Programmheft »Boris Godunow«

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BORIS GODUNOW Modest Mussorgskij


INHALT

Die Handlung

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Synopsis in English

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Über dieses Programmbuch

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Ein ewiger Kreislauf → Im Gespräch mit Yannis Kokkos

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Boris Godunow und das Problem der Fassungen → Michael Rot

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Puškins Boris Godunow → György Lukács

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Bravo, Puškin! Bravo, verdammter Kerl! → Gudrun Ziegler

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Boris Godunow – Sterbeszene des Zaren → Alexandr Puškin

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Zwischen Volkslied und Dialogoper → Oliver Láng

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Ein eigener, neuer Weg → Andreas Láng

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Geschichtlicher Hintergrund

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Zar Boris und die Macht der Fiktion → Michail Ryklin

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Der Mord in Uglitsch → Reinhold Thur

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Was erwartet Russland → Sergej Buntman

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Der Zar an der Donau → Andreas Láng

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O frage nicht, auf welche Weise ich Zar geworden bin. Boris Godunow


BORIS GODUNOW → Oper in sieben Bildern Musik & Text Modest Mussorgskij nach Aleksandr Puškins dramatischer Erzählung Boris Godunow

Orchesterbesetzung 2 Flöten (2. Flöte auch Piccoloflöte), 2 Oboen (2. Oboe auch Englischhorn), 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, 1 Tuba, Schlagwerk, Klavier, Violine I, Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass Bühnenmusik Glocken, Tamtam, Trompeten Spieldauer 2 Stunden 15 Minuten Uraufführung der Urfassung 5. März 1929 (Stanislawski-Nemirowitsch-DantschenkoMusik-Theater, Moskau) Erstaufführung an der Wiener Staatsoper 24. Oktober 1925 (Fassung Rimski-Korsakow) Erstaufführung der Urfassung 20. April 2012




DIE HANDLUNG Vor dem Moskauer Jungfrauenkloster wird das Volk mit Peitschenhieben gezwungen, Boris Godunow anzuflehen, die Wahl zum Zaren anzunehmen. Nach der Ermordung des rechtmäßigen Erben Dimitri ist der Thron vakant. Von bangen Ahnungen erfüllt zieht Boris am nächsten Tag unter dem Jubel des Volkes zur Krönung in den Moskauer Kreml ein. Im Kloster Tschudow verfasst der Mönch Pimen eine russische Chronik. Das letzte Kapitel handelt von der Ermordung des Zarewitsch Dimitri durch Boris’ Schergen. Seinem Schüler Grigorij erzählt Pimen, dass der Zarewitsch genauso alt wäre wie Grigorij selbst, was auf diesen einen großen Eindruck macht. Als sich Pimen zum Gebet entfernt, verlässt Grigorij das Kloster in der Absicht, gegen Boris zu kämpfen. Steckbrieflich gesucht schließt sich Grigorij den Bettelmönchen Warlaam und Missail an. In einer Schenke nahe der litauischen Grenze entkommt er nur knapp einer Wachmannschaft. Im Zarenpalast des Moskauer Kreml erleidet Boris Godunow Gewissensqualen. Fürst Schuiskij berichtet, dass sich in Polen ein Mann erhoben habe, der behauptet, der Zarewitsch Dimitri zu sein. Daraufhin lässt sich Boris von Schuiskij, der Zeuge des Verbrechens war, noch einmal den Tod Dimitris schildern. In einem Anfall von Wahnsinn erscheint ihm die Gestalt des ermordeten Kindes. Vor der Basiliuskathedrale in Moskau fleht das hungernde Volk Boris um Brot an. Der Gottesnarr beschuldigt ihn der Ermordung des Zarewitsch. Die Versammlung der Bojaren erfährt durch Schuiskij von Boris’ Wahnvorstellungen. Als er selbst erscheint, fühlt er sein Ende nahen. Er verabschiedet sich von seinem Sohn und stirbt.

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DIE H A N DLU NG

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SYNOPSIS A crowd of people outside Moscow’s Novodevichiy Monastery are being whipped to force them to beg Boris Godunow to become their Tsar. The throne is vacant following the murder of Dimitri, the rightful heir. Filled with dreadful premonitions, next day Boris proceeds to the Kremlin for his coronation to the jubilation of the people. The monk Pimen is completing his history of Russia at the Chudov Monastery. The last chapter deals with the murder of the tsarevitch Dimitri by Boris’s henchmen. The elderly monk tells his pupil Grigory that Dimitri would be exactly the same age as him, which makes a deep impression on Grigory. When Pimen departs for prayers, Dimitri absconds from the monastery with the intention of fighting against Boris. Now a wanted man, he joins up with the mendicant friars Varlaam and Missail. In a tavern near the Lithuanian frontier, he barely escapes from a patrol. Boris Godunow is plagued with qualms of conscience in the tsar’s palace in the Kremlin. Prince Shuisky reports that a man claiming to be Dimitri has appeared in Poland. This prompts Boris to ask Shuisky – who witnessed the crime – to describe the murder of Dimitri to him once again. In a fit of insanity, the figure of the murdered child appears to him. In front of St. Basil’s Cathedral in Moscow, the starving people are begging Boris to give them bread. The Holy Fool accuses Boris of murdering the tsarevitch. The assembly of boyars learns about Boris's hallucinations from Shuisky. When Boris himself appears, he realizes his end is near. He takes leave of his son and dies.

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SY NOPSIS


ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH

In seinem epochalen, 25 Szenen umfassenden Drama Boris Godunow ließ Aleksandr Puškin die bis dahin gültigen, klassizistischen Regeln hinter sich und betrat, hinsichtlich Form und Erzählstrategie einen für die damalige Zeit gänzlich neuen Weg. Zugleich wagte er mit seiner Analyse des Wandels von der Feudalherrschaft zum Absolutismus sowie seiner Kritik an der verklärenden Rückwärtsgerichtetheit des Volkes mit diesem Stück einen Blick in die gesellschaftliche Entwicklung der Zukunft. Diese beiden Aspekte werden von Gudrun Ziegler (ab Seite 22) und dem Philosophen György Lukács (ab Seite 18) beschrieben. Für den Komponisten Modest Mussorgskij, der jede musikalische Konvention entschieden ablehnte, fungierte gerade diese ungewohnte Dramenanlage Aleksandr Puškins als eminente Anregung: 1869 konnte er mit Boris Godunow die Partitur seiner ersten vollendeten Oper beenden. Zugleich zeigte er sich durch einen gänzlich neuen und ungewohnten Musikstil, der einerseits aus der russischen Tradition schöpfte und andererseits die akademische Kompositions- und Harmonielehre bewusst unterlief, als musikdramatischer Erneuerer, wie Andreas Láng ab Seite 36 nachzeichnet. Die grundsätzliche Entstehung der russischen Kunstmusik und die Etappen der Emanzipation derselben von den in Russland zunächst vorherrschenden Musikstilen westeuropäischer Prägung, erzählt Oliver Láng ab Seite 30. Die Zeitlosigkeit, beziehungsweise die Aktualität der hier in Form einer allgemeingültigen Parabel über Missbrauch, Unterdrückung und Instrumentalisierung des Volkes durch seine Herrscher geschilderten Geschichte, werden im Interview mit Regisseur Yannis Kokkos (Seite 8) ebenso hervorgehoben, wie im Beitrag von Sergej Buntman (Seite 68) und Michail Ryklin (Seite 54). Einen Überblick über die Wiener Rezeptionsgeschichte von Boris Godunow in Wien bietet abschließend Andreas Láng ab Seite 72. Ü BER DIE SE S PROGR A M MBUCH

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» Mussorgskij als Komponist sieht und hört alle Gerüche eines Gartens oder einer Schenke und erzählt so eindrucksvoll und überzeugend davon, dass das Publikum schließlich die Gerüche hört und nachempfindet. « Fjodor Schaljapin 7


EIN EWIGER KREISLAUF

Im Gespräch mit Regisseur Yannis Kokkos


Bei der Wiederaufnahme kommt – im Gegensatz zur Premiere – die Urfassung zur Aufführung. Worin liegen die Vorzüge dieser Version? YANNIS KOKKOS Ich

hatte vor vielen Jahren die Gelegenheit, Boris Godunow in der umfassenden Fassung von 1872 zu inszenieren, hier an der Wiener Staatsoper kam eine weitere Version zur Premiere – eine sehr spezifische Fassung. Für mich ist die Urfassung, die wir nun spielen, die bevorzugte. Natürlich kommt manches nicht vor, wie etwa der Polenakt. Aber in dieser Urfassung ist eine große Konzentration zu verzeichnen, die Figur des Boris bleibt stets im Zentrum der Handlung. Diese Version ist übrigens auch näher am Drama von Puškin – und das bedeutet gleichzeitig auch: sie ist sehr nahe an Shakespeare. Und gerade durch die genannte große Konzentration ist auch eine besondere Dramatik vorhanden. Inwieweit haben Sie Ihre Inszenierung anpassen müssen? Eine Überarbeitung war nicht nur in Details, sondern durchaus auch in einem umfassenden Rahmen notwendig. Diese Überarbeitung betrifft mehrere Szenen, sowohl szenisch als auch »bühnenbildtechnisch«, um einen neuen Spannungsbogen zu erhalten. KOKKOS

Sie zeigen die Oper in einer sehr klaren Szenenfolge, die die einzelnen Bilder nebeneinander stellt. Wie begegnen Sie der Gefahr, das Ganze nicht unter einen Bogen zu bekommen? Indem ich versuche, eine Kontinuität in der ästhetischen Struktur zu finden. Zunächst gilt es dabei, die Ästhetik jeder einzelnen Szene zu entwickeln, die dem Stil des jeweiligen Bildes entspricht. So eigenständig diese auch sind, so müssen sie letztendlich am Schluss ein Ganzes bilden. Das ist natürlich eine besondere Herausforderung! Ich inszenierte die Oper bereits in Bologna und Paris und dort zog ich ein Einheitsbühnenbild heran – dadurch wurde natürlich eine gewisse Geschlossenheit erzeugt. Für Wien wollte ich die Unterschiede der Bilder herausarbeiten: Eine eher cinematographische Sicht, die die »zeitlichen Ellipsen« der Zeit hervorhebt. Es schien mir wichtig, durch diese Erzählweise die »raue« Musiksprache der Partitur in konzisen Szenenfolgebildern umzusetzen. KOKKOS

Die Oper behandelt einen Abschnitt der russischen Geschichte, doch ging es Mussorgskij nicht nur um einen historischen Bilderbogen oder eine Nacherzählung einzelner Ereignisse. KOKKOS

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Nein, darum ging es ihm nicht. Was er zeigen wollte, war ein Blick auf die Geschichte unter dem Aspekt der Zeitlosigkeit, IM GE SPR ÄCH MIT YA N N IS KOK KOS


verbunden mit der Modernität seiner Zeit. Er wollte die Weiterführung des Geschehenen ins damalige Heute demonstrieren. Er tat dies aber mit einem immensen Wissen um die Volksmusik, die Volkskultur, aber auch das »Volksgefühl« seines Landes. Es macht ja gerade ein Meisterwerk, wie es Boris Godunow ist, aus, dass der Komponist uns nicht nur einzelne Aktionen und Taten vor Augen führt, sondern die Komplexität der psychologischen, historischen und soziologischen Dimension zeigt – und das ohne zu urteilen. Den letzten Aspekt halte ich für eine der größten Stärken dieses Werkes. Hier kommt Mussorgskij übrigens Shakespeare sehr nahe. Die Zeitlosigkeit ist ein weiterer für mich sehr wichtiger Punkt: Was man zum Teil in dieser Oper erlebt, könnte ebenso ein Bild aus den heutigen Nachrichten sein. Das Unglück, unter dem das russische Volk leidet, ist ja immer wieder, wenn auch in anderer Gestalt, präsent. Diese Szenen verbinden das Werk mit dem Heute, dem Gestern. Und leider wohl auch mit dem Morgen. Mich interessiert dieser Aspekt sehr: dass Mussorgskij zeigt, dass letztlich alles in einem Kreislauf stattfindet und immer wiederkommt. Das würde aber bedeuten, dass keine Lehren für die Zukunft gezogen werden können. KOKKOS

Die Geschichte muss, für die Zukunft, die nächsten Generationen, erzählt werden, auch wenn keiner eine Lehre daraus zieht. Das Wort Shakespeare ist gefallen, zu dessen Werk es ja tatsächlich Verbindungen gibt. Ist Boris Godunow eine Art russischer Macbeth?

Es gibt eine Verbindung – und diese heißt Puškin. Vor allem auch, wie die Figuren gezeichnet sind, erinnern an den englischen Dramatiker. Auf das spezifische Werk bezogen zeigt sich das etwa in der ambivalenten Sicht des Bösen. Doch das bedeutet nicht unbedingt, dass wir hier einen »russischen Shakespeare« vorliegen haben; vielmehr waren Puškin und Mussorgskij – jeder für sich – immer daran interessiert, ein originär russisches Werk zu schaffen, nicht mit einer anderen europäischen Kunst verbunden. Wobei... Shakespeare ist immer da... KOKKOS

In der Oper tritt die Titelfigur in mehreren Gestalten auf. Der Machtmensch Boris, aber auch der Zweifelnde, der Familienvater. Ist ein »richtiger« Boris zu verorten? Oder sind das alles nur Masken? Gerade das ist die Genialität von Puškin und Mussorgskij, dass die Figuren sehr komplex ausgestaltet sind. Man sieht in Boris einen Menschen, der Gefühle für seine Familie hat, andererseits schrecklich sein kann. Aber auch historisch ist die Boris-Figur sehr wechselhaft in ihrer Darstellung: KOKKOS

IM GE SPR ÄCH MIT YA N N IS KOK KOS

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Es ist nicht bewiesen, dass er ein Mörder war. Mich interessiert ein solcher Charakter sehr! Hat Mussorgskij dem Volk eine besondere Rolle zugewiesen? Ich denke, es ist bei Mussorgskijs Boris Godunow in der Operngeschichte eines der ersten Male, dass auf einer Musiktheaterbühne echte Menschen auf der Bühne stehen, mit ihren tatsächlichen Schwierigkeiten. Aber auch eine manipulierte Masse gezeigt und realistisch umgesetzt wird. Es ist wichtig, das in Boris genau zu zeigen! KOKKOS

Neben diesem Realismus zeigt Mussorgskij aber auch eine diesem Realismus entgegengesetzte Welt. Auch diese Seite scheint mir wesentlich, nämlich wie Phantombilder aus der Vorstellungskraft entstehen können. Keiner der beiden genannten Momente darf fehlen. Aber ebenso nicht die politische Dimension, die Problematik, dass man manchmal, auch wenn man etwas Gutes machen will, dies einfach nicht vermag. Dazu kommen gesellschaftliche Aspekte, philosophische. Boris Godunow ist einfach ein komplexes Werk. KOKKOS

Boris Godunow handelt darüber hinaus auch vom Umgang mit der Macht. Als Regisseur sind Sie in einer Produktion so etwas wie ein Monarch. Wie gehen Sie mit der Macht um? Die Frage der Machtausübung ist für mich nicht relevant. Meine Theaterlaufbahn begann ich als Bühnenbildner und habe dabei meine persönliche Sichtweise der jeweiligen Stücke immer mit dem Regisseur in einem Dialog auf gleicher Augenhöhe erarbeitet. Inszenieren ist heute für mich eine ganz persönliche Umsetzung eines Werkes, ausgehend von einer Vision, mit klaren Ansätzen ohne Dogmen und ohne anekdotische Provokationen. Ich habe großes Vertrauen zu Schauspielern und Sängern, was sie fühlen ist für mich wichtig. Meine Sicht muss nicht in jeder Kleinigkeit die letzte Wahrheit sein und ich gehe stets auf die Darsteller ein, ohne dabei meiner ursprünglichen Konzeption und Vision untreu zu werden. Mir kommt es vielmehr auf das gemeinsame Erarbeiten an. Jede Produktion ist für mich ein kleiner Lebenszyklus, mit allem, was dazugehört: Freude, aber auch Schwierigkeiten. Und wie im Leben versuche ich, eine sinnvolle, gute Zeit verbringen und offen für die Ideen der anderen zu bleiben. KOKKOS

Das Interview führte Oliver Láng im Jahr 2012.

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EIN EW IGER K R EISLAU F


Michael Rot

BORIS GODUNOW UND DAS PROBLEM DER FASSUNGEN Modest Petrowitsch Mussorgskij komponierte die Urfassung seines Boris Godunow zwischen Oktober 1868 und Dezember 1869. Nach vier vorangegangenen und halbfertig abgebrochenen Opernprojekten hatte er nun endlich eine Oper vollendet und damit gleich ein Meisterwerk geschaffen. Die Urfassung bestand aus vier Teilen mit insgesamt sieben Bildern und war ein in jeder Hinsicht vollkommenes Werk, das nach heutiger Auffassung keinerlei Überarbeitung bedurft hätte. MICH A EL ROT

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1. Teil: 1. Bild: Nowodjewitschi-Kloster / 2. Bild: Krönungsszene 2. Teil: 1. Bild: Pimens Zelle / 2. Bild: Schenke an der litauischen Grenze 3. Teil: Zarengemach im Kreml 4. Teil: 1. Bild: Vor der St. Basiliuskathedrale / 2. Bild: Boris’ Tod Anfang 1870 reichte Mussorgskij das Stück beim Mariinskij-Theater in St. Petersburg ein, wo es aber bis auf eine Gegenstimme abgelehnt wurde. Die kühne und eigenwillige Harmonik, die den Hörgewohnheiten seiner Zeit völlig widersprechende Instrumentation und die kompromisslose formale Gestaltung, die sich einzig und allein an der dramatischen Struktur des von ihm selbst verfassten Textes und nicht an traditionellen Kompositionstechniken orientiert, weisen allesamt so weit ins 20. Jahrhundert, dass die Ablehnung des Werkes nicht weiter verwundert. Mussorgskij ließ sich jedoch nicht entmutigen und begann bald mit ersten Umarbeitungen. Da einer der wesentlichen Kritikpunkte das Fehlen einer weiblichen Hauptrolle war, komponierte er einen kompletten Akt mit zwei Bildern dazu, der mit Marina als der Geliebten des Usurpators Dimitri eine große Frauenrolle einbringt (Polenakt). Die ersten drei Szenen der Oper wurden etwas gekürzt und leicht verändert und die Schenkenwirtin erhielt ein eher traditionelles Lied am Anfang ihrer Szene. Den Kremlakt komponierte Mussorgskij völlig neu, eliminierte die Basiliusszene und setzte an deren Stelle die neu komponierte Revolutionsszene. Zugeständnisse an den Zeitgeschmack in Bezug auf Harmonik und Instrumentation machte Mussorgskij keine. Die erste Umarbeitung hatte er bis Juli 1872 vollendet, aber in der neuen Struktur mochte das Werk manchen zu lang erschienen sein, weshalb er in einer 3. Fassung weitere Kürzungen vornahm. Die beiden ersten Szenen wurden miteinander verschmolzen und die Szene in Pimens Zelle zur Gänze gestrichen. Außerdem verlegte er die Revolutionsszene nun an das Ende der Oper, also nach Boris’ Tod. Dass diese massiven Kürzungen die Dramaturgie des Werkes völlig entstellen und daher seinem Willen nicht entsprechen konnten, beweist die 4. Fassung, in der Mussorgskij alle kurz zuvor gemachten Striche wieder öffnet. Er greift damit auf die 2. Fassung zurück und belässt im Unterschied dazu nur die Revolutionsszene am Ende der Oper. Im Herbst 1872 präsentiert sich das Werk in seiner 4. Fassung also in folgender Form: Prolog: 1. Bild: Nowodjewitschi-Kloster / 2. Bild: Krönungsszene 1. Akt: 1. Bild: Pimens Zelle / 2. Bild: Schenke an der litauischen Grenze 2. Akt: Zarengemach im Kreml 3. Akt: 1. Bild: Marinas Boudoir / 2. Bild: Szene am Springbrunnen 4. Akt: 1. Bild: Boris’ Tod / 2. Bild: Revolutionsszene 13

BOR IS GODU NOW U N D DAS PROBLEM DER FAS SU NGEN


Am 29. Oktober 1872 wird das Stück trotz der massiven Veränderungen erneut vom Theater abgelehnt. Im Freundeskreis erhält Mussorgskij aber immer mehr Unterstützung, und so kommt es nach einer Privatvorführung der Oper mit Klavierbegleitung, bei der zahlreiche Künstler des MariinskijTheaters anwesend sind, schließlich zu einer Aufführung von drei Szenen im Rahmen einer Wohltätigkeitsveranstaltung des Theaters am 5. Februar 1873 (gespielt wurden die Schenkenszene und der Polenakt, bezeichnenderweise die »traditionellsten« Teile). Der Erfolg dieser Teilaufführung war jedoch so groß, dass sich das Theater dem Werk nicht mehr länger verschließen konnte. Am 27. Jänner 1874 fand endlich die Uraufführung der gesamten Oper statt, allerdings in einer vom Theater verfassten 5. Fassung, die wiederum Pimens Szene eliminierte, darüber hinaus aber noch zahlreiche Striche, vor allem in Boris’ Todesszene, vornahm. Die Erstpublikation des Klavierauszuges im Verlag Vessel greift in der Struktur des Werkes wieder auf die 4. Fassung zurück. Als Vorlage benützte Vessel Mussorgskijs eigenhändigen, aber längst überholten Klavierauszug, der mit den später geschriebenen Partituren nicht übereinstimmt. So entstand eine – von Mussorgskij sicher nicht geplante – 6. Fassung der Oper.

BEARBEITUNGEN UND AUSGABEN Nach 20 heftig umstrittenen Aufführungen wurde Boris Godunow abgesetzt. Die Erfolgsgeschichte des Werkes beginnt erst 22 Jahre später mit der Erstaufführung von Nikolai Rimski-Korsakows Neufassung im Jahr 1896. Zwischen 1888 und 1896 hatte der enge Freund und einstige Zimmergenosse Mussorgskijs das Werk in allen Details überarbeitet und in einer zweiten Bearbeitung 1906 vollendet. Er schreibt dazu in seiner Autobiografie1: »Es handelte sich darum, die unüberwindlichen Schwierigkeiten, die Härten der Harmonie und der Modulationen, den fehlerhaften Kontrapunkt, die Armut der Instrumentation und die allgemeinen Schwächen des Werkes, vom technischen Gesichtspunkt aus gesehen, zu beseitigen«, ergänzt aber dann: »Ich bin überzeugt, dass meine Überarbeitung und Orchestrierung in keiner Weise den ursprünglichen Geist des Werkes oder die kühnen Absichten seines Schöpfers verändert hat..., da ich sie lediglich verfeinert und technisch klarer und allen zugänglicher gemacht habe, während ich zugleich aller kleinlichen Kritik dieses Werkes ein Ende setzte« und meint schließlich prophetisch: »Wenn die Zeit kommt, da man das Original für besser… hält als meine Revision, dann wird man meine Fassung verwerfen und Boris nach der ursprünglichen Partitur geben.« Wenngleich Rimski-Korsakows Meinung über die technischen Schwächen des Werkes aus heutiger Sicht völlig falsch und seine Bearbeitungen 1

Nikolai Rimski-Korsakow: Chronik meines musikalischen Lebens. St. Petersburg 1909; Stuttgart 1926.

MICH A EL ROT

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inhaltlich abzulehnen sind, muss man ihm doch zugute halten, dass er damit das Werk der Vergessenheit entrissen und den Grundstein für die bis heute anhaltende Popularität gelegt hat. Auf deren Basis konnte der russische Musikwissenschaft­ler Pavel Lamm bereits 1928 einen ersten Versuch wagen, Mussorgskijs ursprüngliche Instrumentation und die Struktur des Werkes zu restaurieren. Durchsetzen konnte sich diese Ausgabe vorerst nicht; noch 1939 verfasste Dimitri Schostakowitsch eine Neuinstrumentation der gesamten Oper. Der von Pavel Lamm eingeschlagene Weg wurde 1964 in der von David Lloyd-Jones betreuten Ausgabe fortgesetzt, wenngleich beiden an manchen Stellen noch der Mut zur völligen Wiederherstellung fehlte und sie auch jeweils eine einzige vom Herausgeber zusammengestellte Fassung favorisierten. Der entscheidende Schritt zur völligen Wiederherstellung des Originals wurde erst in der soeben vorgelegten Neuausgabe von Michael Rot in der Verlagsgruppe Hermann vollzogen. Abgesehen von notwendigen Detailkorrekturen sind hier erstmals alle Fassungen gleichberechtigt nebeneinander in jeweils komplett spielbarer Form abgedruckt. Wer eine Aufführung von Boris Godunow plant, wird zwangsläufig in Entscheidungsnotstand geraten. Es kann heute kein Zweifel mehr darüber bestehen, dass Mussorgskijs Urfassung ein Meisterwerk ist, das ohne die kleinste Veränderung aufgeführt werden kann. Wer sich aber für diese Urfassung entscheidet, muss auf den gesamten Polenakt verzichten, dessen Musik Mussorgskij erst in seiner 2. Fassung geschaffen hat. Andererseits enthält ebendiese Fassung viele Umarbeitungen in anderen Szenen, die dem Werk einiges an Ursprünglichkeit nehmen. Den Kremlakt wiederum hatte Mussorgskij neu komponiert; beide Fassungen dieses Aktes enthalten unverzichtbare Elemente. Dass schließlich auch die brillante Basiliusszene durch die nicht weniger aufregende Revolutionsszene ersetzt wurde, macht die Entscheidung um nichts leichter. Das von Mussorgskij selbst verfasste Libretto ist eine bewundernswerte psychologische Studie, und jede einzelne Szene dramaturgisch von größter Bedeutung.

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BOR IS GODU NOW U N D DAS PROBLEM DER FAS SU NGEN




György Lukács

PUŠKINS BORIS GODUNOW

Wenn Puškin in Boris Godunow einen tragischen Abschnitt der Entstehungskrise des russischen Absolutismus darstellt, so ist dieses Drama zugleich – freilich unausgesprochen – auch das Vorspiel der Auflösungskrise desselben Absolutismus. Der dramatische Historismus Puškins ist gleichzeitig eine gesellschaftliche Prophezeiung. Puškin gestaltet die Entwicklung des Absolutismus und dessen unaufhaltsamen Triumphweg derart, dass die kommende und sich später offenbarende Problematik dieses Systems bereits sinnfällig wird. Im Vordergrund steht selbstverständlich auch hier der Gegensatz von Absolutismus und Feudalismus, und die Überlegenheit des ersteren. Der Absolutismus bedeutet auch hier, wie überall, dass der Adel im Prozess der Umwandlung zum Hofadel seine Unabhängigkeit verliert. Menschlich offenbart sich dieser Prozess in erster Linie als moralischer Verfall; die Übergangsform ist eine mit Wut gepaarte Ohnmacht gegen den Absolutismus. Der Adel hat seine alten feudalen Tugenden verloren, aber seine spätere höfische Kultiviertheit noch nicht erreicht: eine Mischung aus der alten Rohheit und der neuen Niederträchtigkeit charakterisiert die Vertreter des Adels. Sie sind sich ihrer Schwäche dem Volk gegenüber bewusst, ebenso ihres Entwurzeltseins aus dem Volksboden. Einer der Bojaren spricht dies so aus: GYÖRGY LU K ÁCS

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Schon lange sieht das Volk in uns nicht mehr Den Nachwuchs seiner kriegerischen Herrscher, Schon lange sind wir unsrer Länder bar, Schon lange sind wir nur der Zaren Diener. Die verständigeren Vertreter des Hochadels sind sich auch darüber im Klaren, dass diese Lage nicht durch die individuellen Fähigkeiten Boris Godunows entstand, dass es vom Standpunkt der Aristokratie aus geradezu gleichgültig bleibt, wer die Person des Zaren ist. Ein anderer Bojar charakterisiert Boris wie folgt: […] er regiert uns fast schon Wie Zar Iwan. (Gedenk sein nicht zur Nachtzeit!) Sind heuer wir des armen Lebens sicher? Es droht ein jeder Tag uns mit Verbannung, Mit Turm, Sibirien, Fesseln, Mönchshabit, Mit Strick und Hungertod gar im Verliese. So leben die Bojaren in ewiger Furcht, ständig von Angebern umkreist, zu denen auch ihre intimsten Diener gehören. Sie reagieren darauf so, dass sie auch zu Angebern werden, und ihren bewusstesten und geschicktesten Führern gelingt es, inmitten dieser Verkommenheit auch den Zaren zu betrügen und den Versuch zu machen, seine politischen Entscheidungen im Interesse des Hochadels zu beeinflussen. Der Preis dieser Niedrigkeit und Erniedrigung sind die Hof- und Staatswürden als Vorrechte des Bojarentums. Aber auch diese sind ständig gefährdet. Der sich entwickelnde Absolutismus hat talentierte, zu ernstlicher Handlung fähige Menschen nötig, und diese kann das Bojarentum nicht immer, ja, sogar nur sehr selten liefern. Deshalb ist für diese Zeit die stürmische Laufbahn der von unten Heraufkommenden charakteristisch. Zar Boris ist selbst ein solcher selfmademan. Noch mehr der Thronprätendent Grigorij Otrepjew, der sich für den ermordeten Zarewitsch Dimitrij ausgibt. Die Konflikte, die sich aus dieser Situation ergeben, machten diese Periode der russischen Geschichte zum volkstümlichen Thema der gesamten Weltliteratur. Aber die nichtrussischen Schriftsteller, selbst die größten unter ihnen, sahen nur die Äußerlichkeiten des Konflikts, und insofern sie diese Erscheinungswelt »vertieften«, gaben sie ein falsches, verzerrtes Bild dieser geschichtlichen Situation und der ihr entstammenden Tragödie. Ein solcher »vertiefter« Oberflächenkonflikt ist das tragische Problem der Legitimität. Diese Tragödie schreiben – um nur die Größten zu nennen – Schiller und Hebbel. Bei beiden stammt – freilich in sehr verschiedener Form – die Tragödie aus der Tatsache, dass der Thronprätendent seine eigene illegitime Abkunft erfährt und so der Gegensatz zwischen der im Namen der Legitimität 19

PUŠK INS BOR IS GODU NOW


erfolgten Thronbesteigung und der illegitimen Abkunft zum Ausgangspunkt eines inneren, zum tragischen Zusammenbruch führenden Konflikts wird. Puškins tiefer historischer Sinn weiß hingegen, dass die Legitimität in diesen Kämpfen nur eine Äußerlichkeit ist, nur ein Losungswort oder eine Fahne; in diesen Kämpfen messen sich große historische Kräfte während eines primitiven Abschnitts des Prozesses, in dem sich das russische Volk zur Nation zusammenschließt. Die Legitimität ist für die Kämpfer nur ein Vorwand. Der Thronprätendent spricht es klar aus: […] Hör, dass weder König, Papst noch die Magnaten Sich scheren um die Wahrheit meines Worts. Ob Dimitrij ich, ob nicht — was kümmert sie es? Der Vorwand bin ich nur zu Krieg und Zwist. Dies einzig brauchen sie in mir... Dies alles ist möglich, weil das Volk selbst noch nicht so weit entwickelt ist, um sein Los, das Schicksal der Nationwerdung, in die eigenen Hände zu nehmen. Diese Entwicklung beginnt hier erst, kaum sichtbar, unter der Oberfläche, offenbart sich in dem stumpfen Hass gegen die »obere Welt«, in der Zurückweisung jener Vorspiegelung, als wären die »oben« vor sich gehenden Veränderungen die Sache des Volkes. Nur so viel ist klar, dass das Volk nie und nirgends die Bojaren gegen den Zarismus unterstützt. Als Zar Boris, Komödie spielend, die Krone zurückweist und die Kirchenväter, die Bojaren und das zusammengetriebene Volk ihn weinend darum anflehen, die Krone anzunehmen, stellt Puškin die wirkliche Volksstimmung folgendermaßen dar: VOLK (auf den Knien; Geheul und Gejammer) Erbarm dich, Vater! Wolle uns beherrschen! […] EIN ANDERER Was weinen jene? Wie soll man’s wissen? Die Bojaren wissen’s – nicht wir. Dies bedeutet aber keineswegs, dass das Volk mit dem Unterdrückungsapparat des Zaren sympathisiert. Seine Vertreter sind in den Augen des Volkes ebensolche erpresserischen Banditen wie die Bojaren. Als der aus dem Kloster entflohene Thronprätendent von zaristischen Grenzwächtern gesucht wird, sagt die Wirtin einer Grenzschenke: »Von diesen Polizeimenschen aber kommt nur das eine, dass sie die Reisenden belästigen und uns arme Leute schinden... Die sagen nur, sie machen die Runde, in Wahrheit heißt es: Schnaps her und Brot her und weiß Gott was noch – verrecken sollen sie, die Malefizkerle! Möge ihnen…« Dem Volk also hat die Geschichte noch keinen Raum zum Handeln gegeben. GYÖRGY LU K ÁCS

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Die Selbstzerfleischung, das Sich-selbst-Verzehren der feudalen Schichten ist gerade so intensiv wie in Shakespeares Königsdramen der Krieg der Weißen und der Roten Rose. Das Volk nimmt an diesen Kämpfen nur unter dem Druck des Zwangs teil; eine besondere Szene zeigt, welch zusammengewürfelte fremde Söldnerheere die feindlichen Lager neben dem eigenen Volk in den Kampf werfen müssen. Das Misstrauen des handlungsunfähigen Volkes ist jedoch ein wichtiger Hintergrund und eine Erklärung dafür, was im Vordergrund geschieht. Das Volk hasst sowohl den Zaren als auch die Bojaren. Wie dies bei derartigen unentwickelten Bewegungen zu geschehen pflegt, sehen sie noch nicht nach vorwärts, sondern nach rückwärts: in die guten alten Zeiten, in denen die Leibeigenschaft unter den unentwickelten feudalen Verhältnissen ihr sogenanntes goldenes Zeitalter erlebte. (Diese Volkspsychologie finden wir auch in den Tragödien Shakespeares; in der Wirklichkeit spielte sie in der Ideologie der großen Bauernaufstände des 16. Jahrhunderts eine wichtige Rolle.) Unter solchen Umständen gibt es für einen Menschen, der seine menschliche und moralische Integrität bewahren will, nur einen Weg: aus dem Leben zu treten und zum Zuschauer zu werden; also ins Kloster zu gehen. Puškin stellt dieses Verhalten mit unübertrefflicher Schönheit und Klarheit in der Gestalt des alten Mönch-Chronisten dar. Es ist kein Wunder, dass Dostojewskij für diese Gestalt schwärmte. In dem vollkommenen Beiseite-Stehen Pimens, der nur das treue Bild der Zeit für bessere Zeiten aufzeichnen will, offenbart sich die reine Form der in dieser Periode möglichen Opposition.

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PUŠK INS BOR IS GODU NOW


Gudrun Ziegler

BRAVO, PUŠKIN! BRAVO, VERDAMMTER KERL!

Über Aleksandr Puškins Boris Godunow


Nachdem im März 1824 Band zehn und elf von Nikolai Karamsins Geschichte des russischen Reiches erschienen waren, wurde Puškins Aufmerksamkeit auf eine der dramatischsten Epochen nationaler Historie gelenkt: auf die innenpolitischen Auseinandersetzungen Ende des 16., Anfang des 17. Jahrhunderts. »Nimm das Ende des zehnten und den ganzen elften Band, dann hast du den Plan«, schrieb Puškin an Wjasemski, als er sich entschloss, das lange Stillschweigen um seine Arbeit zu brechen. 1829 ergänzt er dazu: »Von mir in strenger Einsamkeit geschrieben, fern der abgekühlten Welt, eine Frucht beständiger Arbeit, gab mir die Tragödie alles, woran es einem Dichter erlaubt ist, sich zu ergötzen: lebendige begeisterte Tätigkeit, innere Überzeugung, dass von mir alle Bemühungen erforderlich waren...« Es entstand eine wahrhaft »romantische Tragödie«, der zwar Karamsins Darstellung der erwähnten Epoche zugrunde lag, die aber weit über Karamsin hinausging. Hier verwirklicht Puškin zum erstenmal ein streng durchdachtes literarisches, historisches und auch philosophisches Konzept, dessen Prinzipien heißen: Exaktheit in der Darstellung der Personen und Epoche, Objektivität und Unparteilichkeit, Volkstümlichkeit im umfassenden Sinne. Und wenn Puškin schreibt: »Die Geschichte des Volkes gehört dem Poeten«, dann meint er damit nicht, dass man Historie mit dichterischer Freiheit behandeln könne, sondern eine glückliche Verbindung zwischen historischer Wirklichkeit und Dichtung. Seine Überlegungen zum Aufbau des Dramas führten ihn weit von den bisher gültigen Regeln klassizistischer Dramenkunst fort. Schon allein das Vorhaben, eine Epoche möglichst umfassend darzustellen, sprengte den Rahmen des bisher Üblichen. Statt 24 Stunden sollten sieben Jahre russischer Geschichte abrollen; an Stelle eines Ortes erforderte das Konzept verschiedene Lokalitäten. So entstand eine lockere Abfolge von 25 Szenen, die wie ein filmisches Kaleidoskop aneinandergereiht sind. Auch kann man Boris Godunow nicht als Helden im üblichen Sinne bezeichnen, denn die Handlung geht nicht nur über seinen Tod hinaus, sondern lässt ihn auch lediglich in sechs Szenen auftreten. Auch sein direkter Konflikt mit dem Gegenspieler Grigorij findet auf der Bühne nicht statt, obwohl ihrer beider Schicksal untrennbar miteinander verbunden ist. Grigorijs Zukunft – als vermeintlich am Leben gebliebener Zarewitsch – baut auf der Vergangenheit Boris Godunows auf. Beide verbindet überdies ein ähnlicher Charakter: als Abenteurer in Sachen Thron sind sie mit Energie, Verstand, Mut und genügend Vorurteilslosigkeit ausgestattet. Boris Godunow, von Karamsin übrigens als eine Art Ausnahmeerscheinung auf dem russischen Thron gesehen, wurde bei Puškin zu einem Nachfolger der Politik Iwans IV. (des Schrecklichen). Entgegen den Machtbestrebungen der Bojaren versuchte Boris, die Macht in einer Hand zu vereinigen und musste auch in diesem Bereich scheitern. Er ist umgeben von Emporkömmlingen, die durch glückliche politische Umstände mächtig geworden waren, und von Vertretern alter Adelsgeschlechter, deren Anspruch auf den Thron durchaus historisch begründet wäre. Zu allen Gewis 23

GU DRU N ZIEGLER


sensqualen, zu allen politischen Fehlschlägen kommen bei Boris Godunow noch familiäre Schwierigkeiten: er, der liebevolle Vater, muss mit ansehen, wie ein Unglück seine Tochter traf. Dies alles trägt schließlich dazu bei, dass Godunow dem Thron und der Welt entsagen muss... Zum erstenmal lässt Puškin eine größere Volksmenge in einem Drama auftreten, doch nicht als malerischen Hintergrund, sondern als aktive Handlungsträger. Selbst im Schweigen des Volkes – angesichts der Proklamation Grigorij-Dimitris zum Zaren – wird hier Aktivität ausgedrückt. Denn auch das Schicksal Grigorijs, des falschen Dimitri, ist damit besiegelt. Er wird nur – wie man aus der Historie weiß – ein Jahr an der Macht bleiben. So wie das Volk im Boris Godunow zwar reagiert, aber keine Konsequenzen aus den Vorgängen zieht, verkörpert auch der Chronikschreiber Pimen in seiner Klosterzelle eine Art von Reaktion. Er ist wie aus dem historischen Prozess herausgelöst, und indem er sich zum Chronisten vergangener Zeiten macht, kann er sich in der verworrenen Gegenwart als Persönlichkeit in seiner ganzen Totalität und Unversehrtheit behaupten. Puškin schreibt: »Der Charakter des Pimen ist nicht meine Erfindung. In ihm habe ich Züge vereinigt, die mich an unseren alten Chronikschreibern gefesselt haben: Aufrichtigkeit, ergreifende Sanftmut, etwas Kindliches und gleichzeitig Weises, Eifer...« So gesehen ist Pimen die einzige unantastbare Persönlichkeit des Dramas. Als Puškin seinen Boris Godunow beendet hatte, war er mit sich sehr zufrieden: »Als die Tragödie fertig war, habe ich sie für mich allein laut gelesen, ich habe in die Hände geklatscht und ausgerufen: Bravo, Puškin! Bravo, verdammter Kerl!« Gleichzeitig kamen ihm aber Zweifel, ob dieses Drama die Zensur passieren würde, denn »obwohl in gesinnungstreuem Geist geschrieben, konnte ich meine Ohren nicht völlig unter der Kappe der Unschuld verbergen, sie schauen doch heraus«. Wie vorausgeahnt konnte die Tragödie erst einige Jahre später (1830) gedruckt werden, und Puškin wehrt sich gegen etwaige Vergleiche seines Boris mit Zar Alexander I., der ja auch durch einen Mord an die Macht gekommen war, wenn er schreibt: »... alle Wirren sind einander ähnlich«. Seine Pläne, eine Art historische Trilogie zu schreiben und Marina Mnischek und den Bojaren Schuis­kij zu Helden eines Dramas zu machen, scheiterten schließlich am Unverständnis seiner Zeitgenossen. Sie hatten dem Boris Godunow kaum Beachtung geschenkt – mit Ausnahme einiger junger Autoren – und fanden dieses Gemisch aus Prosa und Vers, aus hohem und niederem Stil, Ernst und Spaß, unerträglich. Auch der Vorschlag der zaristischen Zensur, aus diesem Drama einen Roman im Stile Walter Scotts zu gestalten, zeigt deutlich, in welchen Dimensionen sich damals das Verständnis von Historie und Dichtung bewegte.

BR AVO, PUŠK IN! BR AVO, V ER DA M MT ER K ER L!

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» Die Kunst ist ein Mittel, nicht aber ein Zweck, um mit Menschen zu sprechen. «

Modest Mussorgskij



Aleksandr Puškin

BORIS GODUNOW – STERBESZENE DES ZAREN ZAR

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Mein Sohn, ich sterbe; Umarme mich. Leb wohl, mein Sohn: sogleich Beginnst du deine Herrschaft... Gott und Vater! Sogleich erscheine ich vor dir – und habe Die Seele noch durch Buße nicht geläutert! Jedoch ich fühl’s – mein Sohn, du bist mir teurer Als meiner Seele Rettung... mag’s denn sein! Als Untertan geboren, hätte ich Als Untertan im Dunkel sterben müssen; Doch schwang ich mich zur Macht empor – wodurch? Frag nicht. Genug: du bist daran unschuldig, Rechtmäßig kommst du jetzt zu deiner Herrschaft, Und ich allein leg Rechenschaft vor Gott ab. Mein lieber Sohn, lass dich durch nichts verblenden, Versuch dich selber zu verblenden nie. Du kommst in einer schweren Zeit zur Herrschaft: Der Usurpator, er ist sehr gefährlich, Sein Panzer ist ein Name schauervoll. Ich, der seit je erfahren im Regieren, Vermocht zu meistern jede Rebellion; Sie zitterten vor mir in Angst und Bangen; Und nicht erhob Verrat zu laut die Stimme; Doch du, ein junger unerfahr’ner Herrscher, Wie willst regieren du im Wettersturm, Den Aufruhr löschen, Arglist überlisten? A LEKSA N DR PUŠK IN


Doch Gott ist groß! Er kann dem Jüngling Weisheit, Dem Schwachen Kraft verleihen... So vernimm denn: Zunächst wähl jemand zum Berater dir, Der kalt, verlässlich ist und nicht mehr jung, Beim Volk beliebt und bei den Edelleuten Geschätzt durch seinen Ruhm und seinen Namen – Fürst Schuiskij etwa. Auch fürs Heer ist nötig Ein kluger Führer: schick Basmanow hin, Und wenn der Adel murrt, ertrag’s gelassen. Als Kind schon saßt du neben mir im Rate, Du kennst mithin der Staatsverwaltung Art; Verändre am Geschäftsgang nichts. Gewohnheit – Der Herrschaft Seele sei. Ich war genötigt Das Halsgericht von neuem einzuführen – Du schaff es ab; und segnen wird man dich, Wie vormals deinen Oheim man gesegnet, Als er den Thron des Schrecklichen bestieg. Dann mit der Zeit kannst nach und nach die Zügel Der Herrschaft fester du anzieh’n aufs neu. Jetzt halt sie schlaff, doch lass sie nie aus Händen. Sei gnädig und erreichbar für die Fremden, Nimm sie vertrauensvoll in deinen Dienst. Beobacht streng die Vorschriften der Kirche; Sei schweigsam; eines Herrschers Stimme soll nicht Vergeblich stets in leerer Luft verhallen; Gleich heil’ger Glocke Ton verkünde sie Nur großes Leid und große Freudenfeier. O lieber Sohn! Du trittst nun in die Zeit, Da Frauenschönheit uns das Blut erregt. Bewahr, bewahr die heil’ge Reinheit dir, Die Scham sowie der Unschuld stolze Keuschheit: Wer sich gewöhnt, Gefühle in der Jugend In Lastern zu ertränken und in Lust, Der wird als Mann leicht hart und blutgierig Und vor der Zeit wird ihm sein Geist verdüstert. In deinem Haus sei stets das Oberhaupt; Ehr deine Mutter, aber herrsche selber: Als Mann und Zar; und deine Schwester lieb, Du bleibst fortan ihr einziger Beschützer.

FJODOR (auf den Knien) Nein, nein – lang sollst du leben und regieren: Das Volk und ich verderben ohne dich. BOR IS GODU NOW – ST ER BE SZEN E DE S ZA R EN

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ZAR Zu Ende geht’s – mir dunkelt’s vor den Augen, Die Grabeskälte fühl ich schon... Der Patriarch und die Priester treten ein, ihnen folgen alle Bojaren. Man stützt die Zarin, Zarewna schluchzt

ZAR Wer da? Die Kutte... ah! der Akt der heil’gen Weihe... Die Stunde schlug! Zum Mönche wird der Zar – Und meine Zelle wird das dunkle Grab sein. Verzeihe noch, hochheil’ger Patriarch, Noch bin ich Zar: vernehmt denn, ihr Bojaren – Der hier steht ist’s, dem ich mein Reich befehle Ihr sollt jetzt Fjodor huldigen... Basmanow, Ihr Freunde... Ich beschwör am Grabestor euch, In Wahrheit und mit Eifer ihm zu dienen! Er ist so jung noch, ist so unverdorben. Schwört ihr’s mir zu?

BOJAREN Wir schwören.

ZAR So ist’s gut denn. Vergebt die Sünden mir und Fehler all, Beleidigungen offen und verborgen... Nun, heil’ger Vater, komm, ich bin bereit. (Die Zeremonie der Einkleidung beginnt.)

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A LEKSA N DR PUŠK IN


Oliver Láng

ZWISCHEN VOLKSLIED UND DIALOGOPER

Schlaglichter auf die russische Kunstmusik


»Ich ziehe es vor, statt Musik zu hören auf dem Meer zu segeln und Feuerwerke abzubrennen«, also sprach Zar Peter der Große, jener Herrscher, der einen kaum zu vergleichenden Reformsturm über Russland brachte. Von der Mode bis zur Architektur, von der Sprache bis zu den Umgangsformen suchte der Herrscher Anbindung an Westeuropa zu finden und sein Land entsprechend und gegen die Tradition umzugestalten. Und obgleich Peter der Große kein besonderes Interesse an der Musik hatte – siehe Zitat oben –, so wusste er doch um die Bedeutung der (Theater-)Kunst für seine Pläne. Also »importierte« er sie aus dem Herzen Europas, ließ etwa den Deutschen Otto Fürst die erste russische Schauspielschule leiten. Französische, italienische, deutsche Einflüsse prägten demnach die Anfänge der russischen Opernkultur, denn die nachfolgenden Regierungsgenerationen ließen unterschiedlichste Kapellmeister kommen, die sich der Musik annahmen. 1736 wurde die erste Oper in Russland aufgeführt, Francesco Arajas Die Macht der Liebe und des Hasses, gesungen auf italienisch, mit einem verteilten deutschen Text. Unter Zarin Katharina II. erreichte die theatrale Inszenierung einen Höhepunkt, weiterhin und verstärkt lud man ausländische Musiker – gegen hohe Gagen – ein, in Russland zu wirken. Baldassare Galuppi, Tommaso Traetta, Giovanni Paisiello, Domenico Cimarosa waren unter anderem die Hofkapellmeister; man denke weiters nur an das Engagement Giuseppe Verdis, der die erste Fassung von La forza del destino für St. Petersburg – das Zentrum der »neuen« russischen Kultur – schrieb. Der originär russischen Musik hingegen blieb eine offizielle Unterstützung versagt. Ebenso fehlte es an einer Ausbildungsstätte, in der russische Musik gelehrt wurde sowie auch an originären russischen Libretti. Wo großer Druck, dort stets auch ebenso großer Gegendruck. Die Idee einer eigenständigen russischen Musik, eines entsprechenden Musiktheaters wurde in der Mitte des 18. Jahrhunderts immer stärker verfochten, zunächst waren es auf Volksmelodien basierende Singspiele; die Bewegung kulminierte schließlich in der Person des Michail Glinka, dessen Oper Ein Leben für den Zaren (Iwan Sussanin) im Jahr 1836 als eigentlicher Startpunkt der russischen Oper gesehen werden darf. Die Entwicklung der russischen Kunstmusik war freilich kein vom Umfeld losgelöster Prozess, sondern fand eingebunden in gesellschaftlich-politische Umwälzungen statt. 1861 hatte Zar Alexander II., wenn auch im Widerstreit mit dem Adel, die Leibeigenschaft aufgehoben und Abermillionen Bauern seines Landes, zumindest zum Teil, befreit. Darüber hinaus wirkten liberale intellektuelle Strömungen, gleichzeitig aber auch die Ideen des Panslawismus (die von einer stärkeren Teilung Europas in einen westlichen und östlichen Teil, zweiteren angeleitet von Russland, träumten) sowie jene der Narodnikis, die die Aufklärung ins Volk bringen wollten. Eine Zentralgestalt der russischen Musik ist eine Gruppierung namens Mächtiges Häuflein, ein Zusammenschluss von fünf jungen russischen Komponisten (Mili Balakirew, Alexander Borodin, César Cui, Modest Mussorgskij, Nikolai 31

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Rimski-Korsakow), die prägend für die Kunstmusik ihrer Heimat werden wollten – und es auch wurden. Zunächst war der Name der Gruppe ironisch gemeint, erst später wurde er ins Positive umgedeutet. Der Kritiker Wladimir Stassow schrieb 1867 über einen Abend, der von Balakirew geleitet wurde: »Gebe Gott, dass unsere slawischen Brüder nie das heutige Konzert vergessen werden, gebe Gott, dass sie immer die Erinnerung daran bewahren mögen, über wie viel Poesie, Gefühl, Talent und Intelligenz jenes kleine, aber bereits mächtige Häuflein russischer Musiker verfügt.« Bezeichnend für diese, jedem akademischen Zug fernstehende Vereinigung der Novatoren, so eine weitere Bezeichnung der Gruppe, war der teils nicht akademische Zugang zur Musikausübung. Borodin war eigentlich Chemiker, Rimski-Korsakow ursprünglich Marineoffizier, Cui ein Professor für Festungskunde, Mussorgskij eine zeitlang Beamter und Offizier; einzig Balakirew kümmerte sich ausschließlich um die Musik. Der Wunsch dieser Novatoren bestand in der Wiederentdeckung der originalen russischen Musik, ihre Entwicklung zur Kunstmusik, die Schaffung eines Gegengewichts zu den westlichen Einflüssen. Das Volkslied, die Volksmusik sollte die Basis für eine solche neue Form werden, eine Basis, die demnach nichts erfundenes oder gekünsteltes hatte, sondern direkt aus der Basis kam. Und dieses Volkslied sollte – im Gegensatz zu einer künstlerischen Verarbeitung anderer Komponisten – möglichst authentisch, unverzerrt und rein in den Werken präsentiert werden; den Weg, die Volksmusik gewissermaßen als Quelle für Inspirationen zu nutzen oder sie mittels einer Verarbeitungstechnik in eine neue Form zu gießen, wurde abgelehnt. Wurzel und Thema war weiters der sogenannte kleine Mann, das Leben des kleinen Mannes: »Das ist es eben: Das Volk will ich zeigen. Wenn ich schlafe, träume ich davon. Wenn ich esse, denke ich daran. Wenn ich trinke, sehe ich es vor mir. Denn nur das Volk ist ungekünstelt und wahr«, so Mussorgskij. Mehr noch: Nicht nur thematischer Ausgangspunkt sollte das Volk sein, sondern auch künstlerischer. Dessen (russische) Sprache sah man als Garanten für eine authentische Kunst, der Klang, die Rhythmik, all das sollte sich aus der Volkssprache ableiten. So wurde ein neuer Typus geschaffen, die Opéra dialogué, mit einer sich der Deklamation angenäherten Gesangsform, die ohne große Arien und Ensembles auskommt. Wenn auch das Modell ein eher theoretisches war und vom kompositorischen Output her gesehen nur wenig entstand (zum Beispiel Mussorgskijs Die Heirat), so sind die Einflüsse dieser Kompositionsform noch in Boris Godunow nachzuweisen. An sich kann in der künstlerischen Gestaltungsweise des Mächtigen Häufleins nicht von einer in allen Aspekten in sich geschlossenen Form gesprochen werden, ebenso wenig wie es eine lückenlose Übersetzung der theoretischen Ansichten in eine praktische Arbeit gab. Konflikte innerhalb der Gruppe waren ebenso bezeichnend wie die Gegnerschaft zu anderen Komponisten: Anton Rubinstein und Piotr Iljitsch Tschaikowskij wurden, zumindest in größerem Umfang, als der Gegenpol betrachtet. Zu westlich seien diese Protagonisten ausgerichtet, zu OLI V ER LÁ NG

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wenig »russisch«. Die Unterschiede zwischen den beiden Richtungen zeigten sich in einem weiteren Aspekt, in der Vermittlung und Weitergabe. Anton wie auch Nikolai Rubinstein engagierten sich für eine institutionalisierte Berufsausbildung für angehende Musikerinnen und Musiker, die in der Gründung eines staatlichen Konservatoriums gipfelte, nach dessen Abschluss man den Titel des sogenannten Freien Musikers erhielt. Den Novatoren wiederum schien diese Ausbildungsstätte bereits zu institutionalisiert, zu normenbehaftet und von Mitteleuropa übernommen; sie setzten sich für eine offenere Form ein, wie sie etwa in der Freien Musikschule, die 1862 von Balakirew gegründet wurde, zu finden war. Dass es dennoch Kontakte zwischen diesen Lagern, wie zum Beispiel zwischen Balakirew und Tschaikowskij, gegeben hat, zeigt, dass in der Situation der Neu- und Weiterentwicklung der russischen Kunstmusik die Fronten durchaus auch durchlässig und an anderen Wegen interessiert sein konnten.

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Z W ISCHEN VOLKSLIED U N D DI A LOGOPER




Andreas Láng

EIN EIGENER, NEUER WEG

Anmerkungen zu Mussorgskijs Boris Godunow


Für die Ohren mancher heutiger Zuhörer mag die eine oder andere Passage in Modest Mussorgskijs 1869 entstandener Oper Boris Godunow zunächst möglicherweise auf nicht näher definierte Weise archaisch erscheinen. Der Eindruck, den das gesamte Stück auf die meisten Zeitgenossen Mussorgskijs gemacht hatte, nämlich ein bestenfalls ambitioniertes, aber aufgrund kompositionstechnischer Dilettantismen etwas missglücktes Werk eines talentierten, aber noch nicht ausgereiften Tonsetzers zu sein, dürfte aber mittlerweile wohl bei niemandem mehr aufkommen. Und auch die Fachwelt, Theoretiker sowie Praktiker, also ausübende Künstlerinnen und Künstler, haben längst das ehemals mit Dilettantismus verwechselte musikalisch Originäre und Authentische des Boris Godunow erkannt. Standen an der Wiener Staatsoper zwischen 1925 und 1989 Aufführungen in der wohlgemeinten Bearbeitung Rimski-Korsakows auf dem Spielplan, so entschied man sich bei den letzten beiden Neuproduktionen – 1991 und 2007 – für die originale musikalische Sprache und Instrumentation des Komponisten (wobei Mussorgskij selbst eine Reihe von Versionen der Oper vorlegte – siehe auch Seite 12). Wie konnte es nun geschehen, dass Boris Godunow lange Zeit nicht nur in bornierten, akademisch gesinnten Professorenkreisen, sondern auch bei namhaften Kollegen wie Janáček der Hautgout des unbeholfenen und ungelenken Unvollkommenen anhaftete? Nun, die Antwort ergibt sich aus einem Missverständnis: Die offenbaren Regelverstöße Mussorgskijs wie scheinbar falsche Modulationen, scheinbarer Mangel an musikalischer Logik, irreguläre Sequenzen, nicht vollständig weiterentwickelte musikalische Themen rühren nicht, wie vielfach angenommen wurde, von handwerklichen Missgriffen und Unachtsamkeiten, sondern von Mussorgskijs Abneigung, ja, Verachtung jeglicher Konventionen her. Boris Godunow ist demnach kein Werk eines genialen Wilden, sondern eines sehr genau konzipierenden Erneuerers, der jegliche Operntradition, sei es die deutsche, italienische oder französische, ablehnte, der komplex geschriebene Durchführungen eines Robert Schumann als tönende Mathematik klassifizierte, der grobe Regelwidrigkeiten als Verfremdungsmöglichkeiten benutzte, um inhaltlich Wichtiges durch derartige musikalische Rufzeichen zu unterstreichen. Scheinen, mit anderen Worten, gelegentliche Details auf den ersten Blick einer satztechnischen Willkür oder Zufälligkeit geschuldet, so entpuppen sich diese bei näherem Hinsehen als musikdramaturgisch raffinierte Vorgehensweise. Zwei Dinge werden allerdings den meisten Hörern bereits beim erstmaligen Erleben der Oper und nicht erst nach genauen Analysen auffallen. Zum einen die Tatsache, dass Mussorgskij eine Art Leitmotivsystem verwendete – allerdings eine sehr komplexe Form eines Leitmotivsystems. So sind die einzelnen Motive im Laufe der Handlung je nach Situation immer wieder mehr oder weniger starken Veränderungen unterworfen. Ob beispielsweise eine Person beziehungsweise deren Denken charakterisiert werden soll oder bloß eine Erinnerung an diese, hat direkte Auswirkungen auf die Erschei 37

A N DR EAS LÁ NG


nungsform des Motivs. Ebenso die Art solch einer Erinnerung: ob diese gut, schlecht, gar quälend ist. Mussorgskij lag es zum anderen daran, jeder einzelnen Szene, jedem Bild eine je eigene unverwechselbare Farbe, musikalische Atmosphäre zu geben. So dient das erste Bild, in dem die Menge gezwungen wird, Boris anzuflehen, die Zarenkrone anzunehmen, als klangliche Schilderung des Volkscharakters. Es zeigt einen ungeschönten Alltag, den derben Umgang der einfachen Menschen untereinander und die Brutalität der Machtvollen. Das zweite Bild, die Krönungsszene im Moskauer Kreml, spiegelt den Pomp des Zarentums wider, wobei sich Mussorgskijs feine Beobachtungsgabe unter anderem darin zeigt, dass er im zu hörenden mächtigen Glockenklang exakt das Geläute der Moskauer Kremlkirchen in die Partitur übertrug. Ganz anders die Szene in der Klosterzelle Pimens, in der Mussorgskij die Ruhe, Erhabenheit, Abgeklärtheit und Seelentiefe des weisen alten Mönches klanglich ebenso zum Erklingen bringt wie Grigorijs Unruhe. Das nachfolgende Schenkenbild, das César Cui als eines der besten in der Oper pries, vereint die Schilderung einer von Abenteurern, Landstreichern, Bettlern und Polizisten geprägten Atmosphäre eines Grenzwirtshauses mit bester Situationskomik. Besonderes Augenmerk verdient hier das vom entlaufenen Mönch Warlaam gesungene Lied von der Eroberung Kasans (siehe auch Seite 66). Im Kremlbild beweist Mussorgskij einmal mehr seine Charakterisierungskunst: jene von einzelnen Personen und jene von Situationen. Wirkt der Anfang, der Boris im Kreis seiner Familie zeigt, wie ein häusliches Milieuporträt, wird man in der Unterredung des aalglatten und verlogenen Karrieristen Schuiskij und Boris unsanft in die Welt der Realpolitik gerissen, die nahtlos in die Beschreibung des von Gewissensbissen und nahendem Wahnsinn geplagten Zaren überleitet. Die letzten beiden Bilder der Urfassung lassen in ihrem Aufbau und ihrer musikalischen Gestaltung insgeheim an einen filmischen Showdown denken: Zunächst abermals eine Volksszene, die auf die öffentliche Anklage des Gottesnarren zusteuert, eines Vorboten des Untergangs von Boris Godunow, mit dessen eindrucksvollem Sterben die Oper schließlich endet. Dass Mussorgskij die Puškin’sche Dramen-Vorlage insofern veränderte, als er das russische Volk neben den Zaren in den Mittelpunkt der Handlung rückte, zeigt zusätzlich eine weitere Facette Mussorgskijs: jene des mitfühlenden Humanisten, der die Geknechteten, die Opfer der Geschichte, zur Hauptrolle erhebt. Was bewog nun Mussorgskij Puškins 25 Szenen umfassende Dramatische Erzählung Boris Godunow (aus denen Mussorgskij einige wenige für seine Vertonung aussuchte) als Vorlage für seine erste vollendete Oper zu wählen? Seine bis dahin entstandenen Gehversuche auf dem Musiktheatergelände, Salambo respektive Schenitba (Die Heirat), blieben letztlich Fragmente, die allerdings die ungewöhnliche musikalische Handschrift Mussorgskijs bereits erkennen lassen. Es war das Verdienst des Historikers Professor Wladimir A N DR EAS LÁ NG

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Nikolski, seinen Freund Mussorgskij auf Puškins mit zensurbedingtem Aufführungsverbot belegten Boris-Godunow-Drama aufmerksam zu machen. Und offenbar hatte Nikolski genau den Geschmack des Komponisten getroffen, da sich dieser sowohl vom inhaltlichen als auch vom dramaturgischen Konzept, nach dem die Geschichte in einem großen Bilderbogen anhand lose miteinander verknüpfter Szenen erzählt wird, sogleich begeistert zeigte und sich an die Arbeit machte. (Um ihm diese zu erleichtern, wurde Mussorgskij von Glinkas Schwester sogar eine Ausgabe von Puškins Boris Godunow geschenkt, in dem unbedruckte Papierbögen eingebunden waren, sodass er direkt am Libretto Anmerkungen machen konnte.) Anhand der chronologischen Bemerkungen Mussorgskijs, die er nach Beendigung jeder einzelnen Szene anführte, zeigt sich, wie rasch er in seinem Schaffensprozess vorwärtskam: Nach wenigen Monaten war der gesamte Klavierauszug samt Singstimme fertig und ein weiteres halbes Jahr später auch die Instrumentation und somit die komplette Partitur, sodass er die Oper beim Mariinskij-Theater in St. Petersburg zur Aufführung einreichen konnte. Die nachfolgende Rezeptionsgeschichte Boris Godunows, die Bearbeitungen durch andere Komponistenkollegen, der lange Weg, ehe sich die originale Tonsprache Mussorgskijs in dessen eigenen Versionen international durchzusetzen begann, zeigen, wie schwer es ein Komponist haben kann, der eine jedem Eklektizismus abgeneigte künstlerische Eigenständigkeit besitzt. Das vorbildlos Neue, das Mussorgskij mit seiner ersten vollständigen Oper schuf, eröffnete der Gattung selbst letztendlich neue Wege. Und schlussendlich errang sich der von fremden Zutaten befreite Boris Godunow doch noch jenen Platz in den Spielplänen, der ihm zusteht: einen Ehrenplatz.

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EIN EIGEN ER, N EU ER W EG


» Stets betont Mussorskij das Menschliche, Seelische als Urgrund seines Schaffens. Und wirklich ist es ihm in hohem Maße gegeben, den russischen Menschen mit suggestiver Gewalt in Töne zu bannen. Die Affektausbrüche des Boris, die epischen Gesänge Pimens, die spröde Linienführung der Uglitsch-Erzählung und das Trinklied Warlaams sind jedem Vergleich mit der herkömmlichen Opernform entzogen.


Dazwischen eingestreut, wie Blumen in der Steppe, volkstümlichere Kleinformen, vom strophischen Kinderliedchen der Amme bis zum orthodoxen Kirchenchoral; und alles in eine Tonsprache gekleidet, die rücksichtslos mit den Gesetzen der Harmonielehre und Metrik umspringt und sie durch verblüffende Akkordrückungen durchbricht. «

Ernst Krause


AUSZÜGE AUS CÉSAR CUIS BORIS GODUNOWREZENSION AUS DEM JAHR 1874

Bislang bin ich üblicherweise zunächst auf die allgemeinen Qualitäten eines Komponisten eingegangen, um dann erst zu den Details seiner Komposition überzugehen. Beim Boris halte ich jedoch den umgekehrten Weg für rationeller: Zuerst behandle ich also die einzelnen Szenen, um dann hieraus entsprechende Schlussfolgerungen zu ziehen. Eine Ouvertüre oder ein Vorspiel gibt es nicht ... Das erste Bild ist vorzüglich. Sein Hauptthema ist überaus gelungen, ganz und gar im Volkscharakter angelegt und bringt das gewaltsam mit der Knute des Aufsehers erzwungene Flehen des Volkes hervorragend zum Ausdruck. Diese unbarmherzige Brutalität wird noch deutlicher bei einer halben Ton höher einsetzenden WiederCÉ SA R CU I

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holung des Themas, hartnäckig begleitet von einer aufdringlichen Wendung in den Bässen. Die Rufe in der Menge sind ebenfalls musikalisch tadellos, lebendig, treffend, wahrhaftig und mit ihrer typischen, überaus stimmigen Deklamation ... sehr bezeichnend. Jede dieser Phrasen ist das Ergebnis einer unverfälschten und starken Inspiration. Der gesamte Fluss der Musik in diesem Bild ist ausgesprochen natürlich und stetig ... Der prächtige Chor der Pilger ist sehr wirkungsvoll, äußerst typisch und musikalisch abgerundet. Das zweite Bild ist das ... schwächste der Oper ... Das Arioso des Boris ... beginnt mit Wärme und endet in Erhabenheit. Die gewaltige Pimen-Szene in der Klosterzelle muss als Ganzes als misslungen bezeichnet werden. Sehr gut allerdings der Beginn: Der Klang der Bratschen im tieferen Register, auf dem sich eine überaus sympathische Melodie des Orchesters aufbaut – eine überaus glückliche Eingebung zur musikalischen Konturierung der Pimen-Gestalt, deren leidenschaftslose Gelassenheit und Glaubwürdigkeit hierdurch bestens vermittelt wird. Noch geglückter scheint mir das Ende der Szene. Es basiert auf eben derselben Bratschenmelodie, besitzt aber noch größere Kraft und Tiefe und ähnelt in seinem Charakter dem abschließenden Crescendo des ersten Allegros aus Beethovens IX. Symphonie ... Sehr koloritvoll ist auch der Mönchschor hinter der Bühne ... Das Bild in der Schenke gehört hingegen ... zum Besten der ganzen Oper. In der »Schenke« finden wir ein genaues Gespür für die Bühne, eine geschickte Deklamation, typische musikalische Bilder, viel an originellem Humor und einen reichen musikalischen Gehalt ... Mit wie viel Geschick ist in dieser Szene der Wortwechsel zwischen Grigorij und der Schenkenwirtin über den Weg nach Litauen ... verbunden ... Um diese Szene mit einem Wort zu charakterisieren, sei gesagt, dass die Musik von Herrn Mussorgskij die Wirkung des Puškin’schen Textes tatsächlich verstärkt. Darüber hinaus handelt es sich hier um eine echte Novität: Eine derart lang andauernde, realistische, vielgestaltige und prachtvolle komische Szene gibt es bisher in keiner einzigen Oper. Im zweiten Akt1 finden sich zahlreiche schöne Details. Die melodischen Wendungen in der Partie der Xenia sind ausgesprochen morbide und gefühlvoll; von der Art, in der sich der Bruder an sie wendet, strömt Herzlichkeit; das Glockenspiel ist eine ausgesprochene Kuriosität ... Auch das Arioso des Boris ist eine sympathische Eingebung von erhabener Schönheit ... Wunderbar, überaus herzlich und anziehend sind auch die Antwort des Boris an den Sohn und seine Liebkosungen ... Die erste Hälfte des vierten Aktes2 ist schwach ... die zweite Hälfte des Aktes ist wesentlich besser. Der Bericht des Pimen ist so schlicht und wahrhaft, so natürlich und gelassen, der Puškin’sche Text so unvergleichlich ... In den

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1

entspricht dem dritten Teil der Urfassung.

2

entspricht dem zweiten Bild des vierten Teiles der Urfassung.

Ü BER BOR IS GODU NOW


Ratschlägen, die der sterbende Boris seinem Sohn erteilt, finden sich ebenfalls schöne Stellen, während das Ende der Sterbeszene in bemerkenswert schöner Weise von Wärme und Poesie erfüllt ist. Die Kirchenglocken hinter der Bühne, der Gesang des schwarz gekleideten Chores mit den Kerzen, die abgerissenen Phrasen des Boris, während der Chor weiter singt, sein letzter Ausruf »Noch bin ich Zar!«, das Schweigen der Bojaren und das prachtvolle Orchesterkolorit – all das ist von so viel Realität durchdrungen und zeugt von so hoher Meisterschaft, dass diese Stelle in der Oper das Publikum wohl am stärksten beeindruckt ... Die Behandlung der Einzelheiten aus der Oper des Herrn Mussorgskij berechtigt – wie ich meine – zu folgenden Schlussfolgerungen. Herr Mussorgskij verfügt über ein starkes und originelles Talent, das mit vielen, für einen Opernkomponisten notwendigen Eigenschaften ausgestattet ist und der sich mit Engagement den heutigen Opernanforderungen stellt ... Boris Godunow enthält eine Fülle an frischer und guter Musik ... Der Wunsch des Komponisten, bei der Erschaffung seines Boris einen neuen Weg der Wahrhaftigkeit zu beschreiten, ist überaus ehrenwert, und das von ihm ... erzielte Ergebnis ... ist von derartiger Größe, dass der Name des Komponisten in der russischen Operngeschichte einen festen Platz einnehmen wird.

→ KS Ain Anger als Pimen

Ü BER BOR IS GODU NOW

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EINE RUSSISCHE VOLKSOPER Das Glück wollte es, dass in Puškin und Mussorgskij zwei Genies hohen Ranges aufeinander trafen. Das Ergebnis war die Oper Boris Godunow. Hatte Puškin mit der »Komödie vom Zaren Boris und Grischka Otrepjew« die russische Hochsprache und das russische Drama begründet, so schuf Mussorgskij die russische Volksoper. Hatte bei Puškin das Erlebnis Shakespeares grandios befruchtend gewirkt, so war es bei Mussorgskij die Erfassung des russischen Kirchengesangs und des Volksliedes. Puškin, von der Intelligenz Mozarts und Mussorgskij, melodisch und harmonisch hochbegabt, der geborene Musikdramatiker, dessen kühne Harmonik Debussy und Strawinskij wesentlich prägte, sind die Säulen großer Kunst geworden. Die Striche und Einführung neuer Figuren, die Mussorgskij vornahm, führten zu bezwingender Verdichtung der Handlung. Zar Boris und das Volk sind die Hauptfiguren. Alles andere dient dazu, das Schicksal dieser beiden Facetten reich zu beleuchten. Mussorgskijs Briefe lassen uns die Entstehung eines Meisterwerkes miterleben. Seien wir dankbar, es zu besitzen. Lassen wir uns nicht durch anmaßende Dirigenten und Regisseure die Größe dieses Werkes verschleiern und empfangen wir das Werk mit Freude. Gottfried von Einem, Rindlberg 1991

Ü BER BOR IS GODU NOW

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» Es ist offensichtlich, dass Mussorgskij trotz seines frühen Todes viel für die Kunst getan hat. Er zählte zu jener geringen Anzahl der begabtesten Künstler, denen es beschieden war, viel Neues, Eigenes in die Kunst hineinzutragen. «

César Cui


GESCHICHTLICHER HINTERGRUND

1552

Wahrscheinliches Geburtsjahr Boris Godunows.

1582 Geburt des Zarewitsch Dimitri als Sohn Marfa Nagajas, der siebenten Frau Iwan IV. (»des Schrecklichen«), der darauf seinen erstgeborenen Sohn Iwan tötet.

1584 Tod Iwan IV. Sein 26-jähriger schwachsinniger Sohn Fjodor (der »Engelzar«) übernahm die Regierung beziehungsweise repräsentierte diese. Wahrer Herrscher war damals bereits Boris Godunow, der, um seinen Einfluss zu vermehren, seine Schwester Irina mit Fjodor verheiratet hatte. Schon nach dem Tod des alten Zaren hatte die einflussreiche Bojarengruppe der Nagojs versucht, die Thronfolge des Fjodor zu hintertreiben. An dessen Stelle wollten sie jenen Dimitri krönen, der aus der Ehe Iwans mit Marfa Nagaja stammte. (An sich wäre das aber gar nicht möglich gewesen, da der Zar eine siebente Ehe nach den Regeln der Kirche nicht eingehen hätte dürfen, Dimitri als »illegitim« geboren war.) Der Versuch wurde jedenfalls GE SCHICH T LICHER HIN T ERGRU N D

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niedergeschlagen, Marfa mit dem kleinen Dimitri nach Uglitsch in eine »goldene Verbannung« geschickt. Todfeindschaft Nagoj – Boris Godunow.

1588 Boris Godunow wird Reichsverweser. Er war zwar Tatarenabkömmling, aber bereits Wassili III., der Vorgänger Iwans IV., war mit einer Godunow verheiratet gewesen. Boris selbst hatte in der Terrortruppe Iwans IV., der Opritschnina, gedient. Seine außergewöhnlichen herrscherlichen Fähigkeiten machten ihn zum einflussreichsten Mann Russlands nach Iwans IV. Tod, wobei es ihm gelang, die unermessliche Verwüstung und unvorstellbare Verarmung, die Iwans Kriege und Willkürherrschaft hinterlassen hatten, zu überwinden.

1591 Tod des Zarewitsch Dimitri in Uglitsch. Über diesen Tod gibt es verschiedene Versionen. Die meistverbreitete – die auch Auslöser für die Gewissenskonflikte Boris’ in Mussorgskijs Oper ist – besagt, Boris Godunow habe das Kind ermorden lassen. Bojar Schuiskij – ein zwielichtiger Intrigant, den Boris merkwürdigerweise dennoch zu seinem Vertrauten gemacht hatte – proklamierte schon vier Tage nach dem angenommenen Mord das Ergebnis seiner Untersuchungskommission: Unfall mit tödlichem Ausgang. Boris ließ – um sich, wie angenommen wurde, die Zeugen der Tat von Hals zu schaffen – Marfa Nagaja in ein Kloster sperren, 200 Bürger der Stadt hinrichten und die übrige Bevölkerung nach Sibirien verbannen. Diese Maßnahmen waren nicht geeignet, das Vertrauen zu Boris zu festigen. Die neuere Geschichtsschreibung glaubt jedoch an einen Unfall und nicht an die Ermordung des Kindes und bringt dazu neues Beweismaterial. So hat Boris wahrscheinlich gewusst, dass der junge Dimitri hoffnungslos epileptisch war und voraussichtlich später nicht hätte regieren können.

1598 Tod Fjodors – damit starb die legitime Dynastie der Rjurikiden aus. Boris Godunow hatte inzwischen seine Macht längst so gefestigt, dass er sich einen ausgesprochenen Coup leisten konnte: Er inszenierte, dass ihn Adel, Kirche und Volk gewissermaßen auf den Knien bitten mussten, sich zum Zaren wählen und krönen zu lassen. Mit »Tränen und viel Geschrei« verlangte ihn das Volk zum Zaren. (Hier setzt die Oper ein.) Die ersten Gerüchte tauchen auf: Nicht der Zarewitsch Dimitri sei ermordet worden, sondern ein von den Nagojs stets vorgeschobenes anderes Kind. Dimitri sei also noch am Leben.

1601 Die bis dahin schrecklichste Hungersnot in Moskau macht dem Volk zwei Jahre lang zu schaffen. 49

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1603 Aus dem Moskauer Tschudow-Kloster entflieht der Novize Grigorij Otrepjew über die litauische Grenze nach Polen, wo er sich als Zarewitsch Dimitri ausgibt und zum Werkzeug des expansiv eingestellten polnischen Königs Sigismund III. wurde.

1604 Grigorij Otrepjew, der in die Geschichte als »falscher Dimitri« eingegangen ist, lernt in Sambor (Polen) Marina, die Tochter des Wojwoden Mnischek, kennen. Im gleichen Jahr wird er von König Sigismund III. empfangen, sammelt eine Armee, dringt in moskowitisches Gebiet vor und siegt bei Nowgorod Sewerski.

1605 Niederlage Grigorij Otrepjews bei Dobrynitschi: Das waghalsige Unternehmen scheint gescheitert. Da stirbt völlig überraschend Zar Boris Godunow. Sein Sohn Fjodor wird Zar. Der russische Heerführer geht zu Grigorij Otrepjew über. Schuiskij erklärt – um sich zu retten –, der Zarewitsch sei damals wirklich gerettet worden, Grigorij Otrepjew also der »wirkliche« Dimitri. Mutter und Sohn des Boris werden brutal ermordet, die Tochter Xenia wird von Grigorij Otrepjew geschändet und danach in ein Kloster gesteckt. Grigorij Otrepjew wird im von polnischen Truppen besetzten Moskau zum Zaren gekrönt.

1606 Marina Mischek wird mit Zar »Dimitri« vermählt und gekrönt. Noch während der Vermählungsfeierlichkeiten wird Grigorij Otrepjew alias Dimitri im Zuge einer von Schuiskij angezettelten Revolte ermordet. Schuiskij lässte sich zum Zaren ausrufen (Wassili IV.). Die Asche von Grigorij Otrepjew wird aus einer Kanone in Richtung Polen geschossen, in jene Richtung, aus der er gekommen war.

1610 Schuiskij wird von den Polen eingekerkert. Er stirbt in polnischer Gefangenschaft.

1613 Michail Romanow wird zum Zar gekrönt. Die Familie wird bis 1917 in Russland herrschen.

→ KS René Pape als Boris und Norbert Ernst als Schuiskij

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ZARENLISTE Iwan III., der Große

1462–1505

Gebrauchte als erster Großfürst den Titel Zar von Russland.

Iwan IV., der Schreckliche

1533–1584

Der erste gekrönte russische Zar.

Fjodor I.

1584–1598

Sohn Iwans IV. Letzter Zar aus der Dynastie der Rjurikiden. Anstelle des geistig zurückgebliebenen Fjodor regierte ein Regentschaftsrat, dem auch Boris Godunow angehörte.

Boris Godunow

1598–1605 Titelfigur der gleichnamigen Oper von Modest Mussorgskij. Er war der erste Herrscher nach dem Ende der Dynastie der Rjurikiden.

Fjodor II.

1605

Dimitri II., der Falsche

1605–1606 Wichtiger Charakter in Modest Mussorgskijs Oper Boris Godunow. Er behauptete, der jüngste Sohn Iwans des Schrecklichen zu sein, verlor bald die Unterstützung des Adels und wurde Opfer einer von Schuiskij angezettelten Revolte.

Wassili IV.

1606–1610 Wichtiger Charakter in Modest Mussorgskijs Oper Boris Godunow. Wassili Schuiskij wurde nach dem Tod des »falschen Dimitri« zum Zaren gewählt. 1610 kam er in polnische Gefangenschaft, in der er 1612 starb.

Sohn Boris Godunows. Er folgte seinem Vater kurzfristig auf den Thron, wurde aber bald von Anhängern des »falschen Dimitri« ermordet. Charakter in Modest Mussorgskijs Oper Boris Godunow.

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Michael I.

1613–1645

Erster Zar aus dem Haus Romanow.

Alexei I., der Sanftmütigste

1645–1676

Sohn Michaels I.

Fjodor III.

1676–1682

Sohn Alexeis I.

Iwan V.

1682–1696 Sohn Alexeis I. Er wurde zusammen mit Peter zum Zaren gekrönt.

Peter I., der Große

1682–1725

Sohn Alexeis I. 1721 nahm Zar Peter den Kaisertitel an. Ab jetzt war Russland Kaiserreich.

Katharina I.

1725–1727

Frau Peters I., erste Kaiserin Russlands.

Peter II.

1727–1730

Enkel Peters I., letzter direkter männlicher Romanow auf dem Thron.

Anna

1730–1740

Tochter Iwans V.

Iwan VI.

1740–1741

Urenkel Iwans V. Als Säugling bestieg er unter der Regentschaft Anna Leopoldownas den Thron Russlands. Elisabeth Petrowna stürzte den jungen Zaren bereits im Jahr darauf. Iwan wurde inhaftiert und 1764 ermordet.

Elisabeth

1741–1762

Tochter Peters I. und Katharinas I. Letzte der ursprünglichen Romanows auf dem Thron.

Peter III.

1762

Enkel Peters I. und Katharinas I. Begründer der Linie Romanow-Holstein-Gottorp. Fiel einem Mordanschlag zum Opfer.

Katharina II., die Große

1762–1796

Frau Peters III. Entmachtete ihren Mann und ließ sich zur Kaiserin ausrufen.

Paul I.

1796–1801

Sohn Peters III. und Katharinas II. (ermordet)

Alexander I.

1801–1825

Sohn Pauls I. Er hatte beim Wiener Kongress Anteil bei der Neuordnung Europas.

Nikolaus I.

1825–1855

Sohn Pauls I.

Alexander II., der Befreier

1855–1881

Sohn Nikolaus’ I.

Alexander III., 1881–1894 der Friedensstifter

Sohn Alexanders II.

Nikolaus II.

Sohn Alexanders III. Letzter gekrönter Kaiser Russlands. 1918 von den Bolschewiki ermordet. Seit 2000 wird er von der russisch-orthodoxen Kirche als Heiliger verehrt.

1894–1917

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Michail Ryklin

ZAR BORIS UND DIE MACHT DER FIKTION

Es irrt, wer meint, dass Karamsins Geschichte des russischen Reiches, Puškins Drama Boris Godunow oder Mussorgskijs gleichnamige Oper mit tatsächlichen Ereignissen der russischen Geschichte an der Schwelle vom 16. zum 17. Jahrhundert zu tun hätten. In diesen Werken geht es um Macht, und zwar eher um Macht in Reinform als in ihren jeweiligen historischen Ausprägungen. Vor den Augen des Zuschauers bzw. des Lesers spielt sich das Gewissensdrama eines Herrschers ab. Der Historiker Nikolai Karamsin, der Dichter Aleksandr Puškin und der Librettist Modest Mussorgskij sehen das Gewissen als etwas Erstrebenswertes und Positives, doch Zar Boris wird von Gewissensbissen buchstäblich zerfressen. Die Lehre, die man aus der Geschichte vom Zaren Boris ziehen kann, stimmt überaus pessimistisch: Absolute Macht und Gewissen sind nicht miteinander vereinbar. MICH A IL RY K LIN

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Erst nach seinem Tod und nach dem Untergang der von ihm begründeten Dynastie konnte Boris als ein Zar mit Gewissen dargestellt werden. Es gibt keine historisch stichhaltigen Beweise dafür, dass Boris Godunow den Zarewitsch Dimitri ermorden ließ. Die Vorstellung, der »böse Knecht« Boris habe ein »Verbrechen« verübt, dem der legitime Thronfolger, der letzte Spross aus dem Geschlecht der Rjurikiden, zum Opfer gefallen sei, basiert lediglich auf Gerüchten und ist durch keinerlei wissenschaftliche Belege untermauert worden. Aus historischen Quellen ist vielmehr überliefert, dass der Zarewitsch an »Fallsucht«, an der »schwarzen Krankheit« litt, d.h. an einer schweren Form der Epilepsie. Während eines Anfalls verletzte er seine Mutter mit einem Nagel, ein anderes Mal biss er die Tochter seines Onkels (ein Zeitzeuge schreibt, Dimitri habe ihr »die Hände zerfressen«). Die Version, dass er in ein Messer gefallen sei und damit seiner Krankheit und nicht den Intrigen von Boris Godunow zum Opfer gefallen wäre, erscheint daher durchaus plausibel. Die Ereignisse, die auf den Tod Dimitris am 15. Mai 1591 in Uglitsch folgten – die Lynchjustiz der aufgebrachten Menge an den mutmaßlichen Mördern des Zarewitsch, die Plünderung ihres Besitzes – nennt der bekannte Historiker Sergej Platonow ein »Pogrom«, das »Gericht und Strafe« gerechtfertigt hätte. Die Zeitgenossen hatten jedoch keine Gewissheit über die Schuld oder Unschuld von Boris Godunow. Auch die Ansicht, der Bojare Godunow, der unter dem schwachsinnigen Zaren Fjodor Russland faktisch regiert hatte, habe mit Dimitri das letzte Hindernis auf seinem Weg zum Thron beseitigt, ist falsch. Ein Jahr nach dem Tod Dimitris brachte seine Schwester eine Tochter namens Feodosia zur Welt (die als kleines Kind starb, aber wer hätte das damals voraussehen sollen?), und sie hätte gut noch weitere Kinder haben können. Hinzu kommt, dass Dimitri nicht als legitimer Thronfolger gelten konnte, da er aus der siebenten Ehe von Iwan dem Schrecklichen stammte, während die russisch-orthodoxe Kirche nur drei Ehen anerkannte. »Boris starb nicht, weil er vom Kampf gegen sein Gewissen erschöpft war, denn auf diesem lasteten (nach damaligen Maßstäben) keine nennenswerten Sünden und Verbrechen, sondern weil ihn der Kampf mit den extrem schwierigen Bedingungen seiner Tätigkeit als Staatsmann aufgezehrt hatte«, hält der Historiker Sergej Platonow den Darstellungen von Karamsin, Puškin und Mussorgskij entgegen. Die Vorwürfe gegen Boris Godunow wurden nie bewiesen, »sie wurden lediglich durch Staat und Kirche offiziell sanktioniert und sorgten dafür, dass den Nachfahren ein beflecktes Bild Godunows überliefert wurde. Seine moralische Rehabilitation ist meines Erachtens eine der vornehmsten Pflichten der Geschichtswissenschaft.« Zur herrschenden Meinung wurde die Darstellung von Godunow als »bösem Knecht« unter dem Zaren Schuiskij ( jenem Schuiskij, der 1591 der Kommission vorsaß, die den Tod von Dimitri zum Selbstmord erklärte, und 1605 den »auferstandenen« Zarewitsch im Kreml begrüßte), nachdem Di 55

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mitri heilig gesprochen wurde. Die Gebeine des neuen Wundertäters und Märtyrers wurden aus Uglitsch nach Moskau überführt und neben seinen gekrönten Vorfahren in der Erzengel-Michael-Kathedrale beerdigt. Auf dem Sarg des Zarewitsch wurde eine beispiellose Inschrift angebracht: »Ermordet auf Befehl von Boris Godunow.« Weder vor noch nach Boris Godunow ist je einem russischen Herrscher eine vergleichbare Schmach widerfahren. Sich vorzustellen, dass Inschriften wie etwa »Ermordet durch seinen eigenen Vater« auf dem Sarg des ältesten Sohnes von Iwan dem Schrecklichen oder »Ermordet auf Anstiftung seiner Gattin« am Grab von Peter III. prangen würden, ist undenkbar, obwohl die Frage nach dem Auftraggeber dieser Morde – im Unterschied zu Godunows Täterschaft – unter Historikern unstrittig ist. Die Heiligsprechung Dimitris war anfänglich Teil der politischen Intrige des Zaren Wassili Schuiskij. Doch nach der Heiligsprechung wurden – wie üblich – verschiedene Fassungen seiner Heiligenvita in Umlauf gebracht, in denen Boris die Rolle des Bösewichts spielte, der den Zorn Gottes auf sich gezogen habe und für seine Gräueltat bestraft worden sei, indem er von der Hand eines anderen Bösewichts, des ersten falschen Demetrius, getötet worden sei. Diese Geschichte zu glauben wurde dem orthodoxen Glauben gleichgesetzt; auch dem Hofhistoriograf Nikolai Karamsin stand es nicht an, an dieser Version zu rütteln. Den Weg zur Distanzierung und zur Unabhängigkeit von der kirchlichen und der weltlichen Macht hatte die russische Geschichtsschreibung damals noch vor sich. Das Besondere an Mussorgskijs Oper besteht nun darin, dass die Tat von Boris Godunow hier groteske Züge annimmt. Das entfesselte schlechte Gewissen feiert auf der Bühne fröhliche Urständ: Zar Boris wird darin zum Masochisten, den schon der bloße Name des heiligen Kindes Tag und Nacht verfolgt. Die zahlreichen Liedmotive und die massive Verwendung von volkstümlichen Melodien bilden eine gelungene musikalische Entsprechung zum Motiv von Godunows Schuld. »Unter welchem Namen gedenkt er gegen uns vorzugehen?« – fragt der Zar den Bojaren Schuiskij. In Angst und Schrecken versetzt Godunow die Nachricht, dass der Usurpator den Namen Dimitris benutzt, um in Polen Aufruhr zu stiften. Das Volk, der Chronist, der Gottesnarr, Schuiskij und der Greis, der berichtet, wie er dank der wundertätigen Kraft Dimitris sein Augenlicht wieder erlangte – sie alle klagen Boris an. Der Kampf gegen Dimi­tris Namen ist zum Scheitern verurteilt, weil er im Kräftefeld der hagiografischen Darstellung eines Heiligen geführt wird; dieser Kampf findet in der Zukunft statt, die die Gegenwart überlagert. Die Anführer der russischen Bauernaufstände des 17. und 18. Jahrhunderts gaben sich ebenfalls als Sprösslinge des Zarengeschlechts aus, die den ihnen legitim zustehenden Thron zurückerobern wollten, doch zu diesem Zeitpunkt hatten die Zaren bereits gelernt, im Volk kursierende Gerüchte im Keim zu ersticken, bevor sie bedrohlich wurden. In der sogenannten »Zeit der WirMICH A IL RY K LIN

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ren« aber, die mit der Inthronisierung der Romanows zum Abschluss kam, bewirkte der Name Dimitris schließlich den Sturz der Godunow-Dynastie. Die Heiligsprechung des Zarewitschs war ein Versuch, etwaigen künftigen Thronprätendenten Einhalt zu gebieten, und hatte rückwirkend fatale Folgen für die Wahrnehmung von Zar Boris, welcher zum einzigen »Heiligenmörder« auf dem russischen Thron geriet. In der Stalinzeit erhielt Mussorgskijs Oper den Ehrentitel einer Volksoper, obwohl in keinem anderen Werk der russischen Musikkunst die Diener der Macht so rüde mit dem Volk umspringen wie hier. Die Oper beginnt mit den Worten »Was soll das? Steht herum wie stumme Götzen!« und im Verlauf der Handlung hört man Ausrufe wie »Nieder, auf die Knie!«, »Was für eine Teufelsbrut!« und dergleichen mehr. Repräsentanten der Macht sprechen in Boris Godunow zum Volk ausschließlich im Imperativ. Möglicherweise ist gerade das der Grund, weshalb die Sowjetmacht diese Oper als Volksoper wahrnahm. Aber auch das subversive Potenzial dieser Oper war damals offensichtlich. Theaterkenner jener Zeit erinnern sich, dass, wenn etwa der berühmte Tenor Iwan Koslowski die Partie des Gottesnarren sang, in der es heißt »Man darf nicht beten für den Zar Herodes! Die Gottesmutter will es nicht«, selbst die vom Regime eingeschüchterten Sowjetmenschen sich der Assoziation mit aktuellen Ereignissen nicht erwehren konnten. Kein Zufall also, dass Sergej Prokofjew und Wsewolod Meierhold 1936 die Gelegenheit des Jubiläums zu Puškins 100. Todestag ergriffen und eine Neufassung der Oper in Angriff nahmen, die besser auf die sowjetischen Gegebenheiten abgestimmt sein sollte. Kein Zufall auch, dass aus diesem Projekt nichts wurde: Die Staatsmacht witterte darin ketzerische Ideen und ließ das bereits vollendete Werk in der Schublade verschwinden. Erst 2007 wurde diese Oper an der Universität Princeton uraufgeführt. Auch prominente Kinoregisseure zeigten Interesse an der Oper von Mussorgs­kij. Boris Godunow wurde seinerzeit von Arseni Tarkowskij inszeniert, und Alexander Sokurow hat sie für die Bühne des Bolschoi-Theaters neu interpretiert. Die Oper handelt nicht von der tatsächlichen Geschichte der Herrschaft von Zar Boris, sondern liefert ihre Sicht darauf aus der Zukunft, in der sie zum Mythos wird. Boris Godunow packt ein heikles, ja, gefährliches Thema an: Sie deckt eine von der historischen Zeit unabhängige Konstante absoluter Macht auf. Absolute Macht braucht stets ein unaussprechliches Geheimnis; sie ist auf das »blutbefleckte Kind« angewiesen, wie es auch Godunow erscheint. Den mythischen, transhistorischen Charakter des Bühnengeschehens garantiert ihre unendliche Reproduzierbarkeit. Es geht nicht um den Zaren Boris (darin haben die Historiker Recht), sondern um einen beliebigen absolutistischen Herrscher – am Beispiel des Godunow-Mythos. Boris Godunow, der durch den Namen des Zarewitschs zum Sturz gebrachte glücklose Begründer einer 57

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neuen Dynastie, erdreistet sich darin, offen und ohne Umschweife über die Logik dieser Macht zu sprechen. Die Zeit der Wirren endete mit der Thronbesteigung der Romanow-Dynastie, die Russland dann über 300 Jahre lang regierte. Anfang des 20. Jahrhunderts brach in Russland eine neue Zeit der Wirren an, die in die Oktoberrevolution, die in die Ermordung der Zarenfamilie und die Errichtung eines atheistischen Regimes mündete. Das gesellschaftliche Klima der Zeit erlaubte es den Mördern der letzten Romanows, mit ihren Taten zu prahlen, Zeitungsinterviews zu geben und im Radio aufzutreten. Die alte Zarenmacht war nicht nur politisch besiegt, sondern erschien auch ideologisch diskreditiert, ihre Vertreter als Volksfeinde verurteilt. Dieselben Akteure, die in Sowjetrussland einen Terror nie dagewesenen Ausmaßes entfesselten, brachten Legenden über die Bestialität des Zarismus in Umlauf. Einen russischen Herrscher mit einem Gewissen auszustatten, wie Puškin es tat, wird noch heute als utopische und zugleich sadistische Geste empfunden. Sie ist irreal, denn wäre sie real, würde sie jegliche autoritäre Machtausübung lahmlegen. Allein jenseits der Geschichte, auf der Ebene des Mythos kann das Gewissen glaubwürdig seine Wirkung entfalten. Jede real existierende historische Macht hat ein Geheimnis, das sorgsam gehütet werden muss. Wie erfolgreich dieses Geheimnis bewahrt wurde, war stets ein Indiz für die Stabilität der Macht. Lenins Geheimnis, das nicht an die Öffentlichkeit gelangen durfte, waren deutsche Finanzspritzen für die Oktoberrevolution. Stalins großes Geheimnis war seine Kollaboration mit dem zaristischen Geheimdienst. Das Geheimnis Chruschtschows, der beim XX. Parteitag der KPdSU den Personenkult um Stalin anprangerte, war seine eigene Beteiligung am Großen Terror. Wären diese Geheimnisse seinerzeit gelüftet worden, hätte dies ernsthafte politische Konsequenzen nach sich gezogen (einen Regimewechsel nicht ausgeschlossen); deshalb wurden sie von den jeweiligen Machthabern mit allen Mitteln gehütet. In der Sowjetunion wurde das Gewissen als ein schädliches Vorurteil, für das es keinen Platz im Projekt der Erziehung eines neuen Menschen gab, ausgemerzt. Der homo sovieticus hatte wachsam zu sein, musste den Feind ausmachen können und ihn bei den »zuständigen Organen« anzeigen. Nach siebzig Jahren wurde die Sowjetmacht in den 1990er Jahren selbst diskreditiert; eine weitere Zeit der Wirren schloss sich an. Politiker stellten plötzlich ihre orthodoxe Gläubigkeit zur Schau, indem sie sich zu Ostern und zu Weihnachten in der Kirche zeigten, doch in ihren Reden und ihren Taten konnte man deutlich die Muttermale der Sowjetzeit erkennen. Wie seinerzeit Zarewitsch Dimitri wurde die Familie des letzten russischen Zaren im Jahr 2000 heilig gesprochen (als Märtyrer wie einst Dimitri). Über ihre Mörder, die zu Heiligenmördern erklärt wurden, wurde, wie über Boris Godunow, der Kirchenbann verhängt. Man könnte meinen, dass es nun auch an der Zeit wäre, Lenin – wie zuvor Godunow – einen »bösen Knecht« MICH A IL RY K LIN

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zu nennen und wenn nicht gleich eine Oper über seine Gräueltat (die von ihm genehmigte Erschießung der Zarenfamilie) zu schreiben, so doch wenigstens seinen einbalsamierten Leichnam aus dem Mausoleum zu entfernen. Millionen von Verehrern kommunistischer Heiligtümer aber hindern die heutigen Machthaber daran, das zu tun. Was dabei jedoch vielleicht noch schwerer wiegt, ist die weiterhin zu enge Verbundenheit dieser Staatsmacht mit der kommunistischen Epoche. Das Leitmotiv von Mussorgskijs Oper ist die Tragödie eines Menschen, der den Gipfel der Macht erklommen hat. Der Preis, den er dafür zahlen musste, ist allerdings unverhältnismäßig hoch. Der Unterschied zur Wirklichkeit besteht darin, dass den Machthabern im wirklichen Leben häufig kein Preis für die Macht als zu hoch erscheint. Machteroberung und Machterhalt sind für sie absolute Werte in einer Welt, wo alles andere relativ ist. Und solange sich daran nichts ändert, werden Musik, Literatur und bildende Kunst ein Protestpotenzial in sich bergen. Solange die Macht Geheimnisse hat, die nicht gelüftet werden dürfen, wird ein erheblicher Bedarf an Fiktion bestehen – am Mythos von einer Macht, die ein Gewissen hat. Während ich diese Zeilen schreibe, hat sich Russland soeben von seinem ersten Präsidenten Boris Jelzin verabschiedet. Zu Lebzeiten wurde er »Zar Boris« genannt. Für die wichtigsten Errungenschaften seiner Amtszeit hielt er die Demokratisierung Russlands, die Einführung des Privateigentums, des Wettbewerbs auf dem Markt und erster Ansätze von Gewaltenteilung. Besonders stolz war Jelzin darauf, dass die Presse während seiner Präsidentschaft frei war: Kein einziges Mal hat er zu Repressalien gegen Journalisten gegriffen, nicht einmal, wenn sie ihn persönlich scharf – und zuweilen auch ungerechterweise – angriffen. In der zweiten Amtszeit von »Zar Boris« wurde die Demokratie in Russland auf eine harte Probe gestellt, aber sie überlebte. Die Lage änderte sich, als die Staatsanwaltschaft eine Untersuchung gegen Mitglieder der Familie Jelzin mit dem Vorwurf widerrechtlicher Bereicherung einleitete. Jelzin stand vor der Frage, was nach dem Ende seiner Präsidentschaft geschehen würde: Würde seine Familie das Schicksal der Familie des unglücklichen Zaren Boris teilen (zwar auf eine zeitgemäße Art, aber mit äußerst unangenehmen Folgen)? Dass Jelzin schwer krank war, kam erschwerend hinzu. Nachdem gegen Jelzins Familie Vorwürfe erhoben wurden, waren seine sämtlichen Schritte vom Versuch bestimmt, seine Familie (als modernes Äquivalent der Dynastie) zu schützen, nicht durch die Bemühung um den Erhalt des demokratischen Erbes, wenngleich es bereits einiges von seinem Glanz eingebüßt hatte. Am Ende entschied sich der erste russische Präsident 1999 für Wladimir Putin als seinen Nachfolger, einen Geheimdienstler, der in der großen Politik praktisch unbekannt war. Es begann der zweite Tschetschenien-Krieg, und »Zar Boris« setzte alles daran, die Präsidentenwahlen zu einer bloßen Formalität herunterzuspielen: So hatte sein Nachfolger im 59

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Jahr 2000 keine ernstzunehmenden Konkurrenten. Zwar war vom Rentner Boris Jelzin, der nicht bereit war, sich zu der alten sowjetischen Hymne zu erheben, die unter Putin erneut zur Hymne der Russischen Föderation wurde, hin und wieder ein missbilligendes Murren in Richtung seines Nachfolgers zu vernehmen, doch stand eines fest: Als die Interessen des Familienclans in die eine Waagschale geworfen wurden und die Entwicklung der jungen russischen Demokratie in die andere, überwog erstere mühelos die letztere. Seinen Nachfolger hat Jelzin gut gewählt: Die Versprechen an seine Familie wurden gehalten. Auch wenn mittlerweile nur wenig davon übrig geblieben ist, worauf der erste russische Präsident so stolz war und was seine Verdienste gegenüber seinem Volk und der Geschichte ausmachte, starb er als der neue Zar Boris, umgeben von seiner ihn liebenden Familie, und wurde im Rahmen einer russisch-orthodoxen Totenmesse zu Grabe getragen.

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» Niemand hat so zart und tief das Beste in uns angerührt. Mussorgskijs absichtslose, von verknöcherten Formen freie Kunst ist einzigartig und wird es bleiben. Nie hat eine so verfeinerte Sensibilität sich so einfach auszudrücken vermocht. Die Frage nach irgendeiner Form stellt sich nicht mehr, oder diese Form ist so vielschichtig, dass sie sich unmöglich mit den bestehenden, gesetzlich verordneten Formen in Einklang bringen lässt. Das Ganze setzt sich zusammen aus kleinen aufeinanderfolgenden Wendungen, die durch ein geheimnisvolles Band und die Gabe lichtvoller Hellsicht miteinander verbunden sind. « Claude Debussy


Reinhold Thur

DER MORD IN UGLITSCH Am 15. Mai 1591 wurde Zarewitsch Dimitri Iwanowitsch, welcher mit seiner Mutter, der Zarenwitwe Marfa Nagaja, im Exil in Uglitsch lebte, von einem Messerstich tödlich verwundet, im Hof des Palastes aufgefunden. Es wird in den Chroniken berichtet, dass – immer auf Initiative Godunows – der Zarewitsch bereits früher einen Giftanschlag überlebt hatte. Die Kinderfrau des Zarewitschs, die Bojarin Wassilissa Wolchowa und ihr Sohn Josef wollten Dimitri bereits Anfang 1591 vergiften, aber der Anschlag misslang, die Täter blieben unentdeckt. Später erhielten der Djak (etwa: Buchhalter) Michailo Bitjagowskij, sein Sohn Danilo und sein Neffe Nikita Katschalow von Boris Godunow den Auftrag, nach Uglitsch zu reisen und die Ländereien und Wirtschaftsangelegenheiten zu verwalten. Als an jenem Samstag im Mai 1591 gegen 12 Uhr Mittag die Familie bereits bei Tisch saß, rief die Kinderfrau, die Bojarin Wolchowa, Dimitri zum Spaziergang in den Hof. Die Zarin wollte mitgehen, blieb aber in Zerstreuung stehen. Die Amme Irina wollte Dimitri zurückhalten, doch die Kinderfrau zog ihn in den Hausflur zur unteren Treppe in den Hof. Dort erschienen Josef Wolchow, Danilo Bitjagowskij und Nikita Katschalow. Der erste sagte: »Du hast ja eine neue Halskette umgehängt!« Dimitri hob unschuldig den Kopf, Wolchow zog das die Kehle des Knaben bedeckende Schmuckstück weg. Jedoch das Messer entfiel seiner Hand, und er floh. Inzwischen war durch das ängstliche Schreien Dimitris die Amme Irina herbeigeeilt und umfasste das Kind. Danilo Bitjagowskij und Katschalow schnitten mit dem Dolch dem Zarewitsch die Kehle durch und ergriffen die Flucht. Der neunjährige Knabe lag in den Armen der Amme, »er zuckte wie eine Taube, indem er sein Leben aushauchte und verschied, ohne mehr das Jammern der verzweifelten Mutter R EIN HOLD T H U R

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zu hören«. Die Amme berichtete der untröstlichen Zarin, welche inzwischen erschienen war, dass die Kinderfrau sowie deren Sohn Josef, Katschalow und Danilo Bitjagowskij am Mord beteiligt gewesen waren und die beiden letzteren die Bluttat ausgeführt haben. Inzwischen waren die drei Mörder über den Hof zum Tor geflüchtet. Der Glöckner der Verklärungskirche läutete Sturm. Menschen stürzten herbei, in der Meinung, das Schloss brenne, und fanden den ermordeten Zarewitsch, seine Mutter und die Amme. Diese zeigte auf die über die Tat bestürzt dastehende, gottlose Kinderfrau. Das Volk packte sie und zerrte sie vom Platze. Da die drei Mörder das Volk durch das Tor kommen sahen, rannten sie in die Gerichtsstube, um sich dort zu verstecken. Unterdessen lief der Drahtzieher der Bluttat, der Buchhalter Michailo Bitjagowskij, zum Turm der Kirche, um den Glöckner zum Aufhören des Läutens zu bewegen, jedoch dieser hatte die Türe von innen versperrt, und Bitjagowskij konnte sie nicht aufbrechen. So erschien er, um nicht verdächtigt zu werden, furchtlos am Ort des Verbrechens und mischte sich unter das Volk. Als er sich jedoch der Leiche des Ermordeten näherte und behauptete, der Zarewitsch habe sich in einem Anfall von Epilepsie selbst erstochen, erkannte ihn das Volk als Vater des Danilo Bitjagowskij, welchen die Zarin des Mordes bezichtigt hatte, und tötete ihn. Die aufgebrachte Menge fand auch Danilo Bitjagowskij und Katschalow in der Gerichtsstube und schlug sie tot. Josef Wolchow aber, der in die Kirche geflüchtet war, brachte man vor den Augen der Zarin um. Die Mörder hatten im Sterben ihr Gewissen durch ein Bekenntnis erleichtert und den Hauptschuldigen am Tod Dimitris genannt: Boris Godunow. Wie die Chroniken berichten, sei unmittelbar nach dem Vorfall ein Eilbote nach Moskau geschickt worden, um den Zaren Fjodor vom Tod seines Stiefbruders in Kenntnis zu setzen. Boris Godunow soll diesen Boten abgefangen und dessen Botschaft unterschlagen haben. Fjodor sei indessen in den Besitz eines gefälschten Schriftstücks gelangt, dem zufolge Dimitri einem Unglücksfall zum Opfer gefallen war. Boris sandte hingegen sofort eine Untersuchungskommission unter der Leitung des Fürsten Wassili Schuis­kij nach Uglitsch, welche am Abend des 19. Mai 1591 am Ort des Geschehens eintraf. Die Kommission, der auch der Oberaufseher Andrej Kleschnin angehörte, begab sich sofort in die Kirche zur Verklärung Christi, wo der Leichnam des ermordeten Zarewitschs aufgebahrt lag. Schuiskij trat zum Sarg des Toten, um das Gesicht und die Wunde zu sehen. »Allein Kleschnin fing beim Anblick dieses friedlichen Engelsangesichtes, des Blutes und des noch vorhandenen Dolches an zu zittern, erstarrte und blieb unbeweglich mit weinenden Augen stehen; er konnte auch nicht ein einziges Wort hervorbringen, sein Gewissen war noch nicht gestorben! Er hatte mit Michailo Bitjagowskij die Lüge vom Tod durch epileptischen Anfall beim Messerstechen erfunden. Die tiefe Wunde, die mit starker Männerhand eines Bösewichts und nicht mit der eigenen Kinder­hand die Kehle durchschnitt, bewies den nicht zu bezweifelnden Mord, deswegen 63

DER MOR D IN UGLITSCH


eilte man, die heilige Überreste der Unschuld der Erde zu überliefern.« Die Kommission kam am 2. Juni 1591 wieder in Moskau an. Soweit die Chroniken über diesen Vorfall. Historisch nicht einwandfrei belegbar ist, auf welche Art nun der Zarewitsch am 15. Mai 1591 ums Leben kam. Die zeitgenössischen Berichte nennen drei Versionen: 1. Dimitri, der ein Epileptiker war, fiel während eines Anfalls in sein Messer und erstach sich. 2. Dimitri wurde im Auftrag Godunows ermordet. 3. Der Knabe, der in Uglitsch starb, war nicht Dimitri. Die erste Version wird als »Unfallversion« bezeichnet, die zweite als »Mordversion«, die dritte als »Vertauschungstheorie«. Diese dritte Version, wonach Dimitri den Anschlag überlebte, wird in der gegenwärtigen Geschichtsforschung nicht mehr berücksichtigt. Die Ansichten über den Tod Dimitris tendieren zur Rehabilitation Boris Godunows. Die politischen Umstände der damaligen Zeit lassen nämlich einen Mord im Auftrag Godunows unmotiviert erscheinen. Das Land stand nach dem 25-jährigen Livonischen Krieg vor dem wirtschaftlichen Ruin. Boris hatte die unvorstellbare Verarmung und schreckliche Verwüstung, die Iwan IV. durch diesen Krieg hinterlassen hatte, zu überwinden. Dazu kamen Hungersnot und Missernten sowie eine neue Bedrohung der Krimtataren, welche bereits 1571 Moskau niedergebrannt hatten. In dieser Situation schickte nun Boris die Untersuchungskommission nach Uglitsch, welche 140 Personen, darunter sieben Augenzeugen, vernahm. Die Kommission fertigte einen Bericht an, der keinen direkten Beweis für Boris’ Mitschuld erbrachte, und nach eingehender Prüfung erklärte der Rat der Bischöfe offiziell, dass der Tod des Zarewitschs Dimitri ein Akt Gottes gewesen sei. Andere Quellen sprechen von einem eindeutigen epileptischen Anfall und bevorzugen die »Unfallversion«. Zumindest war dieser Bericht, welcher damals aus verständlichen Gründen nicht veröffentlicht wurde, nicht vertrauenswürdig. (Aus diesem Grund mussten Historiker in den nächsten 225 Jahren ihre Darstellungen von Dimitris Tod auf unbeglaubigte Dokumente, Chroniken und die Schriften ausländischer Beobachter stützen, die sich selbst meistens wieder von den zeitgenössischen Dokumenten ableiteten. Der Bericht erschien erst 1819 im Druck und war Quelle für Karamsins Schilderung.) Man nimmt die Unwahrscheinlichkeit des Mordes durch Godunow auch deshalb an, da Dimitri nach den damaligen Kirchengesetzen ohnehin nicht erbberechtigt war, da er der siebenten Ehe Iwans IV. entstammte und als illegal galt. Zudem war mit Nachkommen des Zaren Fjodor und Irinas nach dem Tod Dimitris noch zu rechnen. Damit verliert das Motiv, der Zarewitsch habe Boris den Weg zum Zarenthron versperrt, seine Glaubwürdigkeit. R EIN HOLD T H U R

→ KS René Pape als Boris, Chor der Wiener Staatsoper

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Reinhold Thur

LIED VON DER EROBERUNG KASANS Das in Strophenform gehaltene Lied von der Eroberung der Stadt Kasan (Zweiter Teil, zweites Bild), mit welchem Warlaam seinen großen Soloauftritt zu bestreiten hat, befindet sich in der Sammlung großrussischer historischer Volkslieder des Historikers und Folkloristen Iwan Chudjakow (1842-1876). Mussorgskij hat das Lied fast wortgetreu in die Oper übernommen. In manchen Fällen wurden aus den Textvorlagen Verszeilen ausgelassen oder vertauscht. Beschrieben wird die Schlacht Iwans des Schrecklichen vom Jahr 1552 um die tatarische Stadt Kasan an der Wolga (heute Hauptstadt der russischen Republik Tatarstan mit rund 1.240.000 Einwohnern). Die Kasaner Feldzüge von 1545-1552 waren kriegerische Unternehmen russischer Heere gegen das Kasaner Chanat. Das Chanat versperrte Russland den wichtigen Handelsweg der Wolga in den Süden. Der Kampf um die Einverleibung begann bereits Ende des 15. Jahrhunderts. 1546 wurde Schah Ali, ein Günstling Iwans IV., des Schrecklichen, als Chan ernannt, er flüchtete jedoch im Februar 1552 aus Kasan, sodass der Astrachaner Zarewitsch Jadigar als Chan eingesetzt wurde. Im Juni 1552 verließ das russische Heer unter dem 22-jährigen Iwan IV. mit 150.000 Mann Moskau. Nachdem bei Tula das Heer des Krim-Chans Dewlet-Girej geschlagen wurde, teilte sich das russische Heer in zwei Flügel: die Vorhut (rechter Flügel) R EIN HOLD T H U R

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unter dem Heerführer Michail Worotynskij zog über Rjasan, der linke Flügel als Wacht-heer über Kljasma und Oka. Im August trafen sich die beiden Flügel im Städtchen Borontschejewo am Fluss Sura. Den 150.000 Russen standen ca. 65.000 Tataren gegenüber. Am 23. August 1552 begann die Belagerung von Kasan. Es wurden Kampftürme, Belagerungsgeschütze und Minen verwendet. Durch die Explosion einer Mine wurden die Kanäle der Wasserzufuhr vernichtet. Am 30. August umzingelten die Russen Kasan mit einem geschlossenen Liniengraben, Pfahlzaun und Schanzgräben. Sie begannen die Festung zu bombardieren. Zum Beschuss der inneren Stadtteile wurde ein 13 Meter hoher, beweglicher Artillerieturm für 50 Geschütze gebaut. Wichtig war die Arbeit mit Sprengminen, mit denen Mauern und Tore der Festung zerstört wurden. Am 2. Oktober 1552 traten die Russen mit sieben Kolonnen den Sturm an, der Widerstand wurde gebrochen und die Festung mit Jadigar eingenommen. Mehr als 40.000 Tataren fielen den Kämpfen zum Opfer. Als Folge des Sieges der Russen wurde das Chanat von Kasan vernichtet. Russland bekam die mittlere Wolga. Dadurch wurden die Voraussetzungen für ein Vordringen des Zarentums zum Ural und nach Sibirien und eine Erweiterung der Handelsbeziehungen mit den Ländern des Kaukasus geschaffen. Zum Dank für den Sieg über die Tataren ließ Iwan IV. von 1555-1562 die Basilius-Kathedrale in Moskau erbauen, vor der das 1. Bild des vierten Teiles der Oper spielt. Im Lied von der Eroberung Kasans wird das Legen der Minen, das Rollen des Pulverfasses, das Lachen der Tataren auf den Festungsmauern, schließlich die Explosion und das Klagen der Verwundeten geschildert. Gerade in dieser Ballade ist die Wort-Ton-Beziehung stark ausgeprägt. So ist das Rauchen der Kerzen, mit welchen die Lunten entzündet werden, durch lange Triller und Sechzehnteltriolen in den Streichern illustriert. Wenn vom Umlegen des Fässchens mit Pulver die Rede ist, spielt das Fagott eine chromatisch abund aufsteigende Tonskala, welches musikalisch sehr einsichtig das Streuen des Pulvers im Kreis darstellt. Diese Skala wird später legato gespielt, da sie das Rollen des Fasses auf den Minen andeutet. Die Steigerung mit TremoloEinsatz der großen Trommel erreicht durch einen Sforzato-Akkord beim Wort »knallen« ihren Höhepunkt.

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LIED VON DER EROBERU NG K ASA NS


Sergej Buntman

WAS ERWARTET RUSSLAND?

Selbstverständlich war die »Zeit der Wirren« von Boris Godunow bis zur Inthronisierung der Romanows keine Ausnahme unter der Regel der Unmenschlichkeit, nicht nur der spezifisch russischen, sondern auch der allgemein europäischen. Der Hundertjährige Krieg, die Pest (der »schwarze Tod«), die Rosenkriege, die Kriege des 16. Jahrhunderts, fortgesetzt im 17. mit dreißigjähriger Vernichtung unter den Europäern – alles Kataklysmen, die im Gedächtnis vieler Nationen Narben hinterließen. Mit der Zeit zog man tatsächlich Lehren aus den Katastrophen, sie wurden in unschätzbare Erfahrungen verwandelt, die sich in Gesetzen und Vereinbarungen, Versicherungen und Gewohnheiten widerspiegelten. Sogar als Europa in für uns noch erinnerlicher Zeit dem Wahnsinn der totalitären Ideologien verfiel – von den Formen italienischer, spanischer oder portugiesischer Prägung bis zur schwerstkranken Form des deutschen Nationalsozialismus – funktionierte dieses System, schlug Alarm und konnte sich korrigieren. SERGEJ BU N TM A N

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Auch Russland erlebte weiter eine Vielzahl von Erschütterungen und wendete sich Europa zu, indem es versuchte, europäische Denkweisen und Ordnungen zu übernehmen. Trotzdem blieben unter dem europäischen Gewand nicht nur die Traditionen und Gewohnheiten eines patriarchalischen, halbasiatischen Lebens bestehen, sondern auch die Ängste vor einer Wiederholung der »Zeit der Wirren«. Diese Furcht ist nicht nur die Angst vor Entbehrungen und Zwietracht, vor Hunger und Todesnähe, sondern viel eher der tiefe Schreck der Vaterlosigkeit und im Kern die hartnäckige Weigerung, erwachsen zu werden. Es ist der Zustand eines Halbwüchsigen, der manchmal revoltiert, aber auch zu Heldentaten fähig und zur Selbstaufopferung imstande ist, zur Demut, zum Verzicht auf elementare Güter um eines großen Zieles willen. Aber das Ziel setzt der »Älteste« fest, der dich ständig unter der Knute hält und alle Kleinigkeiten deines Lebens regelt. Das 20. Jahrhundert und der Beginn des 21. sind keine Ausnahme. Eine grandiose Revolution, zwei Weltkriege, der Zusammenbruch des zaristischen sowie des sowjetischen Imperiums schufen nur vorübergehend die Illusion von Selbstständigkeit und den Wunsch, unverzüglich in die komfortable Existenz eines wohlhabenden und friedlichen Landes überzuwechseln. Die Enttäuschung folgte auf dem Fuß. Die Menschen ertrugen die wirtschaftlichen Schwierigkeiten nur mit Mühe, und der endlose Krieg im Kaukasus vergiftete das Leben beständig mit Lüge und Xenophobie. Das ist kein Leben, sondern – zusammen mit der alltäglichen Gewalt und der unbezwingbaren Kriminalität, die im Staat heranwächst – ein ständig präsenter, langsamer Tod. Der Weg zur Demokratie scheint außergewöhnlich lang und gewunden zu sein, und das Land gibt sich der unbezähmbaren Verführung hin, ihn zu begradigen, Ecken zu umgehen und die Entfernungen zu verkürzen. Und so entsteht das Gespenst einer »Zeit der Wirren«. Und es fehlt ein Ziel, das voranführen würde, die Entbehrungen rechtfertigen würde. Demokratie, ein festgefügtes tägliches Leben und selbstständige Arbeit – das ist zu einfach und gleichzeitig viel zu kompliziert und anstrengend. Und deshalb begrüßt Russland fast mit Begeisterung einen niemandem bekannten Menschen mit kraftvollem Gang, deutlich artikulierter Sprache, groben, verständlichen Sätzen, die zu den Losungen der alten Epoche – der zaristischen und der sowjetischen – zurückführen, die man immer öfter als das »Goldene Jahrhundert« zu empfinden beginnt. Russland wählt sich einen Präsidenten, Russland wählt sich einen Vater. Ohne besonderes Bedauern überlassen die Menschen dem von ihnen gewählten Vater die Instrumente für ein selbstständiges Leben: Wahlen, Unternehmertum, Meinungsfreiheit. Ein trauriges Bild. So wie in der »Zeit der Wirren« das Volk nos­talgisch die Regentschaft Iwan des Schrecklichen erinnerte und ihm alle Gräueltaten verzieh für das Selbstvertrauen, das er ihnen gab, so sprechen heute viele mit einem sehnsuchtsvollen Seufzer den Namen Stalins aus, der eine brutale Macht aufbaute, den Krieg gewann, und – was die Hauptsache ist – eine »klare und feste Ordnung« im Land herstellte. Die 69

WAS ERWA RT ET RUS SLA N D?


Millionen von Opfern, die seine Herrschaft kostete, werden gewöhnlich nicht zur Kenntnis genommen. Immer öfter finden sich auch moderne Muster zur Nachahmung. China, das sein strenges ideologisches System nicht zerstört, aber dabei eine mächtige Wirtschaft aufbaut. Das benachbarte Weißrussland mit seinem autoritären Präsidenten-Populisten und dem Verzicht auf die Kriterien europäischer Demokratie, aber mit einem stabilen System sozialer Unterstützung. Westeuropa hat aufgehört, Orientierung zu sein. Was erwartet Russland in der Zukunft? Eine neue, ewige »Zeit der Wirren«? Oder die »ewige Ruhe« patriarchaler Stagnation? Eine neue Isolation, einen »eisernen Vorhang«, einen Neuanstrich der ideologischen Fassade? Es scheint, dass das in der modernen Welt schwieriger und schwieriger wird, aber da die Bewohner Russlands unwahrscheinlich träge sind und andererseits bereit zur Selbstaufopferung im Namen einer überzeugenden Idee, ist praktisch alles möglich. Doch sogar heute, wo die Realität so traurig aussieht, wo die menschenverachtende herrschende Macht nichts gegen die Ängste der Menschen unternimmt, sie nicht erwachsen werden lässt, hegen wir die Hoffnung, dass wir durch lange, leise, beharrliche Arbeit endlich aus dem verhängnisvollen Kreis der Erinnerung an die alte »Zeit der Wirren« und die Vorahnung einer ebensolchen neuen Zeit ausbrechen könnten. Wie schön wäre es, wenn wir aufhörten, unserem Staatswappen zu ähneln, dem zweiköpfigen Adler, der den einen Schnabel in die Zukunft, den anderen in die Vergangenheit bohrt und hochmütig die Gegenwart verachtet. Glauben wir daran, dass die »Zeit der Wirren« in den Köpfen ein Ende findet.

WAS ERWA RT ET RUS SLA N D?

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» Die Suche nach der Realität, nach dem Wirklichen, hatte bei Mussorgskij einen Verlust der eigenen Identität zur Folge. Mussorgskij trank sich buchstäblich in Wahnsinn und Tod – und schenkte dabei einer neuen Welt das Leben. « Wilfried Mellers


Andreas Láng

DER ZAR AN DER DONAU

Die Wiener Aufführungsgeschichte des Boris Godunow


Wie so oft in der Zeit vor 1945 konnte sich die Wiener Volksoper auch im Falle des Boris Godunow das Verdienst der Wiener Erstaufführung auf die Fahne heften. Verantwortlich für diesen Coup war einmal mehr der berühmte Stardirigent Felix von Weingartner, der das Haus am Währinger Gürtel zwischen 1919 und 1924 leitete. Und so konnte das Wiener Publikum am 4. November 1922 Bekanntschaft mit diesem so bedeutenden Werk des russischen Repertoires machen. Ein verspätetes Kennenlernen, wenn man bedenkt, dass die Petersburger Uraufführung schon mehrere Jahrzehnte zurücklag. Darüberhinaus handelte es sich selbstverständlich – der Zeit und dem Aufführungsort entsprechend – um eine deutschsprachige gekürzte Fassung der Rimski-Korsakow-Bearbeitung. Und auch die Aufführungsqualität dürfte nicht die allerbeste gewesen sein, wie man in der Rezension von Josef Reitler in der Neuen Freien Presse erfährt: »Die Staatsoper hat so lange gezögert, bis die Volksoper mutig an die Aufgabe der Erstaufführung heranging, die eigentlich die Grenzen ihrer künstlerischen und materiellen Möglichkeiten überschreitet.« Nichtsdestotrotz wird die Inszenierung, allen voran die Personenführung insbesondere bei einzelnen Chorsängern und die Leistung des Orchesters unter dem Kapellmeister Egizio Massini, gelobt. (Die Regie stammte übrigens von Hugo Gruder-Guntram, einem Nachfolger Weingartners auf dem Direktionssessel der Volksoper). Weniger gefiel offenbar der Interpret der Titelpartie, der Italiener Sigismondo Zaleschi, der zwar »mit größter Genauigkeit« seine Partie vortrug, aber dennoch »etwas Mechanisches« in seinem Gesang nicht verleugnen konnte. Alles in allem war also diese Erstaufführung ein Achtungserfolg, mehr nicht. Die Wiener Staatsoper oder besser das Operntheater, wie das Haus am Ring damals hieß, konnte mit ihrer Neuproduktion am 24. Oktober 1925 im Konkurrenzkampf mit der Volksoper also nur gewinnen, obwohl die allgemeine triste finanzielle Situation in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts Regisseur Hans Esdras Mutzenbecher und seinem Bühnenbildner Emil Pichran keine besonders üppig-beeindruckende Ausstattung erlaubte. »Eine Aufführung dieser merkwürdigen Oper stellt ihre Ansprüche: das Operntheater hat sie mit Glanz bezwungen«, urteilte nichtsdestotrotz Julius Korngold am Tag nach der ersten Vorstellung und überschüttete alle Beteiligten mit Lob: »Künstlerische Sorgfalt bestätigte sich nicht zuletzt in szenischer Hinsicht ... das Feierliche, Gehobene, Tragische dieser russischen Macbeth-Oper trifft in Franz Schalk auf den rechten Musiker ... ein reiches Feld der Betätigung war dem vorzüglichen Opernchor geboten ... Dr. Emil Schipper wächst in der Titelrolle über sich selbst hinaus.« Die Resonanz im Publikum dürfte ähnlich positiv ausgefallen sein, da das Werk immerhin die nächsten acht Jahre im Spielplan verankert blieb. (Auch diesmal handelte es sich übrigens um die deutschsprachige Rimski-Korsakow-Fassung.) Nach dem Zweiten Weltkrieg ging der Siegeszug des Boris Godunow in der österreichischen Hauptstadt dann erst richtig los. Bereits im Juli und 73

A N DR EAS LÁ NG


August 1945 kam es im Wiener Konzerthaus zu zwei umjubelten (konzertanten) Aufführungen. Veranstalter waren die »Gesellschaft zur Pflege der kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen zur Sowjetunion« sowie die Wiener Staatsoper. Unter der Leitung von Josef Krips sang die Crème de la Crème des Ensembles, so etwa Paul Schöffler (Boris), Sena Jurinac (Fjodor), Irmgard Seefried (Xenia), Anton Dermota (Schuiskij) und Anny Konetzni (Marina). Mit weiteren zwei Aufführungen in einer nahezu identischen Besetzung (als Grigorij hatte man nun zusätzlich Max Lorenz gewonnen) beging man im November desselben Jahres im Theater an der Wien den »russischen Feiertag«. Interessanterweise wurden jetzt die ersten Stimmen laut, die die in diesem Fall abermals verwendete Rimski-Korsakow-Version infrage stellten und eine der beiden originalen Mussorgskij-Fassungen forderten. So konnte man zum Beispiel im Wiener Kurier folgende Zeilen lesen: »Dabei hörte man vorläufig noch die Bearbeitung Rimski-Korsakows, die sich vom Original, das deutlicher den kompromisslosen Charakter des Komponisten erkennen lässt, grundsätzlich unterscheidet: an ihrer Stelle wird bei der zu erwartenden endgültigen Gewinnung des Boris die Urfassung treten müssen.« Dieser Wunsch verhallte scheinbar ungehört, denn auch bei der ersten Neuinszenierung nach dem Zweiten Weltkrieg – am 29. November 1947 im Theater an der Wien – blieb man bei der Rimski-Korsakow-Bearbeitung, was im Neuen Österreich den bedauernden Kommentar »Mussorgskij ist ein Gauguin der Musik und wir haben ihn noch nicht erkannt« auslöste. Dessen ungeachtet landete die Staatsoper mit dieser Produktion einen glänzenden Erfolg. Am Pult stand diesmal Clemens Krauss, als Regisseur hatte man den von den Nationalsozialisten vertriebenen und nun wiedergekehrten Lothar Wallerstein verpflichtet. Den Boris verkörperte am Premierenabend wiederum Paul Schöffler, die Marina Mnischek sang Elisabeth Höngen. Wurde der Boris Godunow in den nächsten Jahren auch nicht oft gegeben, so blieb er dennoch bis zur Wiedereröffnung der Wiener Staatsoper im Jahr 1955 auf dem Spielplan. 35mal war das Stück in wechselvoller Besetzung zu erleben – neben den bereits Genannten unter anderem mit George London in der Titelpartie, Sena Jurinac als Marina, Julius Patzak als Grigorij, Gottlob Frick als Pimen und Oskar Czerwenka als Nikititsch. Da die Produktion nicht in das wiedereröffnete Haus am Ring übernommen wurde und vorerst auch nicht an eine Neuinszenierung gedacht war, mussten andere einspringen, um dem Wiener Publikum wenigstens gelegentlich den Genuss einer BorisAufführung zu ermöglichen. Im Mai 1961 war dies das Konzerthaus, das eine Aufführung unter der Leitung von Lovro von Matačić am Pult der Wiener Symphoniker ermöglichte. Und diesmal hörte das Publikum (endlich) nicht die Rimski-Korsakow-Fassung, sondern die Originalversion Mussorgskijs – noch dazu in russischer Sprache. Von den Interpreten seien hier in erster Linie George London als Boris, Evelyn Lear als Marina und Dimiter Usunow als Grigorij erwähnt. Trotz durchgehend guter Kritiken schimmerte aber ein A N DR EAS LÁ NG

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bitterer Beigeschmack in den Rezensionen durch: man wollte eine szenische Aufführung erleben und keine konzertante, so gut diese auch sein mochte. Doch auf die nächste Wiener Neuinszenierung musste man noch warten. Zunächst sollten zwei Gastspiele in die Bresche springen: 1971 kam es zwischen Wien und Moskau zu einer Art Produktionstausch: Die Staatsoper sandte den Rosenkavalier, Tristan und Isolde sowie Le nozze di Figaro nach Moskau, das Wiener Publikum erhielt im Gegenzug ein paar Aufführungen von Pique Dame, Krieg und Frieden und eben Boris Godunow. So gut gemeint dieses Austauschprogramm auch war, auf ungeteilte Freude stieß namentlich der Boris Godunow nicht. Die Sänger der hier gezeigten drei Aufführungen waren bis auf Elena Obraztsova als Marina großteils mittelmäßig, die Kulissen naiv-veraltet, eine Inszenierung nur mit gutem Willen erkennbar. Lediglich der Dirigent Juri Simonow ragte aus der allgemeinen Durchschnittsleistung positiv heraus. Gröbere technische Probleme beim Aufbau des Bühnenbildes hinterließen darüber hinaus auch bei den Beteiligten keine sehr guten Erinnerungen. Gezeigt wurde wieder einmal die Rimski-Korsakow-Fassung, ebenso wie beim Gastspiel der Nationaloper Sofia im März 1975. Dieser nächste Gast-Boris war notwendig geworden, weil die Philharmoniker in Japan, der Staatsopernchor in Salzburg weilte und ein regulärer Opernbetrieb im Haus am Ring in diesen Tagen kaum aufrechterhalten werden konnte. Immerhin war das künstlerische Niveau um einiges höher als beim Moskau-Gastspiel vier Jahre zuvor. Auch wenn die Regie Emil Boschnakovs etwas altbacken daherkam. Sie konnte wenigstens in ihrer Personenführung überzeugen, ebenso wie Nicolai Ghiuselev in der Titelrolle. Positiv fiel unter anderem die junge Interpretin des Fjodor auf, eine Sängerin, die Jahre später zu einem wichtigen Mitglied des Staatsopern­ensembles werden sollte: die zu früh verstorbene Nelly Boschkowa. Am 21. Februar 1976 war es dann soweit: Die erste Boris-Neuproduktion im Haus am Ring seit der Wiedereröffnung des Hauses nach dem Zweiten Weltkrieg ging in der Inszenierung von Otto Schenk über die Bühne der Wiener Staatsoper. Kein Geringerer als der sensationelle Nicolai Ghiaurov interpretierte die Titelpartie. Aber auch die übrige Besetzung konnte sich sehen lassen: Brigitte Fassbaender als Marina, Waldemar Kmentt als Schuiskij, Oskar Czerwenka als Warlaam, Wladimir Atlantow als Grigorij oder Heinz Zednik als Gottesnarr begeisterten das Publikum. Einzig Robert Satanowski am Dirigentenpult entsprach nicht dem restlichen Niveau. Dass abermals die Rimski-Korsakow-Fassung zum Zug kam, war nicht unumstritten – mit einer zwei Programmheftseiten umfassenden Aufzählung diverser Argumente für diese Entscheidung versuchte die Staatsoper den Schritt zu rechtfertigen, der schon Jahre zuvor infrage gestellt worden war. Die Produktion blieb bis 1989 im Repertoire und wurde 45mal gezeigt. Von den Interpreten dieser Jahre seien hier neben den bereits Genannten stellvertretend Jewgenij Nesterenko, Nicolai Ghiuselev, Paata Burchuladze (Boris), Sena Jurinac, Alex 75

DER ZA R A N DER DONAU


andrina Miltschewa, Ludmilla Schemtschuk (Marina) und Kurt Moll, Kurt Rydl (Pimen) erwähnt. Die nächste Staatsopern-Neuproduktion – eigentlich die Übernahme einer acht Jahre alten Inszenierung der Royal Opera Covent Garden – fand dann am 6. Oktober 1991 unter Claudio Abbado statt. Die eine oder andere Stimme beschwerte sich zwar über den Umstand, dass der Regisseur Andrej Tarkowskij zum Zeitpunkt der Premiere bereits verstorben war und daher auch keine Möglichkeit mehr hatte, die nicht mehr ganz taufrische Inszenierung zu modifizieren, doch man akzeptierte schlussendlich das Ergebnis als »ordentliche Repertoireaufführung«, wie die Presse das Gesehene apostrophierte. Bezüglich der Fassung hob sich die neue Produktion deutlich von der vorherigen ab: Es war »ein Abschied von Rimski-Korsakows eleganter, klanglich ›verwestlichter‹ Fassung ... ein fast ›originaler‹ Boris«, wie Karlheinz Roschitz in der Kronenzeitung schrieb. Von den Premierensängern bewährten sich vor allem Marjana Lipovšek als Marina, Monte Pederson als Rangoni, Kurt Rydl als Pimen und Heinz Zednik als Schuiskij. Robert Lloyd als Interpret der Titelpartie fiel etwas hinter die in ihn gesetzten Erwartungen zurück, ebenso wie Emil Ivanov als Grigorij. Sehr lange blieb die Produktion nicht auf dem Spielplan – bis 1994 konnte das Wiener Publikum die Inszenierung genau 13mal sehen – u.a. mit Ruggero Raimondi und Anatolij Kotscherga als Boris, Sergej Larin als Grigorij, Nelly Boschkowa als Marina oder Vesselina Kasarova als Fjodor. Als Dirigent stand neben Abbado der Russe Vladimir Fedoseyev zur Verfügung. Immerhin nahm die Staatsoper das Werk auch auf die große Japan-Tournee im Herbst 1994 mit und präsentierte den dortigen Zuschauern drei Vorstellungen – wieder mit Claudio Abbado am Pult. Die nächste Wiener Boris Godunow-Premiere fand am 12. Juni 1998 nach langer Zeit wieder an der Volksoper statt. Gezeigt wurde diesmal – in der Regie Harry Kupfers und in den Bühnenbildern Hans Schavernochs – die verhältnismäßig kurze Urfassung der Oper ohne Revolutionsbild und ohne Polenakt. In der vielleicht nicht idealen deutschen Übersetzung sangen unter Bertrand de Billy u. a. Egils Silinš (Boris), Kurt Schreibmayer (Schuiskij), Miro Dvorský (Grigorij), Olga Schalaewa (Xenia) oder Ernst-Dieter Suttheimer (Gottesnarr). Ziemlich genau neun Jahre später, also am 28. Mai 2007, ging die Premiere der aktuellen Boris-Inszenierung über die Bühne der Wiener Staatsoper. Daniele Gatti, der sich für eine Mischfassung aus Ur- und Originalversion entschieden hatte, war der Dirigent, Yannis Kokkos der Regisseur und Ausstatter. Die Titelpartie gab Ferruccio Furlanetto, Falk Struckmann den Rangoni, Robert Holl den Pimen, Nadia Krasteva die Marina Mnischek, Marian Talaba den Grigorij und Jorma Salvasti den Schuiskij. Schließlich wurde diese Produktion fünf Jahre später von Yannis Kokkos neu überarbeitet, da ab der Neueinstudierung vom 20. April 2012 (Leitung: Tugan Sokhiev) erstmals an der Wiener Staatsoper die Urfassung des Werks in den Spielplan genommen wurde. DER ZA R A N DER DONAU

→ Fjodor Schaljapin als Boris, 1927

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Impressum

Modest Mussorgskij BORIS GODUNOW Spielzeit 2021/22 (Premiere der Produktion 28. Mai 2007) HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Sergio Morabito, Andreas Láng, Oliver Láng Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Julia Pötsch Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH, Bad Vöslau TEXTNACHWEISE Andreas Láng: Über dieses Programmbuch Übernahmen Die Texte von Andreas Láng (Ein eigener, neuer Weg) Oliver Láng (Zwischen Volkslied und Dialogoper) sind aus dem Boris Godunow-Programmheft der Wiener Staatsoper 2012 entnommen. Die Texte von Michael Rot, Michail Ryklin, Andreas Láng (Der Zar an der Donau) sind aus dem Boris Godunow-Programmheft der Wiener Staatsoper 2007 entnommen. Die Texte von Reinhold Thur und Gottfried von Einem sind dem Boris Godunow-Programmheft der Wiener Staatsoper 1991 entnommen. Gudrun Zieglers Alexander S. Puschkin: © 1979 Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg; Übersetzung der Zitate: Gudrun Ziegler. Der Geschichtliche Hintergrund wurde dem Boris Godunow-Programmheft der Wiener Staatsoper 1976 entnommen. Übersetzung der Inhaltsangabe Andrew Smith. BILDNACHWEISE Coverbild: Bert Loeschner, rocking chair, 2012 © Bildrecht, Wien 2022 Szenenbilder: Seite 2/3, 16/17, 34/35, 45, 51, 65: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH Szenenbilder: Seite 26: Axel Zeininger / Wiener Staatsoper GmbH Seite 77: ÖNB Bildarchiv Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie Kürzungen werden nicht extra gekennzeichnet. Rechteinhaberinnen, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechteabgeltung um Nachricht gebeten.


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