CARDILLAC Paul Hindemith
INHALT
Die Handlung
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Synopsis in English 7 Über dieses Programmbuch
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Hindemiths antiromantischer Weg → Premierendirigent Franz Welser-Möst im Gespräch
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Fast eine Gefühlsmechanik → Regisseur Sven-Eric Bechtolf im Gespräch
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Die Einsamkeit des Künstlers → Peter Turrini
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Die literarische Vorlage → Oliver Láng
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Entstehungsgeschichte von Cardillac → Andreas Láng
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Zur Musik von Cardillac → Angela Zabrsa
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Die Künstleropern Paul Hindemiths → Wilhelm Sinkovicz
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Zur Stellung des Künstlers in der Gesellschaft → Manfred Wagner
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Kunst in der Weimarer Republik → Lorenz Mikoletzky
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Der böse Stern → Konrad Paul Liessmann
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Die dunklen Helden der Romantik → Oliver Láng
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Cardillac an der Wiener Staatsoper → Andreas Láng
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Nur das, was ich geschaffen, bleibt mir treu. Cardillac, 2. Akt
CARDILLAC → Oper in drei Akten Musik Paul Hindemith Text Ferdinand Lion
Orchesterbesetzung 1 kleine Flöte, 1 große Flöte, 1 Oboe, 1 Englischhorn, 1 Klarinette in Es, 1 Klarinette in B, 1 Bassklarinette in B, 1 Tenor-Saxophon in B, 2 Fagotte, 1 Kontrafagott, 1 Horn, 2 Trompeten, 2 Posaunen, 1 Basstuba, 2 Pauken, Schlagwerk, Klavier, 6 Violinen, 4 Bratschen, 4 Violoncelli, 4 Kontrabässe Bühnenmusik Oboe, 2 Hörner, Trompete, Posaune, Violine, 2 Kontrabässe Spieldauer 90 Minuten (keine Pause) Manuskript 1. und 2. Fassung: Verlagsarchiv Schott Mainz Uraufführung der 1. Fassung 9. November 1926, Sächsische Staatsoper Dresden Uraufführung der 2. Fassung 20. Juni 1952, Stadttheater Zürich Wiener Erstaufführung 3. März 1927, Wiener Staatsoper
DIE HANDLUNG
Die Pariser Bevölkerung wird von einer geheimnisvollen Mordserie bedroht. Der König lässt den Führer der Prévôté verkünden, dass ein Sondergericht, die »Brennende Kammer« eingesetzt sei, um den Täter zu finden. Eine Dame entdeckt, wie ehrfurchtsvoll der Goldschmied Cardillac von allen begrüßt wird. Der Kavalier erklärt ihr den Grund: Cardillac ist der beste Goldschmied, doch wird jeder ermordet, der seinen Schmuck erwirbt. Die Dame fordert vom Kavalier »das Schönste, was Cardillac je schuf« als Liebesgabe. Als dieser mit einem prunkvollen Gürtel, den der Goldschmied schuf, zur Liebesnacht erscheint, wird auch er ermordet. Die Tochter Cardillacs, die den Offizier liebt, ist hin und her gerissen: Einerseits will sie mit ihrem Geliebten fliehen, andererseits vermag sie es nicht, ihren Vater zu verlassen. Doch Cardillac hält seine Tochter nicht zurück – ihn interessiert nur der persönlich geschaffene Schmuck. Als der Offizier eine Kette von ihm erwirbt, weiß Cardillac, der sich von seinen Werken nicht dauerhaft trennen kann, dass er ihn nun töten muss, um wieder in den Besitz der Kette zu gelangen. Doch der Anschlag misslingt, der Goldhändler, der den Zusammenhang zwischen Cardillac und all den Morden ahnt, schlägt Alarm. Obgleich der Offizier Cardillac deckt, gesteht der Goldschmied zuletzt seine Mordtaten. Er wird vom Volk getötet; doch auch im Tod gilt sein letzter Gedanke nur dem Schmuck. DIE H A N DLU NG
↑ Vorige Seiten: Szenenbild Cardillac → Premieren besetzung 2010, KS Ildikó Raimondi als Dame
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SYNOPSIS
← Wieder aufnahme 2022, KS Tomasz Konieczny als Cardillac
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The people of Paris are gripped by panic in the wake of a series of mysterious murders. The king has the Provost-Marshal announce that a special court of justice, the “burning chamber”, has been constituted to seek out the murderer. The Lady sees how reverently the goldsmith Cardillac is greeted by everyone. The Cavalier explains the reason to her: Cardillac is the best goldsmith, but all who purchase his jewellery are murdered. The Lady asks the Cavalier to buy her “the most beautiful piece that Cardillac has ever made” as a token of his love. When he appears with a magnificent belt created by goldsmith and starts to make love to her, he too is murdered. Cardillac’s daughter, who is in love with the Officer, is torn: she wants to flee with her lover, yet she is loath to leave her father. However, Cardillac does not try to restrain his daughter; he is interested only in the jewellery he is working on. When the Officer purchases a chain from him, Cardillac knows that he must kill him in order to regain possession of it, since he cannot bear to be separated from his works. The attack on the Officer is unsuccessful, and the gold merchant, who suspects the connection between Cardillac and all the murders, raises the alarm. Although the Officer defends Cardillac, the goldsmith finally confesses to the murders. He is killed by the people; as he dies, he can think only of his jewellery. SY NOPSIS
ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH Anfang der 1920er-Jahre galt Paul Hindemith als anerkannter, wenn durchaus auch polarisierender Komponist einer jungen Generation. Mit Einaktern wie Sancta Susanna oder Das Nusch-Nuschi hatte er sich auch in der Musiktheaterwelt einen entsprechenden Ruf erworben – den ersten dauerhaften Beitrag zum Opernrepertoire (es folgten später noch weitere) schuf er schließlich mit dem 1926 uraufgeführten, auf E. T. A. Hoffmanns Novelle Das Fräulein von Scuderi basierenden Cardillac. Der Reiz dieser dreiaktigen Oper rührt u.a. von der gelungenen Verblendung unterschiedlichster Aspekte her, wie Premierendirigenten Franz Welser-Möst im Interview ab Seite 14 ausführt: So werden etwa klare Formsymbole des Barock mit Klangsymbolen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts enggeführt, die antiromantische Musiksprache der Neuen Sachlichkeit und der übertriebene Ausdruckswille des Expressionismus der romantischen Künstlerverehrung entgegengestellt. Regisseur Sven-Eric Bechtolf erläutert ab Seite 20 die Inspirationsquellen für seinen inszenatorischen Zugriff auf das Werk, der den künstlich anmutenden gefühlsmechanischen Stil der Musik ebenso unterstreicht, wie er eine psychologische Lesart bewusst verwirft. Eine detaillierte, musikdramaturgische Analyse der Partitur von Angela Zabrsa (Seite 43), kurze biografische Anmerkungen zum Librettisten Ferdinand Lion (Seite 11) und E. T. A. Hoffmann (Seite 10), einige Gedanken im Zusammenhang mit der Rezeptionsgeschichte an der Wiener Staatsoper (Seite 82) sowie je ein Blick auf die überraschend zügige Entstehung des Werkes (Seite 37) und die Eckpunkte der literarischen Vorlage von E. T. A. Hoffmann (Seite 30) ermöglichen eine zusätzliche Annäherung an das Werk. Lorenz Mikoletzky erinnert in seinem Artikel ab Seite 67 darüber hinaus an die künstlerische fruchtbare Atmosphäre der Weimarer Republik, die die Faktur der Cardillac-Partitur mitgeprägt hat. Konrad Paul Liessmann geht der Entstehung des romantischen Topos vom Künstler als Grenzgänger zwischen Genie und Wahnsinn nach (Seite 72) und Manfred Wagner beschäftigt sich mit der Wandlung des gesellschaftlichen Stellenwerts von Kunst und Kunstschaffenden in Europa (Seite 61). Überlegungen zur Sucht nach dem Dunklen, Geheimnisvollen, Unerklärlichen in der Romantik als Gegenreaktion auf die nüchterne Aufklärung von Oliver Láng (Seite 79), Wilhelm Sinkovicz’ Beitrag über die nicht zu fassende Künstlerpersönlichkeit Paul Hindemiths respektive dessen Blick auf das Genie (Seite 53) sowie Peter Turrinis Beschwörung der Einsamkeit als Grundbedingung des künstlerischen Schaffensprozesses (Seite 28), runden das Angebot dieses Programmbuches ab. ÜBER DIESES PROGR A M MBUCH
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Marcel Proust
» ALLES GROSSE IN DER WELT STAMMT VON NEUROTIKERN. «
E. T. A. HOFFMANN Ernst Theodor Amadeus Hoffmann – aus Verehrung zu Mozart ersetzte der Dichter durch das Amadeus seinen ursprünglichen dritten Vornamen, Wilhelm, – wurde am 24. Jänner 1776 in Königsberg geboren. Er entstammte einer Juristenfamilie; seine Eltern ließen sich früh scheiden, E. T. A. Hoffmann wurde der Mutter zugesprochen und verbrachte seine Jugend fortan bei ihrer Familie in einer geistig kleinbürgerlichen Atmosphäre. 1792 begann er ein Jus-Studium und widmete sich parallel der Kunst in ihren unterschiedlichsten Formen; so dichtete, komponierte und zeichnete er. Seine Tätigkeit als Jurist wurde jäh unterbrochen, als die Truppen Napoleons 1806 in Warschau, wo Hoffmann zu dieser Zeit als Beamter beschäftigt war, einrückten und alle preußischen Beamten, die sich nicht Napoleon anschlossen, entlassen wurden. Hoffmann wechselte in die Kunstwelt und wirkte ab 1808 in Bamberg, unter anderem als Theaterkapellmeister und als Mitarbeiter der Allgemeinen musikalischen Zeitung. Eine literarisch fruchtbare Zeit folgte. Später war Hoffmann in Dresden als Kapellmeister tätig, 1814 vollendete er seine Oper Undine. Im selben Jahr kehrte er in Berlin in seine juristische Laufbahn zurück, wo er am 25. Juni 1822 verstarb. In seinen literarischen Werken entwickelte E. T. A. Hoffmann teils groteske Gegenwelten, die der bürgerlichen Realität fantastische Innenspiegelungen entgegensetzten. Ein musikalisches Denkmal schuf ihm Jacques Offenbach in Les Contes d’Hoffmann. »Wer hundert Jahre Probe besteht, der hat sie für immer bestanden, und so gehört E. T. A. Hoffmann – was er nie geahnt, der arme Schächer am Kreuz der irdischen Nüchternheit – zur ewigen Gilde der Dichter und Phantasten, die am Leben, das sie quält, die schönste Rache nehmen, indem sie ihm farbigere, vielfältigere Formen vorbildlich zeigen, als sie die Wirklichkeit erreicht.« Stefan Zweig, 1928
BIOGR A FIE
FERDINAND LION Ferdinand Lion wurde am 11. Juni 1883 in Mühlhausen im Elsass geboren, fühlte sich in der deutschen wie französischen Welt gleichermaßen beheimatet. Er studierte Philosophie und Geschichte in Straßburg, Heidelberg und München und wirkte bald als Publizist bei unterschiedlichen Zeitungen und Zeitschriften wie etwa Der neue Merkur, Die neue Rundschau, Die literarische Welt oder Maß und Wert. Ein Wanderleben führte ihn durch Italien, Deutschland, die Schweiz und Frankreich. Sein besonderes Interesse galt der französischen Literatur, die er in Deutschland populär zu machen versuchte. 1933 emigrierte er in die Schweiz, während des Zweiten Weltkriegs wurde er in Frankreich von Benediktinern in einem Kloster versteckt. 1946 kehrte er in die Schweiz zurück. Schon 1917 entstand eine enge Freundschaft mit Thomas Mann, zu seinem weitreichenden Freundeskreis zählten weiters André Gide, Alfred Döblin, Alfred Weber und Klaus Mann. Er schuf neben seiner reichen journalistischen Tätigkeit mehrere Arbeiten fürs Theater, etwa die Libretti zu Cardillac (Musik: Paul Hindemith), Der Golem (Musik: Eugen d’Albert), Revolutionshochzeit (Musik: Eugen d’Albert) und Der Fächer (Musik: Ernst Toch), Schauspiele wie Abenteuer des Casanova, Zwischen Indien und Amerika. Seine zahlreichen literatur- und kunsthistorischen Schriften umfassen unter anderem Der französische Roman im 19. Jahrhundert, Thomas Mann in seiner Zeit oder Romantik als deutsches Schicksal. Ferdinand Lion verstarb am 21. Jänner 1965 in Kilchberg bei Zürich. »Er war ein Literat, wenn es je einen gab, aber kein Kaffeehausliterat, wohl, weil seine zarten Sinne die Luft der Kaffeehäuser nicht vertrugen. Ein Wanderer und Rutengänger war er, der immer nach den Quellen des Geistes suchte und sie fand, und die Wasser tief im Berg ahnte, aus denen sie alle kamen. Daran hatte er seine Freude; die Freude, die Neugier, die Intuition unterirdischer Verbindungen schlugen nieder in seinen eigenen Schriften.« Golo Mann
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BIOGR A FIE
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HINDEMITHS ANTIROMANTISCHER WEG Sie haben ein unvergleichlich großes Opernrepertoire von mehr als 70 Werken. Gehörte – ausnahmsweise – Hindemiths Cardillac bislang nicht zu diesen bereits von Ihnen dirigierten Stücken? Ja, tatsächlich, Cardillac habe ich am 17. Oktober 2010 zum ersten Mal geleitet. Wissen Sie, ich möchte nicht stets das gleiche machen, wollte nicht noch einmal dieselbe Runde drehen wie am Zürcher Opernhaus, und da ich es immer wieder spannend finde, mich mit neuen Opern zu beschäftigen – es erhält nebenbei auch jung – gab ich bei meiner ersten Neuproduktion als Generalmusikdirektor der Wiener Staatsoper zugleich mein Debüt als Cardillac-Dirigent. (lacht) Das Stück selbst kannte ich natürlich schon, habe es einige Male in verschiedenen Häusern gesehen, und da es mir sehr gut gefällt, ich außerdem großes Interesse hatte, es selbst zu machen, lag die Entscheidung nahe, die Musikalische Leitung persönlich zu übernehmen. FWM
Und wie lange dauert es, bis man sich so ein Werk angeeignet hat? Nun, man beginnt sich einzulesen, es durchzustudieren – zwei Jahre brauchte es schon, bis der Erarbeitungsprozess so weit abgeschlossen war. FWM
Aufgeführt wird die erste Fassung von Cardillac aus dem Jahre 1926. Warum diese und nicht die spätere, zweite Version? Weil die erste Fassung wesentlich wilder und kompakter ist. Das hier geäußerte, sehr freche Statement, dass Kunst alles darf, inklusive Menschen umbringen, ist ein typischer Ausdruck der wilden 20er Jahre des 20. Jahrhunderts. Hindemith hat bei der späteren Überarbeitung die Kanten entschärft, wodurch die Oper nicht mehr so originär und originell war wie zuvor, was schade ist. FWM
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FR A NZ W ELSER-MÖST IM GE SPR ÄCH
Da wir schon bei der Frage sind: Wie sehr darf Kunst von einem Künstler Besitz ergreifen? Da die Menschen viel zu unterschiedlich sind, kann die Frage wohl ebenso wenig beantwortet werden, wie jene alte zutiefst romantische, die die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn ausmachen möchte. FWM
In Cardillac kommen verschiedene Zeiten zusammen: Die Handlung spielt zur Zeit Ludwig XIV., die inhaltliche Vorlage für die Oper stammt von E. T. A. Hoffmann, also aus dem 19. Jahrhundert, die Komposition entstand im 20. Jahrhundert. Hat Hindemith eine Brücke zwischen diesen verschiedenen Ebenen geschaffen? Eindeutig sogar: Im Grunde haben wir in Cardillac zunächst, oberflächlich gesehen, so ein eigenartiges Neobarock vor uns – von der Form her nämlich. In der Partitur finden sich etwa Arien im barocken Concerto grosso-Stil, wie man sie aus Bach- oder Telemannkantaten kennt, zum Beispiel jene der Tochter im zweiten Akt mit einer konzertanten Solovioline, Solooboe und einem Solohorn. Auch die Gliederung der gesamten Oper in einzelne Nummern, teils mit kleinen Rezitativen, erinnert an das 17., frühe 18. Jahrhundert. Daneben gibt es allerdings auch romantische Elemente, die in ihrer Klangsprache – denken wir an das Lied der Dame im ersten Akt – beim frühen Debussy anknüpfen. Hindemith vereint also klare Formsymbole des Barock mit Klangsymbolen, die im 19. Jahrhundert zu Hause sind… FWM
… und verlässt nicht einmal die althergebrachten Tonarten. Das zwar nicht, aber er beult das Tonartensystem in alle Richtungen aus. In einer Art Tonartensymbolik fußt er sogar ganz tief in der Romantik und sogar noch weiter zurück, aber durch diverse Beifügungen, zum Beispiel von Jazzelementen, verformt er diese Grundpfeiler dann doch wieder ziemlich stark. FWM
Und wo liegt nun das expressionistische Element der 20er Jahre? Das Expressionistische besteht darin, dass das Überdrehte und Schräge als selbstverständlich gezeigt wird. Cardillac war der künstlerischen Strömung der »Neuen Sachlichkeit« verpflichtet, die zur Entstehungszeit des Werkes vorherrschend war. Das heißt: Der übertriebene Ausdruckswille der Charaktere soll nicht kaschierend übertüncht, sondern quasi ins Scheinwerferlicht gehalten werden. FWM
FR A NZ W ELSER-MÖST IM GE SPR ÄCH
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Werden die einzelnen Figuren bezüglich Klangfarbe und Form jeweils unterschiedlich gestaltet? In manchen Teilen der Oper geht es ganz schön brutal zu. Auf der anderen Seite haben wir zum Beispiel die Musik der Dame und des Kavaliers, die wesentlich parfümierter ist als bei den anderen Figuren der Oper: Man denke an das Menuett des Kavaliers oder an das bereits erwähnte Lied der Dame, das sogar wie ein kleiner, vielleicht auch ironischer Hinweis auf den Zeitmonolog im Rosenkavalier wirkt. Die beiden Interpreten dieser Charaktere sollten alles leicht übertrieben, fast bewusst manieriert bringen. FWM
Warum diese Parfümiertheit? Im Berlin der 20er Jahre war alles möglich, die Freizügigkeit kannte keine Grenzen und genau das wurde aber als Natürlichkeit und Sachlichkeit hingestellt, auch wenn das für unsere heutigen Augen und Ohren »schräg« wirkt. In allem war eine unglaubliche Künstlichkeit und zugleich Mehrbödigkeit. Und dies sollte sowohl szenisch als auch musikalisch gezeigt werden. Sven-Eric Bechtolf gelingt das in seiner Inszenierung übrigens wirklich genial – ein purer Realismus wäre da ganz fehl am Platz. FWM
Und was hat es mit dem komplizierten Libretto der Oper auf sich? Man hätte mit dem Cardillac-Stoff auch eine Oper von über drei Stunden machen können, mit allen möglichen Sterbearien verziert. Aber das wollten weder Hindemith noch sein Textdichter Ferdinand Lion. Den beiden ging es um eine Art Kunstsprache, in der alles aufs Äußerste verknappt erscheint. Man hat das Gefühl, dass das Libretto auf engsten Raum zusammenpresst wurde, solange, bis nur ein Extrakt übriggeblieben ist. Diese Verknappung ergab eine extrem explosive Atmosphäre, und das ging dann wieder Hand in Hand mit der Musik. FWM
Musik und Text erscheinen irgendwie konstruiert. Wie kann man die Oper von diesem Vorwurf befreien? Den Vorwurf muss man ja nicht entkräften, da diese Konstruiertheit eine gewollte Tatsache ist. Hindemith verfolgte einen bewusst antiromantischen Weg, der Gefühle und Emotionen in einen anderen Rahmen hineinstellte. Wir bewundern ja auch den Expressionismus in der Bildenden Kunst. Das ist ein Teil unserer Kulturgeschichte und ich finde, dass man das genauso zeigen sollte. Man muss also nichts rechtfertigen: Entweder man mag das oder nicht – andere Leute mögen die Romantik nicht. FWM
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HIN DEMIT HS A N T IROM A N T ISCHER W EG
Das Orchester ist recht klein, dennoch gab es bei früheren Produktionen immer wieder das Problem, dass Sänger übertönt wurden. Ist das zu erklären? Es handelt sich um ein eigenartiges Paradoxon und zugleich eine uralte Weisheit: Je mehr Musiker im Orchestergraben sitzen, desto leiser kann der Gesamtklang werden. Beim näheren Hinschauen wird aber klar, warum. Wenn 14 erste Geigen ganz leicht mit dem Bogen die Saiten berühren, ist es zwar insgesamt sehr leise, der Ton hat aber dennoch einen Körper, weil es eben 14 Geigen sind. Sitzen nur sechs Violinen im Graben, müssen diese von Haus aus lauter spielen, damit man sie überhaupt hört. Und in Cardillac gibt es tatsächlich Passagen, bei denen man trotz der kleinen Besetzung eine sehr große Lautstärke erreicht. Die Kunst ist, alles in so einen Rahmen zu bringen, dass die Sänger sich nicht weh tun und das Orchester dennoch die gewünschte Dynamik bringt. FWM
Warum wollte Hindemith dann dieses kleine Orchester? Das war damals eine Zeiterscheinung, denken Sie an die Ariadne auf Naxos von Strauss oder an manche Werke von Strawinski. Man wollte weg von den Musikermassen à la Gurrelieder. Bei der Ariadne haben Sie übrigens eine sehr ähnliche Situation: der Schluss klingt, als ob ein großes Symphonieorchester spielen würde. FWM
Wo liegen die Herausforderungen für den Dirigenten des Cardillac? Es gilt viele Dinge zu koordinieren, wie das eben erwähnte dynamische Ausbalancieren. Wichtig ist aber auch, die jeweilige atmosphärische Intention musikalisch zum Klingen zu bringen und zu verhindern, dass Details lediglich sachlich oder gar oberflächlich dahinplätschern. Wenn die Dame vom Nachtwind singt, müssen die Begleitfiguren im Orchester entsprechend dahinsäuseln. Die brutalen Elemente sind sehr offensichtlich, die Todesmusik am Schluss der Pantomime im ersten Akt etwa – das fährt einem direkt ins Gesicht, da weiß man, worum es geht. Aber es gibt auch Klangelemente, die anzüglich klingen sollen, es gibt weiters diese obsessiven Elemente, zum Beispiel in der Arie des Cardillac am Schluss des zweiten Aktes, wo man merken muss, dass dieser Mann, einem Süchtigen gleich, mit jeder Faser seines Lebens an seinen Kunstwerken hängt, dass er nicht anders kann als zu morden. Und solcher Details gibt es sehr viele, und diese müssen beim Publikum ankommen. FWM
Das Gespräch entstand 2010
HIN DEMIT HS A N T IROM A N T ISCHER W EG
→ KS Tomasz Konieczny als Cardillac, KS Angela Denoke als Tochter und KS Herbert Lippert als Offizier, 2016
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FAST EINE GEFÜHLSMECHANIK
Bei Cardillac stößt man auf mehrere Zeitebenen: Die Handlung von E. T. A. Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi, auf die die Oper basiert, spielt im 17. Jahrhundert, die Erzählung wurde im 19. Jahrhundert geschrieben, die Oper ein Jahrhundert später. Sind diese Zeitebenen zu verbinden, unter einen Hut zu bringen? Verwirrender sind die stilistischen Ebenen: Der Expressionismus, Neue Sachlichkeit und ein romantisches Sujet. Wir wollten diese Disparität gar nicht nicht unterschlagen. Es kommen so die unterschiedlichsten Mittel zusammen. »Unter einen Hut« bringen trifft es daher wohl nicht recht. Unter einen Zylinder, vielleicht. SEB
Ging es Paul Hindemith nicht um das Entwerfen eines Künstlerbildes, um die Frage nach den Grenzen des Genies? Was Hindemith vorhatte, hing zunächst stark mit seinen formalen Interessen zusammen. Er stellte sich die Frage: Wie restauriert man das, ihm überkommen erscheinende Musikdrama des 19. Jahrhunderts? Seine Reformation war dann tatsächlich – in ihrer formalen Ausrichtung – eine Restauration, nämlich der der Nummernoper des 18. Jahrhunderts. Da SEB
← Sven-Eric Bechtolf
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kam Ferdinand Lion mit dem Cardillac-Stoff eher zufällig des Weges. Dessen Text war vor allem deshalb so tauglich, weil er »Lücken« zuließ, weil er Raum hatte für Interpretationen und komplexe Musik. Und dabei eine relativ naive Theaterwirksamkeit aufwies. Es wäre ja auch vergleichsweise langweilig, wenn die Attraktion des Abends aus der Frage bestünde, ob Künstler eigentlich ihre Kunden meucheln dürfen oder gar sollten. Die Radikalität des Werkes ist, in meinen Augen, im Wesentlichen eine formale, weniger eine »inhaltliche. Dennoch ist es so, dass Künstler – historisch und aktuell – in der Gesellschaft oftmals eine Sonderstellung haben. Woran liegt das? Das Thema hat für mich eine belustigende Seite und eine ernstzunehmende. Natürlich kann man sagen, wenn man das sehr pathetisch formulieren wollte, dass »Kunst« vielleicht der kostbarste Ausdruck unserer Gattung ist und im Übrigen unser Leben erst zu dem macht, was man Leben nennen will. Insofern haben Künstler eine besondere Position. Aber: Auch Künstler stehen nicht außerhalb der Gesellschaft. Es herrschen – neben dem »Geniekult« und anderen nebulösen Verehrungsritualen des 18. und 19. Jahrhunderts – immer noch sehr klischierte Vorstellungen über »Künstler«, was wohl damit zu tun hat, dass sie sich vorzüglich als Projektionsfläche eignen: das bürgerliche Leben hat seine Defizite. Das Bild des Künstlers als Bohemien und verrucht-libertärer Nonkonformist erfreut sich ewiger Beliebtheit. Ich persönlich, als allerdings nur nachschöpfender »Künstler«, sehe meinen Beruf relativ prosaisch, wobei es ganz interessant ist, dass auch Cardillac kein Musiker, Maler oder Bildhauer ist, sondern ein Goldschmied, also mehr ein Kunsthandwerker: das wäre ja eigentlich das Ideal der »Neuen Sachlichkeit«. Diese trockenere Selbsteinschätzung ist auch mir sehr sympathisch... Gleichzeitig ist das Phänomen des künstlerischen Talents trotzdem weitgehend unerklärbar, was natürlich für eine gewisse Unruhe sorgt. Das »Genie« ist ja für alle anderen nicht nur erfreulich und erbauend, sondern im Gegenteil unheimlich und beunruhigend. Ich persönlich bin wohl keinen »Genies« begegnet, aber ich kann mich etwa an Tom Waits während einer bestimmten Probenphase erinnern, in der er unaufhörlich produzierte – da denkt man unwillkürlich: Wo entsteht das, wie macht er das? Es ist seltsam, wenn man die Eingebungen, die solche Leute haben, unmittelbar mitbekommt. Das sind Fähigkeiten, die gehäuft, auch beklemmende Wirkung auf uns entfalten. Picasso kann bei mir auch Schaudern erzeugen; und wenn Harnoncourt sagt, Mozart wäre das Krokodil seiner Eltern gewesen, hat er gewiss Recht! Bei aller prosaischen Einschätzung muss man am Ende doch einräumen, dass es diese »großen Einzelnen« gelegentlich gibt. SEB
Beim Konzeptionsgespräch empfahlen Sie Filme aus den 20er Jahren wie etwa Nosferatu. Eine ästhetische Annäherung? SV EN-ER IC BECH TOLF IM GE SPR ÄCH
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Man kommt weder der Musik noch dem Libretto bei, indem man der Psychologie die Hintertür wieder aufmacht. Es verlangt für Cardillac einen entschlackten, einen eingedampften, einen fast bis zur Gefühlsmechanik hingehenden Stil, und das haben die Autoren Hindemith und Lion großartig beherrscht. Für eine szenische Umsetzung braucht es dabei große, ausdrucksstarke, überzeichnete Gesten. Ich habe den Sängerinnen und Sängern gesagt: Alles, was man bis heute versucht hat, euch zu verbieten – das dürft und sollt ihr jetzt wieder machen! SEB
Auffällig ist, dass in der Oper nur Cardillac einen Namen tragen darf. Die anderen sind mit Funktionsbegriffen wie Die Tochter, Der Offizier, Der Goldhändler bezeichnet. Das hat etwas mit der Typisierung zu tun, mit dem Wunsch nach Allgemeingültigkeit. Cardillac ist die Künstlerfigur, er hat die stärkste Individuation, die anderen werden schlaglichthaft beleuchtet. Holzschnittartig. SEB
Wäre Cardillac ein Schauspiel, welche Rolle würden Sie gerne übernehmen? SEB
Natürlich den Cardillac... ...und Sie würden ihn ein bisschen sympathisch darstellen?
Nein. Er ist ein Mann, der von Dämonen heimgesucht wird. Sehr fremd und sehr gefährlich. Und ein großer Meister. Die Oper nimmt letztlich eine unkommentierte Setzung der Figur vor, anders als bei E. T. A. Hoffmanns Fräulein von Scuderi: da hat die Mutter ein pränatales Erlebnis, was dazu führt, dass Cardillac traumatisiert auf die Welt kommt. Das ist zwar Küchenpsychologie des 19. Jahrhunderts, aber man ist ja durchaus geneigt, den Cardillac irgendwie psychologisch zu erklären. Wenn man etwa Freudianer wäre, würde man auf ein sublimiertes Inzestverlangen hinweisen: statt auf die Tochter, blickt Cardillac aufs Gold, der Offizier »raubt« ihm das Gold um die Tochter zu gewinnen...sehr symbolisch! Weniger sexualisiert könnte man auch meinen, dass der normale Mensch sein »Ich« über ein »Du«, sprich die Welt, erfährt und konstituiert, Cardillac aber durch sein Werk. Letztlich glaube ich aber nicht, dass dies die Parameter sind, mit denen man sich die Oper »erklären« sollte. Cardillac ist der Einzelne, nicht sozialisierte. Am Ende gönnen ihm Hindemith und Lion eine sehr seltsame Heroisierung durch das Volk – nachdem es ihn gerade ermordet hat. Religiöse Verehrung gradezu. Inwieweit die Autoren da Partei ergreifen oder sich distanzieren, oder auch nur der Fabel folgen, oder gerade die UnSEB
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versöhnlichkeit der Positionen betonen, ist nicht wirklich auszumachen. Ich habe daher versucht, am Schluss eine Art Vexierbild herzustellen. Die Oper dauert knappe 90 Minuten, hat sich diese extrem komprimierte Form auch in der Probenarbeit niedergeschlagen? Es stellt sich die Frage, was man für diese sehr besondere Ausdrucksweise überhaupt braucht: Wie viel wollen wir zeigen, was kann noch weggelassen werden, wie knapp ist manches darstellbar? Daher haben wir gemeinsam eine Sprache gesucht, eine Art Repertoire zusammengestellt, mit dem wir arbeiten können. Das ändert aber nichts an der Feinzeichnung und Genauigkeit, es kann sein, dass wir für eine kleine Szene, die nur drei Minuten dauert, drei Tage brauchen, um sie hinzubekommen. SEB
Das Gespräch entstand 2010
→ Seite aus SvenEric Bechtolfs Regiebuch zur Cardillac-Neuproduktion 2010
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E. T. A. Hoffmann → Das Fräulein von Scuderi
» Sowie ich ein Geschmeide gefertigt und abgeliefert, fiel ich in eine Unruhe, in eine Trostlosigkeit, die mir Schlaf, Gesundheit – Lebensmut raubte. – Wie ein Gespenst stand Tag und Nacht die Person, für die ich gearbeitet, mir vor Augen, geschmückt mit meinem Geschmeide, und eine Stimme raunte mir in
die Ohren: Es ist ja dein – es ist ja dein – nimm es doch – was sollen die Diamanten dem Toten! – Selbst wusste ich nicht, wie es kam, dass ich einen unaussprechlichen Hass auf die warf, denen ich Schmuck gefertigt. Ja! im tiefsten Innern regte sich eine Mordlust gegen sie, vor der ich selbst erbebte. «
Peter Turrini
DIE EINSAMKEIT DES KÜNSTLERS Als Georg Springer mich fragte, ob ich bereit wäre, einen kurzen Artikel über die Einsamkeit des Künstlers zu schreiben, war es mit meiner Einsamkeit, die doch die unbedingte Voraussetzung jeder künstlerischen Arbeit ist, auch schon vorbei. Die Tatsache, dass ich unfähig war, das Ersuchen meines Freundes abzuweisen, kann als Anfang meines Endes gewertet werden. Es sprach sich in Blitzeseile herum, dass wieder ein Künstler bereit sei, seine eigentliche Arbeit, in meinem Falle das Schreiben von Theaterstücken, zu unterbrechen. Da die sogenannte kulturinteressierte Öffentlichkeit nichts mehr liebt, als den nichtdichtenden Dichter, also nachhaltig an der Zerstörung seiner Kreativität interessiert ist, überhäufte sie mich mit Einladungen zu Symposien, Publikumsdiskussionen, politischen Auftritten, Interviews, kritischen Beiträgen aller Art, Festveranstaltungen, Geburtstagseinladungen, Weinverkostungen und Weintaufen, sowie Buffettfressereien mit und ohne Anlass. Meinen verzweifelten Hinweis, ich hätte mit der Zusage an Georg Springer nur eine Geste gemacht, die ich nicht zu wiederholen gedenke, antworteten sie, ob sie denn mindere Menschen seien als dieser Georg Springer. Meine Widerstandskraft nahm ab und meine Zusagen nahmen zu. Ich konversierte und soff und fraß mich durch das sogenannte kulturelle Leben, bis ich schließlich mein Leben im Rahmen einer Leberattacke aushauchte. Ich glaube, es war anlässlich des Geburtstagsfestes eines prominenten Internisten, den ich nicht einmal persönlich kannte. Auf jeden Fall lag ich tot unter dem Tisch und endlich umfing mich die Einsamkeit des Künstlers, auf eine sehr wohltuende Art und Weise. Dieser Text entstand auf Bitte der Wiener Staatsoper an Peter Turrini – über Vermittlung seines Freundes Dr. Georg Springer, dem damaligen Geschäftsführer der Bundestheater-Holding –, einen Beitrag zum Thema Die Einsamkeit des Künstlers zu verfassen. PET ER T U R R IN I
→ Premieren besetzung 2010, Juha Uusitalo als Cardillac
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Oliver Láng
DIE LITERARISCHE VORLAGE
← Illustration aus der Erstausgabe von E. T. A. Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi
E. T. A. Hoffmanns 1818 entstandene Erzählung Das Fräulein von Scuderi gilt gemeinhin als eine der frühen deutschen Kriminalgeschichten: Im Zentrum stehen die Morde des zunächst als untadelig angesehenen (wenn auch etwas verdächtig scheinenden) Goldschmieds Cardillac sowie die allmähliche Enthüllung seiner Taten. Inspiriert durch einen Abschnitt aus Johann Christoph Wagenseils Chronik der Stadt Nürnberg schuf Hoffmann diese Novelle, die bald nach ihrem Erscheinen einen großen Erfolg verbuchen konnte. Der eigentliche Angelpunkt der Novelle ist die Titelfigur, die durch ihre beharrliche Suche nach der Wahrheit – es wird der Gehilfe des Cardillac, ein Geselle namens Olivier Brusson der Taten verdächtigt – schließlich zur endgültigen Lösung des Falles maßgeblich beiträgt. E. T. A. Hoffmann setzt die Erzählung ins Paris der Zeit Ludwig XIV. und lässt den König selbst als handelnde Person auftreten. Der zur Entstehungszeit grassierenden Nachfrage nach genialer Exzentrik, gepaart mit dunklen Leidenschaften und der bedrohenden Entladung geheimnisvoller Verbrechen kommt er nicht nur mit der Haupthandlung, sondern auch in einer Einleitungsgeschichte entgegen, in der das vom Grauen erfasste Paris, in dem Giftmörder ihr Unwesen treiben, beschrieben wird. E. T. A. Hoffmanns Cardillac ist ganz romantischer Einzelgänger, einer, der von einem dunklen Stern geleitet wird und dessen Weg letztlich vorherbestimmt ist: Im ersten Monat der Schwangerschaft seiner Mutter starb in ihren Armen ein brünstiger Kavalier, an dessen Hals sie ein Schmuckstück entdeckt hatte, das sie über alle Maßen faszinierte und begehrte. Diese für Cardillacs Mutter traumatische Verwicklung brachte sie nicht nur fast um Verstand und Leben, sondern die Wirkung pflanzte sich auch unglückselig fort und prägte
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OLI V ER LÁ NG
das noch lange ungeborene Kind. Cardillac, durch das Schicksal bestimmt, kann sich dem Verlangen nach kunstvollem Schmuck nicht entziehen, wird der Größte aller Goldschmiede. Denn nur er darf die Kunstwerke, die er geschaffen hat, besitzen. Wer eines an sich nimmt, muss sterben. Den Typus des außerordentlichen und alles andere als diesseitigen Künstlers bringt Hoffmann in keinem zu strahlenden Licht. Für seine Tat, und das ist ein wesentlicher Aspekt für Hoffmann, ist Cardillac bei aller pränatalen Prägung, verantwortlich. Schuldhaft ist er, unheilvoll und bedrohlich die wohlgehütete Kammer mit allen gesammelten Schmuckstücken, die der Schmied wieder an sich gerafft hat: genau beschriftet mit Namen der Opfer und Datum der Tat. Ein gruseliges Kabinett einer brillanten aber getriebenen Figur, die in einem mit Geheimtür ausgestatteten Haus lebt. Dabei ist es bereits der Blick, der ihn als Täter verrät. »Wäre Cardillac nicht in Paris als der rechtlichste Ehrenmann, uneigennützig, offen, ohne Hinterhalt, stets zu Helfen bereit, bekannt gewesen, sein ganz besonderer Blick aus kleinen, tiefliegenden, grün funkelnden Augen hätte ihn in den Verdacht heimlicher Tücke und Bosheit bringen können.« Der Blick also ist es, der sein Gegenüber, soweit es auf die innere Stimme und nicht den äußeren Schein achtet, warnen sollte; und es ist ebenso die innere Stimme, der das Fräulein von Scuderi folgt, als die Beweise gegen Olivier sprechen. Als kontrastiertes Gegenüber zu den Taten Cardillacs steht Madelon, seine Tochter, die mit dem Gehilfen Olivier in einmütigster, reinster Liebe verbunden ist. Und diese Liebe ist es auch, die den Gehilfen hindert, die Verbrechen seines Meisters – er entdeckt sie durch Zufall – zu enthüllen. Doch E. T. A. Hoffmann gesteht dem Goldschmied ein rasches wie unspektakuläres Ende zu. Nicht ein öffentliches Gericht, nicht der König noch das Volk dürfen über ihn urteilen und seinen Tod verantworten, es ist ein Offizier, der Verdacht geschöpft hat und durch Wappnung wie einen schnellen Dolchstich den Mörder schließlich zur Strecke bringt. Dass die Enthüllung der Wahrheit aus dem Motiv der Liebe (im Falle Oliviers) oder aus Vorsicht um den eigenen Ruf (im Falle des Offiziers) lange auf sich warten lässt, beinahe den Falschen aufs Schafott bringt, ist geschickte Spannungsdramaturgie. Das Finale wiederum bleibt so kurz wie sachlich: Der geraubte Schmuck, soweit das jeweilige Opfer nur betäubt und nicht ermordet worden war, findet wieder seinen Weg zum rechtmäßigen Eigentümer, der Rest fällt der Kirche St. Eustache zu. Die Ordnung wird wieder hergestellt, das getriebene Talent getötet, auch dem Künstler werden gesellschaftliche Regeln zugewiesen: Was immer in den fantastischen Doppelwelten des E. T. A. Hoffmann erlaubt war, im realen Leben wies der zeitweilig hauptberuflich als Jurist wirkende Dichter das Wollen, Dürfen und Müssen des Genialen in seine Grenzen.
DIE LIT ER A R ISCHE VOR LAGE
→ 1. Akt, 2. Bild, Bühnenbildentwurf von Robert Kautsky, Wiener Erstaufführung 1927
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Andreas Láng
ENTSTEHUNGS GESCHICHTE VON CARDILLAC
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Allein die Aufzählung all jener Komponisten, die auf ihrer Suche nach einem guten und vertonbaren Operntext regelmäßig in Verzweiflung ausbrachen, würde Bände füllen. Manche bissen in den sauren Apfel und schufen trotz schlechter Libretti Herrliches. Andere verzichteten auf einen Autor und waren selbst dichterisch tätig, und einige wenige hatten schließlich Glück und fanden literarisch ebenbürtige Mitstreiter. Auch von Paul Hindemith sind diesbezügliche Wehrufe überliefert. »Wenn ich einen Operntext hätte, würde ich in einigen Wochen die größte Oper herstellen«, klagte der Komponist, ehe er schlussendlich auf den Cardillac-Stoff stieß und in Ferdinand Lion den kongenialen Librettisten fand. Bis es allerdings soweit war, wurden Projekte über Projekte angedacht und wieder verworfen. Ein Faust-Puppenspiel etwa, für das Hindemith sogar mit Bert Brecht in Kontakt zu treten versuchte, oder Frank Wedekinds König Nicolo, weiters eine Beggar’s Opera. Für kurze Zeit beschäftigte sich Hindemith sogar mit dem Gedanken, ein »Suche-Libretto«-Zeitungsinserat aufzugeben. Freilich, viele der Angebote bekam er erst gar nicht zu Gesicht, da Hindemith
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A N DR EAS LÁ NG
eine Art familiäre Vorzensur ins Leben gerufen hatte, die ihn vor einer Sturzflut an schlechten Texten schützen sollte: »Meine Mutter sortiert aus, meine Schwester liest nach, und zum Schluss beschäftigt sich unser Hund noch auf seine Weise mit der Sache«, kommentierte er sarkastisch seine Situation. Doch 1925 kam Hindemith in Kontakt mit Ferdinand Lion und von da an ging es Schlag auf Schlag: In einem Brief vom 30. Juni machte er dem Musikverlag Schott erste vage Andeutungen und wies darauf hin, dass sich ihm »übrigens … eine neue Opernquelle aufgetan« hätte und er »schon in der nächsten Woche Näheres über eine weitere Oper, diesmal eine ganze drei- oder mehraktige mitteilen« könne. Den ganzen Sommer lang wurde gearbeitet, über die genaue Form des Librettos befunden, und Anfang September war es dann endlich soweit: Ferdinand Lion übergab Hindemith das fertig ausgearbeitete Textbuch, das dieser, von manchen Kleinigkeiten abgesehen, zunächst für gut befand und dem Verlag zur Kontrolle übersandte. Der Mitinhaber des Schott-Verlags und engagierte Förderer der damaligen zeitgenössischen Musik, Ludwig Strecker, schien zunächst noch nicht hundertprozentig vom textlichen Ergebnis aller Szenen angetan und machte postwendend einige briefliche Verbesserungsvorschläge. Immerhin der 1. Akt (dessen beide Bilder ursprünglich als je ein Akt geplant waren und von den beiden Schöpfern der Oper zusammengezogen wurden) schien von diesen Korrekturen im Wesentlichen ausgenommen und Hindemith konnte zu komponieren beginnen.
← Paul Hindemith, Fritz Busch, Issai Dobrowen während einer Probe zur Uraufführung
A N DR EAS LÁ NG
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Bereits am 30. November 1925 schloss Hindemith die Arbeit am 1. Akt ab. Diese Schnelligkeit, mit der er seine Musik zu Papier brachte, rührte unter anderem von seiner Sicherheit bezüglich des Gesamtkonzeptes der musikalischen Gestaltung her. Diese Sicherheit veranlasste ihn, nach Beendigung der Komposition eines Aktes diesen sofort zum Druck an den Verlag zu übergeben, ehe er zur Ausarbeitung des nächsten schritt (was eine tiefer gehende rückwirkende Korrektur natürlich praktisch unmöglich machte). Gelegentlich wartete Hindemith gar nicht darauf, den fertigen Text in den Händen zu haben, sondern schrieb die Musik für manche Teile im Vorhinein, um den nachgereichten endgültigen Text in die fertige Komposition einzupassen. Dieses schnelle Komponiertempo und die damit verbundene Aussicht auf eine rasche Fertigstellung der kompletten Oper nötigten den Verlag und Hindemith jedoch geradezu, sich rasch um ein Opernhaus umzusehen, an dem Cardillac uraufgeführt werden konnte. (Was mit anderen Worten bedeutete, dass Hindemith seine Tätigkeit an Cardillac begonnen hatte, ohne überhaupt eine Zusicherung zu besitzen, das Stück aufzuführen.) Während sich der Verlag an den Dirigenten Erich Kleiber, dem damaligen Leiter der Berliner Staatsoper, wandte, kontaktierte der Komponist den Dirigenten Fritz Busch von der Dresdner Semperoper. Aus terminlichen Gründen bekam Dresden den Zuschlag. Parallel zur kompositorischen Arbeit am ersten Akt schrieb Ferdinand Lion eine neue Text-Fassung des zweiten Aktes, in der er Anmerkungen und Korrekturvorschläge Hindemiths und Ludwig Streckers einarbeitete. Da der Komponist und der rührige Verleger auch jetzt noch Änderungswünsche vorbrachten, musste Lion noch ein weiteres Mal zurück an den Schreibtisch. Die endgültige, alle zufriedenstellende Fassung des Aktes konnte schlussendlich dem Verlag an demselben Tag übergeben werden, an dem Hindemith die Komposition des ersten Aktes abgeschlossen hatte – am 30. November. Die Arbeit am Libretto des dritten Aktes gestaltete sich schließlich etwas komplizierter. Eine briefliche Bemerkung Gertrud Hindemiths vom 9. Februar widerspiegelte geradezu die bereits angespannte Situation: »Lion hat wieder einen 3. Aktschluss geschickt, der nicht zu gebrauchen ist … Paul hat alles zusammengestrichen und ihm zurückgesandt.« Doch knapp einen Monat und eine weitere Umgestaltung später waren Hindemith und der Verlag endlich fast vollständig zufriedengestellt. Es folgte eine letzte konstruktive Aussprache zwischen Hindemith und Lion sowie abschließende Korrekturen und danach war das Libretto im Wesentlichen beendet. Trotz dieser zeit- und kräfteraubenden Mitgestaltung am Text und einiger Konzertreisen ging Hindemith die Komposition von Cardillac auch in weiterer Folge insgesamt recht gut von der Hand. Am 15. Februar 1926 übergab er jedenfalls die fertige Partitur des zweiten Aktes an den Verlag, rund drei Monate später, am 20. Mai, konnte der Schlusspunkt gesetzt werden. Zur Sicherheit wurde vor dem Druck des gesamten Notenmaterials am Wiesbadener 39
EN TST EH U NGSGE SCHICH T E VON CA R DILLAC
Theater unter der Leitung des am Werk sehr interessierten Otto Klemperer am 16. Juni 1926 eine interne Durchspielprobe veranstaltet, um Hindemith und dem Verlag die Möglichkeit zu geben, Cardillac einmal tatsächlich zu hören. Da es zu keinen Beanstandungen seitens des Komponisten kam, konnte das Stück endlich in Druck gehen. Ehe es in Dresden am 9. November 1926 zur erfolgreichen Uraufführung kam, entschloss sich Hindemith während der Proben dann doch noch zu einer Neufassung der Bühnenmusik im dritten Akt, womit die erste Fassung Car dillacs endlich ihre endgültige Form erhielt. Innerhalb kürzester Zeit folgten mehr als ein Dutzend Neuinszenierungen, unter anderem die triumphalen Produktionen in Wiesbaden und Berlin unter der Leitung Otto Klemperers. Nach dem Zweiten Weltkrieg brachte Paul Hindemith eine neue Fassung von Cardillac heraus, die am 20. Juni 1952 in Zürich zur Erstaufführung kam. Diese zweite Version ist musikalisch, sprachlich und inhaltlich entschärft, insgesamt weniger expressionistisch, das Personal leicht verändert – so wird etwa die Figur des Gesellen des Goldschmiedes eingefügt, die überarbeitete Handlung unter anderem um einen Akt (an der Académie Royale wird JeanBaptiste Lullys Phaéton aufgeführt) erweitert. Die besondere, fast heldenhafte Stellung eines Künstlergenies, wie Cardillac sie in der ersten Fassung nun einmal darstellt, wurde von Hindemith zudem bewusst zurückgenommen. Auch wenn sich der Komponist gegen Ende seines Lebens eher für die zweite Version aussprach, wird heute weltweit der originäreren ersten Fassung von 1926 der Vorzug eingeräumt.
→ 1. Akt, 2. Bild, Foto der Uraufführung, 1926
EN TST EH U NGSGE SCHICH T E VON CA R DILLAC
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Angela Zabrsa
ZUR MUSIK VON PAUL HINDEMITHS CARDILLAC
← Premieren besetzung 2010, KS Tomasz Konieczny als Goldhändler
Bemerkenswert ist zunächst die kammerorchestrale Orchesterbesetzung, die ein Zurücktreten der Streichergruppen zeigt. Sie weist auf – 6 Violinen, 4 Bratschen, 4 Violoncelli, 4 Kontrabässe, bis auf 2 Trompeten und 2 Posaunen nur einfach besetzte Holz- und Blechblasinstrumente, ein Klavier und eine interessante Schlagzeugbesetzung: Triangel, Zymbeln, Kleine Trommel, Tamburin, Rührtrommel, 4 Jazztrommeln, Becken, große Trommel, Gong, Tamtam, 2 Glocken in fis und b, Glockenspiel. Die Bühnenmusik (Tavernen-Musik) ist für eine Oboe, 2 Hörner, Trompete, Posaune, Violine und 2 Kontrabässe geschrieben. Unter den Blasinstrumenten befindet sich auch das Tenor-Saxophon in B, als »Leitinstrument« für Cardillac, das durch die seit 1921 in Deutschland bekannt gewordene Jazzmusik bei den ersten Aufführungen der Oper Cardillac besonderes Missfallen erregte, wobei anscheinend vergessen wurde, dass schon Bizet und Verdi das Instrument vielfach verwendet hatten. Diese Orchesterbesetzung, die eine Fortführung der Kammermusikwerke Hindemiths im erweiterten Sinn darstellt, bringt einerseits die polyphone Anlage der Partitur klar zur Geltung, andererseits dokumentiert sie den Funktionswandel, dem nicht nur die Tonsprache, sondern auch das Instrumentarium unterzogen war. Darüber hinaus konnte sie am besten die Ausdrucksmodifikationen darlegen, die Hindemith mit der Oper Cardillac anstrebte.
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A NGEL A ZA BRSA
Die Partitur ist in achtzehn Nummern aufgeteilt, unter ihnen Arien, Lied, Pantomime (Duett für zwei Flöten), Arioso und Duett, Quartett, Wechselgesang (Variationen). Zwei Chorszenen umklammern die Oper monumental, sowohl in musikalischer als auch szenischer Hinsicht. Nach einem kurzen Vorspiel setzt die erste Chorszene in höchster dramatischer Spannung ein. Ruhiger wird die Stimmung des Volkes, wenn der Führer der Prévôté die Einsetzung der »Brennenden Kammer« als strenge Gerichtsinstanz erklärt. Im feierlichen Gesang erfolgt die Begrüßung Cardillacs. Nur drei Takte Zwischenmusik leiten zu dem rezitativartigen Wechselgesang zwischen Dame und Kavalier über, das kurze lyrische Einbrüche aufweist, wenn der Kavalier seine Liebe und Verehrung der Dame gesteht. Im langsamen ( jedoch freiem Zeitmaß) Rezitativ berichtet der Kavalier von den Morden. Unheimliche Spannung lösen die dumpfen, das Rezitativ unterstützenden Akkorde aus, unterbrochen von Läufen – gehen in ein musikalisch ausgesponnenes Wechselgespräch über, an das die Arie des Kavaliers anschließt. Eine kurze Zwischenmusik, in der die schnelle Szenenverwandlung vor sich gehen muss – ein Aspekt, der für das Bühnenbild des ersten Aktes eine bestimmende Forderung darstellt –, bringt den Übergang von der dramatisch erhöhten Spannung zu dem ersten lyrisch größeren Ruhepunkt des zweiten Bildes. In ruhigem Zeitmaß beginnend, entfaltet sich der sehnsuchtsvolle Gesang der Dame, sehr expressiv gehalten, wobei die stärker hervortretende melodische Führung der Singstimme, ergänzt durch die Klangfarbe des Orchesters, ein fast impressionistisches Kolorit erzielt. Die anschließend pantomimisch gespielte Szene zwischen der Dame und dem Kavalier, begleitet von dem Flöten-Duett, zeigt nun den stärksten Bruch mit der Form des Musikdramas und die deutlichste Verkörperung des Stilisierungsprinzips, das Hindemith der Oper zugrunde legte. Hier ist auch das Bestreben Hindemiths am besten zu erkennen, die Musik selbständig darzulegen, um damit auf eine dramatische Charakterisierung der beginnenden Liebes- und anschließenden Mordszene im romantischen Sinne zu verzichten. Wieder fallen dabei die erläuternden Regieanweisungen auf – wie z.B. »Sie schaut ihn erstaunt an, als ob sie frage: ›Ihr kommt zu dieser Nachtzeit? Welche Kühnheit!‹ Er scheint sich zu entschuldigen: ›Habt Ihr nicht selber gewünscht...?‹ « Zuerst konzertieren die beiden Flöten. Das Thema: eine fein aufgebrochene Linie mit den bekannten konstruktiven Melodieintervallen der Quart. In dem Augenblick, in dem der Schmuck zu sehen ist, setzt ein neues Oboenthema über Streicherostinati ein, dann besingen tiefe Bläser das erste Thema, spielen es aus, bis sich schließlich die Flötenfiguren ganz verflüchtigen.« Vollkommen neu und zwingend in der konsequenten Weiterführung ist Hindemiths Lösung, die kurze Mordszene nunmehr ohne Musikbegleitung spielen zu lassen. In atemloser Stille vollzieht sich blitzartig der Mord, bevor das Begreifen noch einsetzen kann, leitet ein chromatischer Terzenlauf die in Akkorden ausklingende äußerst knappe Schlussmusik des ersten Aktes ein. A NGELA ZA BRSA
→ Ausschnitt aus dem PartiturAutographen von Cardillac
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Lebhaft beginnt der zweite Akt, nach kurzer Einleitungsmusik setzt das Arioso und nachfolgende Duett zwischen Cardillac und dem Goldhändler ein. Wieder wird das Gleichgewicht zwischen dramatischen und weniger bewegten Szenen eingehalten – wenn die Arie (mit konzertierenden Ins trumenten – Violine, Oboe und Horn) der Tochter von dem lebhaften Duett zwischen Offizier und Tochter abgelöst wird. Zu den schönsten Momenten, in denen Hindemith seine melodiöse, lyrische Entfaltung ausbreitet, kann das Duett zwischen Tochter und Cardillac angesehen werden. Bewegt und in kontinuierlicher Dramatik steigernd, vollzieht sich die Szene zwischen dem König mit seinem Gefolge und Cardillac. In höchster Spannung erfolgt der Ausbruch Cardillacs, doch wieder herrscht die knappe vorantreibende Motorik der Musik vor – nur kurz ist die Beruhigung Cardillacs angedeutet, die ihm der Anblick des zurückgeholten Gürtels bietet. Im lebhaften, spannungsgeladenen Duett prallen nun in der 12. Nummer die Meinungen des Offiziers und Cardillacs aufeinander. Schrille Akkorde, unterbrochen von Läufen, leiten Cardillacs Arie ein – wieder ist an dieser Stelle der Verzicht auf eine charakterisierende, den Text steigernde Musik in dieser für Cardillac dramatischen und für eine eventuelle Motivierung wichtigen Szene, besonders eindringlich zu bemerken. Deshalb auch die raschen Übergangsphasen von dem anfänglichen Kampf Cardillacs gegen seinen inneren dämonischen Zwang bis zu dem Entschluss, die Kette wieder zurückzuerobern. Im lebhaften, erregten Zeitmaß und im höchsten Fortissimo setzt Hindemith auch hier wieder seine Schlussakzente. Der dritte Akt bringt in satztechnisch verdichteter polyphoner Weise die Verbindung der Tavernen-Musik mit der die Ariette des Offiziers einleitenden Orchestermusik. Rhythmische Akzentsetzungen beleben die Szenen, die im lebhaften Tempo auf den Höhepunkt zustreben. Schlag auf Schlag erfolgt – nach dem Mordversuch – der kurze Sprechdialog zwischen Cardillac und dem Offizier, untermauert von dem langgezogenen Ruf des Goldhändlers nach der Nachtwache. Die 15. Nummer bereitet durch das weitergeführte lebhafte Zeitmaß, das die kurze Szene zwischen dem Goldhändler und dem Offizier und dem später dazukommenden Cardillac und der Tochter aktiviert, den großen Schlussteil vor, setzt aber in einem zurückgehaltenen, lyrisch beeinflussten Quartett noch einmal eine Zäsur. Auch das anschließende Duett zwischen der Tochter und dem Offizier bringt ein verzögerndes Moment, bevor – eingeleitet wieder von der Tavernen-Musik – die große Wechselrede zwischen dem Volk und Cardillac einsetzt. Diese Auseinandersetzung wird musikalisch in der Form einer Passacaglia gebracht – in der das Hauptthema, adäquat der inhaltlichen Steigerung, in 22 Variationen kontrapunktisch verflochten, erklingt. »Die dynamische Entwicklung wird nicht wie früher durch sequenzierende Steigerung, sondern durch immer reichere Kontrapunktierung, durch zunehmend stärkere Besetzung des Orchesters erreicht.« Die dramatische Situation, die durch das Geständnis Cardillacs hervorgerufen wird, zeigt musikalisch die A NGELA ZA BRSA
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Zersprengung der Form: Unisono Läufe in Oktavspannungen begleiten die einsetzenden Anklage – und Verteidigungsreden Cardillacs – die polyphone Orchestersprache setzt erst wieder in dem szenischen Moment nach der Ermordung Cardillacs durch das Volk ein. Akkordketten in Triolenbewegung bringen den Ausklang dieser aufpeitschenden Szenen, das langgezogene »Haltet ein« des Offiziers leitet den Übergang zu dem ruhigen Schlussteil ein. In pathetisch oratorienhaftem Gesang des Chores, überstrahlt von dem Gesang der Tochter und des Offiziers, klingt die Oper aus. Wichtig für das Verständnis der Oper Cardillac ist die in vielfältigen Nuancen zu erkennende thematische Verarbeitung in polyphoner Satztechnik, welche die einzelnen Szenen in abgeschlossenen musikalischen Formen, die als Baulinien verwendet sind, bringt. Das neue und überraschende Moment in der Oper Cardillac war nunmehr die rein musikalische Ausgestaltung des szenischen Geschehens, wobei der in der Kammermusik ausgeprägte Stil die Ausdruckswerte der Musik beherrscht. Die Einsetzung der Rezitative wird als handlungstreibendes Element benützt, getragen von akkordischen Akzentuierungen und motivischen Glossen. Die Form des Arioso verwendet Hindemith für die beiden Szenen des Cardillac, um damit eine freiere Diktion zu erreichen. Für die Exposition oder Überleitung einzelner Szenen bevorzugt Hindemith eine rein lineare Schreibweise. Das Fugato, der Kanon, die Sequenz spielen als motorische Kraft eine besondere Rolle. Wichtig sind auch die rhythmischen Akzentsetzungen innerhalb der Melodik, die jeweils den Spannungsgehalt der einzelnen Szenen in sich integrieren, und besonders durch das jazzartig besetzte Schlagzeug wirksame Nuancen erzielen. Wie schon beim Marienleben op. 27 bilden die Gesangslinien nur Teile des ganzen polyphonen Geflechts. Wenn auch betonte Melodien hervortreten, können sie nur mit den gleichzeitig erklingenden Melodiezügen voll verstanden werden. Die Ausgewogenheit zwischen dramatischen und lyrischen Stellen erzielte Hindemith nicht nur mit rhythmischen Akzentsetzungen und kontrapunktischer Verarbeitung – die auch expressive Klangwerte in sich birgt –, sondern ebenso durch die Instrumentation. Spezifische Klangfarben kennzeichnen die einzelnen Formen und damit den szenischen Gehalt, werden gegeneinander gesetzt und erreichen somit eine Vielfarbigkeit, wobei die Bläser weitgehend den melodischen Verlauf der dramatischen Stellen tragen. Der festliche Auftritt des Königs, die Ariette des Offiziers basieren ausschließlich auf Bläserklängen. Streicher werden besonders in Unisono-Stellen als klangverdichtende bzw. als die Spannung emportreibende Instrumente eingesetzt. Das konzertierende Element tritt insofern in der Musik Cardillacs hervor, als die Instrumente solistisch behandelt werden und auch dadurch das polyphone Liniengeflecht bestimmen und erhellen. Cardillac stellte für Hindemith die erste konsequente Verwirklichung seines musikalischen Gestaltungswillen auf dem Operngebiet dar. So dürften wohl zunächst die Szenengestaltungen bzw. die Vorschläge, die ihm Lion 47
Z U R MUSIK VON PAU L HIN DEMIT HS CA R DILLAC
brachte, als vorherrschende Anregungen gedient haben, an die Vertonung heranzugehen, sodass einerseits das Künstler-Problem und die damit verbundene ethische Aussage als auch andererseits die Prüfung des romantischen Stoffes auf eine Vereinbarkeit mit seinem musikalischen Willen etwas in den Hintergrund gedrängt wurde. Die musikalisch zwingende Kraft, die von der Oper ausgeht, der Reiz, der durch die Annäherung der Neuen Musik an die spätbarocke Welt gegeben ist, lässt das Werk – trotz seiner grundsätzlichen thematischen Widersprüchlichkeiten – als wertvolles Dokument Hindemiths damaliger Schaffensperiode erkennen.
→ Premieren besetzung 2010, Juliane Banse als Tochter
Z U R MUSIK VON PAU L HIN DEMIT HS CA R DILLAC
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Wilhelm Sinkovicz
DIE KÜNSTLER OPERN PAUL HINDEMITHS
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»Ich schreibe noch genau so leicht wie früher«, schreibt Paul Hindemith in einem Brief an seinen Verleger im Jahre 1920. Der junge Komponist hatte Stücke eingereicht und ein ratloses Schreiben als Antwort erhalten: »Sie haben uns ... eine schwere Nuss zu knacken aufgegeben. ... Für heute möchten wir nur sagen, dass Ihre neue radikale Handschrift uns etwas Ihre individuellen und hoch eingeschätzten Züge verwischt«, hieß es da. Hindemith, der Bürgerschreck, war auch ein »Verlegerschreck«. Man zögerte, seine Novitäten in Druck zu geben. Der Komponist selbst meinte wenig später, er habe »meist Stücke geschrieben, die mir nicht mehr gefallen«. Was für den Verleger eine »schwere Nuss« war, galt Hindemith als Befreiungsschlag. Er war, wie sich das für einen Künstler gehört, seinem Publikum und auch seinen Freunden und Verehrern stets mindestens einen Schritt voraus. Das sollte sich nie ändern. Kaum hatten sich Lobredner wie Kritiker an eine Position gewöhnt, aus der sie die Aktivitäten des zu Zeiten als führender deutscher Avantgardist geltenden Künstlers in Ruhe beobachten konnten, war der schon wieder verschwunden, hatte eine ganz andere Stellung bezogen, vielleicht hinter dem Rücken der staunenden Beobachter. Während noch Pamphlets gegen die Rücksichtslosigkeit seiner radikalen Modernität verfasst waren, arbeitete Hindemith bereits an einer »Unterweisung im W ILHELM SIN KOV ICZ
Tonsatz«, die vielen bald als unrettbar retrospektive Verherrlichung musikantischen Handwerkertums, also als für die Avantgarde unzumutbarer Rückschritt galt. Hindemith war nie zu fassen. Jedes Bild, das sich die Musikwelt von ihm gemacht hat, hebelte er mit seinem nächsten künstlerischen Schachzug wieder aus. Doch gab er, für einen Musiker ungewöhnlich genug, allen seinen Volten und scheinbar ungeordneten Richtungswechseln kulturphilosophische Grundierung. Mit theoretischen Schriften nicht genug, brachte Hindemith seine Überlegungen zur Stellung des Künstlers in der Welt wiederholt auch auf die Bühne. Alle seine abendfüllenden Bühnenwerke sind im engeren oder weiteren Sinn Künstler-Opern, machen den Schaffensprozess und dessen Einbettung ins reale Leben zum Thema. Dass mit Cardillac eine dieser Künstler-Opern in zwei höchst unterschiedlichen Fassungen vorliegt, erklärt sich aus den tiefgreifenden Wandlungen von Hindemiths Persönlichkeit und Kunst-Anschauung. Dass ihm »Stücke nicht mehr gefallen« haben, die er kurze oder längere Zeit früher herausgegeben hatte, gehört für ihn zur Tagesordnung. Im Falle so bedeutender Partituren wie jener zur Hoffmann-Oper – Musiktheater steht ja im wahrsten Sinne des Wortes im Rampenlicht – befand er es der Mühe wert, sich für alle deutlich sichtbar zu korrigieren. So lassen sich aus dem zweiten Cardillac völlig andere Schlüsse ziehen als aus dem ersten – der in der Wiener Staatsoper gezeigt wird. Die Frühfassung ist ein exuberantes Plädoyer für den freien Künstler. In keinem Moment gewinnt man den Eindruck, der Komponist schlage sich auf die Seite der Opfer von Cardillacs blutigen Rückhol-Manövern. Auch angesichts der Lynchjustiz tönt das Finale wie eine Apotheose des Subjekts – des einzigen, das inmitten einer Masse von Namenlosen auszumachen ist. Cardillac II kennt neben dem Goldschmied profilierte Gegenspieler, den Gesellen beispielsweise, der wie in der Novelle E. T. A. Hoffmanns Cardillacs Tochter verehrt. Ferdinand Lion, der Textdichter der Urfassung der Oper, hat ihn wie alle anderen Darsteller ganz getreu der expressionistischen Ästhetik jener Zeit Namen und Charakter genommen. Das kam dem Hindemith der Maschinen-Musiken der Zwanzigerjahre entgegen, der dem Pianisten den Ratschlag mit auf den Weg gab, »nicht lange zu überlegen«, ob eine Taste »mit dem vierten oder sechsten Finger« anzuschlagen sei. Das Klavier könnte als eine »interessante Art Schlagzeug« angesehen und entsprechend behandelt werden. Dergleichen Bewegungsfuror hätte sich schon zehn Jahre später der Kompositions-Meister Hindemith verbeten. So setzt er auch seinen Opern-Helden – notabene ohne den Librettisten zu Rate zu ziehen – in ein neues Licht. Cardillac II dichtet Hindemith höchstselbst um. Und er führt ihm in einem hinzugefügten Akt, der in der Oper spielt, mit Lullys Phaéton ein Beispiel vor W ILHELM SIN KOV ICZ
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Franz Kafka zu Kurt Wolff, 1912
» Ich werde Ihnen immer viel dankbarer sein für die Rücksendung meiner Manuskripte als für deren Veröffentlichung. «
Augen, wie es einem ergeht, der rücksichtslos gegen alle menschliche Natur ein (künstlerisches) Ziel verfolgt: Der Sonnenwagen-Lenker stürzt ab, wie später der mordende Goldschmied der Rachsucht der Menge erliegt. Der Geselle aber tritt das Erbe an – »Das Licht soll regeln in meinem Werk, Dämonen nicht«, lautet die Conclusio. Von solcher Läuterung herrscht in Cardillac I nicht die leiseste Ahnung. Bemerkenswert, wie dieser spätere der beiden Cardillac-Schlüsse in Musik gesetzt ist. Während die Erstfassung faszinierend mit der Disparatheit der zugrundeliegenden barocken Konzertformen und der expressionistisch hochfahrenden Gestik der Melodik samt der dazu passenden dissonanten Harmonik spielt, wird hier ein schlichtes Lied gesungen, in jener Form, die in Richard Wagners Meistersingern der weise Hans Sachs dem jungen Wilden Walther von Stolzing als sicheres Fundament ans Herz legt: Stollen, Gegenstollen, Abgesang; die alte Bar-Form kommt plötzlich wieder zu Ehren. Hindemith hat sie – wie manch andere Anleihe bei den Alten Meistern – in der Zwischenzeit in seiner zweiten großen Oper, Mathis der Maler zu neuen Ehren kommen lassen. »Es sungen drei Engel ein’ süßen Gesang« – hebt dort der Choral bereits wenige Takte nach Beginn des Vorspiels an; eine Ohrfeige für alle, die sich vom Bürgerschreck Paul Hindemith anno 1934 ein weiteres radikales Fortschritts-Bekenntnis erwartet hatten. Freilich, als die Mathis-Musik erstmals zur Diskussion gestellt wurde – die Oper war noch gar nicht komponiert, aber Fragmente gab es und man ordnete sie zur Symphonie –, hieß die Diskussion keineswegs: Können wir uns einen solchen altertümelnden Rückgriff leisten? Mathis der Maler galt zunächst nicht als Umkehr eines ehemals Modernen in den Schoß der Tradition – das war die Position ein Vierteljahrhundert später; im Lichte der Kunst-Doktrinen des Adorno-Kreises. Vor 1945 aber galt Hindemith als unerwünschter Bilderstürmer. Die Nationalsozialisten lasen keine Libretti. Sie begnügten sich mit Vorverurteilungen, die sie in endgültige Verdikte verwandelten. Hitler, der Opern-Begeisterte, hatte in der Berliner Kroll-Oper einmal Hindemiths Neues vom Tage gesehen: Da saß eine nackte Dame in der Badewanne und besang die Vorzüge der Warmwasser-Versorgung. Nichts gegen die Letztere, aber die Nackte auf der Bühne, das war laut NS-Jargon »Kulturbolschewismus«. Hindemith war damit für den »Führer« zum »Entarteten« geworden. Auch heftige Bemühungen vonseiten Wilhelm Furtwänglers und Hindemiths selbst, in Deutschland doch Raum für einen Komponisten seines Formats zu schaffen, fruchteten nichts. Zum Glück, darf man aus heutiger Sicht sagen. Hätten die Nationalsozialisten Hindemiths selbst verfasstes Libretto zum Mathis gelesen, sie hätten manches Zitat gefunden, das sich – wenn auch isoliert betrachtet (doch darin war man ja Meister) – sehr gut zur ideologischen Vereinnahmung geeignet hätte. Nicht zuletzt, weil dem Künstler zuletzt eine Position jenseits jeglicher tagespolitischen »Einmischung« zugewiesen wird. Mathis, der Maler des W ILHELM SIN KOV ICZ
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Kardinals, der sich auf die Seite der unterdrückten Bauern schlägt und im Krieg alle Gräuel und Niedrigkeiten erfahren muss, erhält in der gigantischen Vision der »Versuchung des Heiligen Antonius« den Auftrag: »Du bist zum Bilden übermenschlich begabt. Geh hin und bilde.« Das kommt aus dem Munde des Heiligen Paulus, der freilich identisch ist mit dem Landesherrn und politischen Führer der gegen die Aufständischen gerichteten Reaktion, Albrecht von Brandenburg. Wer daraus jedoch Anbiederungstendenzen herauslesen wollte, läge damit ebenso falsch als wollte er behaupten, das sei die Essenz von Paul Hindemiths ureigenem Kunst-Wollen. Mathis’ Rückzug ins Private folgt zwar ein Schaffensrausch, aber auch die Resignation. Man erinnert sich an Arthur Honeggers ein wenig später formulierten, tief traurigen Satz vom Komponisten, »der sich nach Leibeskräften bemüht, etwas hervorzubringen, wofür dann kein Mensch Verwendung hat«. Die Position des Kunstschaffenden in einer Zeit der Kunst-Feindlichkeit beschäftigt den Komponisten und Textdichter Hindemith bis zuletzt. In der Neufassung des Cardillac heißt es im Wechselgesang zwischen dem Goldschmied und der aufgebrachten Menge: »Seid ihr ein Schöpfer, so schafft für Menschen.« Das weist der Künstler entschieden von sich, »für die Menschen, niemals« es gehe lediglich um »die Ehre der Kunst«. Und weiter: »Ihr werdet ein Kunstwerk niemals besitzen.« Das ist die neue, die umgedeutete CardillacPosition. Der Text Ferdinand Lions suggeriert noch die unbewusst-triebhafte Fixierung des Künstlers auf sein Werk. Hindemith arbeitet zurzeit der Neufassung des Cardillac aber bereits an einem Werk, das sein summum opus werden sollte: Die Harmonie der Welt. Hier kämpft Johannes Kepler, kein Künstler im engeren Sinne vielleicht, aber ein genialer Visionär, gegen die Zeitläufte. Anders als Mathis, bekommt er eine metaphysische Perspektive zugewiesen. Die Kepler-Oper endet in einem gigantischen Tableau, das in strahlendem E-Dur die unzerstörbare Ordnung der »musica mundana« besingt. Mag sein, alle »musica humana« ist zum Scheitern verurteilt, also auch der Versuch der Wissenschaft, Klarheit zu bringen, also auch der Versuch der Kunst, die höchste Harmonie zu spiegeln. Dem vergeblichen Versuch, »Ideen und Nutzen zu vereinigen«, wie es in Hindemiths Text heißt, steht immerhin die tröstliche Hoffnung »auf Himmels Wohlklang« gegenüber. Zum Glauben an diesen hat sich Paul Hindemith durchgerungen. Die Erstfassung des Cardillac? Erste Sprosse einer ganz persönlichen Jakobsleiter.
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DIE K Ü NST LERO PER N PAU L HIN DEMIT HS
Manfred Wagner
ZUR STELLUNG DES KÜNSTLERS IN DER GESELLSCHAFT
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Es ist anzunehmen, dass die Kunst, gleichgültig in welcher Ausformung, von Anfang an die Geschichte des Menschen begleitete. Dafür sprechen nicht nur die historischen Funde, die bis 35.000 v. Chr. materiell zurückreichen, sondern auch die bei allen Naturvölkern vorgefundenen Artefakte künstlerischer Provenienz. Der Schamane, um die handfeste Instanz der Gleichzeitigkeit von Priestertum, Medizinmann, Künstler und Philosophen zu beschreiben, vereint in sich personell das Zusammenspiel von Sprache, Ton, Gestik, Bewegung und Magie und ist quasi der Urkünstler der Menschheitsgeschichte, auf dessen Spuren vereinzelt exzentrische Künstler bis zur unmittelbaren Gegenwart wandeln. Die Kreativitätsforschung gibt dieser Vermutung insofern recht, als sie »Kunst als Höchstentwicklung des schöpferischen Potenzials des Menschen in der Versinnlichung seines kognitiven, emotionalen und sozialen Vermögens« definiert (Wagner) und somit die Selbstverständlichkeit einer gewissen künstlerisch kreativen Anlage für alle konstatiert, wie auch die Besonderheit des Berufskünstlers, die entschieden den Status der Normalität übersteigt.
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Damit ist schon von der Logik her eine herausragende Stellung des Künstlers als Urheber von Kunst garantiert, ein Modell, das im Laufe der Zeiten sogar zum alleinigen Kriterium für Bedeutsamkeit erhoben wurde. Grosso modo lassen sich demnach vier Komplexe der abendländischen Kunstgeschichte darlegen, die aus der Kunstbedeutung und ihrer großflächigen Rezeption die Position des Künstlers gegenüber einer Gesellschaft entwickeln.
Antike und Mittelalter Ein eigener Status des Künstlers ist in der Antike nicht vorhanden. Er gilt als Handwerker, auch wenn sein Name bekannt ist. Dieser Bekanntheitsgrad aber resultiert aus der Aufmerksamkeit, die sein prachtvoller und anspruchsvoller Habitus konstruiert (wie beispielsweise Alexander dem Hofmaler Apelles seine Geliebte abtrat oder Zeuxis wegen seiner kostbaren Gewänder und der Unbezahlbarkeit seiner Werke hervorstach). Kein antiker Künstler verlangte in seinem Berufsstatus eine Sonderstellung und alle setzten in ihrer Öffentlichkeit auf Individualität, wobei die Zugehörigkeiten zu den einzelnen Dimensionen der sieben freien Künste (Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie) austauschbar waren. Der Redner Gorgias erlangte ebenso hohe Honorare wie der Maler Parrhasios, während Architekten und Bildhauer gewöhnlich mit Zimmerleuten und Steinmetzen honorarmäßig gleichgesetzt waren (eine Drachme Tageslohn). Wir wissen heute, dass die Aufmerksamkeit für das Leben des Künstlers seine künstlerischen Leistungen derart überstrahlte, dass seitdem die Legendenund Mythenbildung die Konzentration auf das Werk verdunkeln. Dies ging so weit, dass in der römischen Antike der Künstler überhaupt in die Anonymität versank, ein Umstand, der nahezu nahtlos in das christliche Mittelalter überging.
Die Neuzeit Erst die Neuzeit riss den Künstler aus seiner Anonymität. Dies geschah allerdings nicht wegen seines Lebenswandels oder seines angehäuften Reichtums, sondern wegen seiner Schöpferkraft, die nunmehr zuschreibbar war und auch persönlich verantwortet wurde. Die Kunstphilosophen wiesen dem Künstler den Status eines »alter deus« (eines anderen Gottes) zu, womit er verpflichtet war, »das höchste Schöne« (Goethe) zu gestalten, was im 18. Jahrhundert zum Leitbegriff der »inneren Notwendigkeit« wurde. Wie radikal die Renaissance als Grundstein der Neuzeit sich von den vorhergegangenen Epochen unterschied, ist auch daraus ersichtlich, dass die M A N FR ED WAGN ER
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Malerei in den Rang einer Wissenschaft erhoben werden sollte. Der Künstler war nunmehr nicht nur aus der Anonymität herausgetreten, sondern hatte die eigene Welterschaffung vor Augen. Das Werk des Meisters war unwiederholbar und dessen Schöpfer ein Genie. Genie war der Abstandsbegriff des kreativen Hochleisters, der die kleinen Zubringer (Kärrner) zwar benutzte, aber weit hinter sich ließ, der nicht nach Vorschriften seine Arbeit realisierte, sondern nach eigenen Vorstellungen. Das hieß primär aber nicht die Loslösung vom Auftraggeber, wie es später nach der Französischen Revolution geschah. Der Künstler stellte sich mit seinen kreativen Qualitäten jenen höchsten Ansprüchen zur Verfügung, die die gebildeten politischen Machthaber dazu brachte, Kunst als Repräsentanz ihres eigenen hohen Standards einzusetzen und um die Spitzenqualitäten aus der Kunst zu kämpfen, wenn es sein musste mit dem Schwert. Zumeist reichte die hohe Bezahlung oder die Größe des Auftrags aus. Plötzlich war der vormals kaum beachtete Künstler Mittelpunkt der Gesellschaftsszene, was nicht nur explosiv vermehrte Künstlerbiografien zeugte, sondern auch jene Künstleranekdoten, deren Verbreitung bis heute zum unauslöschbaren Repertoire der Kunsterfahrung zählt. Vom Schöpfer zu seinem Kunstwerk war der Weg nicht weit. Das Bild Paul III. von Tizian hielten Passanten für den Papst selbst, dem von Raffael dargestellten Papst Leo X. reichte ein Kurienkardinal Tinte und Feder zur Unterschrift, oder auf Murillos Bild Der heilige Antonius von Padua versuchten sich Vögel niederzulassen. Der »divino artista« kann zaubern (so bei Boccaccio), kann fälschen (wie Michelangelo seinen Amor als Antike verkauft), kann täuschen (wie Brunelleschi im Konkurrenzkampf um die Florentiner Domkuppel), ist virtuos (wie Tiepolo, der ein Gemälde in kürzerer Zeit ausführt, als ein anderer braucht, um seine Farben zu reiben), ist witzig (wie Giotto zum König von Neapel), trickreich (wie Uccello oder Ghirlandaio) oder ironisch (wie Michelangelo), kritisch gegenüber Obrigkeiten (nahezu bei allen Renaissancekünstlern nachweisbar), jedenfalls allen anderen überlegen. Der Künstler darf letztlich unter dem Signet des »divino artista« alles, selbst morden. Benvenuto Cellini, der sich selbst des dreifachen Mordes anklagt, wird nicht verfolgt, ja, von Papst Paul III. nicht nur amnestiert, sondern auch engagiert. Die gesellschaftlich verbindliche Moral hatte hinter der Elevation des Künstlerischen Nachrang. Mit der Ablösung des Feudalsystems durch die neue Bürgerlichkeit, die sich im 19. Jahrhundert langsam durchsetzte, tauschte der Künstler den Auftraggeber gegen den Markt aus. Es blieb aber seine herausragende Stellung als Genie erhalten, allerdings weniger von anderen dazu apostrophiert, sondern aus sich selbst und seinen Erfolgen konstruiert. Die Aufklärung wies dem Künstler die vornehme Aufgabe ihrer Verbreitung mithilfe ästhetischer Mittel zu, wo die Kunstprodukte dazu eingesetzt wurden, das Idealbild einer neuen Gesellschaft zu prägen, den autonomen Bürger, der sich, aber auch dem 63
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Wohl der ihn umgebenden Gemeinschaft verpflichtet war. Die Habsburger von Franz Stephan von Lothringen bis Leopold II. (also nahezu das gesamte 18. Jahrhundert) als Promotoren der Aufklärung von oben blieben beim seit Jahrhunderten geübten Vertrauen in die Kunst, insbesondere die Musik, weil dafür historisch hervorragende Voraussetzungen bestanden (Gegenreformation). Die Wiener Klassik ist die Frucht dieser Konzentration. Wie sehr diese neuen Ideen auf die Zustimmung der Gesellschaft trafen, ist an ihren Erfolgen bis zur unmittelbaren Gegenwart weltweit abzulesen. Andererseits bestand aber auch in der Fehleinschätzung, Kunst und Religion gleichsetzen zu müssen, die Gefahr, mithilfe von Künstlern, die sich als Propheten ausgaben (Wagner), schwerwiegende Krisen herbeizuführen. Dies galt insbesondere für alle nationalistischen Bestrebungen des 19. Jahrhunderts, die letztlich als Urheber der Weltkriegskatastrophen des letzten Jahrhunderts ihre Vorarbeiten leisteten. Als Erbe dieser Ästhetisierung der Politik (Walter Benjamin) ist Adolf Hitler zu nennen, der, so meine ich nach wie vor unwidersprochen, mithilfe ästhetischer Kategorien den rational unerklärlichen Zustrom zu den kruden Ideen des Nationalsozialismus steuerte.
Die Moderne Kennzeichen der Moderne ist nicht nur die von der republikanischen Idee erzwungene Unabhängigkeit vom Auftraggeber und eine bis dahin nie gekannte Dominanz eines (freien) Marktes, sondern auch die Absage an die Sicherheit der Illusion, die Schaffung eines alternativen Weltbildes mit theoretisch formulierten Anforderungen sowie die Ablöse sicherer Ordnungen oder der Vorrang des neuen Machens. Das Ergebnis ist die Künstlerin, der Künstler, der sich bald aus allen Stilen verabschieden muss, ausgenommen seiner Individualität, die ihn ja marktgerecht in ein Logo zusammenfasst, damit man ihn vom Mitkünstler unterscheiden kann. Er wird wieder »Handwerker, Bastler, obendrein Experimentator und Magier, er fertigt Apparate, Pseudo-Idole und Pseudoreliquien« an. Es gibt keine gemeinsame theoretische Vorstellung und keine geachtete Autorität, sondern nur die Umsetzung von Spannungen, wo jede Position jede Menge anderer Gegenpositionen nach sich zieht und damit das allgemeine Verständnis eines gesellschaftlichen Publikums unendlich erschwert. Mir scheint, als würde derzeit im Kunstbetrieb wieder allerlei ausprobiert, was historisch schon bestimmte Rollen einnahm, allerdings nicht in jener beherrschenden Weise, die heute das Geschehen bestimmt. Natürlich gab es im Mittelalter die »artes incertae« (die ungewissen Künste), Beschwörungsformeln der Elemente Erde, Wasser, Feuer und Luft, natürlich die Ausdehnungen in den Mikro- und Makrobereich, die Überschreitungen der Grenzen zur »performativen« Ebene, zu Musik, Literatur, Mimik, Tanz und Architektur. M A N FR ED WAGN ER
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Dazu kommt das Beharren auf dem malerischen Kontext oder dem Bezug zur Skulptur, die Einbeziehung von Elektrotechnik, Chemie, Elektronik, Geruch, Biologischem, natürlich die Reduktion auf den Konzeptgedanken allein oder die Grenzenlosigkeit einer »orbitalen« Kunst. Neu ist, dass die Kategorien beliebig vertauschbar, kombinierbar, vertretbar, ersetzbar, ja, einander dementierbar aufscheinen können. Was bleibt, ist eindeutig. Die Gesellschaft hat nichts oder nur wenig mit dem Gegenstand der zeitgenössischen Kunst an sich zu tun. Sie hält am Künstlerkult fest, wie schon in der Renaissance vorformuliert, oder richtet sich nach übertitelten Gattungselementen, die von kundigen Kunstmanagern nahezu täglich neu erfunden oder zumindest irgendwoher ausgeliehen werden.
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Lorenz Mikoletzky
KUNST IN DER WEIMARER REPUBLIK
← Otto Dix, Großstadt, 1927
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Am 9. November 1918 dankte der deutsche Kaiser Wilhelm II. ab und ging im Gegensatz zu seinem österreichischen Pendant Karl am nächsten Tag ins Exil nach Holland. Damit war der Weg frei zu einem republikanischen Staatswesen, ein jedoch nicht einfacher, umfasste doch das Deutsche Reich viele Einzelstaaten, die nicht gleich unter eine einheitliche Neuordnung gebracht werden konnten. Die alten Regimes brachen in sich zusammen, als die Matrosen in Kiel meuterten und ihre Revolte in dem kriegsmüden Land auf die Garnisonen des Heimatheeres und auf die Arbeiter übersprang. So entstanden zu Beginn neben Soldaten- auch Arbeiterräte, wobei Letztere sich schon in den letzten Jahren des Ersten Weltkriegs gebildet hatten. Es kam in der Folge zu regen Diskussionen, ob ein Rätestaat oder eine parlamentarische Demokratie die bessere Staatsform wäre, wobei die Sozialisten, selbst in sich stark gespalten, die politische Macht nach den Novemberereignissen in Händen hatte. Ein Rat der Volksbeauftragten sollte den Weg in republikanische Bahnen ebnen. Bürgerkrieg, Streiks und Grenzkämpfe markieren LOR ENZ MIKOLETZK Y
hier den Weg (Berliner Spartakusaufstand, Ruhrgebietsunruhen etc.) zu der am 6. Februar 1919 in Weimar zusammentretenden Nationalversammlung. Die Regierung unter Friedrich Ebert wählte diesen Ort statt Berlin, um dem Druck der großstädtischen Massen zu entgehen, sekundär war die Symbolkraft des Wortes Weimar. Der 28. Juni 1919 brachte die Unterzeichnung des Vertrags von Versailles, in dem das Reich ein Siebentel seines Gebietes und ein Zehntel seiner Bevölkerung verlor. Dieser Friedensvertrag führte aber nicht zu der erwarteten politischen Ruhe, sondern aus heutiger Sicht geradewegs zum Dritten Reich. Das Jahr 1919 endete für viele im deutschen Volk in Enttäuschung und Verbitterung und als im folgenden Jahr der Versailler Vertrag in Kraft trat, nahm die Auflehnung gegen diesen noch besondere Formen an: Die Niederlage im Krieg wurde nicht als Niederlage gesehen, das Heer war zwar zurückgewichen, aber es war nicht zerschlagen worden. Die »Dolchstoßlegende« war die Folge. Nicht der äußere Feind habe die Widerstandskraft der unbesiegten deutschen Armee gebrochen, sondern die innere »Revolution«. Die Weimarer Republik blieb weiter gekennzeichnet durch den Kampf um Reparationen, innere Putschversuche, aber auch durch zahlreiche Versuche, in dem neuen Europa entsprechend Fuß zu fassen. Persönlichkeiten wie etwa Gustav Stresemann setzten hier wesentliche Akzente. Ähnlich der österreichischen Regierungslandschaft wechselten auch im Deutschen Reich zwischen 1919 und 1933 die Regierungen und ihre Protagonisten relativ oft, und doch war gerade diese Zeit von Kultur und Geist geprägt, an die noch heute Erinnerungen wach werden, wenn man auf Entwicklungen zurückblickt, die sich im Bewusstsein der Zeitgenossen so einprägten und heute weiterwirken, als wären nicht schon mehrere Generationen seither vergangen. Dass vieles nach 1933 der Verfolgung und Vernichtung anheim fiel, nicht nur durch die Ausschaltung des jüdischen und anderweitig missliebigen Geisteslebens, ist bis heute noch nicht »verkraftet«, aber die Zeit vor der menschenverachtenden nationalsozialistischen Epoche hat Zäsuren gesetzt, von der auch das 21. Jahrhundert und die folgenden Zeiten noch zu zehren haben. Es war die Zeit, in der ein Thomas Mann (Nobelpreis 1929) und ein Bert Brecht neben einem Gerhart Hauptmann, Georg Kaiser oder Frank Thieß publizierten. In der einer der bis heute bedeutendsten Theatergestalter Max Reinhardt seine große Zeit in Berlin hatte (Sommernachtstraum 1921). Aber auch Erich Kästners Kinderroman Emil und die Detektive 1929 erschien. Ein breites Literaturspektrum, das heute noch gelesen wird, findet sich in den Bibliotheken, auch wenn nach Hitlers Machtergreifung versucht wurde, hier Namen und Titel zu eliminieren. War die Literatur Muße setzend, so ist es auf dem Gebiet der Musik nicht anders. Dabei waren international viele österreichische Künstler federführend, die in der Weimarer Republik lebten und lehrten. Auf dem Gebiet des LOR ENZ MIKOLETZK Y
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Stumm- bzw. Tonfilms waren hier ebenso Personen aus dem südlichen Nachbarland tätig wie bei der Musik. Es kam zum regen Austausch zwischen Wien und dem Deutschen Reich, wenn man an Richard Strauss denkt, der nicht nur durch seine bedeutenden Werke kulturprägend wirkte, sondern auch in seiner Tätigkeit als Kodirektor der Wiener Staatsoper Akzente setzte. Im Gegenzug zu einem Wohnsitz in Wien erhielt Österreich die Originalpartitur des Rosenkavalier, wobei böse Zungen meinten, dass der Komponist mehrere »Original«-Exemplare angefertigt hätte, um andernorts mehreres für sich zu erreichen. Als unter anderem in Berlin wirkende Persönlichkeit aus Österreich soll Arnold Schönberg genannt werden, der mit seiner Opernkomödie im Zwölftonstil Von Heute auf Morgen (1929) interessanterweise im selben Jahr an die Öffentlichkeit trat, in dem Paul Hindemith ebenfalls eine heitere Oper Neues vom Tage vorlegte. Parallel zu diesen Musikströmungen setzte sich seit Anfang der 20er Jahre der Jazz in Deutschland durch, nicht nur in der Tanzmusik, sondern auch etwa bei Ernst Kreneks Jonny spielt auf (1927) und diesem vorausgehend Der Sprung über den Schatten (1923), einer komischen Jazzoper, oder in Kurt Weills Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (1929). Letzterem gelang in kongenialer, bis heute in seinem Ergebnis unübertroffener Zusammenarbeit mit Bert Brecht Die Dreigroschenoper, auch mit Hindemith gab es eine Zusammenarbeit bei dem gemeinsamen Werk Lindbergh-Flug. Nicht zu vergessen sei Hans Pfitzner, ein sehr schwieriger, sich immer wieder verfolgt fühlender Komponist, der in das Fahrwasser des Nationalsozialismus geriet, dessen Palestrina aber ein doch bis heute wesentliche Akzente setzendes Musikdrama ist, das schon 1917 entstanden war. Die reiche Palette der leichten Muse (Léon Jessel, Walter Kollo, Nico Dostal, aber auch die Österreicher Ralph Benatzky, Oscar Straus) in der Weimarer Republik kann nur erwähnt werden. Eng mit diesen Künsten waren aber auch die Bildenden verbunden, arbeiteten doch viele Vertreter dieses Fachs immer wieder mit Theater und Film zusammen. Mehrere reichten mit ihren Arbeiten schon aus der Kaiserzeit in die Republik, andere hatten ihre Hochzeit in den Jahren vor 1933, es können hier nur stellvertretend Namen genannt werden wie Ernst Barlach, Max Liebermann, Wassily Kandinsky, Emil Nolde, Käthe Kollwitz. Das Kulturleben der Jahre 1918/1919 bis zum 30. Jänner 1933 muss zentriert auf und in der Weimarer Republik als ausgesprochen reich und Maßstäbe setzend bezeichnet werden. Diesem wurde mit der sogenannten Machtergreifung durch Adolf Hitler ein abruptes Ende bereitet. Ab dann war Kultur das, was die Herrschenden vorgaben, und darunter hatte auch Paul Hindemith zu leiden.
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Konrad Paul Liessmann
DER BÖSE STERN
Cardillac und der Wahnsinn der Genies
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Am 3. Juli des Jahres 1822 absolviert ein junger Schriftsteller gemeinsam mit einem Freund einen denkwürdigen Besuch: Sie betreten ein rundes Zimmer, worin eine »schreckliche Gestalt« steht: »Der Mann lehnte seine rechte Hand auf einen an der Türe stehenden Kasten, die linke ließ er in den Hosentaschen stecken, ein verschwitztes Hemd hing ihm über den Leib und mit seinem geistvollen Auge sah er mich so mitleids- und jammerwürdig an, dass mirs eiskalt durch Mark und Bein lief. Ich stand da, wie ein Gerichteter.« Diese Begegnung lässt den jungen Schriftsteller nicht mehr los. Am 7. August notiert er in seinem Tagebuch: »Er regt mich auf. Gott! Gott! Diese Gedanken, dieser kühne hohe reine Geist und dieser wahnsinnige Mensch.« Und einen Tag später vertraut der Jungdichter seinem Tagebuch an: »Nur einen Wahnsinnigen möcht’ ich schildern, – ich kann nicht leben, wenn ich keinen Wahnsinnigen schildre.« Der hoffnungsvolle Schriftsteller war der heute vergessene Wilhelm Waiblinger; der Kranke, dessen Bild ihn nicht mehr losgelassen hat, war Friedrich Hölderlin, der damals schon seit 16 Jahren in geistiger Umnachtung in seinem Turmzimmer in Tübingen dahinlebte und noch weitere 20 Jahre dahinleben wird. Die Szene zwischen Waiblinger und Hölderlin selbst aber war die Geburtsstunde eines romantischen Topos: der wahnsinnige Künstler. Waiblinger hat an diesem Topos in zweifacher Weise entscheidend mitgewoben. Seine Erlebnisse mit Hölderlin hat er zu einem ausführlichen Bericht verdichtet. Dieser Text mit dem schönen Titel Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn gehört zu den wichtigsten Dokumenten, die wir vom kranken Hölderlin besitzen, und das Bild des in geistiger Umnachtung dahindämmernden Dichters, das uns bis heute begleitet und immer wieder zu Spekulationen Anlass gibt, geht im Wesentlichen auf Waiblinger zurück. Waiblinger hat aber auch seinen Roman geschrieben, den Roman eines wahnsinnig gewordenen Künstlers, eines Malers und Bildhauers: Phaëthon: »Phaëthons Zustand war schrecklich. Er rang und kämpfte sich wund. Den Tag über arbeitet’ er. Man hört’ ihn oft die halbe Nacht hindurch laut weinen. Keine Seele war um ihn, die ihn hätte trösten, seinen Schmerz lindern können… Immer aber sprach er von Reinheit. Er hatte lauter fixe Ideen, die ihm niemand berühren durfte.« Hier sind alle Charakteristika des wahnsinnig gewordenen Künstlers versammelt: der äußere Verfall, die innere Leidenschaft, die emotionale Enthemmung, die Sehnsucht nach Reinheit, die schweren Depression und eine fixe Idee. Nahezu zeitgleich, im Jahre 1820, veröffentliche der romantische Dichter und – so Rüdiger Safranski – »skeptische Phantast« E. T. A. Hoffmann die Erzählung Das Fräulein von Scuderi, die dann in seinen Novellenzyklus Die Serapionsbrüder aufgenommen wurde. Diese Erzählung gilt als erste deutsche Kriminalgeschichte, sie könnte ebenso gut als frühes Dokument jener romantischen Konzeption eines Zusammenhangs von Kunst und Wahnsinn gelten, die Waiblinger durch sein Hölderlin-Porträt geprägt hat. Allerdings: KON R A D PAU L LIE S SM A N N
← Francisco de Goya, Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer
Während Waiblingers Hölderlin und seine diesem nachempfundene Kunstfigur Phaëthon eher von jenem »göttlichen Wahn« gekennzeichnet sind, die schon der Philosoph Platon in der Antike den Dichtern und den Sehern zugestand, betont Hoffmann die dunkle Seite dieser Genialität. Cardillac, die sinistre Hauptfigur dieses Schauerstücks, ist ein begnadeter Goldschmied, also ein Kunsthandwerker, der sich von den von ihm geschaffenen Prunk- und Schmuckstücken nicht trennen kann und deren Käufer ermordet, um seine Werke behalten zu können. Hoffmann liefert auch gleich eine nahezu tiefenpsychologische Erklärung für den mörderischen Wahn des Goldschmieds. Sein »böser Stern« war aufgegangen, als seine Mutter, schon mit ihm schwanger, der Verführung eines Offiziers, der mit einem kostbaren Geschmeide lockte, fast nachgegeben hätte. Doch kurz bevor es zum Geschlechtsakt kommt, stirbt der Verführer eines rätselhaften Todes, was die schwangere Frau in Schockstarre versetzt. Cardillac aber, das Kind, ist von frühester Jugend dem goldenen Geschmeide verfallen, giert danach, will es bearbeiten, veredeln, das Schönste aus Gold und Edelsteinen herausholen und kann sich nicht von dem trennen, was er virtuos erschafft. Paul Hindemith und sein Librettist Ferdinand Lion haben dieser Geschichte alle kriminalistischen Elemente genommen, das als Detektivin fungierende betagte Hoffräulein von Scuderi kommt erst gar nicht mehr vor. Im Vordergrund des Librettos steht das Motiv des Künstlers, der sein eigenes Werk mit einer an Raserei grenzenden Inbrunst liebt. Der Offizier und Liebhaber von Cardillacs Tochter, der selbst fast ein Opfer des Goldschmieds geworden wäre, ist ebenso von dessen Genialität überzeugt wie seine Geliebte: »Er war das Opfer eines heil’gen Wahns«. Durch den Rückgriff auf die Platonische Denkfigur werden die Mordtaten noch im Nachhinein gerechtfertigt: Es sind Opfer, die der Kunst gebracht werden müssen. Zweifellos gefiel sich das 19. Jahrhundert in dieser Engführung von künstlerischer Genialität und den verschiedenen Formen des Wahnsinns. Seit der Genieästhetik des Sturm und Drang war der Künstler immer zum Außenseiter geworden, der aus einer inneren, unbändigen natürlichen Kraft schafft und das Recht hat, alle gesellschaftlichen und moralischen Konventionen zu sprengen. Das rückt ihn in die Nähe des Wahnsinnigen, dessen Pathologisierung sich – wie Michel Foucault gezeigt hat – erst mit der Entwicklung der modernen Psychiatrie durchgesetzt hat. Die Abweichung des Künstlers von der Norm als Voraussetzung für Kreativität. Arthur Schopenhauer bestimmte so in seinem einflussreichen Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung das Genie durch ein »abnormes Übermaß an Intellekt«. Auch wenn Schopenhauer dem Genie keinen Wahnsinn im pathologischen Sinn unterstellen wollte, ist es doch durch gravierende Abweichungen vom Normalen gekennzeichnet. Das Genie ist besessen von seiner Sache, die es um ihrer selbst willen betreibt; pragmatische Nützlichkeitserwägungen und Rücksichtnahmen gegenüber
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seinen Zeitgenossen kennt es so wenig wie moralische Schranken; es bewahrt sich außerhalb der Sphäre der Kunst ein unterentwickeltes, kindliches Gemüt, blickt neugierig, aber teilnahmslos auf die Welt. Und: es hat einen notwendigen Hang zu Melancholie und Einsamkeit. Viele diese Charakteristika könnten direkt der Figur des Cardillac abgeschaut sein. Cardillac geht es nur um seine Kunst, sogar das Liebesleben seiner Tochter ist ihm egal. Cardillac treibt die Selbstbezüglichkeit künstlerischer Tätigkeit allerdings ins Extreme. Er will das, was er schafft, vielleicht auch deshalb nicht aus der Hand geben, weil die Käufer dieses Werk nicht angemessen schätzen, nicht um seiner selbst willen bewundern, sondern für ihre schnöden, nicht zuletzt erotischen Interessen einsetzen und dadurch entwürdigen. Dieses »Cardillac-Syndrom« lässt sich immer wieder bei Künstlern beobachten, die sich nur schwer von ihren Werken trennen können. Und dies gilt nicht nur für Maler oder Bildhauer, die Originale herstellen, sondern auch für so manchen Schriftsteller, der Schwierigkeiten hat, sein Manuskript zum Druck zu befördern und es lieber für sich behielte. Die kriminelle Energie allerdings, die der Goldschmied entwickelt, dokumentiert nicht nur die Rücksichtslosigkeit, die der Künstler um seiner Kunst willen an den Tag legt, sondern eröffnet ein weiteres Beziehungsgeflecht: das zwischen Genie, Wahnsinn und Verbrechen. Im Jahre 1872 veröffentlichte der italienische Psychiater Cesare Lombroso das Buch Genio e follia (Genie und Irrsinn), in dem er dem künstlerischen Genie nicht nur einen permanenten psychischen Ausnahmezustand bescheinigte, sondern diesem auch Ähnlichkeiten mit kriminellen Anlagen zusprach. Dass die künstlerische Begabung notwendig mit gravierenden psychischen Störungen zusammenhängt, war ein Gedanke, der sich allerdings auch in der ganz anders gearteten Psychoanalyse Sigmund Freuds wiederfindet. Der Künstler, so Freud, ist ein »Introvertierter, der es nicht weit zur Neurose« hat. Er ist von überstarken Triebbedürfnissen geprägt, die er allerdings durch seine Fantasie so kanalisieren kann, dass auch andere Menschen daran Gefallen finden. Wie weit diese Identifikation von psychischer Krankheit und Kreativität gehen kann, zeigte dann das 1928 erstmals erschienene, seitdem immer wieder bearbeitete und erweitere Buch von Wilhelm Lange-Eichbaum: Genie – Irrsinn und Ruhm. Darin heißt es klipp und klar: »Der begabte Psychopath bringt die günstigsten Bedingungen für das Kunstschaffen mit.« Lange-Eichborn und seine Nachfolger haben dann auch fast keinen Künstler von dieser psychopathischen oder »bionegativen« Disposition freigesprochen. Nicht nur bekannte Fälle wie Vincent van Gogh, Friedrich Hölderlin oder Friedrich Nietzsche finden sich da, auch Goethe, Albrecht Dürer und Rembrandt werden diese prekären Voraussetzungen zuerkannt. Die Figur des mordenden Goldschmiedes Cardillac steht also am Beginn einer Entwicklung, die dem Rätsel und der Ambivalenz künstlerischen Schaffens durch seine Pathologisierung näher kommen wollte. Der romantische KON R A D PAU L LIE S SM A N N
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Topos vom Künstler als Grenzgänger zwischen Genie und Wahnsinn hat sich auch in der modernen wissenschaftlichen Welt gehalten, bis hin zu neueren Untersuchungen, die einen Zusammenhang zwischen Kreativität und einer Disposition zu affektiven Störungen erkennen wollen. Die nüchterne, emotional unterkühlte Musik, der Theodor W. Adorno mit eher pejorativem Unterton eine »schmucklose Objektivität« bescheinigt hatte, mit der Paul Hindemith das Schicksal eines Künstlers komponiert, der sich nicht von seinem Werk trennen kann und deshalb über Leichen geht, steht allerdings in einem merkwürdigen Kontrast zur romantischen Ausdeutung dieses brisanten Verhältnisses von Genie und Wahnsinn. Nicht zuletzt in diesem Widerspruch könnte die Faszination dieser Oper liegen.
→ 3. Akt, Bühnenbildentwurf von Robert Kautsky, Wiener Erstaufführung 1927
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DIE DUNKLEN HELDEN DER ROMANTIK
← Carl Gustav Carus, Blick durch das Fenster einer Burgruine auf eine gotische Kathedrale, um 1852
Die große Zeit der Aufklärung, der versuchten analytischen Durchdringung des Seins, der klaren und wissenschaftlichen Brillanz war vorbei. Es formierten sich die Jünger einer neuen Epoche, die die Fesseln des Festmachbaren und Beweisbaren abzustreifen versuchten. Die Romantik, durchdrungen vom Willen der Universalpoesie, die alle Bereiche des Lebens mit dem Geist des Künstlerischen, des Schaffens – eben des Poetischen – erfüllen sollte, trat an, um das Um- und Übergreifende, das Zusammenfassende zu propagieren. Das Unsagbare, Unaussprechliche, das vom Geist kaum zu umfassende, jedenfalls aber niemals in Zahlen, Daten und Fakten Niederschreibbare gewann Oberhand, die von der Aufklärung vertriebenen Mysterien und Transzendenzen wurden mit neuem Leben gefüllt. Im Großen und Ganzen war der Glaube an die Allmacht des reinen menschlichen Geistes – was die umfassende Erkenntnisfähigkeit durch scharfen Intellekt anbelangte – nicht mehr unumstritten, die Lösung aller menschlichen, gesellschaftlichen und politischen Probleme nur durch exakte Analyse schien nicht mehr möglich.
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Und es trat noch eine weitere Ebene hinzu, das Dunkle wurde entdeckt, die Nachtseite als komplementäres Element ins Spiel der Farben aufgenommen. War doch gerade die Romantik getragen vom Geist des Gegensatzes, des (scheinbaren) Widerspruchs, wie August Wilhelm Schlegels berühmtes Diktum »Das Romantische überhaupt besteht im Kontraste« feststellte. In der genannten Opposition zum Enthüllten hatte das Verhüllte, das Geheimnis nun Hochkonjunktur: Wer Geister sehen konnte, war sich des großen Zulaufs sicher, wer die Kunst der Wunderheilung ausübte, brauchte sich über Patientenschwund nicht zu beklagen, wer das Weltenende aus des abendlichen Vogelflug herausgelesen hatte, war am nächsten Tag mitten im Zentrum des Interesses. Offenbarung und Untergang, Teufelsaustreibungen und Séancen, Beschwörungen aller Arten und der Kontakt zum Jenseitigen waren so beliebt wie selten zuvor. Selbst jene, die es noch mit der Aufklärung hielten, schielten im Geheimen bereits interessiert zum in der Transzendenz verfangenen Nachbarn. Und man las. Gerade die Romantik zeichnete sich durch eine explosionsartig ansteigende Zahl an Büchern aus, man las zu allen Uhrzeiten, allen Gelegenheiten, zu allen Anlässen, in Gemeinschaft oder zurückgezogen. Das Gedruckte wurde zur Reflexionsfläche der menschlichen Befindlichkeiten, man fand sich wieder in den Helden der Romane, die nun wie am Fließband produziert wurden. Die Abenteuer, die man bislang für höchstpersönliche Fantasmagorien gehalten hatte, waren nun plötzlich gemeinschaftlich geworden, man konnte also seufzen mit den Liebesschwüren der Romanhelden, teilnehmen an den Wandlungen und dem Suchen der Figuren. Und in den Helden spiegelte sich das eigene Wollen, oder man folgte mit leichtem Gruseln den Protagonisten auf ihren oftmals abenteuerlichen Wegen. Fasziniert war man von der umfassenden Größe einer menschlichen Seele, war sie nun existent oder nur erdichtet; in der Groteske fand das Publikum den Zugang zu inneren Fantasiewelten, fand die Freiheit des Gedankens, fand die mannigfaltigen Ausprägungen des Geistes vor. Und da man eben das Umfassende liebte, liebte man auch die Schattenseiten des Seins. Das Nicht-Erklärbare, das Dunkle und in seiner Genialität auch Verfluchte, das waren die Themen, die vor dem Kamin ein sanftes Grauen hervorrufen konnten. Die zerklüfteten Seelen und Irrenden, die schwarzen Gestalten, die unter einem bösen Stern geboren wurden, von Geburt gezeichnet waren mit dem Kainsmal des Verworfenen, auch die Unbezwingbaren: mit ihnen wollte man sich zwar nicht identifizieren, doch man sah ihnen in ihrem Leiden fasziniert zu. Überhaupt das Geheime: Die durch den Rationalismus ausgetrockneten Geister lechzten förmlich nach dem Unerklärlichen, Gefahrvollen. Verschwörungstheorien waren in Mode, Geheimbünde schienen Allmacht zu besitzen. In der Literatur bedeutete das, dass der arglose Held in die Fänge eines solchen Geheimbundes kam, dort von Unbekannten verleitet, verführt, zerstört wurde, in Fallen tappte, sich aus einem Netz von Intrigen OLI V ER LÁ NG
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kaum befreien konnte. Karl Grosses Der Genius ist ein Beispiel eines solchen Romans, doch auch in Jean Pauls Titan oder dem unglücklich Suchenden William Lovell von Ludwig Tieck finden sich diesbezügliche Spuren. Sogar noch weiter ging es, die schwarze Magie wurde wiederentdeckt, wie zum Beispiel in Ludwig Tiecks Erzählung vom Liebeszauber, die zusätzlich in ein schauerliches Finale – eine Erdolchung – mündet. Kein Wunder auch, dass Mary Shelleys berühmter Frankenstein in die 10er Jahre des 19. Jahrhunderts fällt: das Monströse, Dämonische erregte ebenso wie es abstieß. E. T. A. Hoffmann, der auch dem Dunklen näher war als viele seiner literarischen Kollegen, zeigte sich in seiner Jugend gerade vom genannten Genius mehr als hingerissen, unzählige Leidenschaften wallten in ihm auf und setzten seinen Geist »in eine Art von matter Betäubung«, wie er 1795 an seinen Freund Hippel schrieb. Und er produziert Texte, die das Entsetzliche auf die Spitze trieben. In den Elixieren des Teufels etwa berichtet er vom Mönch Medardus, der auf eine verworrene Lebensreise geschickt wird, die einer Anzahl von Personen das Leben kostet. Zwischen Wahn und Wirklichkeit ist dieser Weg, das grausige Umhertappen führt ihn in Verliese, zu einer getöteten Geliebten, einem gruseligen Doppelgänger, einer psychotischen Wahnwelt, aus der es kein Entrinnen zu geben scheint. Und doch: Der romantisch finstere Held erzwang Bewunderung, füllte einen Emotionsraum aus, den das Helle und Klare nicht bewältigen kann. Nicht Gott, nicht Herr gebietet über einen solchen, der vielleicht nur vom dunklen Stern getrieben wird, aber widersteht, selbst wo sich alles gegen ihn verschworen hat. Die Raffinesse, mit der Hoffmanns Cardillac seine Morde verübt, wie er die Schmuckstücke seiner Opfer präzise in seinem Versteck ordnet, der Zwang, der mit dem Genialen gekoppelt zu sein scheint, in dem das eine das andere bedingt, all das übte einen Reiz auf die Leserschaft aus. Ein Manfred des Lord Byron, der sich in seinem faustischen Suchen selbst gegen Hölle und Himmel stellte, selbst in seinem Tod die Zuwendung der Kirche ablehnte, also ein ganz Verworfener von Gott und Welt war, ein solcher machte Furore. All die auf den Weltmeeren versprengten, die das Glück in einer unschuldigen, aufopferungswilligen Jungfrau suchten, waren aus demselben Holz geschnitzt, und in wie vielen Stuben träumten eben diese unschuldigen Jungfrauen von der Aufopferung für solch eine dunkle Seele! Selbst die grauenhafte Schuld, die oftmals von diesen schwarzen Figuren getragen werden musste, nahm nichts von ihrer Anziehungskraft; vielmehr noch, sie förderte sie...
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Andreas Láng
CARDILLAC AN DER WIENER STAATSOPER
Die Bedeutung von Cardillac zeigt sich in Wien gleich an mehreren Faktoren. Zunächst an der Zahl der Neuproduktionen – mit der aktuellen Inszenierung von Sven-Eric Bechtolf sind es bereits vier szenische Umsetzungen, die das Werk an der Wiener Staatsoper erlebt hat: 1927, 1964, 1994 und 2010 lauten die Jahre der jeweiligen Premieren. Für ein in der Entstehungszeit (und auch heute noch) modern anmutendes Werk des 20. Jahrhunderts eine doch erkleckliche Anzahl! Aber auch die Interpretenriege, die sich dieser Oper hierzulande seit der Wiener Erstaufführung gewidmet hat, spricht für sich: Irmgard Seefried etwa, Wilma Lipp, Gerhard Stolze, Otto Wiener, Alfred Jerger, Adrianne Pieczonka, Franz Grundheber bei früheren Produktionen; und später – unter der Leitung Franz Welser-Mösts, des ehemaligen GeneralA N DR EAS LÁ NG
→ Abendzettel der Wiener Erstaufführung, 1927
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musikdirektors des Hauses –, Juha Uusitalo, Juliane Banse, Herbert Lippert, Tomasz Konieczny, Alexandru Moisiuc, Ildikó Raimondi, Angela Denoke, Markus Marquardt und Matthias Klink. Ebenso der Umstand, dass der damalige Staatsoperndirektor Franz Schalk, »sein« konservatives Publikum kennend, dennoch beschloss, Paul Hindemiths Cardillac bereits 1927, also wenige Monate nach der Dresdner Uraufführung, erstmals im Haus am Ring herauszubringen. Darüber hinaus fallen die immer kürzere werdenden Pausen zwischen den jeweiligen Neuproduktionen und die steigende Zahl der Aufführungen pro Neuinszenierung auf. Dauerte es nach der Wiener Erstaufführung noch 37 Jahre bis zur nächsten Cardillac-Premiere, lagen zwischen der aktuellen und der davorliegenden »nur« mehr 16 Jahre. Verschwand die erste Inszenierung schon nach drei Aufführungen vom Spielplan, kam die 1994er-Produktion auf immerhin 15 Vorstellungen. Und wie verhielt sich die Wiener Musikkritik im Laufe der Jahrzehnte zu Cardillac? Nun, auch hier fand ein Umdenken weg von einer Fundamentalopposition gegen Hindemiths Musik und hin zu einer anerkennend lobenden Zustimmung. Hieß es 1927 beispielsweise in der Neuen Freien Presse noch: »Der Komponist dieser Oper steht tatsächlich der jüngst ausgerufenen Musik der Bewegung und der Maschine nicht fern, der Bewegung mit kontrapunktischen Missklangshindernissen, der Maschine als Trägerin seelenloser Mechanik«, lautete das Urteil der Presse im Jahre 1994 folgendermaßen: »Man sollte sich Paul Hindemiths packendstes Musikdrama Cardillac in der Staatsoper ansehen. Des Stückes wegen!« Die Beurteilungen der ersten drei szenischen Umsetzungen in Wien waren mehr als unterschiedlich. Dem Regisseur der Wiener Erstaufführung Hans Schüler schallte zwar vorauseilend der Vorwurf »schon wieder ein [ausländischer] Gast« entgegen, seine Arbeit wurde aber insgesamt positiv aufgenommen. Paul Hagers szenisches Konzept des Jahres 1964 vermochte Kritik und Publikum weit weniger zu überzeugen, Marco Arturo Marellis Inszenierung von 1994 stieß auf deutlich größere Zustimmung und jene von Bechtolf wurde schließlich sehr gelobt. In einem nicht unwesentlichen Punkt gleichen sich die vier Produktionen: Gespielt wurde respektive wird jeweils die erste Fassung der Oper, also jene von 1926 und nicht die später nachgereichte von 1952. Freilich, bei der Wiener Erstaufführung von 1927 gab es ohnehin keine Wahlmöglichkeit, aber bei den anderen Malen galt es eine Entscheidung zu treffen, und sie fiel stets zu Gunsten der kompakteren und originäreren Originalversion aus. Hatte Paul Hindemith an der Wiener Staatsoper 1958 immerhin zwei Vorstellungen seines Mathis der Maler dirigiert, so konnte sich die Hoffnung, den Komponisten zumindest als Besucher einer Cardillac-Vorstellung nach dem Zweiten Weltkrieg im Haus am Ring begrüßen zu dürfen, nicht erfüllen. Er A N DR EAS LÁ NG
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starb rund einen Monat vor der 1964er Wiener Cardillac-Premiere, sodass im damaligen Monatsprogrammheft nur mehr der folgende Satz betroffen vermerkt werden konnte: »Dass die Aufführung der Urfassung von Paul Hindemiths Oper Cardillac zu einem Requiem für den Komponisten werden könne, hatte niemand befürchtet.« Im Zusammenhang mit der Wiener Erstaufführungsserie sei noch auf ein Kuriosum hingewiesen. »Durfte« die Oper Cardillac bei der Premiere am 3. März 1927 noch allein den Abend bestreiten, musste sich das Werk in den nachfolgenden beiden Aufführungen ein angehängtes Ballett »gefallen« lassen und zwar Franz Salmhofers Das lockende Phantom. Bei den drei späteren Produktionen blieb Cardillac von solchen Zusatzprogrammen glücklicherweise verschont.
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Impressum
Paul Hindemith CARDILLAC Spielzeit 2022/23 Wiederaufnahme (Premiere der Produktion: 17. Oktober 2010) HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Sergio Morabito, Oliver Láng, Andreas Láng Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Irene Neubert Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin Lektorat: Martina Paul Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH, Bad Vöslau TEXTNACHWEISE Alle Beiträge dieses Programmbuches waren Originaltexte für das Programmbuch der Wiener Staatsoper aus dem Jahr 2010 BILDNACHWEISE Coverbild: James Rosenquist, Pink Condition, 1996 (Detail) © 2022 James Rosenquist, Inc./ Licensed by Bildrecht, Vienna 2022. Used by permission. All rights reserved. Szenenbilder Seite 2, 3, 5, 6, 12, 13, 19, 20, 29, 34, 35, 42, 49-51, 70, 71: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH Seite 30, 66, 78: akg-images Seite 33, 60, 77: Österreichisches Theatermuseum Seite 36, 38, 41, 45, 52: Hindemith-Institut Frankfurt Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie Kürzungen werden nicht gekennzeichnet. Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.
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