alleingeblieben, lässt Claggart seine Maske fallen: Er ist von Neid und Hass gegen alles Gute und Schöne erfüllt. Dem jungen Billy fliegen alle Sympathien zu, er selbst jedoch kann sich die Dienste der anderen nur mit Gewalt erzwingen. Für die Vernichtung Billy Budds sucht er sich jetzt, nachdem Squeak versagt hat, den unglücklichen Neuling aus. Er soll Billy überreden, zum Anführer einer fingierten Meuterei zu werden. Der verängstigte Neuling führt den Auftrag Claggarts aus. Als er den schlafenden Billy weckt und ihm das von Claggart zugesteckte Gold anbietet, beginnt Billy wieder zu stottern. Es löst sich erst, als Billy seinem Freund, dem alten Dansker, alles erzählen kann. Dansker weiß, dass dahinter nur Claggart stecken kann. Billy will das nicht glauben, er erwartet vielmehr eine Beförderung: hat doch der Waffenmeister ihn vor der ganzen Mannschaft gelobt.
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DIE HANDLUNG
3. AKT Die Indomitable liegt in dichtem Nebel fest. Claggart beginnt mit seiner teuflischen Intrige: Er warnt den Kapitän vor einer Gefahr aus den eigenen Reihen. Das Gespräch wird jedoch unterbrochen, weil man ein feindliches Schiff gesichtet hat. Fieberhaft bereitet die Mannschaft einen Kanonenangriff vor. Unter dem Druck der Offiziere lässt Vere vorschnell einen Schuss auf das feindliche Schiff abfeuern. Wegen der zu großen Entfernung schlägt der Angriff jedoch fehl. Alles war umsonst. Claggart und Kapitän Vere setzen ihr Gespräch fort und der Waffenmeister beschuldigt Billy Budd, ein bezahlter Aufwiegler zu sein. Angewidert verlangt Vere, dass Claggart diese Anschuldigung in Billys Anwesenheit wiederholt. Billy kommt zu Vere. Doch statt einer Beförderung sieht er sich fassungslos der Anklage Claggarts gegenüber. Sein Stottern hindert ihn daran, sich zu verteidigen. Er kann sich nur durch einen Faustschlag helfen, der Claggart sofort tot zu Boden stürzen lässt. Der erschütterte Kapitän Vere ist von Billys Unschuld überzeugt. Dennoch ruft er seine Offiziere, damit sie Gericht über Billy Budd halten. Die Strafe kann in Kriegszeiten nur lauten: Tod durch Erhängen. Vere selbst teilt Billy das Urteil mit.
4. AKT Billy erwartet seinen Tod. Von Dansker erfährt er, dass die Mannschaft ihn befreien will. Doch Billy ist bereit zu sterben. Die Mannschaft versammelt sich zur Vollstreckung des Urteils. Im letzten Moment ruft Billy aus: »Sternen-Vere – Gott schütze Euch!« Erschüttert wiederholt die Mannschaft den Ausruf. Nach der Urteilsvollstreckung erhebt sich ein Murren. Doch die Persönlichkeit des Kapitäns lässt die Meuterei zusammenbrechen.
EPILOG Der alte Vere erkennt, dass er Billy zu Unrecht verurteilt hat. Doch Billys Vergebung hat ihn erlöst. Er schließt Frieden mit der Erinnerung.
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KS ADRIAN ERÖD als BILLY BUDD
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ÜBER DIESES PROGRAMM- BUCH Billy Budd, Sailor. A Inside Narrative wurde erst um 1920 im Nachlass des 1891 verstorbenen amerikanischen Romanciers Herman Melville entdeckt. 1948 veröffentlichte man eine revidierte Fassung der Erzählung, und in demselben Jahr entschloss sich Benjamin Britten den jungen Seemann ins Zentrum seines nächsten Opernprojektes zu stellen. Die Uraufführung fand am 1. Dezember 1951 am Royal Opera House, Covent Garden in London statt, erst 2001 folgte die Erstaufführung an der Wiener Staatsoper. Der Dirigent der Wiederaufnahme 2024, Mark Wigglesworth, gibt nicht nur Auskunft über musikalische Besonderheiten der Musiksprache Brittens, sondern verweist auch auf das Allgemeingültige der Oper Billy Budd (ab Seite 10). Willy Decker, der die außerordentliche, eindrucksvolle und präzise Inszenierung
schuf, teilt einige Überlegungen zum Werk ab Seite 66. Die Entstehungsgeschichte der Oper wie auch die Biografie des großen englischen Komponisten erzählt Andreas Láng (ab Seite 38 bzw. ab Seite 20), über Britten-Opernaufführungen an der Wiener Staatsoper schreibt Oliver Láng ab Seite 78. Willi Schuh gibt ab Seite 44 Einblick in die musikalische Struktur der Oper, Dorothea Steiner wirft Schlaglichter auf die Romanvorlage Melvilles (ab Seite 27), aus dieser ist ab Seite 34 ein kurzer Ausschnitt zu lesen. Oswald Panagl und Patricia Hoda entwerfen ab Seite 53 bzw. 48 genaue Figurenanalysen, Eric Crozier beschreibt ab Seite 70 die grausamen Zustände der Matrosen der britischen Kriegsmarine um die Handlungszeit der Oper, Carsten Fastner steuert ab Seite 61 Überlegungen zur Schuldfrage Kapitän Veres bei.
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KS NEIL SHICOFF als KAPITÄN VERE
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ANDREAS LÁNG IM GESPRÄCH MIT DEM DIRIGENTEN DER WIEDERAUFNAHME MARK WIGGLESWORTH
SECHS FRAGEN AN DEN DIRIGENTEN MARK WIGGLESWORTH al
Benjamin Britten gehört zu jenen Komponisten der klassischen Moderne, deren Werke dauerhaften Eingang in die internationalen Spielpläne gefunden haben. Was ist das Besondere an seiner Musiksprache, das ihn so außergewöhnlich macht? mw Ich denke, Brittens Opern haben eine Qualität, die sich erst in den Aufführungen wirklich entfaltet. Wenn man seine Partituren studiert, ist man sich bewusst, was er handwerklich tut. Seine Musik ist sehr klar, so klar, dass man sich manchmal fragt, ob sie nicht ein bisschen zu klar ist. Aber wenn man sie hört und erlebt, wird man überwältigt von einer ungeahnten Ebene, die plötzlich da ist. Dazu kommt, dass das Publikum all die Charaktere und Situationen in den Opern Brittens versteht, sich ihnen und ihren Erfahrungen nahe fühlt, sich in all die Geschichten hineinversetzen kann. Es ist für mich geradezu fantastisch, dass
Britten als Opernkomponist so angenommen wird, denn Britten zeigt, was Opern wirklich leisten können – selbst in einer Musiksprache, die es nicht leicht macht, Melodien nachzusingen. Aber man ist vom dramatischen Geschehen auf der Bühne tief betroffen. al Eignet sich Billy Budd deshalb so sehr als EinsteigerOper für Opern-Neulinge? mw Nun, das Drama funktioniert schon für sich ungemein, weil die Charaktere so klar geformt sind. Dazu kommt die Musik, die auf einer unterbewussten Ebene zusätzlich wirkt. Junge Menschen, die sich fragen, ob die Oper ein Medium ist, das sie verstehen können, werden also gerade dieser Oper folgen können wie einem Film oder einem Theaterstück. al Welche Komponisten haben den größten Einfluss im Werk Brittens hinterlassen? mw Auf jeden Fall Mozart… und ganz sicher Verdi. Britten wusste für 10
SECHS FRAGEN AN DEN DIRIGENTEN MARK WIGGLESWORTH
den zu vertonenden Text das jeweils exakte Musiktempo zu finden. Was ich damit meine, ist, dass Britten genau verstand, einen Text, bestimmte Worte so in Musik zu kleiden, dass sie im theatralen Sinne ideal zur Geltung kommen. Man spürt also durch seine Musik den Text – so wie bei Mozart oder Verdi. al In Billy Budd gibt es einige zentrale rein orchestrale Passagen. Wodurch unterscheiden sich diese von den großen Zwischenspielen in Peter Grimes, dieser anderen wichtigen Oper Benjamin Brittens, die ebenfalls einen engen Bezug zum Meer hat? mw Es gibt tatsächlich einen großen Unterschied. In Peter Grimes repräsentiert das Meer alles, was draußen vor sich geht. Und das ist allen voran die Gemeinschaft in der Stadt, zu der Peter Grimes nicht gehören kann. In Billy Budd, das die ganze Zeit auf hoher See spielt, hört man das Meer hingegen gar nicht. Man hört die Bewegung des Schiffes auf dem Meer. Denn das Schiff ist eine Analogie für eine in sich abgeschlossene Welt. Sehr klaustrophobisch und sehr intensiv, weil alle festsitzen. Das Unwetter bricht über das Schiff herein, Kämpfe, interne Probleme, aber niemand kann diesen engen Kosmos verlassen und eigene Wege gehen.
al
Bleiben wir beim Orchester: Gibt es puncto Orchestration irgendwelche Besonderheiten? mw Von großer Bedeutung sind zwei Dinge: Erstens gibt es einen großen Schlagwerkapparat, vor allem, was die tiefen Trommeln angeht. Sie sollen auf einer ersten Ebene die Spannung des Kampfes widerspiegeln. Allerdings stellt der Kampf mit den Franzosen natürlich eine Art Symbol dar für den Kampf, den die Menschen mit sich selbst führen müssen. Britten nutzt die rhythmische Spannung der Trommeln, um diesen inneren Konflikt hörbar zu machen. Zweitens ist interessant, dass wir es vorwiegend mit dunklen Klangfarben zu tun haben. Es gibt viele tiefe Holzbläser, die den Emotionen aus dem Zwischendeck entsprechen. Das korrespondiert wiederum mit der Tatsache, dass es nur Männerstimmen in der Oper gibt. Alles scheint aus dem Bauch des Schiffes zu kommen. Die hohen Töne hingegen fühlen sich in gewisser Weise von den Emotionen abgekoppelt an. al Will uns Britten durch dieses Stück, durch diesen kleinen, in sich geschlossenen Kosmos eine Botschaft zukommen lassen? mw Ich halte diese Oper nicht unbedingt für ein extrem politisches 11
SECHS FRAGEN AN DEN DIRIGENTEN MARK WIGGLESWORTH
Stück. Aber es gibt eine Aussage und die lautet: Wenn wir nichts tun, werden wir es bereuen. Vere bedauert, dass er sich nicht für Billy eingesetzt hat. Wenn wir uns nicht um die anderen Menschen kümmern, wenn wir diejenigen, die in Schwierigkeiten sind, nicht schützen, dann sind wir am Ende selbst die Opfer. Man wird oft gefragt, warum ein bestimmtes Stück aufgeführt werden soll. Und unsere Antwort lautet:
Weil die Fragen, die hier verhandelt werden, zeitgemäß sind. Es wäre schön, wenn das Publikum durch eine Aufführung angeregt wird, über seine eigenen Entscheidungen und die Wahl, die es im Leben trifft, nachzudenken. Vere ist am Ende ein gebrochener Mann, weil er nicht genug Mut hatte, aufzustehen. Er war schwach. Es ist sehr verlockend, schwach zu sein. Aber das kann nicht der Weg sein.
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BENJAMIN BRITTEN
»KOMPONIEREN IST SO, ALS FÜHRE MAN AUF EINER STRASSE IM DICHTEN NEBEL AUF EIN HAUS ZU. LANGSAM SIEHT MAN IMMER MEHR DETAILS – DIE FARBE DER SCHIEFER UND ZIEGEL, DIE FORM DER FENSTER. DIE NOTEN SIND DIE ZIEGEL UND DER MÖRTEL DES HAUSES.«
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BRITTEN – MUSIKDRAMATISCHES SCHAFFEN (OHNE BALLETT)
PAUL BUNYAN, op. 17 Uraufführung: New York, 1941 PETER GRIMES, op. 33 Uraufführung: London, 1945
THE RAPE OF LUCRETIA, op. 37 Uraufführung: Glyndebourne, 1946
ALBERT HERRING, op. 39 Uraufführung: Glyndebourne, 1947 THE BEGGAR’S OPERA (Bearbeitung), op. 43 Uraufführung: Cambridge, 1948
LET’S MAKE AN OPERA, op. 45 Uraufführung: Aldeburgh, 1949
DIDO AND AENEAS (Bearbeitung), o. O. Uraufführung: London, 1951
BILLY BUDD, op. 50 Uraufführung: London, 1951
GLORIANA, op. 53 Uraufführung: London, 1953 THE TURN OF THE SCREW, op. 54 Uraufführung: Venedig, 1954
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BRITTEN – MUSIKDRAMATISCHES SCHAFFEN
NOYE’S FLUDDE, op. 59 Uraufführung: Aldeburgh, 1958
A MIDSUMMER NIGHT’S DREAM, op. 64 Uraufführung: Aldeburgh, 1960 CURLEW RIVER, op. 71 Uraufführung: Aldeburgh, 1964 THE BURNING FIERY FURNACE, op. 77 Uraufführung: Aldeburgh, 1966 THE GOLDEN VANITY, op. 78 Uraufführung: Snape Maltings, 1967
THE PRODIGAL SON, op. 81 Uraufführung: Aldeburgh, 1968
OWEN WINGRAVE, op. 85 Uraufführung: BBC TV, 1971 DEATH IN VENICE, op. 88 Uraufführung: Snape Maltings, 1973
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DIE LIBRETTISTEN VON BILLY BUDD ERIC CROZIER Der britische Regisseur und Librettist Eric Crozier wurde am 14. November 1914 in London geboren und starb am 7. September 1994 im französischen Granville. Nach Stationen am Old Vic Theatre in London und der Englischen Nationaloper inszenierte er 1945 am Sadler’s Wells Theater Benjamin Brittens erste Oper Peter Grimes, weiters 1946 die Uraufführung von dessen Rape of Lucretia in Glyndebourne. 1948 gründete er zusammen mit Britten und dessen Lebensgefährten, dem Tenor Peter Pears, in Aldeburgh, dem Heimatort des Komponisten, das bis heute jährlich stattfindende Aldeburgh Festival, dessen Leitung er eine zeitlang innehatte. Für Britten schrieb er die Textbücher zu Albert Herring, The Little Sweep, zur Kantate Saint Nicolas sowie – gemeinsam mit Edward Morgan Forster – zu Billy Budd.
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DIE LIBRETTISTEN VON BILLY BUDD
EDWARD MORGAN FORSTER Der englische Erzähler Edward Morgan Forster wurde am 1. Jänner 1879 in London geboren und starb am 7. Juni 1970. Er war einige Jahre Mitglied der aus Künstlern, Intellektuellen und Wissenschaftlern bestehenden Bloomsbury Group. Seine Reisen durch Europa und Indien führten zu seinen bekannten Romanen Zimmer mit Aussicht und Auf der Suche nach Indien (A Room with a View und A Passage to India). Edward Morgan Forsters Wissen über Musik beeinflusste hinsichtlich Form und Rhythmus seinen eigenen Schreibstil – so versuchte er, Richard Wagners Leitmotivtechnik in sein Schaffen zu integrieren. Außerdem schrieb Edward Morgan Forster auch Essays für diverse Magazine. Einige seiner Romane wurden darüber hinaus auch verfilmt. Gemeinsam mit Eric Crozier verfasste er für Benjamin Britten das Textbuch zu Billy Budd.
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ANDREAS LÁNG
DAS LEBEN BENJAMIN BRITTENS Es verwundert nicht, dass in mehreren Opern Benjamin Brittens – so auch in Billy Budd – das Meer an sich eine zentrale Stellung einnimmt. Ist Britten doch 1913 in der ostenglischen Hafenstadt Lowestoft geboren. Genauer, am südlichen Rand der Kleinstadt. Und aus dem Elternhaus konnte er direkt auf das Meer sehen, die Stürme und Winde hören, die Schiffe beobachten. Immerhin 21 Jahre verbrachte der Komponist an seinem Geburtsort, und auch später wollte und konnte er sich nicht längerfristig vom Meer trennen. Erinnernd bekannte er einmal: »Ich habe versucht, vom Meer entfernt zu leben, aber irgendetwas war falsch dabei, das spürte ich immer. Ich fühle mich zu Hause in dieser Umgebung. Die Fischer in ihren Booten, das alles ist Teil meines Lebens, ohne den ich nicht sein kann.« Neben dem Meer war es in den ersten Lebensjahren vor allem die Mutter Edith, die den jungen Benjamin Britten prägte. Sie war es, die es von Anfang an darauf anlegte, aus ihrem Sohn – dem vierten und jüngsten Kind – ein musikalisches Genie zu formen. Im Gegensatz zum Vater, einem strengen, asketisch veranlagten, arbeitsamen Zahnarzt, war die mit einem absoluten Gehör begnadete Mutter hoch musikalisch. Den ersten Klavierunterricht erhielt der kränkliche Benjamin Britten folglich von ihr, ehe der Hochbegabte in die musikalische
Obhut der ortsansässigen Klavierlehrerin gegeben wurde, die dann Benjamin Brittens erste Gehversuche in Gesang und Harmonielehre überwachte. Zusätzlich kamen noch Bratschestunden bei einer weiteren Pädagogin dazu. Und es dauert nicht lang, ehe Benjamin Brittens erste Kompositionen entstanden, zum Teil in Verbindung mit ersten dramatischen Entwürfen. So entstand 1920 etwa das Drama The Royal Falily des damals Siebenjährigen, das außerdem mit einer kleinen selbstfabrizierten Melodie versehen wurde. Spätestens mit 13, als er eine Klavierabschlussprüfung mit Auszeichnung absolvierte, war für Benjamin Britten klar, dass er den Beruf des Komponisten ergreifen würde. Obwohl er ganz offensichtlich auch eine mathematische Begabung aufweisen konnte. Sein Mathematiklehrer, ein sadistischer, Schüler prügelnder ehemaliger Offizier, versuchte ihn unentwegt von der Musik weg und in die Richtung der Mathematik zu bugsieren. Doch ohne Erfolg. Immerhin diente dieser Lehrer als Vorbild für diverse negative Gestalten in Brittens Opus – so auch für John Claggart in Billy Budd. Für Brittens weiteren Lebensweg als Musikschaffender waren in den nächsten Jahren sein Kompositionslehrer Frank Bridge sowie das Werk Arnold Schönbergs und Gustav Mahlers von
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DAS LEBEN BENJAMIN BRITTENS
Bedeutung. Wo er nur konnte, versuchte Britten sein handwerkliches Wissen zu vertiefen, um seiner eigenen Musiksprache eine ideale Ausdrucksmöglichkeit geben zu können. Als seine Sinfonietta op. 1 im Jänner 1933 im Ballet Club des Mercury-Thea ters uraufgeführt wurde, erntete er im Londoner Daily Telegraph allerdings seine erste schlechte Kritik, die den jungen Komponisten verunsicherte. Dennoch schuf er ein neues Werk nach dem anderen, obwohl auch persönliche Schicksalsschläge nicht ausblieben: 1934 starb der Vater, drei Jahre später die Mutter. Doch die Musikwelt wurde nach und nach aufmerksam auf den aufstrebenden Britten, der sich in den unterschiedlichsten Genres – bis hin zur Filmmusik – gleichermaßen zu Hause zu fühlen schien. Immer größere Sorge bereitete Britten in den beginnenden 30er Jahren die politische Situation. Auf einer Reise, die ihn 1934 in Wien und München in den Genuss von hervorragenden Opernaufführungen brachte, erkannte er die Gefahren, die durch das nationalsozialistische Schreckensregime auch ihm persönlich, seinen Komponistenkollegen und seinem eigenem Land drohten. Wenige Monate vor dem Ausbruch des 2. Weltkrieges emigrierte der überzeugte Pazifist Britten gemeinsam mit seinem Lebensgefährten, dem Tenor Peter Pears, in die USA. Doch seine Angst um die Geschwister und sein Heimweh ließen ihn 1942, mitten im Krieg, nach England zurückkehren.
Schon auf der Rückfahrt von den USA beschäftigte sich Britten mit seiner ersten Oper Peter Grimes, die dann kurz nach Kriegsende am 7. Juni 1945 im Sadler’s Wells Theatre zur Uraufführung gelangte. Mit diesem Werk wurde gewissermaßen eine englische MusiktheaterRenaissance eingeläutet. In den nächsten Jahren gab es kaum eine Spielzeit, in der es zu keiner Uraufführung von weiteren Opern Brittens kam: The Rape of Lucretia (1946), Albert Herring (1947), The Little Sweep (1949), Billy Budd (1951), Gloriana (1953), The Turn of the Screw (1954). Lebenszentrum des Komponisten war von da an bis zu seinem Tod das englische Küstenstädtchen Aldeburgh, in dem bis heute das jährliche, von Britten gegründete Aldeburgh Festival stattfindet. Hier in diesem ostenglischen Hafenort entstanden auch die meisten seiner Kompositionen nach 1945, obwohl Britten gemeinsam mit Peter Pears zahlreiche Weltreisen und Konzerttourneen unternahm. Spätestens ab den 60er Jahren begann die Gesundheit Benjamin Brittens sich fühlbar zu verschlechtern. Eine diagnostizierte Endocarditis setzte schließlich eine deutliche Zäsur. Die letzte Oper, Death in Venice, schuf der schwer herzkranke Komponist teilweise schon an den Rollstuhl gefesselt. Am 12. Juni 1976 wurde der Todkranke von Königin Elisabeth II. noch zum Baron Britten of Aldeburgh ernannt. Doch bereits einige Monate später starb Britten in der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember 1976.
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HANNAH ARENDT
KENNZEICHEN DES BÖSEN Offenbar hat Melville das für die Tradition unseres politischen Denkens so außerordentlich entscheidende legendäre Urverbrechen: Kain erschlug Abel, umgekehrt, und diese Umkehrung war weder willkürlich noch zufällig. Sie ergab sich in der Tat aus der Umkehrung, mit der die Männer der Französischen Revolution auf das Dogma der Erbsünde geantwortet hatten – nicht die Sünde, das Gute ist dem Menschen angeboren. Melville sagt im Vorwort zu Billy Budd selbst, welche Frage den Kern der Geschichte bildet: Wie war es möglich, so fragt er, dass gleich nach Abstellung uralten Rechts in der Alten Welt ... die Revolution größeres Unrecht und schlimmere Unterdrückung beging als die Könige? Und er gab die im Rahmen unserer Tradition und der Gleichstellung von Gutsein mit Demut und Schwäche höchst verblüffende Antwort: das Gute ist stark, stärker als das elementar Böse, darum teilt es mit diesem Bösen auch die elementare Gewalttätigkeit, zu der alle Stärke neigt und die allen Formen politischer Organisation zum Unheil ausschlägt. Es ist, als sagte er: Lasst uns doch einmal annehmen, dass von nun an der Grundstein aller politischer Organisation sein soll: Und Abel erschlug Kain und das Gute wurde gewalttätig mit dem Bösen fertig. Seht ihr denn nicht, dass dieser Gewaltakt die gleiche Kette des Unrechts zur Folge haben wird, die wir aus der Geschichte kennen, nur dass nun die Menschen sich nicht einmal damit werden trösten können, dass die Gewalt, die das Unheil in die Welt bringt und daher von den Menschen verbrecherisch genannt und verfolgt wird, wirklich nur das Kennzeichen des Bösewichts ist?
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KS KURT RYDL als CLAGGART
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RICHARD MUMMENDEY
TESTAMENT DES WIDERSTANDES Der Plan und das Entstehen von Melvilles Erzählung Vortoppmann Billy Budd sind aus dessen Nachlass deutlich überliefert. Eine äußerliche Veranlassung zu diesem Werk sind sicherlich nahe persönliche Beziehungen zu dem in den Vereinigten Staaten als nationaler Skandal empfundenen Mackenzie-Zwischenfalls gewesen. Wegen Anzettelung einer Meuterei an Bord eines Schiffes auf hoher See war im Jahre 1842 neben zwei anderen Besatzungsangehörigen der Kriegsmarinebrigg Somers ein neunzehnjähriger Seekadett von einem Standgericht unter dem Vorsitz des Kapitän Alexander Mackenzie zum Tode verurteilt und gehängt worden. An dem Zustandekommen dieses Urteils war Melvilles Vetter, Guert Gansavoort, als erster Offizier der Somers beteiligt gewesen. Nach der Rückkehr in den Hafen von New York hatte der Kapitän sich den Spruch des Standgerichts durch eine höhere Instanz bestätigen lassen, aber die dabei gemachten Zeugenaussagen ließen die Vorgänge in einem ganz anderen Licht erscheinen, als sie das Protokoll darstellte. Was von den Offizieren des Standgerichts ohne zwingenden Grund aufgebauscht und als todeswürdiges Verbrechen dargestellt wurde, war der leichtsinnige, bedeutungslose Streich eines unreifen Jungen und notorischen Taugenichts, und das Urteil erschien als nicht ge-
rechtfertigter Willkürakt eines voreingenommenen, rachsüchtigen Kapitäns. In einer auf stichhaltige Dokumente gestützten Anklageschrift hatte James Fenimore Cooper, der Verfasser der Lederstrumpf-Romane und selbst ein ehemaliger Seeoffizier, im Jahre 1844 den Fall publiziert, und so war der Mackenzie-Zwischenfall ein die breite Öffentlichkeit des Landes beschäftigender Skandal geworden, der noch in den Jahren 1883 bis 1889 Gegenstand einer umfangreichen und erregten Zeitungskampagne war. Sicherlich kann man die Mackenzie-Affäre nicht als die einzige Quelle bezeichnen, aus der Melville seine ersten Anregungen zu Billy Budd schöpfte. Sein starkes persönliches Interesse an allen Berichten über Zustände und historische Ereignisse auf Kriegsschiffen, insbesondere an der Meuterei der britischen Flotte bei Spithead und in der Nore im Jahre 1797, über die er sich in einschlägigen Werken auf das Genaueste unterrichtete – zu nennen ist an dieser Stelle besonders auch der Bericht des Schiffskapitäns von der Hinrichtung eines Matrosen an Bord des amerikanischen Kriegsschiffes St. Mary während der Blockade der mexikanischen Küste im Jahre 1846, in dem sich die Härte der damals üblichen Kriegsgerichtsurteile dokumentiert und nicht zuletzt seine eigenen Erlebnisse
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TESTAMENT DES WIDERSTANDES
als Kriegsschiffsmatrose an Bord der amerikanischen Fregatte United States, die er zum Thema seines Romans Weißjacke gemacht hat – trugen das Übrige dazu bei. Jack Chase, dem Vormann am Großmast der United States, hat er sein Vortoppmann Billy Budd gewidmet, und der Waffenmeister Bland erlebt in der Gestalt des Claggart seine Wiederkehr. Aus dem gehässigen Willkürakt des rachsüchtigen Kapitäns an Bord eines Schiffes in Friedenszeiten wird die Entscheidung eines seiner Pflichten und seiner schweren Verantwortung bewussten Vorgesetzten auf einem im Einsatz vor dem Feind befindlichen Schlachtschiff. Aus dem unüberlegten Leichtsinn eines unreifen Kadetten wird die Verleumdung des aus zahlreichen Werken der Seeliteratur bekannten, bei seinen Kameraden und Vorgesetzten beliebten hübschen Matrosen, der sich gegen die ihm zur Last gelegten Anschuldigungen handgreiflich verteidigt und so wie der Held einer griechischen Tragödie sich schuldlos in Schuld verstrickt und der Todesstrafe verfällt. »Ewig selig und glücklich der, wenn er sich zum Sterben hinlegt, mit seinem letzten Atemzug sagen kann: Oh Vater, vornehmlich an deiner Zuchtrute erkenne ich dich.« Mit diesen Worten schließt in Moby-Dick der Vater Mapple
seine Predigt in der Seemannskapelle in New Bedfort. Und es erscheint als ein Selbstbekenntnis Melvilles, wenn er in den letzten Tagen seines Lebens dem Billy Budd-Manuskript einen dann wieder ausgemerzten Schlusssatz anfügt: »Hier endet eine Geschichte, die auf dem beruht, was bisweilen in dieser uns unbegreiflichen Welt vor sich geht: Unschuld und Niedertracht, geistige Verdorbenheit und ausgezeichneter Ruf.« Indes ist die wissenschaftliche Forschung sich in der Deutung des Billy Budd keineswegs einig und hat im Lauf der letzten Jahre eine Vielfalt von Ansichten entwickelt. Diese reichen von der Annahme eines einfachen biographischen Kommentars zum Mackenzie-Zwischenfall, der die Offizierslaufbahn von Melvilles Vetter Gansavoort ruinierte, bis zur religiösen Allegorie, von der Schicksalstragödie bis zur Darstellung einer Ironie, in der Billy nichts anderes ist als das passive Opfer der Justiz und Kapitän Vere keineswegs ein Held, sondern ein reaktionärer Vertreter der Autorität. Nach Melville ist das ganze Werk Ausdruck eines ironischen Protestes gegen die Tyrannei der Gesellschaft oder gar der Schöpfung. Es ist nicht seine Anerkennung zwingender Notwendigkeiten, sondern das Testament seines Widerstandes.
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KOPFZEILE
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DOROTHEA STEINER
DIE SEE ALS RAHMEN FÜR LEBEN & WERK HERMAN MELVILLES BILLY BUDD, SAILOR Herman Melvilles Lebenszeit umfasst beinahe das gesamte 19. Jahrhundert. Geboren 1819, verstorben 1891, durchlebte er jene Zeitspanne, die heute gemeinhin als Gründerzeit des westlichen Imperialismus gilt. Britisches Weltreich und angloamerikanische Kolonisierung von globaler Dimension waren ebenso nachhaltige Einflüsse wie die Entwicklung der USA von ihren 13 Kernstaaten an der Ostküste in ein Großreich zum Zeitpunkt des »closing of the frontier«, 1890, als der Westen erschlossen, die Nation politisch geeint, die Sklaven befreit waren und die Masseneinwanderung aus dem Europa der Jahrhundertwende in der Freiheitsstatue das Symbol einer lichteren Zukunft erkannte. New York als biographischer Anfangs- und Endpunkt seines Lebens verband Melville als Jugendlichen mit den Weltmeeren und sollte ihm in späteren Jahren als Zollinspektor im Hafen seinen Lebensunterhalt sichern. Nach minimaler Schulbildung und verschiedenen Jobs beginnt der 20-Jährige seine »Karriere zur See« – reist 1839 auf der St. Lawrence nach Liverpool, 1841 auf dem Walfangschiff Acushnet in die Südsee, wo er 1842 auf der australischen Lucy Ann dem Kannibalismus auf den Marquesas-Inseln entkommt und nach Gefangenhaltung CASPAR DAVID FRIEDRICH SEGELSCHIFF IM NEBEL, 1815
als Meuterer auf Tahiti und Monaten in Honolulu als Matrose auf der Fregatte United States die Heimfahrt antritt. Seine Erfahrungen zur See zwischen Juni 1839 und Oktober 1844 beginnt er umgehend schriftstellerisch umzusetzen: eine ganze Serie von Romanen entsteht – Typee (1846), Omoo (1847), Mardi und Redburn (1849) sowie WhiteJacket (1850), alle erfolgreich als Populärliteratur (außer Mardi); die Krönung ist dann Moby-Dick (1851), der sich allerdings erheblich von den Vorgängern unterscheidet. Die Leserschaft schätzt die Verbindung von Realismus und Exotik, die Thematisierung des »Primitiven« im Kontrast zur »Zivilisation«, das Sehnsüchte wie Ängste auslöst, das Motiv des Wanderns, das in pikareske wie mythische Welten führt, sowie die Welt der Seefahrer und des Schiffes als große Bruderschaft und Mikrokosmos. Unter dem Einfluss von politischen und philosophischen Schriften sowie der englischen Dramatik der Renaissance gewinnt die gedankliche Auseinandersetzung mit Staat und Gesellschaft, Demokratie und Macht, die Suche nach dem existenziellen Sinn, die Frage nach dem Bösen in der Welt und nach dunklen, bedrohlichen Mächten im menschlichen Leben und Zusammenleben an Bedeutung in seinem Schreib en.
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Melvilles Stil wird philosophisch; das Ende der Popularität ist angesagt. Captain Ahabs Kampf mit dem weißen Wal wird zum Kampf gegen das unüberwindliche Böse schlechthin, das den Protagonisten in den Wahnsinn führt. Nach diesem Werk epischer Dimension, das Melville weit über die Grenze des Romans in andere Gattungen und in eine komplexe Tonalität führt, wendet sich der Autor in den folgenden Jahren der Verarbeitung neuer Themen und Milieus zu; Titel wie Pierre, The Ambiguities oder The Confidence Man deuten dies an. In der Kurzgeschichte Bartleby the Scrivener: A Story of Wall Street aus den Piazza Tales (1856) stellt Melville im Großstadtmilieu eines wachsenden DollarEmpires die Existenzfrage in neue Zusammenhänge. Diese Geschichte weist auf Billy Budd voraus. Nicht nur durch die verstärkt psychologische Behandlung der Ethik- und Sinnfragen, sondern auch durch die Einführung einer Erzählerfigur, die so recht den ›normalen‹ Middle-class-Amerikaner spiegelt, der die großen Tugenden für sich und alle reklamiert und damit an seinem ›andersartigen‹ Helden scheitert. Denn das »Streben nach Glück«, gepaart mit Leben und Freiheit, verwirklicht in einer Erfolgsgeschichte, deren Ingredienzien Fleiß, Wohlstand, Optimismus und eine auf Pragmatismus gegründete Fairness dem Mitmenschen gegenüber sind, scheint nicht als Muster für alle Menschen verwirklichbar. Und hier kommt jene Ambiguität ins Bild, die Melvilles Leserschaft verunsicherte. Klare Standpunkte kommen ins Wanken, Grenzen werden verwischt, Entscheidungen verlieren ihre Richtigkeit, öffentliche Moral ihre Verbindlichkeit. Die Frage nach Recht und Gerech-
tigkeit, wenn in ihrem Verhältnis zur Humanität gestellt, entpuppt sich als unbeantwortbar. Pragmatische Lösungen beantworten die Sinnfrage nicht. Der Abgrund lauert, wenn die menschliche Kommunikation nicht mehr funktioniert, wenn ein Bartleby nur mehr stereotyp sagt »I prefer not to« und sich damit jeder Erreichung des »American Dream« verweigert, oder wenn Billy Budds Stottern ihn als Schuldigen verraten kann. Im Reich der klaren Regeln ist kein Platz für »misfits«. Ist Melville nun aber angesichts dieser Ausweglosigkeiten seiner Figuren als »cosmic pessimist« zu stempeln, wie dies die Kritik lange Zeit überwiegend tat? Sicherlich hat der Verlauf des 19. Jahrhunderts dazu beigetragen, in Amerikanern Zweifel aufkommen zu lassen, dass ihre hohen Ideale und der Gründungsanspruch, eine außergewöhnliche Nation zu sein, bei der Entwicklung zu einer materialistischen und nicht minder rassistischen Klassengesellschaft womöglich nicht standhalten könnten. Nun war allerdings Melville auch in seiner frühen pikaresken Phase kein oberflächlicher Realist gewesen und hatte sowohl Zivilisationskritik in seine Südseeromane eingebaut wie er auch das Thema des »failed quest«, des Scheiterns auf der Suche nach neuen, besseren Welten und des prekären Überlebens in einer undurchschaubaren Welt, schon eingeführt hatte, ebenso wie er die »primitive« Welt in ihrem Selbstwert erkannte. Vermehrt finden sich jedoch die Zweifel an jeder wohlgesetzten Ordnung und ihrer Verbindlichkeit im späteren Werk. Dazu ist zu sagen, dass er sich ab 1857 ganz von der Erzählprosa abwendet und nur mehr Gedichte schreibt – in jeder Dekade seines ver-
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bleibenden Lebens einen Band, jener von 1866, seine Bürgerkriegslyrik Battle Pieces, am bekanntesten; sie versucht, mit der großen Tragik der Nation zu Rande zu kommen und endet bezeichnenderweise mit Elegien auf Gewinner und Verlierer. Das moralische Dilemma begleitet Melvilles Werk und sucht zunehmend nach Gleichgewicht zwischen Innen- und Außenraum. Als völlig überraschend, Jahre nach seinem Tode, das Manuskript Billy Budd, Foretopman aus Mrs. Melvilles alter Brotdose auftaucht, wird klar, dass Melvilles letzte Worte zu diesem Thema wieder im Kontext der See gesprochen wurden. Die maritime Welt war keine Sache von Hermans jugendlicher Vergangenheit gewesen; dieser Text bestätigt die Kontinuität in seinem Bewusstsein. Besagte Brotdose befand sich in jenem Familiensitz in Pittsfield, Massachusetts, Arrowhead (benannt nach den indianischen Speerspitzen, die er auf den umliegenden Feldern fand – ein bezeichnender Verweis auf die Bedeutung anderer Kulturen in seinem Leben), in den Berkshires, einer Landschaft, die – obgleich eindeutig küstenfern – auf den Dichter jedoch eine bezeichnende Wirkung ausübte: »I have a sort of sea feeling here in the country. My room seems a ship’s cabin; and at nights when I wake up and hear the wind shrieking, I almost fancy there is too much sail on the house, and I had better go on the roof and rig in the chimney.« Die Melvilles lebten dort von 1850 bis 1863. Mit Blick auf seinen Hausberg, Mount Greylock, schrieb Melville Moby-Dick; er erschien ihm wie ein Pottwal, »rising in the distance«. Diese Geschichte vom »Handsome Sailor«, der wegen Ermordung eines Offiziers durch Tod am Galgen an Bord
des Kriegsschiffes Bellipotent endet, begann Melville 1888, nachdem er 31 Jahre lang keine Erzählungen mehr geschrieben hatte; er vollendete sie ein halbes Jahr vor seinem Tod im September 1891. Nach einer ersten Veröffentlichung im Jahre 1924, die Billy Budd, Foretopman als Titel führt, jedoch bereits den späteren Untertitel »An Inside Narrative« trägt, erschien eine weitere Ausgabe 1949 (also in dem Jahr, als sich Britten entschloss, dieses Opernsujet zu vertonen). 1962, zwei Jahre nach der Umarbeitung der Oper in die zweiaktige Version, brachte das Forscherteam Harrison Hayford und Merton M. Sealts die »definitive edition« heraus. Die Figur des Billy Budd, des »Handsome Sailor«, verweist auf mehrfache Analogien: DIE BIBLISCHE – zwischen Adam (vor dem Sündenfall) und dem von den Brüdern unschuldig ermordeten Joseph DIE KLASSISCH-GRIECHISCHE – zwischen dem jungen Heerführer Alexander einerseits und Apollo und Herkules andererseits (als männliche Ikonen für Schönheit und Stärke) DIE ANTIZIVILISATORISCHE – zwischen dem »Edlen Barbaren« und dem sprachlosen Kaspar Hauser DIE WORTSPIELERISCHE – zwischen Menschenrechten und Kriegsmacht (er wechselt vom Schiff Rights-ofMan zur Bellipotent) DIE PROTOTYPISCHE (MIT NATIONALTYPISCHER KOMPONENTE) – zwischen dem »Innocent Abroad«
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Mark Twain’scher Prägung, dem Kind der Neuen Welt, das in der Alten Welt und ihren Institutionen aus Mangel an Respekt scheitern muss (vgl. auch Henry James’ Daisy Miller) und Parzival, dem »tumben tor«, der aus Unwissenheit schuldig wird. Billy Budds Partner in einer total maskulinen Welt, deren homoerotische Züge erst in der Kritik der 1990er Jahre Beachtung finden, sind der Polizeioffizier John Claggart und Kapitän Vere. Historisch kontextuell ist die Anschuldigung Claggarts, Budd sei ein Aufwiegler, im Zusammenhang mit der Großen Meuterei von 1797 zu sehen, die durch die emanzipatorisch-anarchischen Ideen der Französischen Revolution ermöglicht wurde. Die Missstände auf Kriegsschiffen waren eklatant, wurden aber bei geringer Verbesserung der Lebensbedingungen der Crew gemeinhin vertuscht, da es um die Vorherrschaft Englands zur See ging, die Admiral Nelson erst 1798 und 1805 besiegelte. Budds Exekution dient der Abschreckung und garantiert den Erhalt der öffentlichen Ordnung und somit der Macht. Die Frage nach Gewissen vs. Staatsräson oder moralischer Gerechtigkeit vs. Kriegsrecht stellt sich für Vere zwar auf der menschlichen Ebene; diese muss aber aus Vernunftgründen (auch »imperial conscience« genannt) verworfen werden. Hier schlägt auch das kulturelle Erbe des Viktorianismus zu Buche mit seiner kategorischen Geschlechtertrennung in männlich – weiblich / Verstand – Gefühl / objektiv – subjektiv / innerlich – äußerlich. An mehreren Stellen wird Budds Unschuld »weiblich« assoziiert (Hinweise auf seine Kindlichkeit, Tugend, Reinheit; Bilder des Jungfräulichen und der Vestalin).
Melvilles Wahl des Erzählers trägt entscheidend zum moralischen Gleichgewicht der Handlung bei. Sie verhindert, dass an irgendeinem Punkt SchwarzWeiß-Malerei suggerier t werden könnte. Seine Haltung ist Wahrheitssuche, und obwohl er wiederholt auf das realistische Anliegen seiner Geschichte verweist, ist klar, dass er ein Anhänger dessen ist, was Melvilles Kollege Nathaniel Hawthorne die »romance« nennt. In ihr wird – im Gegensatz zum Roman (»novel«) nicht das Wahrscheinliche, sondern das Mögliche dargestellt; dabei erhält die Fantasie größtmöglichen Raum, damit die innere Wahrheit (»truth of the human heart«) entsprechend abgebildet werden kann. Wie ausgeglichen die Haltung ist, zeigt sich in der Zeichnung des Kapitäns: er wahrt die Form, indem er Billy das Todesurteil selbst mitteilt; dass bei dieser Gelegenheit noch anderes zur Sprache kommt, wird als »Vermutung« bezeichnet. Billys letzte Worte sind: »God bless Captain Vere«; als simple Respektsbekundung überzeugend, kann es jedoch auch heißen, »Gott möge ihm gnädig sein« (hat er doch gegen sein Gewissen gehandelt). Sollte Ironie im Spiel sein, ist es eine milde Form, die mit der maßvollen Haltung des sympathischen Erzählers übereinstimmt, der vermitteln will, dass der Mensch die letzten Antworten nicht hat. Seine Entscheidungen schließen das Irren und Scheitern existenziell mit ein. In der griechischen Tragödie hat der Held einen Makel, an dem er zugrunde geht. Er versucht zwar alles in gutem Glauben, kann aber letztlich von seinem Tod nicht verschont bleiben. Das Schicksal will es so. Billy Budd bewegt sich nicht in diesem Rahmen, und doch ist man versucht, ihn als tragischen
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Helden zu sehen. Warum? Er steht für das Gute, er verabscheut Gewalt, er strahlt Frieden und Freude aus, er hat Kraft, Charisma, Beliebtheit und der Erfolg scheint ihm vorgezeichnet. Warum muss er scheitern? Es gibt mehr als eine Antwort. Er ist zu erfolgreich, das grenzt an Hybris. Er ist von Anfang an »erwählt«, das lässt auf Prüfung schließen. Er ist ein amerikanischer Held, einer, der meint, er kann außerhalb der Ordnung selig werden. Und hier schlägt der utopische Traum von der menschlichen (»männlichen«!) Selbstverwirklichung an der »frontier«, der Grenze zur Wildnis, durch, der immer wieder eingebremst wird durch die Kontrolle der Zivilisation; in diesem Falle ist sie so extrem, dass der Ordnungsverwalter Claggart die Züge eines grausamen, allmächtigen Gottes annehmen darf, der »retributive righteousness« einfordert, also Sühne für eine Schuld, die in aller Unschuld begangen wurde. Billys Verstörtheit, als er auf Claggarts Hinterlist hingewiesen wird, zeigt seine Reinheit im Sinne einer »tabula rasa«. Zu einer Wiedergeburt aus dem Geist der Erfahrung des Bösen kommt es nicht in seinem Leben. Billy bleibt
ein utopischer Held der Neuen Welt, die es – wie Goethe meinte – »besser hat«, weil sie keine so große moralische Bürde mit sich schleppt. Doch fordert das puritanische Gewissen lebenslange Selbsterforschung. Ein Billy Budd ist aber jenseits von Introspektion. Die »inside narrative« führt uns nicht in sein Herz, sondern in jenes Menschsein, das erlösungsbedürftig ist. Er ist es nicht. Um sein Heldentum zu bewerten, muss man wohl Melvilles Erfahrungen mit anderen Kulturen heranziehen, für die das abendländisch-christliche Denken oft unverständlich blieb. Ähnlich wie Billy Budd wurde ihnen aber ›der Westen übergestülpt‹, mit seinem Absolutheitsanspruch, seiner Dialektik und seinem Verständnis von Gut und Böse, Schuld und Sühne. Vielleicht will Melville mit Billy Budd, Sailor ausdrücken, dass ein neues Paradies dann angebrochen sein wird, wenn ein einfacher Matrose sein Recht auf Leben findet. Solange dies nicht möglich ist, hat ein Kapitän das öffentliche Recht ohne Wenn und Aber zu respektieren, hat ein Mörder gehängt zu werden und haben Schriftsteller dagegen anzuschreiben.
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BILLY BUDD – DIE HINRICHTUNG Die Nacht, auf dem Oberdeck so hell, aber ganz anders unten auf den höhlenartigen Decks, ebenen Flächen ähnlich den geschichteten Reihen gedeckter Gänge in einem Kohlebergwerk – diese Nacht ging vorüber. Doch wie der Prophet, der in seinem Wagen gen Himmel entschwand und Elisa seinen Mantel ließ, übergab die weichende Nacht ihr bleiches Gewand dem anbrechenden Tag. Ein sanftes, schüchternes Licht erschien im Osten, wo sich ein durchsichtiges, gefurchtes Vlies aus weißem Nebel erstreckte. Dieses Licht nahm langsam zu. Da wurden achtern acht Glasen geschlagen, die von einem einzigen, noch stärkeren, metallischen Schlag vorn erwidert wurden. Es war vier Uhr morgens. Sogleich ertönten die silbernen Pfeifen, die alle Männer als Zeugen einer Bestrafung zusammenriefen. Durch die großen Luken, die von Gestellen für schwere Munition eingefasst waren, quoll die Wache herauf, die unter Deck gewesen war und verteilte sich mit der bereits an Deck befindlichen Wache über den Raum zwischen Groß- und Fockmast, einschließlich des Platzes, der von der geräumigen Schaluppe und den zu beiden Seiten aufgeschichteten schwarzen Rundhölzern eingenommen wurde, wobei Boot und Hölzer einen hohen Beobachtungsposten für die Pulverjungen und jüngeren Teerjacken bildeten. Eine andere
Gruppe, eine Wache von Toppmännern lehnte sich über die Verschanzung des Seebalkons, der auf einem 74-KanonenSchiff nicht klein ist, und sah hinab auf die Menge darunter. Ob Mann oder Bursche, sie sprachen höchstens flüsternd, und nur wenige sprachen überhaupt. Kapitän Vere wie zuvor die Hauptfigur inmitten der versammelten Offiziere – stand mit dem Gesicht nach vorn, nah bei der Öffnung zum Hüttendeck. Direkt unter ihm auf dem Quarterdeck waren die Marineinfanteristen in voller Ausrüstung aufmarschiert, so wie in der Szene der Urteilsverkündung. In den alten Zeiten auf See wurde die Hinrichtung eines Marineseemannes durch den Strang in der Regel an der Fockrah vollzogen. Im vorliegenden Fall war aus besonderen Gründen die Großrah ausersehen worden. Der Gefangene wurde nun heraufgebracht und unter das Rah-Ende geführt, in Begleitung des Geistlichen. Es wurde zu der Zeit bemerkt und später erörtert, dass in dieser abschließenden Szene der gute Mann wenig oder nichts Gewohnheitsmäßiges an den Tag legte. Sein Gespräch mit dem Verurteilten war kurz, doch das wahre Evangelium teilten weniger seine Worte als seine Miene und Haltung ihm gegenüber mit. Die abschließenden persönlichen Vorbereitungen für Billy Budd wurden
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von zwei Gehilfen des Bootsmannes rasch beendet: die Vollstreckung stand unmittelbar bevor. Billys Gesicht sah nach achtern. Im vorletzten Moment waren dies seine Worte, seine einzigen, in ihrer Aussprache völlig unbehinderten Worte: »Gott segne Kapitän Vere.« Diese Silbe, so unerwartet von jemandem mit der schimpflichen Schlinge um den Hals geäußert, der Segenswunsch eines erklärten Verbrechers, nach achtern gerichtet, hin zu den Räumen der Ehre; Silben zudem, die in der klaren Melodie eines Singvogels ertönten, der gerade im Begriff ist, von seinem Zweig abzufliegen – diese Silben hatten eine außerordentliche Wirkung, die noch verstärkt wurde durch die seltene körperliche Schönheit des jungen Seemannes, die durch die jüngsten, so quälend tiefgehenden Erfahrungen vergeistigt worden war. Sozusagen willenlos, als wäre das Schiffsvolk in der Tat nur der Leiter eines stimmlichen elektrischen Stromes, hallte wie aus einem Munde von unten und oben ein gleichklingendes Echo wider – »Gott segne Kapitän Vere!« Und doch konnte in diesem Augenblick nur Billy allein in ihren Herzen sein. So wie sie nur für ihn Augen hatten. Als die Worte ausgesprochen wurden und das spontane Echo sie mit Macht zurückwarf, stand Kapitän Vere aufrecht und starr da, wie eine Muskete im Ständer des Waffengehilfen – entweder in stoischer Selbstbeherrschung oder in einer Art kurzen Lähmung aufgrund eines emotionalen Schocks. Der Schiffsrumpf, der sich nach einer der regelmäßig wiederkehrenden Rollbewegungen nach Lee langsam aufrichtete, befand sich gerade wieder auf ebenem Kiel, als stumm, wie vereinbart, das letzte Signal gegeben wurde.
Im selben Augenblick drang zufällig ein sanfter Glorienschein durch das Nebel vlies, das tief im Osten hing, als wäre in mystischer Vision das Vlies des Gotteslammes zu sehen; gleichzeitig schwebte Billy nach oben, von der dichtgedrängten Menge aufwärts gewandter Gesichter beobachtet, und während er hinaufschwebte, umfing ihn die volle Morgenröte. An der gefesselten Figur, die das Ende der Rah erreicht hatte, war zur Verwunderung aller keinerlei Bewegung zu erkennen, außer der vom langsamen Rollen des Rumpfes verursachten, die in ruhigen Wetterlagen bei einem großen, mit schweren Kanonen bestückten Schiff so majestätisch ist. Das Schweigen, das im Augenblick der Hinrichtung herrschte und ein oder zwei Augenblicke anhielt, ein Schweigen, das dadurch noch betont wurde, dass die See wie gewohnt gegen den Schiffsrumpf klatschte oder ein Segel flatterte, weil die Augen des Rudergängers zum Abschweifen verführt wurden – dieses betonte Schweigen wurde allmählich durch ein Geräusch gestört, das sich nicht in Worten wiedergeben lässt. Wer immer die Flutwelle eines Sturzbaches gehört hat, der durch Regengüsse in einem tropischen Bergland plötzlich anschwillt, Güsse, die es in der Ebene nicht gibt; wer immer das erste, gedämpfte Murmeln gehört hat, mit dem er durch abschüssige Wälder hinabfließt, der kann sich eine Vorstellung machen von dem Geräusch, das jetzt zu hören war. Dass es scheinbar weit entfernt entstand, lag an seiner gemurmelten Undeutlichkeit, denn es kam von ganz nahe, nämlich von den Männern, die sich auf dem offenen Deck des Schiffes drängten. Da es unartikuliert war, blieb seine Bedeutung zweifelhaft,
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außer es wies auf einen launischen Umschwung der Gedanken oder Gefühle hin, zu dem Menschenmengen an Land neigen und der im gegenwärtigen Fall bedeuten konnte, dass die Männer ihr unwillkürliches Echo auf Billys Segenswunsch murrend zurücknahmen. Doch bevor das Gemurmel Zeit hatte, zum Tumult anzuschwellen, traf es auf ein strategisches Kommando, das umso wirksamer war, als es plötzlich und unerwartet kam. »Pfeifen Sie die Steuerbordwache unter Deck, Bootsmann, und sehen Sie zu, dass dem Folge geleistet wird.« Schrill wie der Schrei der Falkenraubmöwe durchbohrten die silbernen Pfeifen des Bootsmannes und seiner Gehilfen das verdächtige leise Geräusch und brachten es zum Verstummen; und dem Mechanismus der Disziplin gefügig, halbierte sich die Menge. Was die an Deck Gebliebenen betraf; so wurden die meisten vorübergehend mit Arbeiten beschäftigt, die mit dem Trimmen der Rahen und Ähnlichem zusammenhingen – Tätigkeiten, die jeder Decksoffizier sogleich zur Hand hat, wenn die Umstände es erfordern. Jeder Vorgang, der auf ein Todesurteil folgt, das ein Kriegsgericht auf See verhängt hat, ist gekennzeichnet durch eine Promptheit, die für die allgemeine Wahrnehmung nichts von Eile hat, obgleich sie daran grenzt. Die Hängematte, zu Billys Lebzeiten sein Bett, war bereits mit Munition beschwert und auch in anderer Weise hergerichtet worden, um als sein Segeltuchsarg zu dienen, und nun wurden die letzten Verrichtungen der Seebestatter, der Gehilfen des Segelmachers, rasch beendet. Als alles bereit war, ertönte ein zweites Signal für alle, das wegen der eben erwähnten strategischen Bewe-
gung nötig war, nunmehr, damit sie Zeugen einer Bestattung wurden. Die Einzelheiten dieser abschließenden förmlichen Handlung müssen nicht berichtet werden. Aber als die geneigte Planke ihre Last ins Meer gleiten ließ, war zum zweiten Mal ein seltsames menschliches Gemurmel zu vernehmen, diesmal untermischt mit einem anderen unartikulierten Geräusch; das kam von einigen größeren Seevögeln, deren Aufmerksamkeit auf die eigenartige, vom wuchtigen schrägen Eintauchen der kugelbeschwerten Hängematte verursachte Bewegung im Wasser gelenkt worden war, und die nun kreischend dorthin flogen. Sie kamen dem Schiffskörper so nah, dass das Knarren oder knöcherne Knirschen ihrer hageren, zweifach gewinkelten Schwingen zu hören war. Während das Schiff mit leichtem Wind weiter fuhr und die Stelle der Bestattung achteraus ließ, kreisten sie immer noch dicht darüber, mit dem wandernden Schatten ihrer ausgebreiteten Flügel und dem Requiem ihrer krächzenden Schreie. Für Seeleute, die so abergläubisch waren wie die der Epoche, die der unseren vorausging, für Männer eines Kriegsschiffes zumal, die soeben das Wunder der Ruhe an der Gestalt erblickt hatten, die in der Luft hing und nun in die Tiefe sank; für solche Seeleute war das Verhalten der Seevögel, obgleich es von bloßer animalischer Gier nach Beute bestimmt wurde, keineswegs prosaisch, sondern voller Bedeutung. Eine unsichere Bewegung begann unter ihnen, die sie ein wenig vordringen ließ. Das wurde nur einen Augenblick lang geduldet. Denn plötzlich rief die Trommel alle auf ihre Posten und der vertraute Klang, der mindestens zweimal am Tag ertönte, hatte dieses Mal etwas bemerkenswert
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Gebieterisches. Echte militärische Disziplin über einen langen Zeitraum hindurch führt beim durchschnittlichen Menschen zu einer Art Impuls, dessen Wirkungsweise bei einem offiziellen Kommandowort in seiner Promptheit große Ähnlichkeit mit der Auswirkung eines Instinktes hat. Der Trommelschlag zerstreute die Menge, indem er den größten Teil entlang der Batterien auf den beiden überdachten Geschützdecks verteilte. Wie gewohnt, stellten sich dort die Geschützmenschen gerade und schweigend neben ihre jeweilige Kanone. Zu gehöriger Zeit nahm der erste Offizier, der mit dem Degen unter dem Arm auf seinem Platz auf dem Quarterdeck stand, in aller Form nacheinander die Meldungen der degentragenden Leutnants entgegen, die die Abteilungen der Batterien befehligten, und als die letzte dieser Meldungen erfolgt war, überbrachte er die zusammengefasste Meldung mit dem üblichen Salut dem Kommandanten. Dies alles ließ die Zeit verstreichen, was im vorliegenden Fall damit hatte erreicht werden sollen, dass eine Stunde früher als üblich auf die Posten gerufen worden war. Dass ein Offizier wie Kapitän Vere, den manche für einen Zuchtmeister von peinlich genauer Strenge hielten, eine solche Abweichung vom Brauch genehmigte, zeigte die Notwendigkeit ungewöhnlichen Handelns, aufgrund dessen er die
gegenwärtige Stimmung seiner Männer einschätzte. »Für die Menschheit«, pflegte er zu sagen, »ist die Form, das Regelmaß der Form, alles. Das ist der Sinn, der in der Geschichte von Orpheus steckt, der mit seiner Leier die wilden Bewohner des Waldes in Bann schlägt.« Damit nahm er einmal Bezug auf die Zerschlagung der Formen, die jenseits des englischen Kanals stattfand, und auf die Folgen, die das hatte. Als die Männer zu dieser unüblichen Zeit auf ihren Posten antraten, lief alles so ab wie zur gewohnten Stunde. Die Kapelle auf dem Quarterdeck spielte ein Kirchenlied, woraufhin der Geistliche den üblichen Morgengottesdienst abhielt. Als das geschehen war, ertönte das Trommelsignal zum Wegtreten und unter dem Einfluss der Musik und der kirchlichen Zeremonie, die der Disziplin und dem Zweck des Krieges dienstbar waren, verteilten sich die Männer in gewohnter geordneter Haltung auf die Plätze, die ihnen zugewiesen waren, wenn sie nicht bei den Geschützen standen. Und nun war wirklich Tag. Das Vlies aus tiefhängendem Nebel war verschwunden. Aufgesogen von der Sonne, die es zuvor hatte erstrahlen lassen. Und die Luft ringsum war hell und klar, wie glatter weißer Marmor in dem polierten Block, der noch nicht vom Hof des Marmorhändlers geholt wurde.
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ANDREAS LÁNG
DIE ENTSTEHUNG DER OPER BILLY BUDD Benjamin Britten war nicht der erste, der Herman Melvilles um 1920 posthum entdeckte Billy Budd-Erzählung vertonte. Bereits 1949 hatten der italienische Literaturnobelpreisträger Salvatore Quasimodo und der italienische Komponist Giorgio Federico Ghedini eine Version für die Opernbühne herausgebracht, die aber bis heute keine weiteren Spuren in der Musikgeschichte hinterlassen sollte. Fast parallel zur Entstehung dieser ersten musikalischen Umsetzung des Stoffes erhielt Benjamin Britten vom Arts Council des Londoner Royal Opera House Covent Garden die Einladung, für das großangelegte englische Prestigeprojekt im Jahre 1951, das sogenannte Festival of Britain, eine Oper zu schreiben. Als Librettist war der englische Erzähler Edward Morgan Forster unter Vertrag genommen worden, der sich aber als Dramatiker nicht sicher genug fühlte und daher seinerseits den britischen Regisseur und Librettisten Eric Crozier als Mitarbeiter einband. Dass Melvilles Erzählung Billy Budd als Grundlage für die neue Oper dienen sollte, stand bald fest, da Britten schon 1948, also noch vor dem offiziellen Opernauftrag des oben erwähnten
Arts Council, über eine entsprechende Vertonung nachgedacht hatte. Die Arbeit am Libretto nahm dann das ganze Jahr 1949 in Anspruch, da das erste Ergebnis die Textdichter und den Komponisten nicht sofort überzeugte und daher mehrere Überarbeitungen notwendig waren. Im Sommer 1950 konnte sich Britten endlich in die Kompositions-Arbeit stürzen, die dann bis zum Herbst des nächsten Jahres andauerte. Die von Basil Coleman inszenierte Uraufführung am 1. Dezember 1951 am Opera House Covent Garden, mit Theodor Uppman in der Titelrolle und Brittens Lebensgefährten Peter Pears als Kapitän Vere, dirigierte der Komponist selbst. Der nur wenige Monate später stattfindenden deutschen Erstaufführung am 2. März 1952 in Wiesbaden folgten Aufführungen in Paris, Bloomington sowie eine NBCFernsehaufzeichnung, in der abermals Britten als Dirigent und Pears als Vere mitwirkten. Hatte Benjamin Britten Billy Budd ursprünglich als zweiaktige Oper angedacht, entschied er sich schlussendlich für eine vieraktige Fassung. Da sich Peter Pears aber mit der langen Partie des Vere vokal nicht leicht tat, überarbei-
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DIE ENTSTEHUNG DER OPER BILLY BUDD
tete Britten das Werk 1960 erneut. Die auf diese Weise entstandene, verkürzte zweiaktige Version erklang erstmals in einer BBC-Übertragung am 13. November 1961 – wiederum unter dem Dirigat Brittens –, die szenische Erstaufführung des zweiaktigen Billy Budd fand am 9. Jänner 1964 am Londoner Royal Opera House statt. Die dramaturgische und musikalische Schwächung des Werkes, die durch die Überarbeitung von 1960 geschehen
war (vor allem durch die Eliminierung der großen Ansprache des Vere im Finale des vormals 1. Aktes), ließ bald den Wunsch nach der Wiederherstellung der ursprünglichen Partitur laut werden. Da diese schließlich von den beiden Britten-Forschern Donald Mitchell und Philip Reed vorgelegt wurde, konnte an der Wiener Staatsoper bei der Erstaufführung des Billy Budd im Jahre 2001 auf die ursprüngliche, bessere 1. Fassung zurückgegriffen werden.
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DONALD MITCHELL & PHILIP REED IM GESPRÄCH
»ICH GÄBE MEIN LEBEN FÜR EUCH, STARRY VERE !« dm
Ich bin wesentlich älter als Sie, Sie sind also mit der überarbeiteten Fassung von Billy Budd aufgewachsen, während ich mit der Originalfassung in vier Akten groß geworden bin. pr Ja. Die Fassung in vier Akten wurde erstmals im Dezember 1951 aufgeführt und die Überarbeitung stammt von 1960. Nach 1951/52 wurde die Oper, abgesehen von zwei vereinzelten Vorstellungen, eine davon in den USA, acht oder neun Jahre weder gesehen noch gehört. Als Britten im November 1960 in einer Sendung der BBC die Gelegenheit zu einer Neuaufführung der Oper erhielt, beschloss er, das Werk von vier Akten auf zwei zu kürzen. dm Ich bin sicher, dass einer der Faktoren, die Britten zu seiner Überarbeitung veranlassten, die Länge der Vorstellung war: Vier Akte und drei Pausen! Natürlich war die Bühnentechnik von 1951 mit der heutigen nicht vergleichbar – die Möglichkeit, schnelle Umbauten durchzuführen, war begrenzt. Allerdings waren hier auch weitere Überlegungen zu berücksichtigen. Eine davon war zweifellos die Rezeption der Oper 1951 … pr Sie sprechen von Ernest Newman, der die Oper in der Sunday Times besprach: er schrieb damals, der Schluss ließe an die HMS Pinafore [Operette von Gilbert & Sullivan] denken. Eine dumme Bemerkung genau von der Sorte, die den Komponisten zu verunsichern pflegten. dm Doch darüber sollten wir nicht aus den Augen verlieren, dass ein wesentlich schwerwiegenderer Grund
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»ICH GÄBE MEIN LEBEN F ÜR EUCH, STARRY VERE!«
für sein Unbehagen über den Schluss des ersten Aktes in der Persönlichkeit von Peter Pears lag. pr Ich weiß noch, wie Theodor Uppman, der die Rolle des Billy in der Uraufführung interpretierte, mir einmal sagte, dass eine der Passagen, der sich Pears nicht gewachsen fühlte, eben die Szene zum Schluss des ursprünglichen ersten Akts war, in welcher der Kapitän die Musterung durchführt. Er hatte das Gefühl, dass seine Stimme nicht genug Gewicht hatte, um die Szene gekonnt zu meistern oder dass er irgendwie nicht die richtige Art Tenor war. In der überarbeiteten Fassung erscheint Vere zum ersten Mal in der Kajütenszene, die den ursprünglichen zweiten Akt eröffnet hatte. Dies bedeutete, dass die unmittelbare und ausdrucksvolle Gegenüberstellung von Vere als »man of action« und Vere als Träumer verlorenging. dm Ich hatte immer schon den Eindruck, dass dies die Gesamtkonzeption der Oper entscheidend veränderte, und es ist mir weiterhin ein Rätsel, dass Britten damit einverstanden gewesen ist. Leider konnte ich diese Angelegenheit nie mit ihm besprechen – als ich mit ihm arbeitete, war die Überarbeitung bereits ein fait accompli. Die Schlussszene des ursprünglichen ersten Aktes führt zweifellos den »heroischen« Vere auf der Bühne (bzw. auf Deck!) ein, bevor wir ihm – bezeichnenderweise – vertieft in die Lektüre Plutarchs in seiner Kajüte begegnen. pr Der Verlust der Ansprache bedeutet, dass wir bis zur großen Gefechtsszene in einem wesentlich späteren Moment der Oper warten müssen, wo Vere sich endlich in Kampfstimmung präsentiert. Ebenso verlieren wir damit jenes wesentliche, von Alban Berg stammende Verfahren, das in der ursprünglichen Fassung die vier Akte der Oper miteinander verband, oder zumindest wird es in seiner Neuartigkeit abgeschwächt … dm Diese Szene enthält jedoch mindestens noch zwei weitere Komponenten, die mir für den langfristigen Handlungsverlauf der Oper fundamentale Bedeutung zu haben scheinen. Zunächst das große chorale Lob auf Vere, mit dem gegen Ende des ersten Akts die Mannschaft den Ruf ihres Kapitäns zu den Waffen beantwortet. Wenn man den schrecklichen Chor der zum Meutern entschlossenen Mannschaft am Ende des vierten Aktes in seiner ganzen Tragweite erfassen will, ist es von wesentlicher Bedeutung, sich die
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»ICH GÄBE MEIN LEBEN F ÜR EUCH, STARRY VERE!«
Dinge am Ende des ersten Akts ins Gedächtnis zu rufen, als derselbe Vere die begeisterte Verherrlichung durch seine Männer entgegennimmt. Der Kreislauf des Geschehens sorgt hier auf ironische Weise dafür, dass sich die dramatische und musikalische Situation am Ende des vierten Aktes um 180 Grad gedreht hat. Natürlich bewahrte Britten in seiner Überarbeitung einen beachtlichen Teil der choralen Passagen: doch ohne Veres Präsenz, ohne seine Ansprache als Enthüllung des Kampfgeistes bleibt das Finale des vierten Aktes um einen wesentlichen Bestandteil ärmer. Diese Chöre sind nämlich in meinen Ohren die zwei großen Stützpfeiler in der Gesamtarchitektur der Oper. Der zweite Aspekt ist nicht weniger wichtig. Veres erster Auftritt fällt mit seinem ersten Gewahrwerden Billys zusammen. Letzterer erscheint gegen Ende der Schlussszene mit seiner persönlichen Soloversion der begeisterten Zurufe seiner Kameraden: »Ich will Euch folgen, Euch dienen, gäbe mein Leben für Euch, Starry Vere!«, singt Billy. Nimmt man Vere nun aus der Szene heraus, wie es in der überarbeiteten Fassung der Fall ist, so geht Billys ekstatische Begegnung mit seinem Kapitän ebenfalls verloren und dem Werk wird ein meisterliches Element dramatischer Ironie entzogen. Denn Billy, obwohl er und Vere dies nicht wissen, muss ja wirklich sterben, und unbestreitbar für Vere; und als sich Vere nach Billys Hinrichtung im vierten Akt der rebellischen Mannschaft gegenübersieht, können wir uns unschwer vorstellen, wie er sich an diese Worte des »Prachtkerls« erinnert, die rückwirkend wie eine erfüllte Prophezeiung erscheinen müssen. Wir haben jedoch nicht alles an der ursprünglichen Fassung ausgerichtet. Als Britten die Oper in zwei Akten neufasste, nutzte er hier und da die Gelegenheit zu einer Überarbeitung der Orchestrierung. Dabei handelte es sich nicht um extensive Eingriffe, sondern um die typischen Verfeinerungen und Verbesserungen. Diese wurden ausnahmslos beibehalten. Die »Wiederentdeckung« der Urfassung von Billy Budd versetzt uns jedenfalls in die Lage, den schöpferischen Entwicklungsprozess einer Oper nachzuvollziehen, die von vielen als der komplexeste Beitrag des Komponisten zum musikalischen Drama des zwanzigsten Jahrhunderts gewertet wird.
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MICHAEL ROIDER als KAPITÄN VERE
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WILLI SCHUH
EIN REALISTISCHES MYSTERIENSPIEL ZUR MUSIKALISCHEN STRUKTUR VON BRITTENS BILLY BUDD Brittens musikdramatische Konzeption ist – ungeachtet der völlig anders gearteten vokalen und instrumentalen Mittel und der atmosphärischen Gegensätze – der des späten Verdi am nächsten verwandt. Er hält, wie er es anlässlich von Peter Grimes ausgesprochen hat, »an der klassischen Praxis der getrennten Nummern fest, bei welcher die aus der dramatischen Situation hervorgehende Gefühlsbewegung in bestimmt gewählten Augenblicken festgehalten und kristallisiert wird«, aber im Gegensatz etwa zu Strawinski legte Britten besonderes Gewicht auf die flüssige Verbindung und atmosphärische Zusammenfassung der in sich geschlossenen Teile. Er vermeidet weitgehend harte und elementare Kontraste, ja, diese Männeroper hat im Ganzen überraschend weiche Konturen. Das hängt zweifellos mit der musikalischen Charakterzeichnung des Kapitäns zusammen, der nichts von einem Kriegshelden, wohl aber Züge eines Heiligen und Märtyrers mitbekommen hat. Auch um Billy Budd webt eine weiche musikalische Atmosphäre: nicht zufällig erscheint ein Lullaby als Klangsymbol des hübschen Matrosen ge-
wählt. Selbst der teuflische Jemmy-Legs (Claggart) vermag mit seiner an Jagos »Credo« erinnernden Selbstenthüllungsarie die elegische Grundstimmung nicht völlig aufzuheben. Wenn Britten auch keine eigentlichen Leitmotive verwendet, so sind die Hauptfiguren doch durch bestimmte Intervalle und den melodischen Duktus gegeneinander abgehoben; und statt mit Erinnerungsmotiven arbeitet Britten gern mit der variierten Wiederholung symbolischer Harmonien und Klangfarben. Im Li bretto ist für ausgiebige Abwechslung von Soli, Duetten, Terzetten und Quartetten gesorgt, und den Chorszenen, in denen sich Brittens intime Kenntnis der englischen Volksmusik aufs Glücklichste auswirkt, eignet eine Vielfalt der vokalen und orchestralen Ausdrucksformen, dass die ausschließliche Herrschaft der Männerstimmen keinerlei Monotonie zur Folge hat. Ensemble und Chorsätze erscheinen meist in bestimmte (besonders rhythmisch profilierte) Muster eingewoben, was gelegentlich einen Vorzug der atmosphärischen vor der dramatischen Wirkung bedeutet. Den eigenwilligs-
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EIN REALISTISCHES MYSTERIENSPIEL
ten Ausdruck gewinnt Brittens Musik in Billy Budd so gut wie in Peter Grimes in der orchestralen Färbung der Tonsprache. Auch aus dem großen Orchester löst er gern einzelne Instrumente heraus, zum Beispiel das Altsaxophon, dessen elegische Töne auf eigenartige Weise ausgewertet werden. Wie stark atmosphärische und symbolische Elemente einander durchdringen, zeigt sich etwa an der Verwendungsart der mehr Farbe als Spannung erzeugenden Trommelrhythmen. Mit besonderer Vorliebe stellt Britten die großen und kleinen Flöten den tiefen Streichern gegenüber – Billys wundersames »Wiegenlied« ist ganz vom Wechselspiel dieser zwei Farben beherrscht. Holzbläsertrios werden gern zur präzisen Zeichnung kürzerer, aber wichtiger Episoden herangezogen, so etwa in der kleinen Duett-Szene Billy-Neuling im ersten Akt. Extrem lange, dünne Linien und kompakte Akkordik, spitze und runde Klänge werden gegeneinander ausgespielt, wobei die harmonische Besonderheit der Linienzüge bzw. Klangkomplexe zu mysteriösen Wirkungen führt – so gleich im Prolog (und entsprechend im Epilog), der mit seinem geisterhaften musikalischen Zwielicht die irreale Komponente der Oper betont. Im letzten Akt erhebt sich Brittens Musik zu bisher nicht gekannter Höhe, sie gewinnt eine geistig-seelische Verdichtung, von der eine erschütternde Wirkung ausgeht. Es gibt eine Szene, die den Vergleich mit den höchsten Momenten der alten und der neueren Oper aushält; es ist das letzte Gespräch zwischen Kapitän Vere und Billy, zwischen den zwei
Menschen, die (wie der Dichter sagt) die große Natur aus ihren edelsten Stoffen gebildet hat. Würde der Komponist, so fragt man sich, die Kraft aufbringen, diese Szene, die Melville auf eine wunderbare Weise nur andeutet, der Musik als einer Sprache über der Sprache allein anvertrauen, oder würde er sie ihrer Irrationalität entreißen und zum dramatischen Opernduett trivialisieren? Britten hat sie zum Mittelpunkt des Mysteriums erhoben: Als Bringer der Todesbotschaft durchschreitet Vere die Türe der Kabine, die sich hinter ihm schließt. Hier ist es dem Orchester allein aufgetragen, das Mysterium des doppelten Opfers in eine Kette von Harmonien zu fassen, die sich als ein Ureinfall von überwältigender Genialität darstellt: Largamente folgen einander die breit und ohne rhythmische Differenzierung hingesetzten Dur- und Moll-Dreiklänge, in wechselnder Tonstärke, anfangs an- oder abschwellend, dann gleichmäßig ausgehalten und jeder Akkord in einer anderen, gegen die vorangehende klar abgesetzten Orchesterfarbe: der erste gespielt von Blechbläsern, der zweite vom Tutti, der dritte von Holzbläsern, der vierte von Streichern, der fünfte von Holzbläsern und Hörnern usw. Und bei farbigstem Harmoniewechsel bleiben die Spitzentöne der 35-gliedrigen Akkordkette den Tönen des F-Dur-Dreiklangs eingeschrieben! Mit dem letzten, von weich wogenden, sordinierten Streichern pianissimo gebrachten F-Dur-Dreiklang ist die Ausgangslage von Billys Lullaby erreicht – ein Effekt von unerhörter mystischer Wirkung.
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DER KAMPF DER TITANEN Auf den ersten Blick zeigt Billy Budd einen Konflikt, den es seit Menschengedenken gibt: das Ringen der beiden Urgewalten Gut und Böse: »Claggart, der Bösewicht des Stücks, wird über weite Strecken als ein von Geburt aus böser Mann geschildert; wohingegen der Held, Billy Budd, als diametral entgegengesetzter Charakter gezeichnet ist, als der Archetyp von ›unschuldig‹. Seine besondere Anwesenheit an Bord des Schiffs ruft bei Claggart eine spontane Antipathie hervor, sodass seine sadistische Natur nicht ruhen kann, bis sie für diesen jungen Adam die Schlange gespielt hat.« (Charles R. Anderson) Dies war gleichfalls für lange Zeit die bevorzugte Interpretation der Novelle. William Plomer war dann der erste, der homosexuelle Töne in Melvilles Schaffen bei seinen Deutungen berücksichtigte. Daraus ergab sich ein etwas anderes Verhältnis zwischen den Hauptfiguren: »Der gutaussehende Seemann ist für die Marineautorität gefährlich, weil er eine ausreichende Kraft gegenüber der hierarchischen Macht anbietet. Er stellt die Erotik in einer Welt vor, in der die Autorität durch deren Verbannung aufrechterhalten wird. Billys Eintritt in das Schiff konfrontiert ihn mit der unterdrückten Macht der Erotik, und den Versuchen seiner polizeilichen Autorität, dargestellt durch
Claggart, sie auszurotten. Seine Verdammung von Billy ist eine Wiederbehauptung des Prinzips der Macht über das der Liebe.« (Robert K. Martin) Claggart wird zum Sittenwächter, dessen Aufgabe es ist, das Ausleben gleichgeschlechtlicher Beziehungen zu verhindern bzw. bereits vage, aufkeimende Ansätze auszurotten, wobei ein Bewusstwerden seiner eigenen sexuellen Wünsche vorerst gar nicht infrage kommen darf. Wenn dies geschieht, muss deren Ursache sofort eliminiert werden. Das fesselte wohl Forster an dem Sujet und begeistert noch heute manchen Regisseur, wie sich an Neil Armfields Inszenierung des Werkes 1998 in Cardiff zeigt. Obwohl weder Worte noch Musik diese Deutung wirklich unterstützen. Mit der Indomitable wurde ein Abbild der menschlichen Welt geschaffen, die durch gegensätzliche Kräfte bestimmt ist. Diese werden von Figuren personifiziert, die sich vorerst auffällig voneinander unterscheiden. »Claggart ist böse durch und durch; er besitzt die verdrehte Intelligenz einer Schlange, eine Intelligenz, die für irrationale Absichten verwendet wird. Billy Budd, im Gegensatz, ist reine Unschuld, die alleine aus Instinkt handelt und urteilt.« (Phil Withim) Billy ist als Figur nicht wirklich fassbar. Er ist keiner sozialen Schicht
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zuzuordnen, scheint sowohl maskulin wie feminin und ist sich seiner Existenz in der Welt nicht bewusst. Sein gesamtes Handeln kennzeichnet ihn als spontan und damit als unberechenbar. Alles in allem ist er zu unschuldig, zu gut, um überhaupt noch real zu sein. Er ist anders, weil er einem Ideal entspricht. Also kaum verwunderlich, dass aus dem Namen Billy Budd Rückschlüsse auf mythologische Wesen gezogen werden. Mervyn Cooke etwa sieht eine Verwandtschaft mit dem keltischen Äquivalent des Apollo. Der Gott Apollo wurde unter Verwendung der verschiedensten Beinamen, wobei besonders seine Funktion als Heiler im Vordergrund stand, bei den Kelten vor allem in römischer Zeit verehrt. In seiner Eigenschaft als strahlender Lichtgott, und die scheint gerade bei dem Vergleich mit Billy Budd von herausragender Bedeutung zu sein, entspricht ihm am ehesten der keltische Gott Belenus. Daneben gibt es zwei andere mythische Gestalten, deren lautliche Ähnlichkeit ebenfalls auf Billy Budd hinweisen könnte. Beli Mawr war eine Art walisischer Totengott, ein Ahne, zu dem die Verstorbenen zurückkehren. Einer seiner Söhne trug den Namen Lludd. Er war ein friedlicher und weiser Herrscher in Britannien. Als sein Reich von drei Plagen heimgesucht wurde, gelang es ihm aufgrund der Ratschläge seines Bruders Llevelys, die Ruhe im Reich wiederherzustellen. In der Sage ist Lludd der Lebenserhaltende, Llevelys der Weise. Die Parallelen zwischen Billy Budd und irgendeiner der damit in Zusammenhang gebrachten keltischen Mythen ist jedenfalls weit hergeholt. Weil Vere im Epilog von einer Segnung und Errettung durch Billy singt,
wird gerne auf eine Verwandtschaft mit Christus hingewiesen. Er nahm die Schuld der Welt auf sich. Um es ihm gleich zu tun, muss Billy allerdings erst erfahren, was Schuld ist. Billy aber befreit niemanden von irgendeiner Schuld. Ein zweiter Christus ist er demnach nicht. Opfer eines unmenschlichen Systems ist er ebenso wenig. Billy Budd wird nicht geopfert, um die Ruhe auf dem Schiff wiederherzustellen. Ganz im Gegenteil: Seine angekündigte Hinrichtung verursacht Aufruhr. Er wird auch nicht gehängt, weil man ihn der Meuterei verdächtigt. Die Ursachen für sein gewaltsames Scheiden aus dem Leben liegen woanders. Hierbei ist ein Vergleich mit Adam vor dem Sündenfall im Sinne von Miltons Paradise Lost eher zielführend. In der Genesis ist zu lesen, wie Gott den Menschen erschuf und ihn in den Garten Eden stellte. Gleichzeitig lässt Gott noch anderes entstehen: »Und Gott der Herr ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, verlockend anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen.« (1. Mos, 2-9). Dieser Baum ist für den Menschen jedoch tabu. Wenn Gott nicht wollte, dass die Menschen von dem Baum essen, weshalb hat er ihn dann gepflanzt? Die einzig plausible Antwort dürfte in einer Art Prüfung liegen. Die Schlange verführt Eva, diese verführt Adam und das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Adam ist nicht perfekt, Billy ist es genauso wenig. Zunächst einmal stottert er. Bereits im Prolog sinniert Vere über die Unvollkommenheit des Guten. Dabei erklingt das »Stottermotiv«. Im praktischen Leben manifestiert sich Billys Unschuld als Naivität. Trotz verstärkter Warnung will er nicht an die
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bösen Absichten Claggarts glauben. Er ist unfähig, von seinen Mitmenschen und der Welt etwas Schlechtes anzunehmen. Selbst die Zwangsrekrutierung auf ein Kriegsschiff erscheint ihm positiv. Für ihn ist alles und jeder schön und gut, genauso wie er es ist. Als Vertreter des Guten ist er tatsächlich ideal, als sein Kämpfer aber ist er zum Scheitern verurteilt. Die Sprachbehinderung macht eine verbale Verteidigung unmöglich, ihm bleibt nur das körperliche Handeln. Das soziale Miteinander hat Regeln aufgestellt, die solch ein Vorgehen verurteilen, aber Billy ist, obwohl er mit fast allen seiner Kameraden gut zurechtkommt, wie Peter Grimes, ein Außenseiter: »Billys Schönheit ist, mit einer Reihe anderer Dinge, eine Manifestation seiner Güte. Er ist ein engelsgleicher Besucher auf dieser Welt, sein Fehlen einer Abstammung (er ist ein Findling) macht ihn ebenso zu einem außerirdischen Wesen.« (Barry Emslie) Billy hat immer außerhalb der Normen gelebt. Das verbindet ihn mit seinem Kontrahenten. Claggarts Vorteil allerdings liegt darin, dass er um die Gesetze weiß und sie für seine Zwecke benutzen kann, danach leben tut er keineswegs. Seine Welt ist ebenso einseitig wie die von Billy. Sie ist geprägt durch Niedertracht, Brutalität und Gemeinheit. Jeder kleine Funke Licht wird zur Bedrohung. Claggart und Billy können einander nicht fassen, weil keiner der beiden den anderen für überhaupt möglich hält. Billy verschwendet daran keinen Gedanken. Claggart hingegen widmet dieser Problematik seinen ganzen Monolog. Claggart muss zerstören, was ihn stört. Es ist die Schönheit, die ihn in den Wahnsinn zu treiben droht. Um sein Ziel zu erreichen, geht er eigentlich recht plump vor. Squeak und der
Neuling sind als Handlanger des Bösen nicht gerade die erste Wahl. Die fadenscheinige Anklage, die er dem Captain vorträgt, verstärkt hauptsächlich dessen Antipathie gegenüber dem Masterat-Arms. Schon knapp nach der Uraufführung stellte ein Kritiker fest: »Der Teufel ist kein solcher Narr; er hätte niemals damit durchkommen können, hätte Billys Faust nicht eingegriffen.« (Dean Winton) Oft wird die Schlange aus der Genesis mit Claggart in einem Atemzug genannt. Genau betrachtet, hat er aber nichts mit ihr gemein. Durch Lüge und Hartnäckigkeit versucht er, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Die Schlange jedoch sagt nur die Wahrheit. Außerdem verführt Claggart Billy Budd ja nicht zur bösen Tat. Es sei denn, es gehörte zu seinem Plan, das Gute durch die Vernichtung des Bösen in Misskredit zu bringen. Nun hat Claggart selbst bereits geäußert, dass er wünscht, seine Welt vor dem Guten zu bewahren. Gelänge ihm dies nur mithilfe seines eigenen Todes, hätte er ja nichts dabei gewonnen. Musikalisch wird Claggarts Monolog immer wieder mit dem »Credo« des Jago aus Verdis Otello verglichen. Aber Claggart ist nicht Jago, der mit diabolischer Perfektion die totale Vernichtung seines Feindes betreibt. Weiters war es Jago vergönnt, sein Tun zu genießen. Die Verhaftung konnte seinen eigentlichen Triumph nicht mehr schmälern. Er hat seine Macht zur Gänze ausgespielt und den Sieg im vollen Bewusstsein erlebt. Claggart kommt nicht einmal soweit, weil Billy ihn vorher tötet. Als Streiter für die Macht des Bösen ist Claggart so ungeeignet wie Billy als Kämpfer des Guten. »Wenn du den Feind und dich selbst kennst, besteht kein Zweifel an deinem Sieg«, schrieb
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Sunzi. Im vorliegenden Fall kennen die Gegner zwar sich selbst, vom Feind haben sie aber keine oder nur recht vage Vorstellungen, und so verschulden sie ihren gegenseitigen Tod. Die Spontaneität Billys hatte Claggart nicht einkalkuliert. Eine wahrlich erstaunliche Tatsache, wenn man bedenkt, dass er Squeak vor Billys Temperament bereits gewarnt hat. Mit dem Plan, das Gute zu vernichten, hat sich das Böse selbst eliminiert. Ungewollt ist das Gute damit ebenfalls in eine lebensbedrohliche Lage geraten. Gut und Böse können ihre Existenz nur dank gegenseitigem Vorhandensein bedingen. Etwas kann erst in dem Augenblick als gut erscheinen, in dem einem klar wird, dass das Gegenteil ebenfalls möglich ist. Claggarts Tonart ist eigentlich F-Dur. In seinem Monolog stößt man dann plötzlich auf A-Dur. Diese Tonart bedeutete für Britten seit den späten 30er Jahren Schönheit und Unschuld. Claggarts Bösartigkeit blüht eigentlich erst mit dem Erscheinen des Guten in Gestalt von Billy Budd so richtig auf. Dieser wirkt umso besser, je mehr man ihn in Relation zu Claggart
betrachtet. Sie bedürfen einander, aber ihre Unvollkommenheit lässt sie das nicht erkennen. Die Musik der Verhandlung, die nach Claggarts Tod beginnt, erinnert stark an die von ihm vorgebrachte Anklage und sein Motiv. Die Beratung der Offiziere erfolgt in F-Dur. Der tote Master-at-Arms ist nach wie vor gegenwärtig und übt seinen Einfluss aus. Mit der Auslöschung des Gegners hat das Gute seine Daseinsnotwendigkeit verloren. Claggart gelingt tatsächlich die Hinrichtung von Billy Budd, wenn auch anders, als er sich vorgestellt hat. Die große Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse endet hier mit einem fatalen Unentschieden. Billy Budd beweist: Es gibt nichts Schlechtes, das nicht auch etwas Gutes bewirkt und umgekehrt. Will einer Gutes, muss er Böses in Kauf nehmen. Deshalb gibt es nie einen Kampf zwischen Gut und Böse, weil keiner der Kontrahenten in dieser Form existiert. Was hingegen seit jeher besteht, ist ein permanentes Miteinander der beiden.
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»LOST ON THE INFINITE SEA ... « LEITTHEMEN, CHARAKTERE UND KONSTELLATIONEN IN BENJAMIN BRITTENS BILLY BUDD DER EINE UND DIE VIELEN In der Fülle von Stoffen, Themen, Genres, lokalen Farben und zeitlichen Merkmalen bei einem so vielseitigen und wandlungsfähigen Opernkomponisten wie Benjamin Britten nach dramaturgischen Konstanten und inhaltlichen Leitmotiven zu suchen, erscheint auf den ersten Blick wenig verlockend, wenn nicht gar aussichtslos. Was sollte das tragische Scheitern des mürrischen Einzelgängers Peter Grimes in einer englischen Kleinstadt mit der Beziehung zwischen Königin Elizabeth I. und dem Grafen von Essex (Gloriana) verbinden? Was hat der Selbstmord einer Aristokratin aus dem alten Rom (The Rape of Lucretia) mit dem Gesinnungswandel eines einfältigen Burschen in einem Marktstädtchen um 1900 (Albert Herring) zu tun?
Wie will man den Ehrencodex einer altgedienten Soldatenfamilie (Owen Wingrave) mit der Lebenskrise eines sensiblen Künstlers (Death in Venice), wie den komplizierten Seelenhaushalt der Bewohner eines abgelegenen Landhauses (The Turn of the Screw) und das bunte Treiben der Elfen, Verliebten und Handwerker im Fahrwasser Shakespeares (A Midsummer Night’s Dream) auf einen Nenner bringen? Vielleicht hat Arnold Whittal, der Verfasser des Artikels über Benjamin Britten in The New Grove Dictionary of Opera, mit diagnostischem Röntgenblick die ethisch-ästhetische Übereinstimmung in der Tiefe der wechselnden Sujets richtig erkannt, wenn er schreibt: »What connects stories by Henry James, Guy de Maupassant and Thomas Mann, a poem by Crabbe and a historical biography by Lytton Strachey, plays by Shakespeare and André
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Obey, a noh play and certain stories from the Bible is a concern for the ‚outsider’, the innocent, vulnerable misfit, exposed to corruption, temptation or (in the least extreme case) the mystery of night in a wood near Athens.« (Vol. 1, p. 607). Nach dem Prinzip von Zentrum und Peripherie sieht der Forscher diese Kernproblematik in den Opern Peter Grimes, Billy Budd, Gloriana, The Turn of the Screw, Owen Wingrave und Death in Venice idealtypisch verkörpert und tragisch zugespitzt. Der Tod des einsamen, ausgesetzten Helden ist der vorgezeichnete Weg und die stimmige Konsequenz aus einem unlösbaren Widerspruch, aus einem psychosozialen Dilemma. Peter Grimes entzieht sich dem Leidensdruck, indem er mit seinem Boot auf das offene Meer hinausfährt und dort untergeht. Die Menschen des Fischerorts sehen den Kahn sinken und gehen ohne innere Regung ihren Alltagsgeschäften nach. Robert Devereux, der Graf von Essex, scheitert am prekären Zwiespalt zwischen familiärer Bindung, politischem Ehrgeiz und seiner Liaison mit der Königin, die den Günstling schließlich aus Staatsräson zum Tode verurteilt (Gloriana). Der Knabe Miles geht am Zwiespalt zwischen den Einflüsterungen des dämonischen Dieners Quint – vielleicht einer Symbolfigur für das immanent Böse in der Welt – und der engagierten Obhut der neuen Gouvernante zugrunde (The Turn of the Screw). Owen Wingrave, der hoffnungsvolle Zögling einer Militärakademie, kann seine Verachtung für den Krieg selbst dann nicht überwinden, als er als Feigling verhöhnt wird und sich seine Braut voller Verachtung von ihm abwendet. Auch er findet erst in einem mysteriösen Tod die Erlösung aus diesem Lebenskonflikt. Und
in Death in Venice, der wohl subtilsten Variation dieses Generalthemas, stirbt der Schriftsteller Aschenbach nicht an der grassierenden Cholera, sondern an der sehrenden Dialektik zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen, zwischen der Anschauung des Schönen und der verderblichen Obsession der Sinne. Es ist dem schon zitierten Arnold Whittal zuzustimmen, dass auch die Happy Ends von Opern wie Albert Herring oder A Midsummer Night’s Dream nicht als harmlose, oberflächliche Lösungen missverstanden werden dürfen: Sie sind »much more than perfunctory acknowledgements of an acceptable alternative to tragic dissolution«. Billy Budd, die Titelfigur von Brittens Oper aus dem Jahre 1951, repräsentiert in einem schier platonischen Sinn körperliche Schönheit und charakterliche Reinheit. Die Wirkung dieses Zusammenspiels auf seine Umgebung ist ambivalent: Der junge Mann gewinnt spontan Sympathien und öffnet sich die Herzen, er provoziert aber zugleich Missgunst, erweckt Neidgefühle und ist allen sinistren Intriganten ein Dorn im Auge. Seine naive Lauterkeit macht ihn arglos, zugleich aber auch hilflos gegenüber allen im Verborgenen gesponnenen Lügennetzen und gespannten Fallstricken. Seine Artikulationshemmung, die unter psychischer Belastung bis zum völligen Sprachverlust ausschlägt, ist ebenso sehr ein psychosomatischer Defekt wie der manifeste Ausdruck seiner Ungeschütztheit, seines emotionalen Urvertrauens, seiner Verachtung für argumentative Winkelzüge. Diese anima candida kann sich in Momenten der verbalen Bedrohung oder einer hinterhältigen Attacke nicht mit Worten verteidigen und damit seelisch entlasten.
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Der aufsteigende Affekt mündet unweigerlich in brachiale, in der entscheidenden Szene der Handlung sogar letale Gewalt. Billy Budd ist gefühlsstark, doch nicht sentimental. Auf eine unvorhersehbare Weise löst er sein Gelübde aus dem ersten Akt ein, für »Sternen-Vere«, den verehrten und geliebten Kapitän, zu sterben: »I’ll serve you, Starry Vere ... I’ll die for you.« Dass dieses sein Idol ihm nicht beisteht, in quälenden Selbstzweifeln den Buchstaben des Rechts vor die höhere Wahrheit und tiefere Einsicht stellt, lässt den zum Tod Verurteilten an seiner Loyalität nicht irre werden. Und seine Vision einer besseren Zukunft, eines heilen Jenseits resultiert aus tiefem Glauben, ist kein Wahngebilde überreizter Nerven: »Ich erspähte ein Segel im Sturm, das segelt im Licht mir voran. Es gibt ein sehr fernes Land, wo für immer man ankert. Ich bin zufrieden.« Und auch sein letztes Wort ist mehr als die eingeübte, traditionelle Grußformel: »Starry Vere, God bless you!«
DAS PRINZIP DES BÖSEN Er ist Master-at-Arms, zu deutsch Schiffsprofos, also der Hauptpolizeibeamte des Schiffs, in der Hierarchie der englischen Kriegsmarine zwar nur ein Unteroffizier, doch gleichwohl ein wichtiger Mann mit Vollmachten, die er in Willkür und Gewalttätigkeit gegen Untergebene umsetzen kann: Jener John Claggart, den sie hinter seinem Rücken verächtlich-respektvoll Jemmy-Legs nennen, gibt als Stabswachtmeister mehrmals Proben seiner menschenverachtenden Grausamkeit. So hält er gleich nach Billys Rekrutierung seinen Korporal Squeak an, den Burschen zu beobachten und ihm den
Herren zu zeigen. Beim Anblick eines ausgepeitschten Jungmatrosen kommt ihm nur ein brutaler Zynismus über die Lippen. Und seinen eigenen Untergebenen lässt er anketten und knebeln, als dieser in Erfüllung seines Auftrags Billys Seesack durchwühlt, dabei aber ertappt und überwältigt wird. Dieser John Claggart wird von der Crew zutiefst gehasst, und sein Tod von der Hand Billy Budds löst bei keinem wirkliche Trauer aus. Wer ist nun diese Gegenfigur zur Lichtgestalt des Titelhelden, dieser Intrigant und Bösewicht, der an Arglist, Heuchelei und Widerwärtigkeit schier alle Finsterlinge der Opernliteratur hinter sich lässt und auch das Pendant der literarischen Vorlage deutlich übertrifft? Es erscheint nicht zu hoch gegriffen, wenn man in dieser fiktiven Person keinen real geformten Menschen, vielmehr den Inbegriff des Bösen, die Inkarnation des Negativen schlechthin erblickt, einen Luzifer, der aber zugleich auch Züge eines gefallenen Engels trägt. So reagiert er auf die Erscheinung Billys bei der Musterung zunächst geradezu emphatisch: »A find in a thousand, your honour. A beauty. A jewel. The pearl of great price.« Doch die spontane Anziehung durch die Schönheit und Liebenswürdigkeit des jungen Mannes schlägt schon bald in Hassgefühle um, wenn er Billy sein buntes Halstuch herunterreißt: »Pass auf, was du trägst. Sei nur stolz auf dich selbst, Schönling!« Noch im ersten Akt gibt Claggart seine Verachtung für die ihm vorgesetzten Offiziere preis und lüftet damit auch Facetten seiner Biographie: »Gewiss, Herr Leutnant. Ja! Gewiss ... Denkt er, ich war taub? Wäre von vorgestern? Ich hab’ die Erbärmlichkeit dieser Welt studiert. Lehren hat mir keiner erteilt ...
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von der bösen Welt, diesem Schiff, verfluchtem Schiff! Und diese Namen! Dies Marinepack! Sie sind nichts als Staub vor dem Wind.« Eine tiefschwarze Weltanschauung tritt da hervor, ein Geist, der stets verneint, schafft sich Gehör, der Erinnerungen an eine berühmt-berüchtigte Kunstfigur weckt: an Jago, mehr noch an die Gestalt aus Arrigo Boitos Libretto für Giuseppe Verdis Otello denn an das Urbild bei Shakespeare. Auch das Prinzip des Bösen, der Negation und Destruktion, das diese Person vorstellt, lässt sich nicht (nur) mit schlimmen Lebenserfahrungen, mit Rachebedürfnis und Revanchegelüsten motivieren, ob sie aus einem erotischen Misserfolg bei Desdemona oder aus einem Karriereknick herrühren. Und so liegt es durchaus nahe, die Bekenntnisse dieser beiden Geistesverwandten, die Manifestationen ihrer abgrundtiefen Weltverachtung miteinander zu vergleichen. Am Beginn des zweiten Akts von Verdis Otello formuliert der ›Dunkelmann‹ sein »Credo«: »Ich bin verworfen, weil ich Mensch bin, und ich fühle in mir den Urschlamm. Ja, das ist mein Glaube! Ich glaube festen Herzens, mit der Gläubigkeit einer jungen Witwe in der Kirche, dass ich das Böse im Gedanken und in der Wirkung erfülle ... Und ich glaube, dass der Mensch das Spiel eines ungerechten Schicksals ist vom Keim der Wiege bis zum Wurm des Grabes. Nach all dem Spott kommt der Tod. Und dann? – Der Tod ist das Nichts, der Himmel ist ein altes Märchen.« John Claggarts großer Monolog in Brittens Oper wirkt da wie eine späte Antwort, wie eine Bestätigung durch den Nihilismus des Nachgeborenen: »O Schönheit, o Anmut und Güte, ach, dass ich euch begegnet bin! Ach, könnt’
in meiner Welt ich allein sein, in jener Finsternis, in die ich gestellt. Dort fand ich Frieden für mich, ich baute mir eine Welt auf, die der Hölle gleicht. ... Bin gezwungen, dich auszurotten, und ich schwor, dich auszulöschen. Von dem kleinen schwankenden Spielzeug der See, diesem Schiff, auf das dich mein Glück geführt. ... Nein, du kannst mich nicht flieh’n. Durch Hass und Missgunst bin ich stärker als Liebe. ... Ich, John Claggart, Schiffsprofos auf der Indomitable, hab’ dich in der Hand, ich werde dich töten, ich muss dich vernichten.«
DER ALTE MANN UND DAS MEER Es gibt kreative Menschen, deren schöpferische Arbeit über allen künstlerischen Anspruch hinaus auch Krisenbewältigung, Identitätssuche, Befreiung von Leidensdruck bedeutet. Solche Künstler schreiben ungern, aber leidenschaftlich. Dass Benjamin Britten zu dieser Spezies gezählt hat, geht aus allen Lebensbeschreibungen einmütig hervor. Zu den Bühnenfiguren, mit denen der Komponist sympathisiert, in denen er eigene Wesenszüge wiedererkennt, in die er aber auch spezifische Problemfelder seiner Biographie projiziert, gehört jedenfalls die dem Freund und Lebenspartner Peter Pears auf den Leib und in die Stimmbänder geschriebene Rolle des Captain Edward Fairfax Vere. Denn der ist nach eigener Einschätzung keineswegs der strahlende Held und vorbildliche Befehlshaber, als den die Mannschaft ihren Starry Vere preist. Hinter der makellosen Fassade steckt ein Mensch mit seinem Widerspruch, ein Charakter mit vielen Facetten und Bruchlinien, der sich diffizile Entscheidungen mühsam abringen
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muss, der die Komplexität des Lebens, die Schattenseite der Verantwortung überdeutlich wahrnimmt und schwer daran trägt. Wenn er in seinem Plutarch von großen Männern wie Miltiades, Themistokles und Kimon liest und sich aus dem antiken Text Trost und Zuspruch holt (»Die Griechen und Römer, ihr Leiden ist unserem gleich. Möge auch ihre Tüchtigkeit und ihr Mut uns zu eigen werden.«), so mag ihm vor der eigenen Epoche ebenso gegraut haben wie Karl Moor in Schillers Räubern vor dem »tintenklecksenden Säkulum«. Geradezu leitmotivisch begleitet den Kapitän die Sorge um den freien Blick, um das helle Licht, das Gefahren erkennen und Fehler vermeiden hilft. Dass diese Strahlen nicht nur meteorologischer Natur sind – englisch gesprochen: nicht bloß dem Himmel als sky, sondern auch als heaven zugehören –, gibt Vere schon am Ende seiner Plutarchlektüre kund: »O God, grant me light to guide us, to guide us all!« Und so ist denn auch der Nebel, der die Sicht auf die Dinge vereitelt, dem Kapitän zutiefst verhasst: »I don’t like the look of the mist.« – »Ay, the mist is back to foil us.« Aber nicht allein auf hoher See und im Kampf mit einem feindlichen Schiff, auch in seinem zwischenmenschlichen Umfeld tut sich für Vere manche undurchdringliche Nebelwand auf. Er erkennt intuitiv Billys Unschuld entgegen allen Verdächtigungen der Meuterei durch den Intriganten Claggart. Er mutmaßt dessen bösartige Verleumdungsabsicht und fühlt sich doch zur Objektivität, zur Überprüfung
aller Verdachtsmomente verpflichtet. Er weiß, dass Billys Attacke auf Claggart aus einem seelischen Notstand herrührte und der Tod des Intriganten nicht Absicht, sondern die Folge eines bösen Zufalls war. Dennoch kann er sich nicht zu seinem Gefühl für den Sympathieträger bekennen, selbst, als dieser ihn offen um Hilfe anfleht: »I’d have died for you, save me!« Der psychische Druck der offiziellen Situation, die Zwangslage eines öffentlichen Handelns ersticken alle privaten Regungen. Erst im Epilog scheint der alte Mann, der die Ereignisse des Sommers 1797 weder vergessen noch verdrängt hat, sondern sie im Rückblick in allen Einzelheiten an sich vorüberziehen lässt, seinen Seelenfrieden zu finden. Noch einmal überkommen ihn Zweifel und Selbstvorwürfe: »Ich hätte ihn retten können. Er wusste es, auch seine Kameraden wussten es, doch irdische Gesetze brachten sie zum Schweigen!« In der schonungslosen Vergegenwärtigung des Vergangenen, des eigenen Versagens und der verzeihenden Liebe des Gegenübers, liegt auch der Schlüssel zum versöhnlichen Ende. Wenn Captain Vere am Schluss des Stücks die hoffnungsvollen Worte des todesbereiten Billy Budd wiederholt, sich ihrer erinnert oder sie neu erfindet, so offenbart sich die innere Nähe und Geistesverwandtschaft der beiden Menschen: »War verloren auf endloser See, doch dann sah ich ein Segel im Sturm, im funkelnden Licht, und bin nun froh. Ich weiß meinen Weg nun in das Land, wo für immer man ankert.«
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»WIR ÜBERGABEN SEINEN KÖRPER DER TIEFE. DIE MÖWEN UMKREISTEN IHN, IHR GESCHREI WAR SEIN REQUIEM.« 59
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IM NEBEL DES SCHLECHTEN GEWISSENS Hatte Kapitän Vere vielleicht doch recht, Billy Budd hinrichten zu lassen? Dem Ehrenwerten Kapitän zur See Edward Fairfax Vere gefällt der Nebel nicht. Nicht in seiner Welt, dem Krieg, wo er, der Kommandant der Royal Navy auf der HMS Indomitable, dem Feind gern offen entgegenblickt; und nicht in seinem Kopf, in seinem Denken, an dessen Rationalität er glaubt. Vere schätzt die klare, die weite Sicht. Wie kann dieser Sternen-Vere so sehr den Überblick verlieren, was kann seinen Verstand derart vernebeln in jener sonnenklaren Situation, in der er über Leben oder Tod von Billy Budd zu entscheiden hat? Er ist doch selbst Zeuge des tragischen Vorfalls geworden, hat mit eigenen Augen gesehen, dass der Schlag des Vortoppmannes, durch den der Waffenmeister John Claggart zu Tode kam, unbeabsichtigt war. Vere hat die Arglosigkeit Billys ebenso durchschaut wie Claggarts Arglist. Niemand weiß besser, dass Billy Budd unschuldig ist. Und doch betreibt er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln dessen Hinrichtung – auch wenn er an dieser Entscheidung verzweifelt. Selbst der Schiffsarzt wundert sich über die seltsam heftige Erregung Veres.
Warum ist der Kapitän derart verwirrt? Warum übergeht er die Usancen, setzt den Täter nicht einfach unter Arrest, um ihn später der Admiralität auszuliefern? Warum beruft er Hals über Kopf ein Standgericht ein? Bang fragt sich der Arzt, ob sein Vorgesetzter am Ende gar »geistig gestört« sei. Was aber, wenn Kapitän Veres Sinne gar nicht getrübt waren? Wenn er recht damit hatte, das Standgericht über Billy zu einem Todesurteil zu drängen? Vere sagt, dass er entscheiden musste, wie er entschieden hat. Vielleicht war diese Entscheidung ja nicht nur rechtens nach den Buchstaben des Gesetzes, sondern auch richtig im Sinne eines höheren Interesses; nicht nur verantwortbar, sondern auch notwendig. Ein Schiff auf hoher See gilt seit jeher als dramatisch verdichtete Metapher menschlicher Gesellschaft, und innerhalb dieser Schicksalsgemeinschaft kommt dem Kapitän die Rolle des unumstrittenen Souveräns zu. Den Zusammenhalt an Bord, die Einsatzfähigkeit der Mannschaft und des Schiffes zu wahren, sind ihm oberstes Ziel; jeder Gefährdung der Disziplin und Moral wird er entschieden entgegentreten. Das ist nicht nur seine Pflicht, es ist,
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zumal im Kriegszustand, überlebenswichtig. In eben diesem Sinne handelt Vere, wenn er Billy Budd dem Recht und der Ordnung auf der Indomitable opfert. Es wirkt fast wie eine Instinktreaktion: »Niedergestreckt durch den Engel Gottes!«, ruft er, auf den toten Claggart deutend, unmittelbar nach dem Vorfall aus. »Doch der Engel muss hängen!« Im gewaltsamen Tod eines Offiziers durch die Hand eines einfachen Mannschaftsmitglieds kann ein Kapitän in allererster Linie nichts anderes sehen als den Keim einer möglichen Meuterei. Dabei geht es noch nicht einmal um Mord; dessen ist Billy gar nicht angeklagt. Es langt, dass er seine Hand gegen einen Vorgesetzten erhoben hat. Man muss es einem Mann wie Vere wohl zutrauen, diese Ausgangslage klar beurteilen zu können. Herman Melville schildert den heimlichen Helden seines enigmatischen Romans als einen gebildeten, durchaus praktisch veranlagten Mann von klaren Prinzipien und entschlossener Natur; als einen Routinier, dem seine Vorgesetzten »rasche Entschlusskraft und besondere Erfahrung« attestieren; der geprägt ist von aristokratischer Tugendhaftigkeit, streng und dabei moralisch integer, »stets um das Wohlbefinden seiner Leute besorgt, aber keinerlei Bruch der Disziplin duldend«. Und diesen Vere setzt Melville mit profunder Kenntnis der Seefahrt und ihrer Geschichte in einen historischen Rahmen, der an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig lässt. In der Fiktion ist die Gefahr der Meuterei höchst real. Auf den Monat genau verortet der Autor die Vorgänge auf der Indomitable in den Sommer 1797, zu Beginn der Napoleonischen Kriege und, wichtiger noch, mitten in jene Epoche der britischen See-
fahrt, in der die Meuterei zum schärfsten Problem der Kriegsmarine wurde. Getrieben von den himmelschreiend elenden Zuständen an Bord und angefeuert durch die Freiheitsideen der Französischen Revolution, hatten sich (in der Realität) wenige Wochen zuvor unabhängig voneinander die Mannschaften zahlreicher Schiffe erhoben. Zwei dieser Meutereien machten besonders Furore: die »Great Mutinies« von Spithead (nahe Portsmouth) und von Nore (an der Mündung der Themse), von denen über zwei Dutzend Schiffe betroffen waren. Diese Vorfälle sind auch auf der Indomitable bestens bekannt: »Nur ein schnelles Handeln – das fühlte Kapitän Vere – würde verhindern können, dass die Tat des Vortoppmanns, sobald sie erst auf dem Kanonendeck bekannt geworden war, den noch glimmenden Zunder von Nore unter den Mannschaften wieder anfachte. Und dieses Gefühl der Dringlichkeit überwog bei ihm alle anderen Überlegungen.« Spricht vor diesem Hintergrund nicht tatsächlich alles dafür, den unschuldigen Billy Budd zu opfern? Über Veres moralisches Dilemma zwischen menschlicher Sympathie und militärischer Disziplin sind ganze Schiffsbibliotheken vollgeschrieben worden. Zu einem eindeutigen Schluss kamen die Literaturwissenschaftler dabei ebenso wenig wie Vere selbst – was gewiss nicht nur am ambivalenten Charakter des (zudem nur fragmentarisch hinterlassenen) Romans und am Alterspessimismus seines Autors liegt. Vere ist ein belesener Mann, seine eigene Schiffsbibliothek ist klein, aber ausgezeichnet bestückt mit »Büchern über wirkliche Menschen und Begebenheiten aus jeder erdenklichen Zeit, Geschichte und Biografien und beson-
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ders jene unbefangenen Schreiber, die wie Montaigne frei von Heuchelei und Konvention, ehrlich und gemeinverständlich über die Wirklichkeit philosophieren«. Hätte der Kapitän in dieser Bibliothek nicht Rat finden können? Etwa beim so sehr geschätzten Montaigne, dem Humanisten, der die Skepsis gegenüber jeglichem dogmatischen Denken ebenso propagierte wie den hohen Wert eines unabhängigen Urteils auf Grundlage konkreter Erfahrungen. Tatsächlich hinterfragt Vere von Anfang an seine so rasch getroffene Entscheidung, Billy zu opfern: »Darf aber das Recht nur die ausgeführte Tat berücksichtigen?«, fragt er das eilig einberufene Gericht, das über Billy zu urteilen hat. »Können wir einen Mitmenschen, der, wie wir wissen, unschuldig ist vor Gott, einfach zu einem schändlichen Tode verurteilen?« Doch die gedankliche Kehrtwende folgt auf dem Fuß: »Nun, auch ich fühle diesen Druck. So will’s die Natur. Aber verpflichten diese Sterne, die wir auf den Achselstücken tragen, uns zum Gehorsam gegen die Natur? Nein, sondern gegen den König!« Offenbar hält sich Vere, »durch Pflicht und Gesetz bewogen«, letztlich doch weniger an Montaigne, beruft sich als eifriger Plutarch-Leser wohl eher auf Platon und dessen Rechtsphilosophie. Der antike Denker sah die Sicherheit einer Gesellschaft in deren strenger hierarchischer Ordnung gewährleistet: unten das Volk, an der Spitze die Philosophen, dazwischen aber das Militär, die »Wächter«, die dafür Sorge tragen, dass jeder seiner Funktion in dieser Ordnung nachkommt. Was das für Vere und seinen Gewissenskonflikt konkret bedeutet, ist klar: »Wir haben nach dem Meutereiparagraphen zu richten« – bei aller Brutalität: »Kein Kind kann seinem
Vater ähnlicher sehen als dieses Gesetz seinem Erzeuger, nämlich dem Krieg.« Dann wäre doch eigentlich alles sonnenklar. Kapitän Vere kann sich nicht nur juristisch, sondern auch staatsphilosophisch, ja, moralisch im Recht fühlen. Mit Verweis auf »den Frieden der Welt und das Glück des Menschen«, für welche die potenziellen Meuterer in seiner Weltsicht eine fundamentale Gefahr darstellen, kann, ja, muss er als Souverän der Indomitable Billy Budd dem höheren Interesse opfern. Und gibt ihm nicht sogar dieser selbst recht, wenn er reuig das Urteil akzeptiert? Dennoch: Der Zweifel nagt, Vere hat ein schlechtes Gewissen. Ist das nur menschliche Sympathie mit seinem unschuldigen Opfer? Oder wird er insgeheim von ganz anders gearteten, weit pragmatischeren Bedenken gequält? Billys Richtern, von der Situation hoffnungslos überfordert, redet Vere in einer aufgewühlten Rede heftig ins Gewissen. Als wolle er sich selbst erst überzeugen, fordert er sie auf, keine Gnade walten zu lassen, denn: »Was würden die Folgen solcher Milde sein? ... Für die Leute wird die Tat des Vortoppmannes immer nur glatter Totschlag sein, begangen in einem Akt flagranter Meuterei. ... Ein mildes Urteil werden sie für feige halten. Sie werden glauben, wir wichen zurück und fürchteten uns vor ihnen … welche tödliche Gefahr für die Disziplin!« Ob der Kapitän seine Mannschaft hier wirklich richtig einschätzt, sei dahingestellt. Tatsache ist jedoch, dass erst Billys Hinrichtung ein gefährliches Murren unter den Matrosen auslöst. Letztlich kann Vere nur dank des hohen Ansehens und des Respekts, den er unter den Leuten genießt, verhindern, dass dieses Murren in die Meuterei
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mündet. Was aber wäre gewesen, wenn Vere seine Autorität genutzt hätte, um Billy kurzerhand zu begnadigen? Hätte nicht gerade dieser Schritt die Loyalität der Mannschaft gegenüber seinem Kommando gesichert? Hätte der Souverän der Indomitable nicht erst dann seine Souveränität wirklich unter Beweis gestellt? Womöglich vernebelt eben diese alles entscheidende Frage dem Ehren-
ERIC HALFVARSON als CLAGGART KS NEIL SHICOFF als KAPITÄN VERE
werten Kapitän zur See Edward Fairfax Vere die Sinne. Er wird wohl selber wissen, dass er sich falsch entschieden, dass er versagt hat. Sonst wären seine Zweifel, all die Vorwürfe, die er sich bis ans Ende seines Lebens macht, gänzlich unangebracht. Sonst wäre der Trost, den er im Angesicht des eigenen Todes in der Erinnerung an Billys letzte Worte der Vergebung findet, nichts weiter als Sentimentalität.
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WILLY DECKER
ICH SEHE EIN SEGEL IM STURM Das Schiff auf dem Meer ist immer schon ein poetisches Abbild menschlicher Gesellschaften, als Schicksalsgemeinschaft gegen das Chaos der Natur aneinandergekettet und aneinandergeklammert. Die Unentrinnbarkeit der Situation verschärft alle Bedingungen des Zusammenlebens, steigert Spannung und Hass, Abhängigkeit, Verschworenheit und Liebe. Eng zusammengesperrt, sind die Menschen hier unvermeidbar einander ausgeliefert, ohne Möglichkeit der Flucht und des Ausweichens; der Hilferuf nach außen ist ohne Hoffnung. So wird das Schiff auf hoher See zum geschärften Spiegelbild, zur gesteigerten Parabel unseres Lebens überhaupt. Die Menschen entkommen einander nicht. Unzulänglichkeit und Größe, Schwäche und Kraft, alles Licht und aller Schatten menschlicher Natur stehen sich hier unverschleiert gegenüber, eng zusammengepresst müssen sie sich aneinander reiben und gebären nicht selten Konflikte von unbedingter und auswegloser Wucht. Anderswo mag es das »Narrenschiff«, das »Geisterschiff« oder das »Traumschiff« geben – die Indomitable, der Schauplatz des Billy Budd, ist ein »Menschheitsschiff«, kleines schwankendes Fragment der Welt, segelndes
Königreich. So wie Noahs Arche mit all ihren Tieren ein Schiff des Friedens ist, so ist die Indomitable ein Schiff des Unfriedens, beladen mit dem Fluch der Erbsünde – dem Krieg zwischen Menschen. Krieg ist hier im doppelten Sinne gemeint und vorgeführt: Krieg zwischen den Nationen als äußerer Handlungsrahmen des Stückes und Krieg zwischen einzelnen Menschen als der innere, eigentliche Gegenstand der Handlung. Beide aber bedingen einander und sind untrennbar verwoben als geheimnisvoller Auswurf der Schattenseiten unserer Natur, den wir »das Böse« nennen. Billy Budd gerät auf dieses Schiff so, wie ein Mensch auf die Welt kommt, ungefragt und ohne die Möglichkeit, nein zu sagen; er wird von einem Presskommando zwangsrekrutiert. Und dieses verkleinerte Abbild der Erde, dieses Kriegsschiff, auf das er geworfen wird, hat auch seinen Gott – den Kapitän. In seiner unumschränkten Machtfülle ist er kaum einer anderen Leitfigur vergleichbar, er hat absolute Gewalt über Leben und Tod, er ist unfehlbar, weder wähl- noch absetzbar. Die Augen dieses Gottes fallen auf Billy Budd, sie sehen, dass dieser Junge ohne Fehler ist, und so nennt der Gott ihn »Engel«.
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Zwischen diesem Engel und seinem Gott betritt nun eine dritte Figur den Boden der Parabel und erweitert das Spektrum der Hauptfiguren zu einem tragischen Dreieck: der Waffenmeister John Claggart, ein zutiefst unglücklicher Mensch voller Hass und verzweifelter Zerstörungswut. Indem mit ihm das »Böse« seinen Platz auf dem »Menschheitsschiff« einnimmt, stößt der Gott Kapitän an die Grenzen seiner Ordnung, die auf der Einhaltung strengster Gesetze basiert. Wer die Gesetze bricht, wird bestraft, nicht selten mit dem Tode. In dieser streng geordneten Weltenhierarchie entdeckt John Claggart mit infernalischer Klugheit die unbedeckte Achillesferse des Gottkapitäns und schießt seinen vergifteten Pfeil hinein. Er legt »falsch Zeugnis wider seinen Nächsten« ab, er denunziert den unschuldigen Billy Budd, indem er dem Kapitän das schlimmste aller Worte zuflüstert: »Meuterei«. Unter diesem einfachen Wort erzittert das ganze große Gebäude der Kapitänsmacht, der Gott stürzt aus seinem Himmel und steht als machtloser Mensch zwischen zwei anderen Menschen, die unversöhnlich sind wie Kain und Abel, Teufel und Engel. Ein einfacher Sprachfehler hindert Billy daran, die ungeheure Anschuldigung Claggarts zu beantworten. Seine Hilflosigkeit wird zur verzweifelten Wut und entlädt sich in der Katastrophe des Stückes: Abel erschlägt Kain, die biblischen Bilder kehren sich um. Der Gott muss Abel töten, und die Erbsünde fällt auf ihn zurück. So verzieht sich im Brennpunkt des Stückes der Nebel von dem Geheimnis der Abgründe menschlicher Natur; und ebenso deutlich und scharf umrissen steht vor uns die gefallene Gottfigur des Kapitäns, des gescheiterten Bewahrers der Ord-
nung, des hilflosen Suchers nach einer »ewigen Wahrheit«. In dem unausweichlichen Zwang, den »unschuldigen Mörder« Billy Budd wider sein innerstes Wollen töten zu müssen, offenbart sich die Machtlosigkeit des Mächtigen. Edward Fairfax Vere kommt nun unter seinen eigenen Gesetzen moralisch zu Fall; er muss die Unschuld töten, seinen Engel opfern und wird so als einziger Überlebender des fatalen Dreiecks zur tragischen Figur antiken Ausmaßes. So bricht unter der Oberfläche einer zunächst nur sachlich erzählten, düster abseitigen Geschichte in der englischen Marine während der Franzosenkriege eine parabelhaft humane Tragödie von mythologischem Ausmaß hervor. An dem bitterklaren Horizont dieses hoffnungslosen Abbildes menschlichen Scheiterns taucht nun eine eigenartige, unerklärliche poetische Vision auf: » ... Ich habe ein Segel im Sturm gesehen«. Billy Budd und sein Kapitän beschreiben am Ende ihres Lebens mit genau den gleichen Worten diese Vision: etwas segelt uns voran, ein Segel im Sturm, weit weg – es fährt in ein Land, das noch Utopia heißt, wo für immer der Anker geworfen wird. Der Schlüssel zu dieser Vision liegt in einer Szene des Stückes, die auf der Bühne nicht stattfindet. Das eigentliche, geheimnisvolle Zentrum der Geschichte von Billy Budd bleibt somit unsichtbar: Wenn der unglückliche, hilflose Kapitän dem unschuldig schuldigen Billy das Todesurteil verkündet, geschieht das vielleicht Unaussprechliche, das Kapitän Vere später vage umschreibt als » ... Liebe, die das Verständnis übersteigt« (»love that passes understanding«). Ein großer Kunstgriff der Autoren besteht darin, den Inhalt dieser Szene im Verborgenen zu lassen. Wir ent-
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nehmen aus den am Ende des Stückes gesprochenen letzten Worten des Kapitäns, dass Billy in jener geheimnisvollen Unterredung seinem Kapitän verziehen hat. Wieder wird ein Bild umgekehrt: der Schuldige vergibt dem Richter, der verstoßene Engel verzeiht seinem Gott. In Wort oder Geste verneigt sich der sterbende Billy in Respekt vor dem Mann, der ihn tötet: Indem er die tragische Ausweglosigkeit der Situation begreift, in der sich der Kapitän befindet, durchbricht Billy eine Mauer und tritt seinem Richter in unverstellter Brüderlichkeit gegenüber – er erlöst ihn. Damit entwirft das Stück an seinem Ende mit Billys Ausruf »Gott schütze Kapitän Vere!« die Utopie der einzig möglichen Erlösung von der tragischen Grundspannung des Universums – eine
KS ALFRED ŠRAMEK als DANSKER RUSSELL BRAUN als BILLY BUDD MARCUS PELZ als DONALD
Form der menschlichen solidarischen Liebe, die für uns noch im Bereich des Utopischen liegt, immer wieder aber von einzelnen Menschen in kurzen Momenten vorgelebt wird. Das Licht solcher beispielhafter Taten erhellt wie das weiße Segel im Sturm das Dunkel der unvollkommenen, immer noch hassenden, immer noch tötenden Menschenwelt. So muss dieses zutiefst pazifistische Stück, das der leidenschaftlichen Anklage jeder Form von Krieg nur das beispielhafte Verhalten eines naiven, barbarischen jungen Matrosen entgegensetzt, leise und nachdenklich im Nichts verklingen – am Ende steht die Stille der letzten Worte des Kapitäns, die Stille einer unausgesprochenen Frage: Wann wird unsere Welt so sein, dass Billy Budd nicht mehr sterben muss?
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VERWILDERT, GRAUSAM & SCHRECKLICH DIE BRITISCHE KRIEGSMARINE UM 1797 Kein Mann, der die Erfindungsgabe hat, sich in ein Gefängnis zu versetzen, wird Seemann; das Leben auf einem Schiff heißt Leben in einem Gefängnis, mit der Gefahr, ertränkt zu werden. – Samuel Johnson Johnsons Äußerung liest sich wie ein Paradoxon, wie eine wichtige Herausforderung an die damals gängige Meinung. Sie stellt einen Standpunkt dar, der den bewusst provokativen Gegenpol zur konventionellen Sicht des 18. Jahrhunderts über die britische Kriegsmarine bildet. Sein lebenslanger Freund David Garrick fasste diese romantische Sicht des Lebens auf See in seinem Lied Hearts of Oak zusammen: »Wir rufen euch bei der Ehre und pressen euch nicht wie Sklaven, denn wer ist so frei wie die Söhne der Wogen?« In populären Liedern und Geschichten galt der britische Seemann als Symbol für Freiheit und männliche Unabhängigkeit, als legitimer Nachkomme eines Drake, Hawkins und Raleigh, edelmütig, hochbegabt, einfach, mutig und unbezwingbar; und nur wenig Aufmunterung genügte, und er prahlte damit, wenn er einmal an Land war: Ich bin ein munterer und fröhlicher Bursche und komme gerade von der See nach Hause, Sir! Von allen Ländern, die ich kenne,
ist das Seemannsleben das richtige für mich, Sir! War es wirklich so? Von welcher Art waren die Männer, die unter Nelson bei Trafalgar kämpften? Waren sie Sklaven, wie Johnson es unterstellt? Oder waren sie die stolzen Ozean-Krieger aus Thomas Campbells Gedicht Ye Mariners of England? Machen wir uns klar, dass das Leben in Großbritannien noch bis vor hundert Jahren von einem Grad an Unmenschlichkeit geprägt war, der unserer Generation fast unbegreiflich erscheint. Man wusste, dass das Seeleben hart und streng diszipliniert war. John Masefield verwendet schlimmere Worte: Er beschreibt die Marine zu Nelsons Zeit als verwildert, grausam und schrecklich. Sogar das könnte noch untertrieben sein für eine Zusammenfassung der Missstände, die 1797 zu Meutereien führten. Der Seelohn wurde 1652 auf 19 Schilling pro Monat für einfache Seeleute und 24 Schilling für Vollmatrosen festgelegt. Eineinhalb Jahrhunderte später, 1797, war er noch derselbe. 1795 wurde
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der Armee und Landwehr mehr Lohn und Provisionen für Untergebene zugesichert. Die Ansprüche der Marine wurden jedoch nicht beachtet. Es war nur allzu leicht, die Marine zu ignorieren, weil die britischen Seeleute Gefangene des Schiffes waren. Landgänge waren praktisch unbekannt. Es hätte sofort zu Desertationen der gesamten Besatzung kommen können. Löhne wurden nicht regelmäßig ausgezahlt. Sie konnten nur dann ausgegeben werden, wenn ein Schiff am Ende seiner Reise auszahlte, nach zwei, drei – in Kriegszeiten sieben oder acht – Jahren. Zwangsabgaben wurden für die Chatham Chest gemacht, eine Rentenkasse, die versehrte Seeleute mit der Wenigkeit von sieben Pfund im Jahr unterstützte. Kleider und Bettzeug mussten gekauft werden. Diese waren zu Wucherpreisen beim Zahlmeister des Schiffes zu erwerben. Wenn jemand krank wurde und nicht arbeiten konnte, wurde sein Lohn einbehalten. Familienväter versuchten möglichst, ihre Lohnscheine während einer langen Reise nach Hause zu schicken, aber seitdem diese nur noch in dem Hafen, von wo aus das Schiff in See gestochen war, ausbezahlt wurden, war es kein Wunder, dass die Frauen und Kinder der Seeleute oft zur Bettelei oder zu einem Leben auf Kosten der Kirche verurteilt waren. Das Essen an Bord war eintönig und schmeckte widerlich. Gepökeltes Rind, gepökeltes Pferd, gepökeltes Schwein, oft Jahre alt und hart wie Holz: madiger Zwieback und Mehl, ranziger Käse, Bier oder Wasser aus fauligen Fässern. Bezeichnend ist auch, dass auf Nelsons Flaggschiff The Victory nur ein einziger Herd von mäßiger Größe angeschafft wurde, der keinesfalls eine Mannschaft von 850 Offizieren und Seeleuten ver-
sorgen konnte. Skorbut war üblich – wie könnte es auch anders sein, da frisches Fleisch und Gemüse nahezu unbekannt waren, sogar, wenn das Schiff in seinem Heimathafen vor Anker lag. Der Zahlmeister, dessen Aufgabe es war, die Rationen abzumessen, war gewöhnlich dazu berechtigt, zwei Unzen von jedem Pfund als Nebenprofit einzubehalten, sodass jeder ein Achtel weniger bekam als ihm zustand. Rum war das einzige allgemein beliebte Nahrungsmittel: Jedem Seemann wurde täglich ein halbes Pint (ein Viertelliter) ausgeteilt und gab ihm zeitweilige Befreiung von einem Leben voller Schmutz und Elend. Betrunkenheit wurde mit Auspeitschen bestraft. Während der Kriege gegen Frankreich expandierte die Marine schnell. 1792 wurden 16.000 Mann gemustert. Zehn Jahre später waren es 135.000, mehr als achtmal so viele. Diese gewaltige Vergrößerung wurde durch Pressen zum Dienst erlangt, indem man die Männer von ihren Höfen und ihren Familien trennte oder sie von Handelsschiffen abzog. Niemand war sicher vor den bewaffneten Presstruppen, die durch die Lande zogen. Wenn diese Methode der zwangsweisen Rekrutierung zu langsam vor sich ging, wurden Gefangene aus den Gefängnissen Seiner Majestät geradewegs auf die Schiffe Seiner Majestät überführt. Seeleute, Seehandelsschiffer, Schullehrer, Bauernburschen, Verbrecher, Männer jeden Alters, jeder Klasse und Nationalität lebten zusammen wie Vieh im Halbdunkeln und in schlechter Luft auf den unteren Decks. Vierzehn Inches (ca. 40 cm) waren für jede Hängematte erlaubt. Manche Schiffe waren zu überfüllt, um selbst dieses zu erlauben. Auf der Sandwich, einem der Schiffe von
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Nore, die vom Schiffsrumpf kleiner als die Victory war, war Platz für 750 Mann Besatzung. Zur Zeit der Meuterei waren doppelt so viele gepresste Männer und Rekruten an Bord. John Snipe, der Schiffsarzt, schrieb mit erstaunlicher Beherrschung: »Sir, es ist meine ärztliche Überzeugung, dass man Krankheiten und Ansteckungen nicht mit irgendwelchen physikalischen Mitteln verhindern kann, wo fünfzehn- oder sechzehnhundert Männer auf engstem Raum zusammen sind. Viele sind körperlich und geistig angegriffen. Die Luft ist mit menschlichen Ausdünstungen so durchsetzt, dass ansteckendes Fieber unweigerlich die Folge ist. Widrige Umstände haben mich oft in Situationen gebracht, in denen ich meinen Beruf nicht nach seinen Grundsätzen oder nach meinem Gewissen ausüben konnte, aber ich war nie in einer solchen mit Angst erfüllten Situation, wie in der gegenwärtigen als Arzt auf der Sandwich.« Während der 1790er Jahre wurden von Zeit zu Zeit Petitionen an die Admiralität gesandt. Es waren die Bitten von einfachen Männern, die lange schlechtes Essen, geringen Lohn, ein gefängnisähnliches Leben und harte Disziplin ertragen hatten und die Tyrannei durch brutale Offiziere nicht länger aushalten konnten. Sie wehrten sich gegen diesen Missbrauch von Gewalt. Die Schreiber der Petitionen waren nicht unzufrieden oder schwächlich: sie waren loyale Seeleute, Garricks Hearts of Oak. Leute der Winchelsea schrieben von Spithead: »Wir wurden geschlagen, ob wir etwas taten oder nicht. Unsere Behandlung war eher wie bei den Türken als bei britischen Seeleuten.« 1795 erklärte die Mannschaft der Nassau: »Es ist uns fast unmöglich, auf Papier zu bringen, wie die Misshandlungen hier
wirklich sind, mit Auspeitschen und Demütigungen jenseits der Menschlichkeit.« Ein Jahr später von der Shannon: »Unser tyrannischer Kapitän ist sicher einer der barbarischsten und unmenschlichsten Offiziere, mit dem je eine Gruppe von unglücklichen Männern das schreckliche Missgeschick hatte, zusammen sein zu müssen, und dessen Behandlung und Misshandlung ausreichte, um die Seelen englischer Männer sich erheben zu lassen und das Schiff in einen feindlichen Hafen steuern zu lassen.« Solche Petitionen wurden ignoriert; Bitten um mehr Geld und bessere Ernährung wurden ignoriert; die barbarischen und unmenschlichen Tyranneien gingen weiter. Männer wurden ausgepeitscht (und hartes Peitschen verkrüppelte oder tötete viele) wegen geringer Vergehen, wegen stiller Missachtung, weil man der langsamste war, der einem Befehl gehorchte. Einen Mann auslaufen – ihn mit einem Stock niederknüppeln – war die übliche Bestrafungsart der Offiziere und Unteroffiziere. Es war eine besondere Brutalität, wenn der Kapitän seiner Mannschaft befahl, von den Masten herunterzukommen. Weil sie sich beeilten, um der drohenden Peitsche zu entkommen, fielen die Männer oft übereinander und brachen sich die Beine. Sie wurden sofort über Bord geworfen. Als die Marine expandierte und die Berufsseeleute mit Landleuten vermischte, die oft bessere Aufgaben bekamen, begann die Unzufriedenheit in der stinkenden Atmosphäre der unteren Decks zu wachsen. Die Beschwerdebriefe blieben Jahr für Jahr unbeantwortet. Es wurde Zeit zu handeln. Der Zustand entlud sich im April 1797, als Lord Bridport der Kanalflotte befahl, in See
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zu stechen. 16 Kriegsschiffe verweigerten den Gehorsam. Die Mannschaften bemannten die Vorderdecks und gaben drei Signale als Zeichen zur Meuterei. Unbeliebte Offiziere wurden mit ihrem Gepäck von Bord geschickt, jedes Schiff sandte zwei Vertreter zur Generalversammlung, die eingerichtet wurde, um die Anliegen der Männer zu vertreten, und bald zitterte ganz England davor, dass die Marine die Flagge der Revolte mitten im Krieg mit Frankreich hisste. »Für das Empire«, schrieb Melville, »war die Meuterei, wie wenn die Streikenden der Feuerbrigade London mit Brandstiftung bedrohen würden. Es war in der Tat eine bedrohlichere Demonstration als die zeitgenössischen Manifeste und Eroberungsarmeen des
französischen Direktoriums.« Obwohl manchmal fast zu literarisch, ist Melvilles Schilderung des Seelebens von 1797 äußerst lebendig und genau, weil er die Details aus Gesprächen mit Seeleuten erhielt, die »geholfen hatten, für Nelson am Nil einen Siegeskranz zu gewinnen und die Krone der Kronen bei Trafalgar«. Ich konnte nicht herausfinden, ob die Geschichte von Billy Budd wahr ist, wie Melville im letzten Kapitel andeutet, als er eine alte Seechronik zitiert. Vielleicht ist diese Frage irrelevant. Ob Billy, Claggart und Vere in Wirklichkeit existierten oder nicht, sie sind in Melvilles tragischer Geschichte vor einem Hintergrund von genauer Beobachtung und Realismus unsterblich geworden.
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ALFRED OBERZAUCHER
BENJAMIN BRITTENS BALLETTE Mit Benjamin Brittens Der Pagodenprinz brachte der damalige Ballettchef der Wiener Staatsoper, Wazlaw Orlikowsky, 1967 jenes Werk des Komponisten in Wien heraus, das bei seiner Uraufführung 1957 in London als ein wesentlicher Schritt nicht nur für die weitere Profilierung des englischen Balletts, sondern auch für die Stärkung einer nationalen britischen Kunstszene angesehen wurde. Britten hatte das abendfüllende Werk, das den Widerstreit von hellen und dunklen Mächten in ein exotisches Ambiente stellt, für den jungen John Cranko komponiert, der das Ballett später auch nach Stuttgart brachte. Orlikowskys Wiener Fassung war von der für den Choreographen typischen Opulenz gekennzeichnet, die Hauptpartien wurden von Willy Dirtl, Susanne Kirnbauer und Christl Zimmerl getanzt. Wie groß der tänzerische Duktus von Brittens Musik an sich ist, stellen die 1937 in Salzburg zur Festspielzeit uraufgeführten Variations on a Theme of Frank Bridge unter Beweis. Wiederholt wurde das nicht für die Ballettbühne komponierte Werk von Choreographen aufgegriffen (etwa von Frederick Ashton 1949). So auch von Dimitrije Parlić, der es unter dem Titel Träume 1959 an der Wiener Staatsoper herausbrachte. Gemäß der Struktur des Musikstückes, das ein Thema von Brittens Lehrer Frank Bridge variiert, evozierte Parlić verschiedene traumhafte Episoden; wichtige Rollen verkörperten Karl Musil und Margaret Bauer.
BENJAMIN BRITTEN 1960
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OLIVER LÁNG
EIN WURF VON EPISCHER SCHÖNHEIT DIE OPERN BENJAMIN BRITTENS AN DER WIENER STAATSOPER Die Geschichte der Opern Benjamin Brittens im Haus am Ring begann am Ende der 1940er Jahre – nicht im Haus am Ring, sondern in einem Ausweichgebäude der zerstörten Oper, in der Volksoper. Dort gelangte am 4. Dezember 1949 Brittens Bearbeitung von Gays und Pepuschs The Beggar’s Opera zur Premiere. Gespielt wurde das Stück in der deutschen Übersetzung von Hans Keller und Karl Hudez, Adolf Rott inszenierte. Die Produktion, die insgesamt 15mal gespielt wurde, erntete grosso modo gute Kritiken. Positives über die Premierenbesetzung stand unter anderem im Neuen Österreich: »Für den edlen Räuber Macheath hatte man sich Fred Liewehr verschrieben, der den musikalisch gar nicht leichten Part gut sang und eindrucksvoll spielte. Vorzügliche Typen waren Kurt Pregers Verbre-
cherimpresario Peachum und Maria Eis als seine würdige Gattin, aber auch der korrupte, vor keinem Amtsmissbrauch zurückschreckende Gefängniswärter Lockit Walter Höfermayers. Macheaths bedauerswerte Gattin Polly sang Marta Rohs ausgezeichnet und gab sie mit einer erfrischenden Natürlichkeit und Gradheit, jeder Zoll eine »Lady of the town«. Die Rivalin Lucy, ein nur durch ihre Umstände interessantes Mädchen, die es aber mit Polly durchaus aufnehmen kann, gab Emmy Funk drastisch und überzeugend.« Bis zum eigentlichen Operndebüt Brittens an der Wiener Staatsoper dauerte es allerdings noch einmal fast eineinhalb Jahrzehnte, bis 1962. Es war der damalige Direktor der Staatsoper, Herbert von Karajan, der ein Opernwerk des Komponisten erstmals auf den Spielplan
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EIN WURF VON EPISCHER SCHÖNHEIT
setzte: Ein Sommernachtstraum, ebenfalls in deutscher Übersetzung gespielt. Liest man heute die Premierenkritiken, dann zeigt sich sehr deutlich, wie neu Britten für das damalige Wien immer noch war. Über Spalten wurde über den Komponisten und seine Musik befunden, junge Rezensenten brachen eine Lanze für das Schaffen Brittens. Doch ist auch anzumerken, dass das Werk von seiner Uraufführung (1960) bis zur Wiener Erstaufführung an der Staatsoper (1962) nicht lange gebraucht hatte. Karajans Bemühen um das neue, zeitgenössische Werk ist darin deutlich zu sehen. »Was also die musikalische Seite des Unternehmens anbelangt, und gewiss vor allem das Verdienst des Dirigenten Heinrich Hollreisers ist, das kann man getrost als gelungen und wirklichem Wiener Niveau, einmal ernst gemeint, angepasst bezeichnen. Auch das Orchester gehört hierher, das keine übermäßig schwere Aufgabe hatte und diese gut erfüllte«, schrieb Franz Endler nach der Premiere in der Kronen Zeitung. Über die szenische Gestaltung herrschte keine Einigkeit, Werner Düggelins Inszenierung wurde teils als »konventionell« (Endler) bezeichnet, andere empfanden gegenteilig und lobten die vorbildliche Führung der Figuren (Heinrich Kralik in der Presse). Es war die Gesamtleistung des Staatsopern-Ensembles, die mehrfach hervorgehoben wurde, etwa von Erik Werba im Volksblatt: »Die Staatsopernaufführung lässt mit Erfolg die Ensemble-Tradition des Hauses wieder aufleben. Alle sind auf erfolgreicher Suche nach Einheit in der Mannigfaltigkeit Alles in allem: ein ehrlicher Erfolg, kein Sensationswurf, das Beispiel vielmehr für einen gepflegten, gut ausgearbeiteten, poetischen und ergötzlichen
Opernabend.« Und im Neuen Österreich: »Gerhard Stolze meistert seine schwere, falsettierende Partie, die sich in höchsten Lagen bewegt, makellos, und sein maskenhaft starres Spiel wirkt hier wirklich geisterhaft unwirklich. Teresa Stich-Randall ist eine schöne, wiewohl sehr kühl singende, prächtige Elfenkönigin Titania. Die beiden Liebespaare sind im männlichen Teil mit David Thaw (Lysander) und Robert Kerns (Demetrius), im weiblichen mit Gundula Janowitz (Helena), der man unschwer eine bedeutende Zukunft vorhersagen kann, und mit Abstand Margareta Sjöstedt (Hermia) gut besetzt. ... Am besten schienen uns die Handwerker besetzt mit Ludwig Welter (Squenz), Ljubomir Pantscheff (Schnock), Peter Klein (Schnauz), Hans Braun (Schlucker) und vor allem dem köstlichen, tief in seiner urkomischen, heiteren Art verwurzelten Erich Kunz als Zettel und Ferry Gruber als Flaut. Hier war echte Laune, lebendige Gestaltung und Realismus.« Insgesamt wurde der Sommernachtstraum in dieser Inszenierung fünfzehn Mal gespielt. 2019 gab es eine Neuproduktion, diesmal in der englischen Originalsprache, die musikalische Leitung hatte Simone Young übernommen, die Inszenierung Irina Brook. Großes Lob gab es in den Zeitungen, etwa: »Simone Young führt das Sängerensemble souverän und das Staatsopernorchester mit Bravour: Durchsichtig gelingen die komplizierten Strukturen dieser kammermusikalischen Partitur, verführerisch schimmern Farbenspiele, delikat die kapriziösen Details dieser Oper« (Kronen Zeitung), oder: »Regisseurin Irina Brook hat die sprunghafte Handlung innerhalb eines verfallenen Gebäudes (Noelle Ginefri-Corbel) mit viel Poesie nachgezeichnet und dabei
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den Beweis erbracht, dass sich beim Erzählen einer Geschichte märchenhafte Vergangenheit mit realer Gegenwart durchaus stimmig verbinden lässt, was durch die Kostüme von Magali Castellan noch unterstützt wird« (Die Furche). Zwischen den beiden Sommernachtstraum-Inszenierungen gab es 1996 mit Peter Grimes eine weitere Britten-Neuproduktion auf dem Spielplan der Wiener Staatsoper. Es war Mstislav Rostropovich, der die musikalische Leitung der Produktion übernommen hatte und die – späte – österreichische Erstaufführung dieses Werkes betreute. Die Titelfigur sang Neil Shicoff, als Ellen stand Nancy Gustafson an seiner Seite. Große Zustimmung gab es für die musikalische Seite: »Rostropovich beschwört Brittens Poesie. Und taucht die kunstvoll-spröde Partitur mit den Philharmonikern in wunderbare Farben: Eine Palette vom düsteren Raunen der Nacht über das magische Leuchten der Küste bis zu den sturmgepeitschten Wogen – Musik der Einsamkeit und Verzweiflung, des Meeres, der Stürme draußen und in den Seelen der Menschen ...«, notierte Karlheinz Roschitz nach der Premiere in der Kronen Zeitung. Und Franz Endler im Kurier: »Auf kostbarem Untergrund, den nur die Staatsoper bieten kann, Chor und Orchester also, ließ er wenigstens akustisch den Einsamen und das Meer erstehen. Wer Ohren hat, der hat’s gesehen.« In der Neuen Zürcher Zeitung schrieb Reinhard Kager über den Sänger des Peter Grimes: »Neil Shicoff lebt diesen Widerspruch auf der Bühne förmlich vor. Voll vibrierender Spannung zeigt der mit grandiosen schauspielerischen Fähigkeiten begabte amerikanische Tenor, wie ein von Natur aus wohl sanftmütiger Charakter im nächsten Augenblick umschla-
gen kann in grausame Brutalität. Auch stimmlich vermittelt Shicoff, der neben dem nahezu perfekt choreografierten Staatsopernchor die zentrale Figur dieses mitreißenden Abends ist, die auskomponierte Ambivalenz des Grimes.« Regisseurin Christine Mielitz beschritt einen Weg jenseits des Bühnenrealismus: »Die Mielitz setzt die Schwingungen von Brittens Klangwellen kongenial um. Sie findet jenseits von plattem Realismus zu bestechend eindeutigen, vom Zuschauer sogleich zu absorbierenden Bildern«, meinte Wilhelm Sinkovicz in der Presse zustimmend. Am 12. Februar 2001 brachte die Wiener Staatsoper schließlich die aktuelle Produktion von Billy Budd zum ersten Mal auf die Bühne des Hauses – und präsentierte damit auch die österreichische Erstaufführung der vieraktigen Originalfassung. In der Geschichte des Hauses sicherlich der Größte und Einhelligste aller Britten-Erfolge. Wobei sich vor dem Premierenabend das Publikum – auch in puncto Kartenkauf – eher zögerlich verhielt; sogar die Ausnahmesituation, dass eine Premiere nicht ausverkauft war, trat ein. Nach dem gefeierten Premierenabend zeigte sich alsbald, was die Wiener Mundpropaganda zu leisten imstande ist: Binnen 24 Stunden waren sämtliche Reprisen ausverkauft, und in der Folge stand Billy Budd regelmäßig auf dem Spielplan. Die Premierenbesetzung der ersten Partien – Neil Shicoff (Captain Vere), Bo Skovhus (Billy Budd) und Eric Halfvarson (Claggart) war ebenso Stadtgespräch wie jene der zahlreichen exzellenten kleineren Rollen. Der Kritikenspiegel zeigt im Rückblick, mit welcher Begeisterung die Premiere aufgenommen wurde: »Bei diesem Billy Budd fügen sich alle Details
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EIN WURF VON EPISCHER SCHÖNHEIT
zu einem Wurf von epischer Schönheit. Gelingen doch Regisseur Willy Decker im spartanischen schwarz-grauen Schiffsbild Wolfgang Gussmanns Szenen von beklemmender Intensität und Empfindungstiefe. Decker schaut aber auch in die Abgründe der Geschichte des Dichters Herman Melville. Er beschwört den Mythos vom strahlenden Engel, der von Gott dem Teufel ausgeliefert wird, um so das Böse zu tilgen«, schrieb Karlheinz Roschitz in der Kronen Zeitung. »Der Staatsoper ist, das jubelnde Publikum hat es bestätigt, eine makellose Aufführung gelungen, mit der sie das Niveau erreicht, das Wiener Opernfreunde erträumen. Das Ab-
surde ist eingetreten. Ein Meisterwerk, das nichts als Elend und Verstrickung in Elend zeigt, hat in der Staatsoper Schreie der Begeisterung hervorgerufen. Nicht das Leben des Billy Budds ist schön. Aber die Tatsache, dass wir einmal einen Opernabend erleben durften, der ohne Fehl und Tadel war.« (Franz Endler, Kurier). Und Wolfgang Schaufler im Standard: »Zusammengehalten wird der Abend durch Donald Runnicles, der das groß besetzte Orchester immer wieder zu Momenten hinreißender kammermusikalischer Dichte animiert. Gerade die Streicher hat man lange nicht mehr so delikat intonieren und aufspielen gehört.«
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BENJAMIN BRITTEN & PETER PEARS
IMPRESSUM BENJAMIN BRITTEN
BILLY BUDD SPIELZEIT 2024/25 (PREMIERE DER PRODUKTION AM 12. FEBRUAR 2001) Herausgeber WIENER STAATSOPER GMBH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor DR. BOGDAN ROŠČIĆ Musikdirektor PHILIPPE JORDAN Kaufmännische Geschäftsführerin DR. PETRA BOHUSLAV Gesamtredaktion des Programmheftes SERGIO MORABITO, ANDREAS LÁNG & OLIVER LÁNG basierend auf dem Programmheft der Wiener Staatsoper zur Premiere der Produktion 2001 (Konzept OSWALD PANAGL & CHRISTOPH WAGNER-TRENKWITZ) Gestaltung & Konzept EXEX Layout & Satz ROBERT KAINZMAYER Lektorat MARTINA PAUL Druck PRINT ALLIANCE HAV PRODUKTIONS GMBH, BAD VÖSLAU TEXTNACHWEISE / ORIGINALBEITRÄGE Die Texte von Carsten Fastner, Andreas Láng, Oliver Láng, Alfred Oberzaucher waren Originalbeiträge für das Programmheft der Wiederaufnahme 2011. Die Texte von Oswald Panagl und Dorothea Steiner waren Originalbeiträge für das Programmheft 2001. Die adaptierte Inhaltsangabe sowie die Texte von Willy Decker, Hannah Arendt, Willi Schuh, Richard Mummendey und Eric Crozier wurden dem Programmheft Billy Budd der Oper der Stadt Köln (1992) entnommen – wie schon 2001. Der Text von Patricia Hoda ist ein Abschnitt ihrer Diplomarbeit Schuld und Unschuld im Opernschaffen von Benjamin Britten, Wien 2000. Das Gespräch zwischen Donald Mitchell und Philip Reed wurde dem CDBooklet der Billy Budd-Aufnahme (ERATO, 1998) entnommen – wie schon 2001. Der Text Herman Melville: Billy Budd, entstammt der Übersetzung von Hella Leicht: Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 1996. BILDNACHWEISE Coverbild: Doughnut on stick on black background. © Peter Dazeley / GettyImages – Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin – Szenenbilder: Axel Zeininger / Wiener Staatsoper GmbH (S. 2-3, 9, 18-19, 23, 32-33, 43, 58, 64, 68, 74-75) – Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH (S. 7, 46-47, 82-83) – AKG Images (S. 26, 52, 60, 76, 85). Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie. Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.
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Kultur bewegt uns alle. Die OMV und die Wiener Staatsoper verbindet eine jahrelange Partnerschaft. Unser Engagement geht dabei weit über die Bühne hinaus. Wir setzen uns aktiv für Jugend und Nachwuchsprojekte ein und ermöglichen den Zugang zu Kunst und Kultur für junge Menschen. Gemeinsam gestalten wir eine inspirierende Zukunft. Alle Partnerschaften finden Sie auf: omv.com/sponsoring
Hochgenuss trifft Hochkultur OFFIZIELLER SEKT DER WIENER
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