Programmheft »Die Frau ohne Schatten«

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RICHARD STR AUSS

DIE FRAU OHNE SCHATTEN


INHALT S.

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DIE HANDLUNG S.

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ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH S.

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»DIE PARTITUR IST WUNDERBAR EINDEUTIG!« CHRISTIAN THIELEMANN IM GESPRÄCH S.

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DIE QUALITÄT EINES MÄRCHENS VINCENT HUGUET IM GESPRÄCH S.

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DIE FRAU OHNE SCHATTEN RICHARD STRAUSS S.

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»KNOTEN IM HERZEN LÖSEN« S.

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DER SCHATTEN IST ZUR DÄMMERUNG AM SCHÖNSTEN LOUIS GEISLER S.

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ÜBER LIEBE UND VERLIEBTHEIT FRANCESCO ALBERONI S.

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»… DIE LETZTE ROMANTISCHE OPER« CHRISTIAN WILDHAGEN S.

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IM AUSNAHMEZUSTAND DANIEL FROSCHAUER S.

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WAS BLEIBEN SOLL, BLEIBT ANNA BAAR S.

54

»SIE SIND DA PONTE UND SCRIBE IN EINER PERSON…« THOMAS LEIBNITZ

S.

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ZUR ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER FRAU OHNE SCHATTEN HUGO VON HOFMANNSTHAL S.

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»EINE SACHE, DIE MIT GEWALT HERVOR WILL« WALTER DOBNER S.

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EIN GESCHENK AN DIE WIENER ANDREAS LÁNG S.

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1919 AN DER WIENER STAATSOPER OLIVER LÁNG S.

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UNPOLITISCHE BETRACHTUNGEN EINER WELT VON GESTERN OSWALD PANAGL S.

86

DAS MÄRCHEN BRUNO BETTELHEIM S.

88

EINE KÜRZESTGESCHICHTE DER MÄRCHEN BARBARA FRISCHMUTH S.

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MITLEID ARTHUR SCHOPENHAUER S.

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DAS ICH UND DIE ANDEREN ALEXANDER BATTHYÁNY S.

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ICH BIN DURCH DICH SO ICH ARNOLD METTNITZER S.

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IMPRESSUM


STERNENNAMEN RIEF ICH AN, REIN ZU BLEIBEN VON MENSCHENSCHULD! BLUT IST IN DEM WASSER, ICH TRINKE NICHT! KAISERIN, 3. Aufzug


RICHARD STR AUSS

DIE FRAU OHNE SCHATTEN OPER in drei Aufzügen op. 65 Text HUGO VON HOFMANNSTHAL

ORCHESTERBESETZUNG 2 Piccoloflöten / 2 Flöten 2 Oboen / 1 Englischhorn 3 Klarinetten / 1 Bassklarinette 1 Bassetthorn / 3 Fagotte / 1 Kontrafagott / 4 Hörner 4 Tenortuben / 6 Trompeten / 4 Posaunen / 1 Basstuba Schlagwerk / 2 Harfen 2 Celestas / 1 Glasharmonika Violine I / Violine II / Viola / Violoncello BÜHNENMUSIK 2 Flöten / 1 Oboe / 2 Klarinetten 1 Fagott / 1 Horn / 6 Trompeten / 6 Posaunen 1 Windmaschine / 1 Donnermaschine Orgel / 4 Tamtams

AUTOGRAPH Richard-Strauss-Archiv Garmisch-Partenkirchen URAUFFÜHRUNG 10. OKTOBER 1919 Wiener Staatsoper SPIELDAUER

4 H 30 MIN

INKL. 2 PAUSEN




DIE FRAU OHNE SCHATTEN

DIE HANDLUNG VORGESCHICHTE Auf der Jagd erlegt der Kaiser eine Gazelle. Sie verwandelt sich in eine junge Frau, in die er sich verliebt und die er zur Gattin nimmt: Es ist die Tochter des Geisterkönigs Keikobad. Doch innerhalb von zwölf Monaten muss sie einen Schatten werfen, sonst versteinert der Kaiser, und die Kaiserin muss zu ihrem Vater zurückkehren. Schließlich bleiben nur noch drei Tage.

OPERNHANDLUNG Der Kaiser, der die drohende Gefahr nicht kennt, bricht wieder zur Jagd auf. Im Geheimen begibt sich die Kaiserin mit der Amme in die Menschenwelt, um dort einen Schatten zu gewinnen. Sie kehren ins Haus des Färbers Barak und seiner Frau ein: Dort herrscht Armut, das Ehepaar lebt mit den Brüdern Baraks zusammen und hat keine Kinder. Die Färberin, unzufrieden mit ihrem Leben und ihrem Mann, lässt sich durch versprochenen Reichtum verführen und ist bereit, ihren Schatten der Kaiserin zu überlassen: Dann aber könnte die Färberin niemals Mutter werden. Anfangs begehrt sie einen schönen, von der Amme herbeigezauberten jungen Mann, doch ihr Gewissen hindert sie daran, Barak, der sie über alles liebt, tatsächlich zu betrügen. Aufgewühlt gesteht sie ihm das Vorgefallene. Für Barak, dessen einziges Ziel das Glück einer großen, innigen Familie ist, bricht eine Welt zusammen: Mordlust steigt in ihm auf. In diesem Augenblick versinkt ihre Welt und beide befinden sich getrennt in einem steinernen Gewölbe: Reue ergreift das Ehepaar, sie erkennen aufs Neue ihre Liebe zueinander. Der Kaiser wiederum meint, von der Kaiserin betrogen worden zu sein, und will ihren Tod: Doch vermag er letztlich nicht, seine Frau zu töten. Die Kaiserin erkennt, dass ihr Glück nur

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DIE HANDLUNG

über das Unglück der anderen – Barak und seiner Frau – zu erlangen wäre. Sie entscheidet sich gegen das eigene Wohl und trinkt das zaubermächtige Lebenswasser, das ihr den Schatten der Färberin sichert und damit den Kaiser vor der Versteinerung rettet, nicht. Sie hat damit die Prüfung aufs Mensch-Sein bestanden, da sie nun Empathie und Mitgefühl für andere zeigt und ihr persönliches Glück hinter jenes anderer stellt. Durch die Erlangung der Menschlichkeit gewinnt sie einen Schatten – und der Kaiser, den sie liebt, wird ebenso wie das Färberpaar gerettet. Dem triumphalen Schlussjubel klingen die Stimmen der (noch) ungeborenen Kinder leise nach: Vater, dir drohet nichts, Siehe es schwindet schon, Mutter, das Ängstliche, Das euch beirrte. Wäre denn je ein Fest, Wären nicht insgeheim Wir die Geladenen Wir auch die Wirte?

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UBER DIESES PROGRAMM BUCH Im Haus am Ring wurden nicht allzu viele Meisterwerke zur Uraufführung gebracht: Die Frau ohne Schatten von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal bildet eine der wenigen Ausnahmen. Am 10. Oktober 1919 erblickte das Werk an der Wiener Staatsoper in exquisiter Besetzung das Licht der Welt – die enge Verbundenheit von Richard Strauss mit dem Haus und dem Staatsopernorchester ist, so Dirigent Christian Thielemann im Gespräch ab Seite 8, bis heute spürbar: »Irgendwie wird man das Gefühl nie ganz los, dass die Tür plötzlich aufgeht und Strauss hereinkommt.« Andreas Láng beschreibt ab Seite 66 die inzwischen über 100 Jahre dauernde Aufführungsgeschichte dieser Oper im Haus am Ring, Besonderheiten der Partitur hebt Christian Wildhagen ab Seite 36 hervor. Einen praxisorientierten Blick auf Komponist und Werk gibt der Primgeiger und Wiener Philharmoniker-Vorstand Daniel Froschauer ab Seite 40. Die Schriftstellerin Anna Baar denkt ab Seite 44 literarisch über ihren »Kollegen« Hugo von Hofmannsthal nach, über die zahlreichen Inspiratio-

nen und Einflüsse, die auf den Librettisten Hugo von Hofmannsthal einwirkten, schreiben Walter Dobner (ab Seite 60) und Louis Geisler (ab Seite 25). Oswald Panagl wirft ab Seite 79 einen Blick auf die kulturelle Welt rund um die Entstehungszeit des Werks, Oliver Láng skizziert die Situation rund um das Jahr 1919 im Haus am Ring (ab Seite 72), Thomas Leibnitz analysiert die fruchtbare Zusammenarbeit von Strauss und Hofmannsthal (ab Seite 54). Die Frau ohne Schatten bietet ein vielschichtiges thematisches Gewebe, das die Menschlichwerdung der Kaiserin in den Mittelpunkt rückt. Inmitten eines märchenhaften Grundaufbaus wird die Fähigkeit zum Mitleid als zentrales menschliches Wesensmerkmal gezeigt. Bezugnehmend auf das Thema Märchen gibt die Schriftstellerin Barbara Frischmuth einen Abriss über dieses Genre (ab Seite 88), Alexander Batthyány und Arnold Mettnitzer setzen sich in Essays mit dem Menschen als sozial-fühlendes Wesen auseinander (ab 94 bzw. 100). In einer Prüfungssituation müssen sich jedoch nicht nur die Kaiserin und

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der Kaiser beweisen, sondern auch Barak und seine Frau: Mit einem Seitenblick auf die Zauberflöte entwarfen die Autoren somit das Konzept einer Prüfungsoper, die der Regisseur der Produktion, Vincent Huguet, auch auf

die Gegenwart bezogen versteht, wie er in einem Interview ab Seite 13 schildert: Nur wenn Menschen lernen, den Umgang miteinander und mit der sie umgebenden Welt neu zu begreifen, kann es ein Morgen geben.


ANDREAS LÁNG IM GESPRÄCH MIT CHRISTIAN THIELEMANN

»DIE PARTITUR IST WUNDERBAR EINDEUTIG!« al

Richard Strauss hat der Wiener Staatsoper anlässlich des Beginns seiner Direktionszeit Die Frau ohne Schatten zur Uraufführung anvertraut. Sie haben also mit dem Staatsopernorchester gewissermaßen ein Originalklangensemble vor sich … ct Als Strauss seine Opern geschrieben hat, sind ihm als Ideal in der Tat zwei Orchester vorgeschwebt: Die Wiener Philharmoniker und die Dresdner Staatskapelle, die sich ja in wesentlichen Punkten so ähnlich sind wie zwei Geschwister – nicht umsonst haben in den beiden Stammhäusern dieser Klangkörper auch wichtige Strauss-Uraufführungen stattgefunden. Natürlich kann hier ein Dirigent dadurch auf wunderbare Aufführungstraditionen und eine enorme Werkkenntnis aufbauen – das ist eine Klaviatur, auf der man dann ganz anders spielen kann, als in anderen Häusern: In Wien und Dresden ist eine schier unendliche Farbpalette verwirklichbar, man kann auf ein kammermusikalisches Spiel herunterfahren und, wenn es sein muss, sofort wieder hochfahren. Dass die Wiener Staatsoper nach dem Wiederaufbau die gleiche gute Akustik aufweist wie

zu Strauss‹ Zeiten, ist ein zusätzliches Glück und erhöht die Freude am gemeinsamen Musizieren noch einmal beträchtlich – es gibt leider genügend andere Opernhäuser, in denen man sogar am Pult nicht besonders gut hört. Darüber hinaus wird man in Wien und Dresden irgendwie das Gefühl nie ganz los, dass die Tür plötzlich aufgeht und Strauss hereinkommt. al Apropos Akustik: Es gibt in Capriccio den herrlich ironischen Satz: »Das unheilbare Gebrechen unsrer Opern ist der betäubende Lärm des Orchesters… die Sänger werden gezwungen zu schreien.« ct (lacht) Natürlich weisen die meisten Strauss-Opern einen sehr großen Orchesterapparat auf – dementsprechend muss der gute Kapellmeister das Orchester stets dämpfen, zurücknehmen, abschattieren, die fantastische Instrumentierungskunst von Strauss durchsichtig und durchhörbar machen. Wenn die Musiker zu laut spielen, werden ja nicht nur die Sänger zugedeckt, sondern zusätzlich die vielen wunderbaren Farben, die Strauss ins Orchester gelegt hat, nicht mehr wahrnehmbar. Letztlich sind die Proben auch dafür da:

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»DIE PA RT I T U R IST W U N DER BA R EIN DEU T IG!«

Um die richtige akustische Balance zu finden. Es ist ein großes Missverständnis, wenn manche im Zusammenhang mit Strauss-Opern immer an den Beginn von Also sprach Zarathustra denken oder an das Heldenleben. Nein, es geht darum, Ariadne, Arabella, Capriccio im Ohr zu haben. Und an dieser Stelle muss ich wieder das Loblied auf das Staatsopernorchester singen, denn hier muss man nicht ständig wiederholen, dass die Musiker auf die Sänger zu achten hätten. Nein, in Wien, und genauso in Dresden, sind alle im Graben zugleich mit einem Ohr immer auf der Bühne. Hier herrscht eben eine Klang-, Musizier- und Begleitkultur. Strauss war übrigens bekanntlich ein großer Theaterpraktiker und hat nicht nur in den 1920er-Jahren eine ausgedünnte Salome-Fassung herausgebracht, um die Klangfluten des Orchesters besser in den Griff zu bekommen, sondern auch in die Rosenkavalier-Partitur hineingeschrieben, dass es dem Ermessen des Dirigenten anheimgestellt ist, die Besetzung der Streicher zu reduzieren, wenn dies der Textverständlichkeit zugute käme. Nun, wir reduzieren in der Frau ohne Schatten nicht, aber wir gehen mit der Lautstärke, wo es nötig ist, zurück. al Das heißt, ein Fortissimo ist nur mehr ein Forte? ct Forte oder Fortissimo ist grundsätzlich eine Intensitätsangabe und keine konkrete Amplitudenzahl. Wenn man die Architektur einer Oper, eines Aktes oder zum Beispiel einer BrucknerSymphonie vor sich hat und analysiert, wie man die jeweiligen Höhepunkte ansteuert, dann geht es darum, im Verhältnis zu den leiseren Passagen die lauten zu ihrem Recht kommen zu lassen. Und natürlich erfordert mancher Aufbau am Gipfelpunkt auch eine gewisse

Elektra-Brutalität. Aber die darf eben nur kurz währen, denn Dauerfortissimo ist für das Publikum ermüdend, irgendwann wird der Druck einfach zu groß. Es gibt den bekannten Ausspruch, dass der, der schreit, Unrecht hat. Das gilt auch für die Lautstärke des Orchesters. Wir dürfen außerdem nicht vergessen, dass die Streicher vor hundert Jahren auf Darmsaiten gespielt haben, die Trompeter und Posaunisten noch nicht so gut ausgebildet waren. Da war dann an den lauten Stellen mehr Bogendruck notwendig als heute, da mussten die Bläser durch ein Fortissimo erinnert werden, dran zu bleiben. Insofern sind solche dynamischen Angaben heute nicht ganz wörtlich zu nehmen. al Das erklärt, warum es 1919 möglich war, dass bereits am Tag nach der Frau ohne SchattenUraufführung das Stück in derselben Besetzung noch einmal gegeben werden konnte? ct Vielleicht! Zumal es den Typus der Strauss-Sängerin zwangsläufig noch nicht geben konnte. Die Uraufführungsbesetzung wies Namen wie Maria Jeritza und Lotte Lehmann auf, also lyrischere Stimmen, als man es heute im Allgemeinen in diesem Fach gewohnt ist. al Ungewohnt ist für dieses Haus auch die Tatsache, dass die Frau ohne Schatten ungestrichen, also ohne Sprünge, gespielt wird. Das war nicht einmal bei der Uraufführung der Fall. ct Ich habe das in all meinen Produktionen dieser Oper so gehandhabt, in New York, Salzburg und in Berlin. So gut die Striche der Kollegen teilweise sind, mir erscheint der Aufbau der Oper logischer und klarer, nachvollziehbarer, wenn alles gespielt wird. Nehmen wir nur den dritten Aufzug her, wenn

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IM GESPRÄCH MIT CHRISTIAN THIELEMANN

die Amme immer stärker außer Rand immer wieder zurückgreift – das gilt für und Band gerät, noch einmal versucht, Bach genauso wie für Beethoven. Oder das Blatt zu wenden, und schließlich denken Sie nur daran, wie sehr uns die zusammenbricht: Das passiert in rich- drei Klavier-Intermezzi von Brahms an tigen Wellenbewegungen, die sich bis seine Klavierkonzerte erinnern. Und zum Höhepunkt steigern – wenn hier selbstverständlich hat Strauss auf früetwas gekappt wird, dann stimmt die here Werke Bezug genommen – so finStruktur in sich nicht mehr. Natürlich den wir in der Frau ohne Schatten auch ging es meistens darum, die Sänger, den Ariadne-Stil, den RosenkavalierStil, die schon erwähnte Elektra-Brutavor allem die Amme, zu schonen. Aber alle Interpreten, mit denen ich die kom- lität. Auf der anderen Seite gibt es aber zum Beispiel Stellen, die wiederum an plette Frau ohne Schatten bisher auf die Bühne gebracht habe, waren letztend- Schönberg erinnern oder in ihrer Durchlich begeistert und es hat immer prob- sichtigkeit und Pastellfarbigkeit an die lemlos geklappt. französische Musik des frühen 20. Jahral Sie sprachen vom Aufbau der hunderts, insbesondere an Debussy. Oper. Nun birgt die Handlung al Unabhängig von den großen so manche Vieldeutigkeit, RätHöhepunkten eines Werkes, hat selhaftigkeit, Frage. Inwieweit jeder Interpret seine ganz besonist die Partitur diesbezüglich deren zusätzlichen Lieblingsklarer als das Libretto? stellen. Wie sieht es diesbezügct Wissen Sie, ich finde, dass Frau lich für Christian Thielemann ohne Schatten inhaltlich in die Trouin der Frau ohne Schatten aus? badour-Sektion gehört. Auch dort be- ct Neben dem herrlichen Zwischengreift man nicht so leicht, wer wessen spiel nach der ersten Szene und dem Bruder ist, welches Kind nun ins Feuer ganz eindringlichen »Dritthalb Jahr«der geworfen wurde etc. Und ehrlich gesagt, Färberin, möchte ich hier besonders auf interessiert uns das gar nicht so sehr. den Schluss des ersten Aufzuges hinweiManches in der Handlung darf durch- sen: Wenn dieser Wächter-Choral gelingt, aus ein Geheimnis bleiben – die Frau dann hat man schon einen Kloß im Hals ohne Schatten ist schließlich ein Mär- – nicht umsonst herrscht im Auditorium chen. Aber die Partitur ist wunderbar nach dem Verklingen des letzten Tones eindeutig. Strauss hat uns, den Ausfüh- zunächst meist eine ganz eigenartige Stille. Mich fasziniert aber genauso renden wie dem Publikum, durch seine farbige Musik eine Geschichte gegeben, Strauss‹ grundsätzliche Fähigkeit, Atder man folgen kann, eine Musik, durch mosphäre schaffen zu können, sowie sein theaterpraktisches Gespür, seine die der Inhalt tatsächlich klarer wird. perfekte Dramaturgie: Jeder Aktbeginn al Hat Strauss in der Frau ohne Schatten bewusst Rückschau ge- in der Frau ohne Schatten steht in einem halten und seine früheren kom- bestimmten Verhältnis zum davor gehenpositorischen Errungenschaften den Aktschluss, und es ist natürlich nicht durchaus nach dem Prinzip des zufällig, dass er dem ruhigen Schluss des Baukastens zusammengefügt? ersten Aufzuges als Kontrast einen exct Selbstverständlich hat jeder Kom- trem stürmischen Schluss im zweiten ponist bestimmte Elemente, auf die er Aufzug gegenüberstellt.

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»DIE PA RT I T U R IST W U N DER BA R EIN DEU T IG!«

al

Noch eine Abschlussfrage: Sie dirigieren die Aufführungen aus der originalen Uraufführungspartitur. ct Ich bin wirklich froh, dass mir die Wiener Staatsoper dies ermöglicht – in Dresden konnte ich Elektra und Arabella ebenso aus der Uraufführungspartitur dirigieren. Für einen Bücher-

sammler wie mich erzeugt schon die wunderbare Papierqualität der alten Drucke eine haptische Freude. Aber natürlich besitzt so eine Partitur eine ganz besondere Aura, der ich mich sehr gerne aussetze und die noch inspiriert. Dieses Interview entstand anlässlich der Premiere 2019.

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OLIVER LÁNG IM GESPRÄCH MIT REGISSEUR VINCENT HUGUET

DIE QUALITAT EINES MARCHENS ol

Es gibt Werke, die in ihrer Komplexität und Schichtung so überreich sind, dass sie an einem Abend kaum zu fassen sind: so die Frau ohne Schatten. Haben Sie sich am Anfang Ihrer Arbeit bewusst nur einen Aspekt ausgesucht, den Sie zeigen wollen, oder versuchten Sie, alle wichtigen Annäherungen – von Märchen bis Psychoanalyse – unter einen Hut zu bekommen? vh Ich würde sagen, beides ist unmöglich. Die Geschichte ist sicherlich kompliziert, sie ist reich und faszinierend und berührt viele Themen. So mancher meint: Die Musik mag herrlich sein, aber die Handlung scheint nur schwer verständlich. Zweifellos ist die Oper komplex und bietet viele Bezüge von Strauss und Hofmannsthal, die so sehr in der Zeit der Entstehung verhaftet sind, dass wir sie heute nicht auf den ersten Blick erkennen. Diese Komplexität lässt sich nicht auf einen einzigen Aspekt reduzieren! Ich persönlich hätte es also schade gefunden, wenn wir das Stück in einen zu kleinen Rahmen gesteckt hätten. Es gibt in dieser Oper so viele Fenster, durch die man blicken kann und die jeweils etwas Neues entdecken lassen. Andererseits ist natürlich nicht alles gleichzeitig ANDREAS SCHAGER als KAISER

konkret behandelbar. Daher lassen wir bewusst Raum für das Geheimnis und die Fülle an Assoziationen, ohne unbedingt immer alles festzuschreiben. Und wenn es mir gelingt, die Oper so zu erzählen, dass sie verstanden wird – dann ist schon viel gewonnen! ol Das bedeutet, das Konzept heißt auch Offenheit. vh Ich bin immer fasziniert, wenn andere Regisseure sagen können: »Ich habe das Konzept schlechthin gefunden!« Bei der Frau ohne Schatten glaube ich nicht, dass das möglich ist. Denn die Oper ist so vielschichtig, dass jeder Versuch, sie auf eine Denkschiene zu setzen, einer Reduktion ihrer Ausdruckskraft gleichkommt. Mit nur einer Konzeptidee, nur einem Betrachtungswinkel wird man der Frau ohne Schatten nicht gerecht! ol Der Aspekt des Märchenhaften spielt für Sie eine ganz besondere Rolle. vh Strauss und Hofmannsthal wollten diesem Werk, das ihr außergewöhnlichstes der gesamten außergewöhnlichen Zusammenarbeit ist, die Qualität eines Märchens schenken. Nun wissen wir: Es gibt nichts Zerbrechlicheres als ein Märchen. Sobald man es erklärt, es festzumachen versucht und die Symbolik ausdeutet, verliert es seinen Zauber.

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IM GESPRÄCH MIT VINCENT HUGUET

Natürlich wissen wir alle, dass Märchen nicht nur die erzählte Geschichte sind, sondern es viele darunterliegende Schichten gibt, die zum Teil gar nicht kindgerecht sind. Das ist wichtig zu wissen, um sich damit zu beschäftigen! Doch darf man, wenn man ein Märchen erzählt, das alles nicht zu sehr in den Vordergrund rücken, sondern muss die Magie wirken lassen. ol Sehr gerne wird jene Fährte zitiert, die uns die Autoren gaben – die Bezugnahme auf die Zauberflöte, zu der sich (so Hofmannsthal) die Oper so verhält wie der Rosenkavalier zu Nozze di Figaro. vh Natürlich, die Zauberflöte! Es geht um die Prüfung, doch denke ich, dass Frau ohne Schatten sogar noch tiefer geht. Vor allem, was das zweite Paar anbelangt, Barak und seine Frau. Hier geht es nicht nur um eine heitere Figur wie Papageno, die aus dem Volkstheater entstammt und direkte Bedürfnisse wie Speisen und Trinken hat, sondern um einen viel komplexeren Charakter. ol Bevor wir zu den Charakteren kommen: die Prüfung. Ist der Gedanke der Prüfung in Ihrer Arbeit zentral? vh Ich denke, Strauss und Hofmannsthal stellen uns Fragen, die das Zentrum unseres Seins berühren. Sind wir in der Lage, uns zu bessern – aus eigener Kraft? Können wir das Wohl anderer über das eigene stellen? Und wieweit können wir uns verändern, wissend um die Komplexität der Welt und des Lebens? Es geht um die bewusste Veränderung, nicht eine unbewusste Reifung im Laufe der Jahre. Einer der zentralen Sätze ist: Wir sind nicht in der Welt, um alleine zu leben. Es ist auch eine Warnung: Denke daran,

dass es nicht nur um dich geht. Das hat übrigens sehr viel mit Angst zu tun! Wer Angst hat, der wagt keinen Schritt in eine neue, vielleicht unbekannte Richtung. Veränderung braucht Mut, auch weil wir ja nie bis ins Letzte wissen, was die Konsequenzen sind. Es sind also zwei Aspekte: Die Abkehr vom Egoismus und ein Schritt ins Unbekannte. Die Amme schafft das übrigens nicht: darum gibt es für sie auch kein Happy End. Die anderen, also Kaiserin und Kaiser, Färberin und Färber, haben keine Angst. Man muss ja auch daran denken, dass Teile der Oper im Ersten Weltkrieg entstanden sind. Es war klar: Jetzt geht etwas unter, in einer Gewalt, die es zuvor nie gegeben hat. Ganz Europa war verzweifelt. ol Sehen Sie die Situation des Kriegs wie auch der labilen Vorkriegszeit in der Oper gespiegelt? vh Es hat mich verblüfft, wie wenig Hofmannsthal und Strauss in ihrem Briefwechsel über den Ersten Weltkrieg sprechen. Wenn, dann eher am Rande, aber niemals im Sinn von: »Gestern war wieder eine furchtbare Schlacht, bei der 2000 Menschen gefallen sind.« Warum nicht? Wie kann es sein, dass zwei Menschen, die sehen, dass eine Welt untergeht und rundherum Krieg ist, nicht darüber sprechen? Dann wurde es mir klar: Sie sprachen nicht davon, weil es in Frau ohne Schatten um den Krieg geht, nicht direkt angesprochen, aber in einem höheren Sinne. Sie konnten ja gar nicht anders, als in der Oper den Krieg zu verhandeln – denn als Künstler ist man gefordert, Stellung zu beziehen und einen Kommentar abzugeben… Wie also nahmen sie Stellung? Sie sagten, dass, wenn Menschen sich – nicht nur in ihrem Verhalten, sondern auch in der Art, wie sie mit

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DIE QUALITÄT EINES MÄRCHENS

der Liebe umgehen – nicht ändern, der Zyklus des Lebens, der Generationenweitergabe unterbrochen wird und es kein Weiter, keine Kontinuität mehr gibt. Es muss ein Umdenken stattfinden, ein Sprung über den eigenen Schatten! Kein Wunder, dass damals manche Frauen sagten, dass sie keine Kinder wollen, um sie nicht für einen Soldatendienst großzuziehen… ol Die Mutterschaft in der Oper steht für Sie also ganz konkret für die Mutterschaft. vh Ja, auch. Sie ist ein Symbol, aber auch ganz direkt: Mutterschaft. Normalerweise bin ich in meinen Inszenierungen ein super-Feminist. Roméo et Juliette, Dido and Aeneas: Das alles habe ich aus der Sicht der Frauen inszeniert. Diesmal muss man aber gar nicht gezielt die Position der Frau ergreifen, sie ist in der Oper ohnehin zentral, die drei Frauen erzählen die eigentliche Handlung. Ich denke, Hofmannsthal und Strauss haben hier einen präfeministischen Blickwinkel angewandt. Erstaunlich modern, und wenn man bedenkt, dass 1919 in Österreich das Wahlrecht für Frauen eingeführt wurde, dann fallen Zeit und Oper perfekt zusammen. ol Werden Fragen nach Rollenmodellen angerissen? Geht es nur um Frauen und Kinder, oder gibt es den Blick auf das Größere? vh Die unterschiedlichsten Rollenmodelle kann man durchdekliniert sehen! Kann ich ein Mann sein ohne Kinder? Eine Frau? Ich finde es interessant, dass es eigentlich die erste Oper ist, in der es um die Krise der Männlichkeit und der Virilität geht. Barak und der Kaiser, sie sind umgeben von so starken Frauen! Ich kann mir vorstellen, dass Barak etwa, auch wenn er es nicht zeigt, eingeschüchtert sein kann von der Fär-

berin. Sie erwartet so viel von ihm! Und, seien wir ehrlich: ein sonderlich starker Mann ist der Kaiser nicht. Nach außen wirkt er wie ein Held, aber nach innen ist er schwach. Es geht in der Oper aber auch um Narzissmus, um das Verhältnis zueinander, um das Kräfteverhältnis in Beziehungen. Um die Frage, wie man miteinander umgeht. ol Damit kommen wir zu den Figuren: Warum die Kaiserin und die Färberin geprüft werden, ist offensichtlich. Was aber muss Barak lernen? vh Barak ist eine sehr spannende Figur, sehr enigmatisch. Anfangs mochte ich ihn nicht besonders. Ich fand ihn ein bisschen eindimensional, ein Mann, der von einer großen Familie träumt und alles andere nicht sieht. Und das ist der Knackpunkt: Er ist nicht in der Lage, seine Frau zu sehen, wie sie ist. Egal, wie schlecht sie sich benimmt, immer bleibt er abwiegelnd und freundlich. Das kann ja auch eine Form der Gewalt sein, dieses ewig Ausweichende, nicht auf den anderen Eingehende. Man kann 20 Jahre mit jemandem zusammenleben und nicht sehen wollen, wie der andere ist. Das ist eine Form der Feigheit – und es bringt die Beziehung um. Das versteht Barak am Ende: Er muss kein Macho sein, aber seine Frau will einen Mann, der stark ist und nicht immer nur freundlich ausweicht. ol Die Amme ist nicht menschlich – aber doch so unglaublich menschlich! vh Absolut! Sie ist ein Mensch, auch wenn sie ja eigentlich gar keiner ist. Sie ähnelt jenen Menschen, die glauben, einer besonderen Kaste anzugehören, und daher andere ablehnen. Aber umso mehr sie sich gegen die Menschen stellt, desto menschlicher wird sie. Ich glaube,

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DIE QUALITÄT EINES MÄRCHENS

dass sie an etwas leidet und versucht, die Kaiserin zu schützen und ihr zu helfen. Sie ist wie eine Löwenmutter, die bereit ist zu töten, nur um dem Kind zu helfen. Das ist interessant, denn sie ist ja nicht die Mutter der Kaiserin… Im ganzen Stück geht es um Mütter, und die einzige, die sich wie eine Mutter benimmt, ist die Amme, die keine Kinder bekommen und bestraft wird… ol Die Färberin ist keine, die die Herzen von Anfang an gewinnt. Haben Sie sich die Frage gestellt, warum sie ist, wie sie ist? Interessiert Sie der Grund? vh Das möchte ich offenlassen. Wenn man eine beliebige Möglichkeit nennt – sexuelle Frustration oder einen kleinlichen Traum von einem reichen Mann –, dann ist es einschränkend. Sie ist jemand, der es anders haben möchte, sie ist ehrgeizig. Das Problem ist aber, dass sie dieses bessere Leben nur fordert, aber nichts dafür tut. Das ist so wie die Gelbwesten in Frankreich, die jeden Samstag die halbe Stadt demolieren, aber nichts beitragen, damit es besser wird. Andererseits gibt sie Barak immer neue Chancen – das merkt man weniger im Libretto, als man es in der Musik hört. ol Keikobad: Wie konkret denken Sie ihn sich? Worin liegen seine Moti­vationen? vh Ich sehe hier einen Bezug zu Nietzsche, zu seinen Schriften über Gott, der tot oder zumindest unsichtbar ist. Dessen Funktion nur in der Angst besteht. Dieser Keikobad erinnert mich auch an Dino Buzzattis Erzählung Il colombre, in dem es um ein ominöses Seeungeheuer geht, vor dem einer sich fürchtet und am Ende herausfindet, dass er selbst das Ungeheuer war, das ihm Angst gemacht hat. Daher habe ich

die Kaiserin im 3. Akt vor den schwarzen Vorhang gestellt, weil sie in diesem Moment auf sich selbst trifft. Wie oft stellen wir uns, egal ob es Keikobad gibt oder nicht, die Frage: Habe ich mich gut benommen? Habe ich erfüllt, was ich erfüllen soll? ol Die Oper stellt für Sie aber nicht nur Fragen nach der persönlichen Schuld, sondern auch nach der Zukunft. vh Eigentlich ist es beklemmend, dass wir heute erneut an einem Punkt angelangt sind wie bei der Uraufführung der Oper! Der Mensch muss lernen, seine Beziehung zu der Welt und zueinander zu ändern. Wenn wir heute nicht umdenken und unser Verhalten grundlegend ändern, werden die Generationen nach uns keine Erde mehr vorfinden, auf der man leben kann… Dieses Interview entstand anlässlich der Premiere 2019.

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KS NINA STEMME als FÄRBERIN


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RICHARD STRAUSS

DIE FRAU OHNE SCHATTEN Die Frau ohne Schatten, das Schmerzenskind, wurde in Kummer und Sorgen während des Krieges vollendet, nachdem durch die menschliche Güte eines bayrischen Majors Distler eine vorzeitige Einstellung meines Sohnes, dessen Herz mit seinem großen Wachstum nicht Schritt gehalten hatte, verhindert worden war. Ich hatte Franz bereits bei der Fußartillerie in Mainz als Offiziersanwärter angemeldet, aber die Einsicht des bayrischen Stabsarztes hat die Einberufung nicht zugelassen. – Diese Kriegssorgen haben wohl auch der Partitur, besonders gegen die Mitte des 3. Aktes, eine gewisse nervöse Überreiztheit eingetragen, die sich schließlich im Melodram »entspannte«! Im Sommer 1918 kam in der Aschau, wo wir bei lieben Freunden, Kammersänger Franz Steiner (später vortrefflicher Interpret meiner Lieder auf vielen gemeinsamen Konzert­reisen – bis Bukarest, Stockholm etc.) und Frau Nossal im Salzkammergut zu Gast waren, an mich durch Baron Andrian der Antrag nach Wien, wo Oktober 1919 unter der Leitung von Franz Schalk (Dekorationen: A. Roller, Regie: Wymetal) »Fr-o-sch« zur ersten, sehr glanzvollen Aufführung in großartiger Besetzung (Kaiser: Oestvig, Kaiserin: Jeritza, Amme: Weidt, Färberin: Lehmann, Barak: Mayr) kam, um von diesem ersten großen Erfolg ab einen längeren Leidensweg über die deutschen Bühnen anzutreten. In Wien selbst wegen anstrengenden Rollen und Dekorations-Schwierigkeiten öfter abgesagt als gegeben, strauchelte das Werk schon an der zweiten Bühne [Dresden], wo es szenisch so unvollkommen vorbereitet war – die gute Eva von der Osten hatte sich inzwischen an hochdramatischen Partien die Stimme arg lädiert –, dass ich nach der Generalprobe den Grafen Seebach um eine Premierenverschiebung

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DIE FRAU OHNE SCHATTEN

um mehrere Tage bitten musste. Trotz des vortrefflichen Orchesters unter Fritz Reiner litt der Abend sehr unter der unzureichenden Färberin – es war keine reine Freude! Es war ein schwerer Fehler, dieses schwer zu besetzende und szenisch so anspruchsvolle Werk unmittelbar nach dem Krieg mittleren und kleineren Theatern anzuvertrauen. Als ich später nur einmal die Stuttgarter Nachkriegsausstattung (»auf billig –«) sah, begriff ich, dass das Werk nur wenig Erfolg haben konnte. Schließlich hat es sich aber doch durchgesetzt, und besonders in der Wiener-Salzburger Aufführung (Krauss-Wallerstein) und zuletzt in München (Krauss-Hartmann-Sievert) tiefen Eindruck gemacht, und gerade künstlerische Menschen halten es für mein bedeutendstes Werk.

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»KNOTEN IM HERZEN LOSEN« DAS THEATRALISCHE UNIVERSUM DES VINCENT HUGUET Auf einer Terrasse des Pavillons, auf halbem Weg zwischen Himmel und Erde, kniet eine schwarz bekleidete Frau und hebt die Feder eines Pfaus auf, deren leuchtendes Blau ihre Aufmerksamkeit erregt hat. Während die Sonne über den Felsen aufgeht, schlüpft sie zwischen den Vorhängen eines kleinen Zimmers durch und legt sich in das Bett, wo eine blonde Frau tief und fest schläft und an die sie sich mit unendlicher Zärtlichkeit presst. Sehr vorsichtig streichelt sie mit der Feder den Körper der schönen Schlafenden, um die Müdigkeit zu vertreiben. Wir sind ganz am Anfang von Die Frau ohne Schatten und die Frau, die die Kaiserin gerade aufgeweckt hat, ist die Amme. Verhält sich also diese als »Schlange«, als »altes Luder« beschriebene boshafte Hexe wie eine liebende Mutter? Bei Die Frau ohne Schatten unter der Regie von Vincent Huguet in der Wiener Staatsoper verhält sich das tatsächlich so. Die Szene dauert nur wenige Augenblicke, aber sie zeigt deutlich die Verbindung, die zwischen der Kaiserin und ihrer Amme besteht und die sich als roter Faden durch das ganze Werk zieht: Diese beiden lieben sich und wenn die Amme mit den anderen Menschen geradezu brutal umgeht,

dann tut sie das in ihrer Rolle der Löwin, die ihre Jungen verteidigt und die jene vernichtet, die versuchen sollten, ihr das Kind wegzunehmen, das sie geliebt und aufgezogen hat und versucht zu schützen. Die unauffällige, fast unsichtbare Art mit einem Klischee aufzuräumen, eine Maske herunterzureißen, sagt viel über die Arbeit von Vincent Huguet an der Oper aus.

DAS WERK IN SEINER ZEIT VERSTEHEN, UM ES HEUTE ZU ENTHÜLLEN Jeder Regisseur hat seine Geschichte, die manchmal dabei hilft, seine Arbeit zu verstehen. Vincent Huguet hatte mehrere Leben, die er vor allem in den Dienst der Geschichte, der Kunstgeschichte und der zeitgenössischen Kunst stellte, bevor er am Theater und in der Oper mit Patrice Chéreau zusammenarbeitet. Es kann wohl kaum ein Zufall sein, dass sie sich so gut verstanden: Der große französische Regisseur war für sein strenges Festhalten am Text, an der Bedeutung der Worte und seine komplexe Beziehung zu Bildern bekannt. Aus dieser wichtigen Begegnung hat Vincent Huguet eine gewisse Strenge und eine

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»KNOTEN IM HERZEN LÖSEN«

Obsession für die Erzählung behalten: Man muss die Geschichte, die auf der Bühne erzählt wird, verstehen und auch spüren, warum sie hier und jetzt erzählt wird. Bei ihm besteht ein sehr starkes Empfinden dafür, was das Werk zulässt und was nicht, auch wenn die Einhaltung des Librettos und der Musik nicht bedeutet, dass alles wortwörtlich wiedergegeben muss. Vielmehr im Gegenteil: Je besser der Regisseur dank einer intensiven Vorbereitungsarbeit den Inhalt der Werke, ihren Ursprung, den historischen und kulturellen Kontext, in dem sie verwurzelt sind, kennt, desto mehr kann er seine eigene Vision einbringen, die er somit solide verankern kann. Schon bei der ersten Regiearbeit, Lakmé (2012), befreite er das Werk Delibes’ vom orientalischen Zuckerwerk, um die Gegensätze einer postkolonialen Welt, wo Touristen auf die Kolonialherren folgten, besser zeigen zu können. 2018 löste er eine Polemik beim Festival von Aix-en-Provence aus, indem er Dido and Aeneas von Purcell in einer unveröffentlichten Fassung zeigte, er einen Prolog hinzufügte, in dem der malische Künstler Rokia Traoré das Leben von Dido vor Aeneas und sogar vor Karthago erzählte und sie neu unter die Wesen reihte, die seit der Antike im Mittelmeerraum umherirren. Bei Roméo et Juliuette, bei der er in Luzern und Lissabon (2018-19) Regie geführt hat, zeigte er eine Gesellschaft voller Generationskonflikte, wo der Tod und das Vermögen wertvoller als die Jugend geworden sind. Dennoch beruhen alle seine Abweichungen auf dem Libretto und der Partitur, oft durch erneute Anknüpfung an die originale Spannung der Werke und indem er ihnen eine neue Notwendigkeit, heutzutage erzählt zu werden, verleiht.

EINE ÄSTHETIK IM DIENST DER ERZÄHLUNG Eine Geschichte in der Gegenwart zu erzählen, bedeutet nicht zwingendermaßen, sie szenisch in unserer Epoche zu situieren. Gewisse Werke gewinnen an Kraft, je näher sie uns sind, andere wiederum verlangen eine gewisse Distanz. Wenn Pariser Leben (2017) das heutige Paris perfekt beschreiben kann, ist es doch schwierig zu glauben, dass Manon (2020) unsere Zeitgenossin ist: Es ist Jahrzehnte her, dass die jungen Mädchen – selbst die »weniger ordentlichen« – ins Kloster geschickt wurden. Die Wahl eines »Kontexts« erfolgt daher zum Großteil wegen der Klarheit und Glaubwürdigkeit der Erzählung und das Bühnenbilds, die Kostüme und die Beleuchtung tragen zu dieser Kohärenz bei. Jedes Werk scheint seine eigene Ästhetik über einfache, aber mächtige Orte zu fordern: die Kais eines indischen Flusses bei Lakmé, die Zinkdächer bei Pariser Leben, ein Maleratelier aus Beton bei Werther (2017), ein langer Steindamm bei Dido and Aeneas, das Museum von Carlo Scarpa bei Roméo et Juliuette. Diese Orte, die meistens durch die Bühnenbildnerin Aurélie Maestre geschaffen werden, müssen – noch bevor das Spektakel beginnt – von jenen sprechen, die in ihnen wohnen: Erdblöcke, die aus der heiligen Erde gerissen scheinen, durchzogen von genealogischen Schichten und den Boden einer Kirche teilen, situieren die Heiligen Geschichten von Charpentier (2016) in biblische Zeiten, Werther verliebt sich in das Haus von Bailli, noch bevor er dem Charme von Charlotte erliegt, Dido steht oben auf einem Damm, der ihren vergeblichen

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Wunsch sich zu schützen unter­streicht, Roméo und Juliette flüchten aus einer Welt, die von unglaublicher Schönheit geprägt ist, die aber bereits versteinert wurde… Was diese Orte aber vielleicht gemein haben, ist dass sie nie neutral sind, sondern ganz im Gegenteil sehr geschichtsträchtig und voller Erinnerungen sind und dass es diese Erinnerungen sind, denen sich Frauen wie Männer stellen werden. Verweise auf die Kunstgeschichte, Architektur und angewandte Kunst, aber auch die Geologie, sind in diesen Bühnenbildern deshalb verwurzelt, weil sich die Protagonisten im Gegenteil zu einer Labormaus in einem Glaskäfig in Orten entwickeln, die selbst Akteure der Geschichte sind. Die Unendlichkeit der Basaltfelsen in Die Frau ohne Schatten, die direkt vom Libretto von Hofmannsthal inspiriert ist, scheint die Menschheit herauszufordern, die schon immer von der Versteinerung bedroht wird. Und wenn Keikobad während der gesamten Oper unsichtbar bleibt, so lässt sich deuten, dass diese Steinsäulen seine unbarmherzige Inkarnation sind: Das Bühnenbild repräsentiert ihn.

ZUTIEFST MENSCHLICHE PERSONEN Es handelt sich immer um Menschlichkeit in ihrer gesamten Komplexität und vielleicht hat Vincent Huguet dies an der Seite von Peter Sellars gelernt. Von Don Quijote (2016) über die bunt gemischten Figuren der OffenbachOpern bis hin zu Maria Magdalena sind es keine Archetypen, sondern sehr wohl menschliche Wesen, die er in allen ihren Nuancen und ihrer Komplexität in Szene setzt. Vincent Huguet arbeitet ganz nahe an den Interpreten,

für die Clémence Pernoud die Kostüme immer auf Maß entwirft, um diesen Figuren eine affektive und sentimentale Tiefe zu verleihen und sie mit ihrer Vergangenheit, ihren Stärken und ihren Schwächen aufleben zu lassen. So ist der blinde Ehrgeiz der Dorfbewohner in Erzählungen unter dem Regenmond (2015) die logische Folge eines Überlebensinstinkts, die Hexen von Dido and Aeneas sind keine karnevalistischen Kreaturen mehr, sondern entführte und zwangsverheiratete Frauen, die Karthago besiedeln sollen, der Fanatismus von Nilakantha, dem Brahmanen, wird durch die exzessive Vaterliebe genährt, die er Lakmé entgegenbringt, und der Hang zum Suizid, von dem Juliette befalle ist, noch bevor sie Roméo trifft, hat seine Wurzeln in der todbringenden Gesellschaft, in der sie aufgewachsen ist. Jede Figur, auch die auf den ersten Eindruck dunkelsten oder am wenigsten interessanten, haben ihre Berechtigung und die Aufgabe der Regie besteht darin, sie zu offenbaren, sie sichtbar zu machen, um die Karten der Erzählung neu zu mischen.

EMANZIPATION UND KATHARSIS Dadurch, dass sich Vincent Huguet mit dem Ursprung der inneren Konflikte auseinandersetzt, kann er diese auf der Bühne besser lösen. Er scheint den Punkt zu suchen, wo die Menschen sich von ihrem mentalen Gefängnis, den sozialen Zwängen und den Zwängen ihres Umfeldes befreien. Dieser Wunsch nach Emanzipation ist der erste Impuls, der Lakmé, Juliette, die Kaiserin, die Färberin und auch andere Figuren leitet. Vincent Huguet vertritt im Übrigen sehr oft den Standpunkt

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seiner Heldinnen und der feminine Aspekt ist daher oft in seinen Aufführungen verkörpert. Diese interne Dynamik erscheint in seinen Aufführungen manchmal unbeabsichtigt, in Form eines Hindernisses oder einer Mauer, die sich schließlich öffnet: ein Wald, der im Herzen eines Hauses auftaucht, ein Kleid, das zu den Knöcheln

fällt, oder sogar Berge, die versetzt werden. Die Verzückung der Oper ist der Katharsis manchmal ganz nahe und es kommt vor, dass eine Szene, ein Augenblick, eine Note, eine einfache Geste, wie Hofmannsthal schreibt »die Knoten in [unserem Herzen] löst«.

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DER SCHATTEN IST ZUR DAMMERUNG AM SCHONSTEN Die Frau ohne Schatten ist eine in sich abgeschlossene Welt. Eine Welt mit ihren Göttern, ihren Regeln, ihren Kasten und ihrer Geographie. Eine Welt, die wir kennen, aber die wir dennoch nicht in ihrer Gesamtheit erfassen können. Das Werk von Strauss und Hofmannsthal bietet sich für zahlreiche unterschiedliche Interpretationen an und lässt sich in keinem Fall auf eine einzige Interpretation begrenzen. Im Gegensatz zum größten Teil der Repertoire-Opern handelt es sich bei Die Frau ohne Schatten nicht um die Adaptierung eines Werks oder einer bereits vorhandenen Legende: Es ist eine Originalkreation, die langsam gereift ist und sich in der Folge zu einem wahren Märchen gewandelt hat – es gibt nur wenige Werke, die diese Reise von der Bühne zur Literatur schaffen. Aber Hofmannsthal schafft diese Welt nicht aus dem Nichts. Sie vereint Elemente sehr unterschiedlicher kultureller Hintergründe. Wie in einem Kaleidoskop kehrt jedes verwendete Bild, jeder Bezugspunkt zurück und vermischt sich mit einem anderen. Je konsequenter man eine Linie verfolgt, desto mehr stellt man fest, dass Die Frau ohne Schatten unerwartete KS CAMILLA NYLUND als KAISERIN

Welten verbirgt. Diese Verflechtung findet sich in der Partitur von Strauss, deren Leitmotive immer wieder untereinander kombiniert werden, um dieses Klanguniversum zu schaffen, das sich in ständiger Evolution befindet. Diese extreme Komplexität macht aus Die Frau ohne Schatten ein Symbol für eine Kultur, die eine Form der Fülle erreicht hat. Aber die Zivilisation, deren Frucht sie ist, schwankt in genau dem Moment, als ihre Autoren 1911 beginnen, diese zu skizzieren. Bei ihrer Uraufführung 1919 trat die Welt in eine neue Zeit ein. Die Entstehung und die Aufnahme von Die Frau ohne Schatten sind geprägt von den Vorzeichen des Ersten Weltkriegs, dem Krieg selbst bzw. den Folgen. Es handelt sich um ein Übergangswerk, das an der »Schwelle des Todes« (Akt III, Szene 2) geschaffen wurde. Der Höhepunkt einer Zivilisation, die bereits am Weg zu ihrem Untergang ist.

SYNKRETISMUS UND PALIMPSESTE Eine der Charakteristiken der Literatur Hofmannsthals ist seine Stärke, Motive aus vorangegangenen Werken

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sowohl durch einfach identifizierbare Zitate oder durch nicht so offensichtliche Spuren zu nutzen. In seinem Essay Hofmannsthal, Verzicht und Metamorphose beschreibt ihn Jean-Yves Masson als »Schriftsteller, der seine eine Literatur auf Literatur anderer und Werken aus Bibliotheken aufbaut.« Dieser Ursprung wird bei Hofmannsthal 1922 mit der Veröffentlichung des Buchs der Freunde, einer Sammlung seiner Aphorismen, vermischt mit den Gedanken seiner Lieblingsautoren, deutlich. Das Libretto von Die Frau ohne Schatten ist das perfekte Beispiel dieses Synkretismus mit zahlreichen literarischen Quellen und Variationen in Zeit und Raum. Im Herzen der Handlung von Die Frau ohne Schatten gibt es einen Handel, der zwischen einem unzufriedenen Menschen – der Färberin – und einer verführenden Kraft – der Amme – geschlossen wird. Dieses klassische Thema eines diabolischen Pakts leiht sich Hofmannsthal beim wohl bekanntesten Werk dieser Art, nämlich Goethes Faust (1808) – er vergleicht außerdem in seinen Texten die Amme mit Mephistopheles, aber er ändert den Inhalt: Der Schatten ersetzt die Seele. Diese Variante hat Hofmannsthal aus Peter Schlemilhs wundersamer Geschichte, in der ein armer junger Mann bereit ist, für unendlichen Reichtum seinen Schatten an den Teufel zu verkaufen. Diese im Sommer 1813 erschienene Novelle von Adelbert von Chamisso feierte in ganz Europa immense Erfolge. Bereits im folgenden Jahr machte E.T.A. Hoffmann aus Schlemilh eine der Nebenfiguren der Abenteuer der Sylvesternacht, Hans Christian Andersen spielte darauf in seinem Märchen Der Schatten (1847) an, und man findet ihn selbst in Hoff-

manns Erzählungen von Jacques Offenbach (1881) wieder. Hofmannsthal begnügte sich nicht damit, sich das Schattenthema anzueignen: Er verwendet es als Symbol für das Mysterium der Zeugung, eine Idee, die er sich aus der Ballade Anna (1838) des Dichters Nikolaus Lenau lieh. Dank dieses Spiels an Assoziationen und Fusionen verlagert und verlängert er den Einsatz von Faust: Der menschliche Reichtum besteht nicht mehr im Besitz einer unsterblichen Seele, sondern in der Fähigkeit, sich Generation für Generation zu erneuern.

DIE GESCHICHTE EINER FEE Ein weiteres Hauptthema von Die Frau ohne Schatten ist jenes einer verfluchten Verbindung zwischen einer Fee – der Kaiserin – und einem Sterblichen – dem Kaiser. Als Tochter von Keikobad, dem omnipräsenten und unsichtbaren Gott, und einer Frau, die wahrscheinlich bei der Geburt gestorben ist, wird die Kaiserin von einer Amme auf einer weit entfernten Insel aufgezogen, um sie vor ihrem natürlichen Hang zu menschlichen Wesen zu schützen. Wie Dionysos, dessen Mutter durch die Vision von Zeus in all seiner Pracht vom Blitz erschlagen wurde, wird sie gleich mit ihrer Geburt einem Begleiter in »Monstergestalt« und Mittelwesen zwischen Mensch und Gott übergeben, der mit ihrer Erziehung betraut wird. Wie Dornröschen wird sie ins Exil geschickt und überbehütet, um sie einem unausweichlichen Schicksal zu entziehen. Das Hauptvorbild für die Kaiserin ist die Fee/Nymphe Kerestani, Figur des Theaterstücks Die Schlangenfrau (1762) des italienischen Schriftstellers Carlo Gozzi, die sich Richard

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DER SCHATTEN IST ZUR DÄMMERUNG AM SCHÖNSTEN

Wagner als Vorbild im Libretto seiner ersten Oper, Die Feen, genommen hat. Die Schlangenfrau fängt mit einer Jagdszene an. Prinz Farruscad verfolgt eine Hirschkuh und kurz bevor er sie erreicht, stürzt sie sich in einen Fluss. Er folgt ihr auf den Grund des Flusses und gelangt in eine trockene Grotte. Die Hirschkuh hat sich in eine wunderschöne junge Frau verwandelt: Es ist die Fee Kerestani. Sie ist einverstanden, ihn unter der Bedingung zu heiraten, dass er nie versucht, ihren Namen und ihre wahre Natur herauszufinden – genau wie in der Legende der Fee Melusine. Das Thema der Verbindung einer Fee mit einem Sterblichen ist nicht der abendländischen Kultur vorbehalten. Man findet zahlreiche Beispiele in Geschichten aus aller Welt. In Indien ähneln die europäischen Feen den Asparas, Nymphen von immenser Schönheit, die ewig jung bleiben, die sich auf Wunsch verwandeln können und die die Götter mit ihren Tänzen erfreuen. Der Rig Veda, der älteste bekannte hinduistische Text, erzählt die historische Legende der Fee Urvashi, die von einem Dämon entführt und von König Pururavas gerettet wurde. Sie verlieben sich auf den ersten Blick, aber können sich nur im Dunkel der Nacht lieben, da Pururavas sich ihr niemals nackt zeigen darf. Ihre Verbindung wird von den Göttern geduldet, aber sie muss an dem Tag zu Ende gehen, an dem der König ihr erstes gemeinsames Kind betrachtet. Wie in Die Frau ohne Schatten ist hier die Zeugung der Einsatz bei einer transgressiven Verbindung, die vorläufig toleriert wird. Wenn Indien auch weit entfernt von Hofmannsthal erscheint, so wird die Ähnlichkeit dieser Legende, des Stücks von Gozzi und Die Feen von Wagner

dennoch bereits am Ende des 19. Jahrhunderts bestätigt. Es ist interessant festzustellen, dass Urvashi im Schenkel des Weisen Nara-narayana geboren wurde; die Wurzel ur bedeutet »Schenkel« in Sanskrit – genau wie Dyonisos aus den Schenkeln des Zeus stammt. Dieser Umweg über die indische Mythologie ermöglicht die Herstellung einer unerwarteten Beziehung zwischen Die Frau ohne Schatten und Ariadne auf Naxos – ein Strauss von Hofmannsthal vorgeschlagenes Projekt, um ihre Zusammenarbeit im Hinblick auf Die Frau ohne Schatten zu vertiefen – durch Annäherung von Bacchus (römischer Name für Dionysos) und der Kaiserin, zweier göttlicher Wesen mit einer sterblichen Mutter, die die Welt und ihre Kräfte in der Erfahrung der Liebe und Sexualität entdecken.

DER EWIGE ORIENT Der Orient, wie in Tausendundeiner Nacht beschrieben oder von den europäischen Autoren erträumt, stellt eine weitere Quelle von Motiven und Bezugspunkten dar, in der Hofmannsthal ungeniert fischt, um seine Geschichte Die Frau ohne Schatten zu spinnen. Die Motive des Wassers, des Lebens und des sprechenden Vogels sind Leihen aus der Erzählung Farizade au sourire de rose. Barak und Keikobad stehen mit ihren Namen für ein orientalisches Stück von Gozzi, Turandot: Keikobad ist der abwesende Vater der Prinzessin Adelma und von Barach, dem Nachnamen, den der Tartar Hassan bei seiner Ankunft in China angenommen hat. Der Name Keikobad ermöglicht es Hofmannsthal außerdem, die Welt von Die Frau ohne Schatten den Kreaturen und Helden der persischen My-

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thologie zu öffnen. Im Buch der Könige des Dichters Firdausi ist Kay Kobad ein Mitglied der legendären Dynastie der Kayaniden, deren Vertreter auch die Helden des Avesta, des heiligen Buchs des Zoroastrismus, sind. Die Kaiserin lässt an Peri-Geister denken, diese weiblichen Geister von großer Schönheit, die Ende des 19. Jahrhunderts in der Malerei und abendländischen Bildhauerei sehr modern waren. Der rote Falke bezieht sich auf den mythischen Vogel Simorgh und auf das Sinnbild des Faravahar, diesem zoroastrischen Prinzip, nach dem der menschliche Geist bereits vor der Geburt besteht, nach dem Tod fortdauert und sich in Richtung Fortschritt und Perfektion entwickelt. Diese Anspielungen auf den Zoroastrismus ermöglichen es, Verbindungen mit der Zauberflöte von Mozart – offen bekanntes Vorbild von Die Frau ohne Schatten – über die Figur des Sarastro, Freimaurer-Avatar des Zoroastrismus, herzustellen, aber sind auch eine Anspielung auf Zarathustra von Nietzsche und die Bezeichnung des »Übermenschen«, wobei die Kaiserin das Anti-Modell verkörpert.

DAS WIENER WUNDER Das Libretto von Die Frau ohne Schatten quillt auch an Bezugspunkten mit den biblischen Geschichten und der jüdischen Erzähltradition über. Die Figur der Amme spielt auch auf die Legende von Lilith an, der ersten Begleiterin von Adam, die zu einem mit der Nacht und dem Wind assoziierten Dämon – der fliegt und Neugeborene tötet – wurde. Der Jüngling, ein wiederkehrendes Modell der Maler der Wiener Sezession, erinnert an die Legende des Golem von Prag und die Versuchung,

wie in der Genesis beschrieben, die von der Schlange – Spitzname für die Amme – ausgeführt wird. Die Inspirationsquellen von Hofmannsthal erscheinen endlos, aber diese wenigen Beispiele ermöglichen es, die Essenz seiner poetischen Kunst zu erfassen. Seine Schriftstellerei beruht auf Annäherungen, Assoziationen und Überlappungen. Aus alten und vielschichtigen Elementen schafft er eine neue bekannte, aber komplexe Materie, die mehr suggeriert, als sie aussagt. Hätte diese Komplexität woanders entstehen können als in Wien zur Jahrhundertwende des 20. Jahrhunderts? Kaum. Das Wien von Hofmannsthal ist dem Athen von Perikles und dem Florenz des Quattrocento ähnlich. Es ist ein Schmelztiegel, in dem sich alle künstlerischen und intellektuellen Größen einer Epoche vereinen. Diese Art von Wunder ist ebenso selten wie fragil. Eine Fragilität, die diese Oper vehement vertritt.

GLANZ UND SCHATTEN ÜBER EUROPA Hofmannsthal schlägt Strauss die Idee von Die Frau ohne Schatten in einem Brief, der auf den 20. März 1911 datiert ist, vor. Die ersten beiden Akte des Librettos wurden im Juli 1914 fertig. Der Text des letzten Akts ist kompliziert und verzögert sich durch die Einberufung Hofmannsthals zum Militär. Diesen Vorkriegsjahren widmet Stefan Zweig – späterer Mitarbeiter von Strauss – in Die Welt von gestern ein ganzes Kapitel mit dem Titel »Glanz und Schatten über Europa«. Er beschreibt Wien als Hauptstadt Europas, die ihren intellektuellen und kulturellen Höhepunkt erreicht hat. Ihr Glanz

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KS STEPHEN GOULD als KAISER


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beherrschte die Welt. Der alte Kaiser Franz Joseph, der seit 1848 an der Macht war, war der Erbe der Habsburger-Dynastie, die Österreich seit siebenhundert Jahren regierte. Das Land lebte in Frieden, in einer wunderbaren Sorglosigkeit und in einem gewaltigen Glauben an die Zukunft. Nichts schien die statische Ordnung dieser hierarchischen Gesellschaft mit ihren undurchdringbaren Klassen erschüttern zu können. Diese Überzeugung, eine Glanzzeit zu erleben, war dennoch vom Gefühl eines imminenten Untergangs begleitet, der sich bei bestimmten Künstlern bereits abzeichnete. Eine stumme Angst lag in der Luft. Europa stand vor dem Abgrund. Das jahrhundertealte österreichisch-ungarische Reich war vom Zerfall bedroht, die bourgeoise Moral war zu engstirnig geworden, und die Werte des vergangenen Jahrhunderts waren zweifellos für die beginnende Moderne veraltet.

DIE TEKTONIK DER PLATTEN Als Hofmannsthal begann, das Libretto von Die Frau ohne Schatten zu schreiben, schien er sich voll bewusst darüber zu sein, dass er in einer Epoche des Untergangs lebte. Das ist der Sinn der letzten, sehr bedrückenden Szene des zweiten Akts. Wie die Tiere vor einem Gewitter scheinen die Figuren eine imminente Bedrohung zu spüren, die sie aber nicht klar definieren können. Ihre Welt besteht aus drei strikt hierarchischen Ebenen: der oberen oder göttlichen Ebene (jene der Geister und Götter), der Zwischen- oder kaiserlichen Ebene (der Palast des Kaisers befindet sich weit weg von seinen Untertanen) und der unteren oder terrestrischen Ebene, wo die Menschen gebo-

ren werden, leben, leiden und sterben. Aber diese statische Organisation wird in Wirklichkeit von gegensätzlichen Kräften beeinflusst. Der Kaiser möchte sich durch seine Isolierung und seine Verachtung für die Menschheit in die höhere Ebene begeben. Die Kaiserin ist zur Zwischenebene hinabgestiegen, um sich mit dem Kaiser zu vereinen, und unternimmt mit der Amme eine Reise zu den Menschen. Was die Färberin betrifft, so lehnt sie ihren Zustand ab, indem sie sich weigert, Kinder in die Welt zu setzen. Diese Reibungen speisen die Handlung. Durch die gesamte Oper zieht sich die Idee einer Aufruhr, eines baldigen Umsturzes, der in einer neuen Ordnung münden wird.

DIE DÄMMERUNG EINER SOMMERNACHT Die Frau ohne Schatten ist, um es wie Strauss auszudrücken, die »letzte romantische Oper« einer Zivilisation, die ihr Ende erreicht hat und wiederaufleben muss. Die Welt, die in diesem Werk beschrieben wird, ist das Spiegelbild einer alternden Wiener Gesellschaft. Das Problem des versteinerten Kaisers ist der Ausgangspunkt aller Initiativen durch die Kaiserin während der gesamten Oper. Was symbolisiert die Versteinerung für einen Kaiser, wenn nicht das Ende seiner direkten Nachfolger in der Dynastie? Wie kann man diese Metapher in der Person des alten Franz Joseph übersehen, deren einziger männlicher Erbe in der Blüte seinen Lebens gestorben ist und der anlässlich seines 60-jährigen Thronjubiläums 1908 beschließt, die Familienkrypta zu erweitern, um Platz für seinen zukünftigen Sarg zu schaffen? Das Werk ist voller Anspielungen auf

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DER SCHATTEN IST ZUR DÄMMERUNG AM SCHÖNSTEN

die Kaiserfamilie. Der rote Falke als Ursprung der Verbindung zwischen dem Kaiser und der Kaiserin bezieht sich auf die Umgebung des Habichts, der gemäß der Legende seinen Namen der Dynastie und dem ersten Lehen der Habsburger gegeben hat. In der Kaiserin von Hofmannsthal steckt auch viel von Sisi. Beide sind mit distanzierten Herrschern vereint, die in der Nacht zu ihnen kommen, nachdem sie den Tag mit der Jagd oder dem Krieg verbracht haben. Alle beide sind in die Freiheit verliebt, trauern ihrer einfachen und glücklichen Kindheit nach und sind gefangen in einem goldenen Käfig. Eine genießt ihre unsterbliche Schönheit, die andere hat sich ihre ewige Jugend bewahrt, indem sie allen verbietet, sie nach ihrem 31. Geburtstag zu malen oder zu fotografieren. Es ist allerdings eine Shakespeare-Königin, Titania, die es ermöglicht, eine noch engere Verbindung zwischen den beiden Kaiserinnen herzustellen. Im Sommernachtstraum wie auch in Die Frau ohne Schatten geht es um Feen, Metamorphosen, eine transgressive Verbindung zwischen einem Sterblichen und einer Unsterblichen, sinnliche Träume und Kinderraub. Titania war der Spitzname, den Sisi gewählt hatte, um ihre persönlichen Schriftstücke und Gedichte zu unterzeichnen. Bei allen Reisen und in allen Ferienorten hatte sie stets eine Darstellung dieser Persönlichkeit dabei. Es sind übrigens Szenen aus Sommernachtstraum, mit denen Hans Makart, der Lehrer Gustav Klimts, die Wände der Hermesvilla (des Bote der Götter) schmückte, die wie ein »Schloss der Träume« von Kaiser Franz Joseph in der Mitte eines Jagdgebiets errichtet wurde, um zu versuchen, sie in der Nähe von Wien zu halten…

ES WAR EINMAL... Diese »von der Geschichte induzierte« Lesung von Die Frau ohne Schatten ist verführerisch, aber weitgehend ungenügend, um das Werk in seiner ganzen Globalität zu erfassen. Die Konfrontation der Paare Kaiser/Kaiserin und Barak/Färberin bietet ein Beispiel der mitreißenden Komplexität des Liebesgefühls – die ständige Spannung zwischen Außerordentlichem und Normalem, der Animalität und der Domestizität, der Freiheit und der Gefangenschaft – und lädt zu einer psychologischen bzw. soziologischen Lösung des Werks ein. Die Umstände der Begegnung des Kaisers und der Kaiserin erzählen die Metaphorik einer Vergewaltigung und einer Abtreibung, die einen freudianischen Ansatz in sich birgt. Man könnte weitere Lesearten in Betracht ziehen: symbolische, philosophische, metaphysische. Die Kraft dieses Werks besteht in den Überlagerungen und Überlappungen. Wie nie zuvor haben Strauss und Hofmannsthal ein komplexes Netz von Beziehungen und Sinngehalten geschaffen. Es scheint unmöglich, alle Fäden zu entwirren. Aber muss das wirklich sein? Die Frau ohne Schatten ist in erster Linie eine Erzählung. Es ist nicht notwendig, alle ihre Geheimnisse zu enthüllen. Im Gegenteil: Die Magie der Erzählungen erfordert ein Mysterium, um existieren zu können. Das Herz versteht, was dem kartesischen Verstand widersteht. Die Schönheit dieses Werks besteht auch in diesem obskuren und unergründlichen Aspekt – einer Erinnerung an die Komplexität einer Welt, die dabei ist, ihre letzten Feuer zu erleben. Und der Schatten ist nie schöner als zur Dämmerung.

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FRANCESCO ALBERONI

UBER LIEBE UND VERLIEBTHEIT Das Verlangen nach Glück, die Glückseligkeit, die man in dem Moment, in dem die Liebe geboren wird, spürt, lebt in uns immer in Form von Nostalgie. Inmitten des täglichen Lebens, in einer Welt der Enttäuschung, wünschen wir uns ein erfüllenderes und aufregenderes Leben, etwas, das wahr und authentisch ist. Wir wünschen uns das Glück des aufkeimenden Liebeszustandes und seine Ekstase. Zwar erinnern wir uns, dass die Liebe auch mit Qualen verbunden ist, aber das wollen wir vergessen. Und wir stellen uns vor, dass wir die Liebe in ihrer höchsten Pracht und in ihrer Reinheit in eine Ewigkeit retten können. In der erblühenden Liebe, wenn alles in uns Leidenschaft und Glück, aber auch Veränderung, Sehnsucht und Schmerz ist, wollen wir den glücklichen Zustand verlängern. Wir wünschen, dass er stehenbleibt, dass er zu Gelassenheit und Ruhe wird, dass alles Schmerzhafte, das ihn begleitet, ihm erspart bleibt. Manche Menschen allerdings ertragen die Spannung des Liebeszustandes nicht; sie möchten sie sofort reduzieren, die Liebe sofort alltäglich, häuslich, kontrollierbar machen. Und so bringt für sie die aufkeimende Liebe ein Verlangen nach Frieden, Ruhe und Gelassenheit mit sich. Aber auch denjenigen, der in das tägliche Leben vertieft ist, kann diese krampfhafte Intensität des Begehrens erreichen. Dafür jedoch muss er mit seinem Alltag brechen, den verbotenen Fluss der Übertretung queren. Eine Entscheidung, die er nicht nach seinem eigenen Gutdünken treffen kann! Die entstehende Liebe »erscheint«, wenn die strukturellen Bedingungen langsam reifen; die entstehende Liebe ist ein »Ereignis«, das sich uns aufdrängt. Wenn wir aber verliebt sind, können wir den Zustand einer Gelassenheit nicht erreichen oder gar aufrechterhalten. Denn

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ÜBER LIEBE UND VERLIEBTHEIT

unsere Liebe liegt nicht in unseren Händen, sie übersteigt uns, sie treibt uns an und zwingt uns zur Veränderung. Um also diesen außerordentlichen Zustand in den Alltag zu überführen, muss er zerstört werden. Und ich wiederhole, viele Menschen, Männer und Frauen, finden erst dann ihren Frieden, wenn sie aus der Liebe ein Haustier gemacht haben. Der Preis ist das Ende des Liebeszustandes und das Verschwinden der Ekstase. Ihnen bleibt nur die Banalität des Alltags, unterbrochen von der Langeweile, dem Groll, der Enttäuschung. Demnach wünschen wir uns im Alltag das Außergewöhnliche und in außergewöhnlichen Momenten den Alltag. Im Alltag will man Ekstase, in der Ekstase die Ruhe. Diese beiden widersprechenden Wünsche addieren sich zusammen und bilden dieses »Und sie lebten glücklich und zufrieden«, das heute den Mythos des Elixiers der ewigen Jugend und des Steins der Weisen ersetzt.

Folgende Seiten: KS CAMILLA NYLUND als KAISERIN WOLFGANG KOCH als BARAK

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CHRISTIAN WILDHAGEN

»... DIE LETZTE ROMANTISCHE OPER« ZUR MUSIK DER FRAU OHNE SCHATTEN Janus, der römische Gott mit den zwei Gesichtern, hätte sein Vorbild sein können: So sehr trägt Richard Strauss noch in den Augen der Nachwelt ein seltsam doppeltes Antlitz. Er war – einerseits – der Komponist, der die Oper mit radikal avancierten Werken wie Salome und Elektra ins 20. Jahrhundert katapultierte und, zeitgleich mit Arnold Schönberg, das drei Jahrhunderte alte System der Tonalität bis an die Grenzen der Auflösung führte. Er war – andererseits – aber auch der Komponist, der den epochalen Schritt über ebendiese Grenze bewusst verweigerte, indem er anschließend mit dem Rosenkavalier eine schier atemberaubende Wende vollzog, die dem Avantgardismus der frühen Einakter die Rückbesinnung auf die Rokokozeit der Kaiserin Maria Theresia entgegensetzt. Schon damals, in Mahlers Todesjahr 1911, spaltete dieser Schritt Hörerschaft wie Fachkritik in unversöhnliche Lager. Und noch heute soll es aufgeklärte Opernfreunde geben, die das Zuckerwasser (Otto Klemperer) dieser reizenden »Komödie für Musik« ebenso vehement ablehnen, wie sie die Elektra lauthals als Vollendung des Musikdramas Wagner’scher Prägung preisen – und umgekehrt.

Freilich zeigt der Blick auf das Gesamtwerk, wie einseitig eine solche Betrachtungsweise ist. Denn der vermeintlich unüberbrückbare Gegensatz zieht sich in Wahrheit von Beginn an bis zu den letzten Werken durch das gesamte Bühnenschaffen von Strauss. Auf der einen Seite stehen dabei tatsächlich die Musikdramen in der Wagner-Nachfolge, angefangen beim hörbar vom Lohengrin beeinf lussten Erstling Guntram. Strauss wird diese Traditionslinie einer mythen­ inspirierten romantischen Oper bis zur Daphne von 1938 und der Liebe der Danae von 1940 fortschreiben. Auf der anderen Seite gibt es bei ihm aber von jeher Bestrebungen, die theatralische Unmittelbarkeit und das dramatische Pathos dieser Kunstform aufzubrechen und sie durch andere, beispielsweise humoristische, Mittel zu bereichern. Feuersnot, das Sing­gedicht von 1901, ist ein erster Schritt in diese Richtung; vor allem aber die von den vielschichtig-artifiziellen Texten Hugo von Hofmannsthals getragenen Opern setzen der Wagner-Ästhetik einen spielerischen, ausdrücklich mit dem Namen Mozart verbundenen, Kontrapunkt entgegen. Diese Strömung in seinem Schaffen, die man mit einiger Vorsicht als »neo-

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». . . DI E L E T Z T E ROM A N T I S C H E OP E R«

klassizistisch« bezeichnen kann, wird Strauss ebenfalls bis ins hohe Alter weiterverfolgen – mit der kunsttheoretischen Selbstreflexion des Capriccio als geistreichem Schlusswort. Der Rosenkavalier bedeutet demnach keinen willkürlichen Bruch, sondern vielmehr bloß die nachdrücklichste Exposition eines Gegenpols in Strauss‹ ureigener Ästhetik. Wo aber wäre in dem daraus erwachsenden Spannungsfeld jenes Stück anzusiedeln, das der Komponist wie auch sein Dichter-Librettist Hofmannsthal dezidiert als ihr gemeinsames »Hauptwerk« ansahen? Wohin also gehört Die Frau ohne Schatten? Die Frage ist weniger leicht zu beantworten, als es zunächst den Anschein hat. Die Schwierigkeiten entstehen unter anderem dadurch, dass Die Frau ohne Schatten von allen Strauss-Opern die langwierigste Entstehungsgeschichte hat, in deren Verlauf das ursprüngliche Konzept grundlegenden Änderungen unterworfen war. Anfangs erscheint die Zuordnung des neuen Werks zur Mozart-Sphäre vollkommen unstrittig. Bereits in seinem Tagebucheintrag vom Februar 1911 spricht Hofmannsthal von einer »phantastische[n] Oper«, und für beide Künstler ist der Bezug auf die Märchenwelt der Zauberflöte ein entscheidendes Argument. »Das Musikalische des Prüfungs- und Läuterungsmotives, die Verwandtschaft mit dem Grundmotiv der Zauberflöte fiel uns beiden auf«, erinnert sich der Dichter. Später wird die Analogie zu Mozarts Opernschaffen sogar ausgebaut: Das neue Werk soll nun in ähnlicher Weise die Zauberflöte fortsetzen, wie zuvor der Rosenkavalier eine geistreiche Weiterführung des Figaro gewesen war. Noch

1914 verspricht Strauss seinem Librettisten für die Vertonung »einen neuen einfachen Stil«, der »Ihre schöne Dichtung in voller Reinheit und Klarheit den Zuhörern« vorführen soll. Vieles deutet darauf hin, dass er dabei an eine Weiterentwicklung des schwerelosen melodisch-rezitativischen Konversationstones dachte, den er in der im Juni 1913 fertiggestellten Neufassung der Ariadne auf Naxos perfektioniert hatte. Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges beginnt eine auffällige Wandlung. Obwohl Strauss – anders als viele Intellektuelle jener Zeit – weder politisch noch als Künstler eine eindeutige Position bezieht, beschäftigt er sich zu dieser Zeit doch wieder verstärkt mit der unzweifelhaft von Wagner geprägten Musik seiner Frühzeit. Mehrfach dirigiert er das Heldenleben von 1898 sowie Aufführungen der Elektra. Vor allem aber komponiert er – gleichsam zum Zeitvertreib, während er bald immer länger auf neue Librettoteile des dienstverpflichteten Hofmannsthal warten muss – die gewaltige Alpensinfonie. Dieser oft missverstandene Nachzügler in der Reihe der Tondichtungen markiert eine stilistische Wende im Schaffen des mittleren Strauss: Versucht er darin doch erstmals, die kompositorischen Erfahrungen der frühen avantgardistischen Periode mit der seit dem Rosenkavalier erfolgten Klärung und harmonischen Vereinfachung seiner musikalischen Sprache in Einklang zu bringen. Das Ergebnis ist jene eigentümliche Gleichzeitigkeit von Monumentalität und innerer Schlichtheit, das Nebeneinander von mitunter bestürzend naturalistischen und »modernen« Klängen, potenziert durch die einzigartig kunstvolle Instrumentation, und einer für jene Zeit ebenso

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CHRISTIAN WILDHAGEN

einzigartigen Leuchtkraft und Eingängigkeit der melodischen Erfindung. Es ist ebendieser Stil, der prägend wird für Die Frau ohne Schatten. Das manifestiert sich schon äußerlich in der mit über 112 Spielern größten Orchesterbesetzung, die Strauss nach der Elektra für eine seiner Opern gefordert hat. Viele spezielle Instrumente aus dem kaum mehr zu steigernden Aufgebot der noch umfangreicher besetzten Alpensinfonie kehren hier wieder, darunter so illustrative wie Wind- und Donnermaschine, aber auch Orgel und die seit dem Ring gebräuchlichen Wagner-Tuben. Hinzu kommen so exotische Tonerzeuger wie fünf chinesische Gongs und eine Glasharmonika, die im dritten Aufzug der Oper als extravagantes Klangsymbol für den titelgebenden Schatten Verwendung findet. Es bedarf kaum der Erwähnung, dass Strauss, der Meister der Orchestrierung, diesen gewaltigen Apparat mit der ihm von jeher eigenen Könnerschaft handhabt. Die zahlreichen Naturlaut- und Tonmalereien, die das klangliche Erscheinungsbild der Oper nicht unwesentlich prägen – verwiesen sei nur auf die plastische Charakterisierung des »Roten Falken« durch ein fast ornithologisch präzises Rufmotiv oder das durch Harfenglissandi und den Einsatz von zwei(!) Celesten wahrhaft berauschende Wasser des Lebens –, verdanken ihre Suggestivität fraglos den Erfahrungen aus den Naturschilderungen der Alpensinfonie. Die Analogien zur Tondichtung reichen indes tiefer. Aus Äußerungen wissen wir, dass Strauss mit der Alpensinfonie eine Programmatik verfolgte, die weit über die vordergründige Schilderung einer klassischen Gipfelbesteigung hinausgeht. Noch in späten Ent-

wurfsphasen trug das Werk nämlich den Haupt­titel Der Antichrist, und der glühende Nietzsche-Verehrer Strauss verband die Vorstellung vom sukzessiven Aufstieg auf höchste Bergeshöhen ausdrücklich mit der Idee einer »sittliche[n] Reinigung aus eigener Kraft«. Dieses Anliegen, das den Blick über die literarisch-autobiografischen Sujets vieler früherer Werke hinaus ins Philosophische hebt, findet in der Frau ohne Schatten eine unmittelbare Fortsetzung, da auch Hofmannsthal seine ursprüngliche Fokussierung auf das Märchenhafte des Stoffs – wohl unter dem Eindruck der Kriegsereignisse – aufgab zugunsten einer immer stärker ins Weltanschauliche vordringenden Gestaltung. Mit ihrer am Ende so machtvoll tönenden Botschaft von der Läuterung des Menschen durch Selbstüberwindung wird Die Frau ohne Schatten folglich zu einem späten Nachfahren jener großen Tradition von Weltanschauungsmusiken, die sich von Wagners Parsifal bis zur ähnlich ins Allumfassende drängenden Achten Symphonie Gustav Mahlers spannt. Diesen Umstand vor allem (und weniger die stilistische Verwurzelung seiner Musik im 19. Jahrhundert) meinte Strauss, als er im Juli 1916 an Hofmannsthal den vieldeutigen Satz schrieb: »Wir wollen den Entschluss fassen, die Frau ohne Schatten sei die letzte romantische Oper.« Der Rückbezug auf die romantische Opernästhetik befreite ihn en passant von allen stilistischen Restriktionen, die ihm die »neoklassizistische« Wende im Rosenkavalier und der Ariadne auferlegt hatte. Dies dürfte nur bedingt im Sinne Hofmannsthals gewesen sein, der sich gleichwohl beeindruckt von der Vertonung zeigte.

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». . . DI E L E T Z T E ROM A N T I S C H E OP E R«

Indes beweist Strauss auch darin seine ganze Janusköpfigkeit, indem er den vermeintlich retrospektiven Romantik-Begriff um seinen gesamten Erfahrungsschatz als Komponist des frühen 20. Jahrhunderts erweitert. Das Ergebnis ist eine Musik, in der es eine Vielzahl an unterschiedlichen Stilen und Stilhöhen gibt. Die geradezu lutherische Klarheit des Wächter-Chorals, der mahnend den ersten Aufzug beschließt, steht darin beispielsweise neben der dämonischen Klangsphäre der Amme, deren Zerrissenheit ohne die kompositorischen Wagnisse der Klytämnestra-Szenen undenkbar wäre. Das Rhythmogramm des Geisterfürsten »Keikobad«, das die Oper eröffnet und durchzieht, hat in der Elektra mit ihren »Agamemnon«-Rufen ebenso ein Vorbild wie die explosive Ausdrucksgewalt der Färberin. Hierzu steht wiederum die luftige Klangwelt der Kaiserin in

schärfstem Kontrast, nicht minder zur eingängigen, auch harmonisch fest geerdeten Melodik des Gutmenschen Barak. Gleichzeitig ist es die Kaiserin, deren Musik, analog zu ihrer inneren Entwicklung, die stärkste Wandlung durchläuft: Von der tatsächlich Mozart-nahen Koloraturenleichtigkeit ihres ersten Auftritts reicht die Spanne bis zu den seelischen Entäußerungen der Prüfungsszenen, die namentlich im Melodram des dritten Aufzugs bis in die Nähe des Expressionismus von Schönbergs Erwartung führen. Wenn es noch eines Beweises für den Rang dieser »letzten romantischen Oper« bedürfte, so wäre es gerade dieser musikalische Pluralismus – als der Versuch, die ästhetisch (wie politisch) im Auseinanderfallen begriffene Welt am Beginn der Moderne noch einmal zum Ganzen zusammenzufügen.

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DANIEL FROSCHAUER

IM AUSNAHME- ZUSTAND Musizieren ist nicht nur Noten korrekt spielen. Musizieren, echtes Mu­sizieren, umfasst einen ganzen Kosmos an Zugängen, Reflexionen, Auseinandersetzungen, Empfindungen und Hintergründen. Sich als Geiger einfach in eine Vorstellung zu setzen und drauflos zu spielen – das ist für mich ein Ding der Unmöglichkeit. Einer Aufführung muss stets eine intensive Auseinandersetzung mit einem Werk und seinen Aussagen vorangehen, erst dann kann man zum Wesenskern vordringen und ihn künstlerisch entsprechend ausformen. Nur über eine solche Vorbereitung kann die Interpretation zu einer sinnhaften und für alle gewinnbringenden Aussage werden: und das ist gleichermaßen für mich als Künstler wichtig wie auch für das Publikum, das nur berührt werden kann, wenn hinter dem, was wir machen, auch eine Wahrhaftigkeit und intensive Auseinandersetzung steht. Besonders, wenn es sich um eine Oper wie Die Frau ohne Schatten handelt, ein Werk, das tatsächlich alle Ebenen des Menschlichen berührt, sei es in intellektueller, emotionaler oder philosophischer Hinsicht: Als Prüfungsoper, die Frau ohne Schatten (neben der Zauberflöte, Parsifal und Oberon) ja ist, stellt sie an uns besondere Fragen, die ans Zentrum des MenschSeins rühren. Stellt man sich diesen, so durchlaufen auch wir Ausübende einen Weg der inneren Reifung, sodass auch wir geradezu geläutert eine Vorstellung verlassen. Mit der Frau ohne Schatten hat Strauss ein Gipfelwerk geschaffen. Von den Meisterwerken Salome und Elektra kommend hat er mit dem Rosenkavalier eine Art Mozart-Oper aus seiner Sicht entworfen, dann die Ariadne, die Kammermusikalisches wie auch die große Form bietet. Frau ohne Schatten übertrifft das

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IM AUSNAHMEZUSTAND

alles noch einmal: Kein Wunder, dass Hofmannsthal und Strauss gerade diese Oper über alles schätzten und sich schon während der gemeinsamen Arbeit bewusst waren, hier etwas Exemplarisches gefunden zu haben: Wir erleben die Kontrapunkttechnik von Bach kombiniert mit der Gesanglichkeit von Mozart und der Leitmotivik von Wagner. Alles in einem Werk! Entsprechend weiträumig muss unser Zugang beim Einstudieren sein. Zunächst einmal musikalisch: Ich ziehe nicht nur meine Violinstimme heran – und diese verlangt von uns schon allein technisch das Höchste ab, Strauss hat für alle Beteiligten komplexe und anspruchsvolle Partien und Stimmen geschrieben –, sondern auch die Partitur. Denn nur eine Stimme, ein Blickwinkel kann das vielschichtige Gefüge, das Strauss und Hofmannsthal geschaffen haben, nicht ausreichend ausleuchten. Ich muss stets auch wissen, was meine Kolleginnen und Kollegen spielen, wie die Gegenstimmen verlaufen, wie sich meine Stimme im Verhältnis zu den anderen verhält. Natürlich gehört es zu einer solchen Vorbereitung dazu, die großen Aufnahmen der Vergangenheit zu studieren: Was ein Karajan, ein Böhm oder ein Sinopoli zu dieser Oper zu sagen hatten, ist nicht nur Staatsopern-Geschichte, sondern hat seinen Platz in der Musikgeschichte. Denn nur von der Tradition ausgehend kann man zu einer heute gültigen Aussage finden. Neben dieser musikalischen Annäherung versuche ich, mich den Autoren und der Oper aus unterschiedlichster Richtung zu nähern. Das fängt bei den Quellen an, dem Briefverkehr und reicht bis zu Reflexionen Dritter zu dieser Oper. Was ich immer wieder spannend finde, ist, welche wechselnden Aspekte eines Werkes mich berühren. Den Rosen-

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DANIEL FROSCHAUER

kavalier etwa spiele ich seit meinem 17. Lebensjahr, meine ersten Aufführungen durfte ich im Orchestergraben noch unter Karajan erleben – und zunächst war meine Identifikationsfigur der Octavian; im Laufe der Jahre jedoch ist die Marschallin ins Zentrum meiner Zuneigung gerückt, mehr und mehr verstehe ich ihre Monologe und ihre klugen Aussagen zur Zeit und der Vergänglichkeit – es geht inzwischen so weit, dass ich Kollegen im Orchester – die heutigen Octaviane gewissermaßen – darauf hinweise, was für ein einzigartiges und wertvolles Geschenk die Zeit für uns Menschen ist. Wenn ich nun bei den Proben zur Premiere den Orchestergraben betrete, merke ich die Ausnahmesituation schon alleine an der Aufstellung der Instrumente: Nichts ist wie sonst! Glasharmonika, Windmaschine, Tamtams, chinesische Gongs, Donnermaschine, alles Instrumente, die man nur selten in Opern verwendet, stehen dicht nebeneinander. Dass Christian Thielemann die Premiere mit uns einstudierte, ist darüber hinaus eine besondere Freude! Gerade bei einer solchen Oper, die in ihrer Tiefe so weit in unsere Seele reicht, versteht er es, Unvergleichliches aus dem Werk hervorzuholen: als außerordentlich guter Kapellmeister – und das ist ein Ehrentitel – hält er Orchester und Bühne perfekt zusammen und bewegt sich in der Oper mit einer Sicherheit, die man sonst nur selten erlebt. Stets ist unsere Arbeit mit ihm eine Ausnahmesituation – und ein großes Glück für alle Beteiligten. Über Richard Strauss und die Wiener Philharmoniker bzw. das Wiener Staatsopernorchester ist schon viel gesagt worden. Die besondere wechselseitige Zuneigung, die unser Orchester mit diesem großen Komponisten und Dirigenten (und Direktor) verbunden hat, hat die Klangkultur und -sprache – ich würde sogar sagen: beider Seiten – geprägt. Ich denke nur an die Südamerika-Tournee 1923, die uns zusammengeschweißt hat, aber auch die langen gemeinsamen Jahre (1906 bis 1944!): Das war ein Geben und Nehmen voller gegenseitigem Respekt. Er war ein Komponist, der mit unserem Ton besonders gut umgehen konnte und auch für diesen Klang geschrieben hat – nicht nur die Frau ohne Schatten. So ist es unsere Verantwortung, dieses Erbe auch weiterzutragen: Wenn wir also junge Mitglieder auf-

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nehmen, dann suchen wir bewusst nach Leuten, die ein Ohr für diesen besonderen Ton haben und sich in unseren Klang einbetten können. So wie wir von der Generation vor uns gelernt haben, so versuchen auch wir – bei aller Offenheit für Neues – das Besondere weiterzugeben und es für die kommenden Generationen zu bewahren. Da braucht es gar nicht viele Worte, ja sogar: Müsste man lange erklären, was dieses »besondere Etwas« ist, dann wäre bereits Feuer am Dach. Denn naturgemäß ist das Unaussprechliche nicht genau zu beschreiben und kann mehr erfühlt als definiert werden. Und gerade da ist ein in seiner Aussage so faszinierendes und reichhaltiges Werk wie die Frau ohne Schatten ein Musterbeispiel!

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ANNA BAAR

WAS BLEIBEN SOLL, BLEIBT In einem Brief an Richard Strauss schrieb Hugo von Hofmannsthal 1912 mit Blick auf ein nach einer AriadneAufführung anberaumtes Diner: »Ich meinerseits weigere mich schon heute, einen Abend, an den die Erinnerung mir kostbar sein soll, in der Intimität von Zeitungsschmierern und Stuttgarter Spießbürgern zuzubringen, die Ihnen und mir beim Champagner das Du antragen.« Beim Wiederlesen dieser prächtigen Abfuhr fällt mir die über dem Portal des Theaters in der Josefstadt angebrachte Gedenkrosette mit dem Bronzekopf ein, an der ich in den 1990er-Jahren als immermüde, die nächtlichen literarischen Exzesse wie eine peinliche Krankheit verheimlichende Medizinstudentin auf den Fußgängen zwischen meinem Quartier in der Stolzenthalergasse und der Wiener Innenstadt hundertmal vorbeigekommen war, oft ohne letztliches Ziel, tagediebisch, angewidert von Lehrsälen und Laboratorien und von den Zerstreuungen mancher Studiengenossen. Den Blick gewöhnlich zu Boden gerichtet, sah ich meistens nicht zu ihm auf, der so weit aus dem Rund der Befestigungsplatte ragte, dass mir, als ich ihn zum ersten Mal bemerkte, wie so oft beim Anblick von Gedenkköpfen gleich das Märchen von der Gänsemagd einfiel, deren treuem Pferd Falada das Haupt abgehackt und an ein Tor genagelt wird, worauf sie, so oft sie zum

Torbogen kommt, mit dem Pferdekopf Zwiesprache hält – »O Falada, da du hangest!« »O Jungfer, da du gangest«. Es reichte mir, den Dichter da zu wissen, als einen stillen Verbündeten in traulicher Einsamkeit, Was ihr so Stimmung nennt, das kenn ich nicht / Und schweige still, wenn einer davon spricht, als einen, der Worte hatte für das, was in mir nur als Ahnung schwelte. Und gerne hätte ich von Zeit zu Zeit mit ihm Zwiesprache gehalten. O Hofmannsthal, da du hangest! Verzeihen Sie mir das Gedankenspiel: Was, wenn sein Kopf zu mir redete – Wenn das deine Mutter wüsste…? Oder ob er sich beklagt hätte über die schaulustigen Sektkorkenknaller in der Josefstadt oder die Salzburger Festspielgesellschaft, der er mit seinem Jedermann einst die ewige Anlockung schuf? Oder über eine Dichtergeneration, die sich versklavt hat an die Ökonomie der Aufmerksamkeit und sich einem Publikum anbiedert, das selbst im allerfurchtbarsten Stoff Ironie und Witz verlangt? Ob er mich wohl ermutigt hätte, das Ernste zurückzuführen zur Welt, das Schwierige, Rätselhafte? Nein, er muss gar nicht reden. Im Schweigen ist alles gesagt. Das Gesicht mit den feinen Zügen und dem frommen Ausdruck, das an einen Täufling gemahnt, wacht mit geschlossenen Lidern, und, wie mir scheint, umso hellsichtiger über dem

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WA S B L E I B E N S OL L , B L E I B T

Treiben der Heutigen – ein stummer Zeuge noch im Tod. Er hat diesen Ausschnitt, dieses Stück Josefstädterstraße schon so oft gesehen, dass er ihn auswendig weiß. Und sah er nicht auch schon zur Lebzeit mit geschlossenen Augen, und oft was außer ihm keiner sah? Ist er nicht immer hinausgegangen über die plumpe Anschauung der Dinge? Hat er, von Stefan Zweig für sein geniales Durchdrungensein mit poetischer Substanz bis in die zufälligste Zeile gerühmt, nicht immer schon tiefer als andre geblickt, sich gegen jede Plattheit gestemmt, misstrauisch gegen den Zeitgeist, misstrauisch gegen das Wort, dessen achtlose Besetzung auch anderen großen Dichtern des beginnenden 20. Jahrhunderts zu schaffen machte? Rainer Maria Rilke schrieb damals Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort. Und wirklich schien das natürliche Eins-Sein mit der Welt, die Einheit von Wort und Gegenstand, in jener Zeit an ein neues Bewusstsein verloren zu gehen, an die schmerzliche Erkenntnis einer Wahrheit, die sich nur im Übersprachlichen erschließt, sich dem Zugriff der Worte entzieht, ja, die Worte gefährlich macht. Hofmannsthals Sprache: nie ganz in der Zeit – und damit immergültig. Die Leitidee von der Entmachtung des Konkreten, die Erhebung der ganz ungreifbaren allerwirklichsten Lebendigkeiten, ließ ihn die Dinge stets nach ihrer höheren Wahrheit befragen, statt sie nur abzuklatschen. In etlichen poetologischen Reflexionen legte er seinen Anspruch offen: Die dichterische Sprache habe sich von der Alltagssprache zu unterscheiden, ohne äußeren Zwecken zu dienen, etwa der Unterhaltung. Auch darin scheint er ganz aus der Mode, wenn man den Prototypen

des Gegenwartsliteraten zum Vergleich nimmt, der sich stur ans Sichtbare hält, alles möglichst abbilden will, ängstlich vielleicht, den Halt zu verlieren, weil er die Welt, aus der er sich fortsehnt, immer nur wiedergibt – auch in der Wahl seiner Sprache, die allzu oft der des Alltags gleicht. Was fiele dem heutigen Kritiker ein zu einem von Hofmannsthals Schlag? Hielte er ihm Pathos vor, symbolische Überfrachtung? Zeigt nicht die immerzu geforderte Schlichtheit der Sprache, wie tief wir wieder abgesunken sind in die Illusion der Wort-Welt-Einheit, wie wir uns wieder auf die Oberflächen verlassen, auf den bloßen Augenschein – in einer Sprache, die nichts mehr wagt und nicht mehr wühlt und letztlich nicht mehr fühlt? Wer hat noch den Geist und die Festigkeit, hinter die Rätsel des Worts zu schauen? Nur wer sich bestürzen lässt, wird von Hofmannsthals Werk berührt, das Wahrste vor sich hingestellt sehen. Schon seine frühe Dichtung, von Deutern als Symbolismus, Impressionismus, Ästhetizismus und so weiter einzuordnen gesucht, wie der gewöhnliche Mensch und erst recht der Experte immer den Drang nach Benennung hat, zeugte von seiner Herrschaft über die Sprache und nicht der Herrschaft des Sachkundigen, sondern der ungleich gewaltigeren Herrschaft eines Ahnenden. So schreibt der erst Siebzehnjährige in seiner Erzählung The Age of Innocence von der Hochachtung vor unverständlich gewordenen Dingen: »Mit acht Jahren fand er den größten Reiz an dem Duft halbvergessener Tage und tat manches nur mit dem dumpfen Instinkt, zukünftige hübsche Erinnerungen auszusäen. So gewöhnte er sich resigniert, den Wert und Reiz der Gegenwart erst von der Vergangen-

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HUGO VON HOFMANNSTHAL AN RICHARD STRAUSS / 28. DEZEMBER 1913

»DAS MENSCHLICHE FEHLT: DIESES ZU GEWINNEN, IST DER SINN DES GANZEN STÜCKES – SO AUCH IN DER MUSIK: ERST IM DRITTEN AKT WIRD DIE STIMME DER KAISERIN IHREM VOLLEN MENSCHENKLANG ANNEHMEN – DIE TIERHAFT GEISTERHAFTEN ELEMENTE WERDEN DANN IN EINEM HÖHEREN MEDIUM ZU EINER NEUEN WESENHEIT VERSCHMOLZEN ERSCHEINEN.«

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WA S B L E I B E N S OL L , B L E I B T

heit gewordenen zu erwarten.« Sieben Jahre später begegnet uns der Schriftsteller in einem seiner Gedichte als Seiltänzer – das Seil als ein dünner Faden, gezogen aus dem eigenen Leib: »Fürchterlich ist diese Kunst! Ich spinn aus dem Leib mir den Faden / Und dieser Faden zugleich ist auch mein Weg durch die Luft.« Wenig später riss der Faden, den er so bildhaft beschwor. Der kurz nach der Jahrhundertwende in einer Berliner Zeitung veröffentlichte Prosatext Ein Brief, in dem der junge Held Lord Chandos seinem Mentor gegenüber die Unfähigkeit beklagt, die Welt durch das Wort zu erfassen, ja, über irgendetwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen, wird trotz der vollkommenen Sprache, in der er verfasst ist, als Beweis der eigenen Sprachnot verstanden. Für mich gehört er zu den größten und tröstlichsten

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Werken der Weltliteratur. Hofmannsthals tat, was der Dichter tun muss, um wieder zum Ausdruck zu finden: Sein Instrumentarium hinterfragen, es wieder und wieder stimmen. Ob er je ganz zufrieden war? Die tote Bildhaftigkeit der gebräuchlichen Begriffe blieb ihm zeitlebens unheimlich. Wie gelassen er dagegen die Sprach- und Verständnisschwierigkeiten seines Publikums nahm, zeigt ein weiterer Brief an Richard Strauss, verfasst im Herbst 1919, kurz vor der Uraufführung von Die Frau ohne Schatten an der Wiener Staatsoper: »Ich freue mich unsäglich aufs Hören. Die gewissen Schwierigkeiten mit dem Stoff, stupide Versuche, zu deuten und herumzurätseln, wo alles einfach Bild und Märchen ist, auf das alles bin ich gefasst. Das geht vorüber, und was bleiben soll, bleibt.«

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HUGO VON HOFMANNSTHAL

REFLEXION AUS DEM NACHLASS Nicht das Leuchtende durch Furcht verdunkeln, nicht dem wunderbaren Vogel die Flügel binden! Mut ist das innere Licht in jedem Märchen, darum ist die Kaiserin so leuchtend und mutig – und wirft sich, wo ihr schaudert, mit erhobenen Flügeln, wie ein Schwan, dem Fremden und Geheimnisvollen entgegen. Fremd und geheimnisvoll sind solche Nächte, wie alle Geschenke des Himmels, aber darum sind sie heilig, und sie durchleben ist ein heiliger Dienst – in dem darf man nicht zittern. Das Erschütternde ist da, der dunkle schauerlich süße Abgrund ist da – aber du darfst nicht hineinstürzen – seine Nähe ist nur eine Heiligung mehr. Alles ist heilig und schön – jede Sekunde: küsse die Augen und heilige sie und dann lass sie alles in sich trinken, das Oben und das Unten und die wunderbare Mitte, die süßen bewegten Arme und die süßen ruhenden Brüste, die Lippen und das Haar. Verbirg nichts – wo das Verbergen ist, da ist die Hast und die Glut der Jagd, da ist der Kaiser und der tödliche Pfeil und die Gazelle; wo alles sich darbringt, da ist die nächtliche Feier, der Tempel und die Sterne. Gib dich sanft und festlich, du Süße, und erschüttere den, der selig wird durch dich, mit deinen zarten Händen – wie du eine Harfe erschütterst –, dann ist die Erschütterung von dir genommen, und was du empfängst, ist die Musik. – Zittere nicht, denn was wird aus dem Tempel, wenn die Priesterin zittert! Wirf dich in den Abgrund, aber nur weil unten die goldene Treppe ist, die zu den Sternen führt.

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REFLEXION AUS DEM NACHLASS

Sei die süße Herrin und nicht das scheue Mädchen, – gieß dich aus in Augen, Hände und Mund, behalte nichts von dir in dir, dann wirst du leicht sein und schweben, Zauberin auf ihrem Zauberbette – Verwandlerin, selber verwandelt, unfindbar allen außer dem einen, den du verzauberst. den 27. X. 1919

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THOMAS LEIBNITZ

»SIE SIND DA PONTE UND SCRIBE IN EINER PERSON…« RICHARD STRAUSS UND HUGO VON HOFMANNSTHAL Wie entsteht eine gute und erfolgreiche Oper? Das Grundrezept ist ebenso einfach wie überzeugend: Man nehme einen erstklassigen Dichter, lasse ihn einen Text schreiben, und sorge dafür, dass dieser Text von einem hervorragenden Komponisten vertont werde. Und tatsächlich, im Fall der Zusammenarbeit von Richard Strauss mit Hugo von Hofmannsthal hat das Rezept offensichtlich funktioniert – zwar schafften nicht alle gemeinsamen Produkte den Sprung in die Unsterblichkeit, aber doch die meisten, von Elektra über Rosenkavalier, Ariadne auf Naxos und Frau ohne Schatten bis zu Arabella. Wer sich allerdings die Zeit nimmt, im sehr umfangreichen Briefwechsel zwischen Strauss und Hofmannsthal die oft verschlungenen und komplizierten Entstehungsgeschichten der gemeinsamen Meisterwerke nachzuvollziehen, wird realisieren, dass das eingangs skizzierte Erfolgsrezept nur noch als abstraktes Grundprinzip übrig bleibt – flankiert von Änderungen und Rücknahmen, Einflussnahmen und Neukonzeptionen, Bestärkungen und Kränkungen.

Die Zusammenarbeit zwischen Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal, der insgesamt sechs Opern und ein Ballett entstammen werden, beginnt mit einer Begegnung im Hause des Dichters Richard Dehmel in Berlin 1899. Zwischen dem bajuvarisch-direkten Komponisten und dem feinsinnigen Dichter des Wiener Fin de Siècle stimmt die »Chemie«, und ein Jahr später wird diese Bekanntschaft in Paris vertieft. Hofmannsthal bietet bald darauf Strauss ein Ballett zur Komposition an (Der Triumph der Zeit). Der Entwurf ist nicht nach Strauss‹ Geschmack, und so bleibt dieser erste Anlauf zur Zusammenarbeit ohne Ergebnis. Welches musikalische Potenzial in den Texten seines späteren Partners liegt, wird Strauss erst bewusst, als er 1903 in Berlin die Uraufführung von Hofmannsthals Elektra besucht: »Als ich zuerst Hofmannsthals geniale Dichtung im ›Kleinen Theater‹ in Berlin mit Gertrud Eysoldt sah, erkannte ich wohl den glänzenden Operntext (der es nach meiner Umarbeitung der Orestszene tatsächlich geworden ist) und, wie seinerzeit in Salome die gewaltige musikalische Steige-

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»SI E SI N D DA P ON T E U N D S CR I BE I N EI N ER PER S ON…«

rung bis zum Schluss: in Elektra nach der nur mit Musik ganz zu erschöpfenden Erkennungsszene der erlösende Tanz – in Salome nach dem Tanz (als Kernpunkt der Handlung) die grausige Schlussapotheose.« Doch kommen Strauss Zweifel, ob es geraten sei, der Salome eine in vielfacher Hinsicht ähnliche Oper folgen zu lassen; tatsächlich wird Elektra später von spöttischen Kritikern als das »tragische Duplikat« der Salome bezeichnet. So wendet er sich 1906 mit Vorschlägen an den Dichter: »Haben Sie einen schönen Renaissancestoff für mich? So ein ganz wilder Cesare Borgia oder Savonarola wäre das Ziel meiner Sehnsucht!« (17. März 1906). Hofmannsthal winkt entschieden ab und zeigt bereits bei dieser Gelegenheit, dass er sich keineswegs als literarischer Erfüllungsgehilfe versteht und sich in künstlerischen Dingen mit schonungsloser Offenheit äußert: »… Sie sprachen von einem Stoff aus der Renaissance. Lassen Sie mich darauf, verehrter Herr, offen antworten: ich glaube, dass nicht nur ich, sondern jeder dichterisch schaffende Mensch unserer Zeit keine Epoche mit so präziser Unlust, ja mit sicherem Widerwillen aus seinem Schaffen ausschließen wird, wie diese Epoche. Die Stoffe aus der Renaissance scheinen dazu bestimmt, die Pinsel der unerfreulichsten Maler und die Federn der unglücklichsten Dichter in Bewegung zu setzen.« (27. April 1906). Einige Sujets werden zur Diskussion gestellt: Saul und David nach Friedrich Rückert, Semiramis nach Calderons Komödie Die Tochter der Luft, Büchners Dantons Tod, Victorien Sardous 9. Thermidor. In allen Fällen hat entweder der Dichter oder der Komponist gravierende Einwände, und so bleibt es zunächst bei der Elektra, die am 25. Jänner 1909 in der Dresdner Hofoper uraufgeführt wird.

Elektra markiert in ihrer archaischen Wucht, in der Steigerung der leitmotivischen Arbeit bis zu kaum mehr wahrnehmbarer Dichte und der freien Dissonanzbehandlung bis zur Sprengung der Tonalität einen Höheund Wendepunkt im Schaffen Richard Strauss‹; doch wie schon die lyrischen Passagen in Elektra zeigen, hat Strauss niemals ernsthaft vor, die Expressivität bis zum Bruch mit den Grundlagen der hergebrachten Tonsprache voranzutreiben: Ein »antithetisches« Werk liegt gleichsam in der Luft. So ist er freudig berührt, als Hofmannsthal ihm kurz nach der Uraufführung der Elektra, am 11. Februar 1909, vom Plan einer heiteren Spieloper berichtet: »Ich habe hier an drei ruhigen Nachmittagen ein komplettes, ganz frisches Szenar einer Spieloper gemacht, mit drastischer Komik in den Gestalten und Situationen, bunter und fast pantomimisch durchsichtiger Handlung, Gelegenheit für Lyrik, Scherz, Humor und sogar für ein kleines Ballett. Ich finde das Szenarium reizend, und Graf Kessler, mit dem ich es durchsprach, ist entzückt davon. Zwei große Rollen, für einen Bariton und ein als Mann verkleidetes Mädchen… Zeit: Wien unter Maria Theresia…« Strauss greift diese Idee, die die Essenz des späteren Rosenkavaliers beschreibt, freudig auf und animiert seinen Partner, dieses Konzept möglichst bald auszuführen; als der Beginn des ersten Aktes eintrifft, ist er begeistert: »Ihre Briefe sowie die ersten Szenen dankend erhalten, erwarte mit Ungeduld die Fortsetzung. Die Szene ist reizend, wird sich komponieren wie Öl und Butterschmalz, ich brüte schon. Sie sind da Ponte und Scribe in einer Person…« Bald aber mischen sich in das harmonische Zusammenspiel auch

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kritische Töne. Während die Arbeit am ersten Akt zügig voranschreitet, muss die Endgestalt des zweiten erst in Diskussionen erkämpft werden. Strauss empfindet die Entwicklung in Hofmannsthals erstem Entwurf als zu langatmig; seiner Meinung nach muss das Geschehen der in zu viele Szenen aufgeteilten Auseinandersetzung zwischen dem Baron Ochs und Sophie sowie zwischen dem Baron und Octavian gestrafft und rasch zum dramatischen Höhepunkt des tätlichen Angriffs Octavians geführt werden: »Schon bei der ersten Lectüre des II. Aktes fühlte ich, dass daran etwas nicht stimmte, dass er matt und flau sei und die richtige dramatische Steigerung entbehre. Heute weiß ich auch ungefähr, was fehlt.« Ohne Umschweife skizziert er seine eigenen Ideen zum Fortgang der Handlung. Und nun erweist sich die Tragfähigkeit dieser künstlerischen Kooperation zweier »Stars«, die gewillt sind, dem gemeinsamen Erzeugnis zuliebe auf Kränkungsallüren zu verzichten; Hofmannsthal gibt nicht den Beleidigten, sondern greift Strauss‹ Vorschläge willig auf und berichtet darüber seinem literarischen Vertrauten Harry Graf Kessler: »Mein Lieber, bitte lies zuerst den einliegenden Brief von Strauss. Ich war zuerst consterniert, dann machte ich mich an die Arbeit, fand mich immer mehr darein, und heute bin ich mit der Umarbeitung fast fertig und der Act hat sicherlich sehr gewonnen, nicht bloß im Theatersinne, sondern überhaupt.« Nach ähnlichem Muster verläuft die Zusammenarbeit bei den nächsten gemeinsamen Opern, der Ariadne auf Naxos und der Frau ohne Schatten. Man ginge jedoch fehl in der Annahme, nach Abschluss eines gemeinsamen

Opernwerkes habe sich das Autorenpaar erst einmal auf die Suche nach einem neuen Stoff gemacht. Die Ideen keimen oft bereits während der Konzeption früherer Werke auf, werden »abgetastet« und diskutiert, aber noch nicht ausgeführt. Ähnliches lässt sich bei Wagner beobachten, der die Idee zum Parsifal bereits Jahrzehnte vor der Dichtung und Komposition des Werkes niederschreibt. Im März 1911 – noch vor der gemeinsamen Arbeit an Ariadne – entwickelt Hofmannsthal bildliche Visionen zu einer Märchenoper, in denen man Grundzüge der späteren Frau ohne Schatten bereits deutlich erkennen kann: »Mir schwebt da etwas ganz Bestimmtes vor, etwas, das mich sehr fasziniert, und das ich ganz sicher ausführen werde, ob für Musik oder nur als Ausstattungsstück mit begleitender Musik, das werden wir uns ja entscheiden können, es ist ein Zaubermärchen, worin zwei Männer und zwei Frauen einander gegenüberstehen, und zu einer dieser Frauen könnte man sehr wohl Ihre Gattin mit aller Diskretion Modell stehen lassen – dies aber ganz unter uns gesagt, es ist auch nur halbwichtig, es ist halt eine bizarre Frau mit einer sehr guten Seele im Grund, unbegreiflich, launisch, herrisch, und dabei doch sympathisch, sie wäre sogar die Hauptfigur, und das Ganze bunt, Palast und Hütte, Priester, Schiffe, Fackeln, Felsengänge, Chöre, Kinder – das Ganze schwebt mir wirklich mit Gewalt vor Augen und stört mich sogar im Arbeiten…«. Hofmannsthal beschreibt hier die Figur, die später als »Färberin« tatsächlich einen der wichtigsten Charaktere in der Frau ohne Schatten verkörpern wird, und Strauss nimmt ihm die gewagte Assoziation zur eigenen Ehefrau nicht übel. Gleich im nächsten

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»SI E SI N D DA P ON T E U N D S CR I BE I N EI N ER PER S ON…«

Satz bezieht sich sich Hofmannsthal auf Mozart und dessen Zauberflöte: »Das Ganze … verhielte sich, beiläufig gesagt, zur Zauberflöte, so wie sich der Rosenkavalier zum Figaro verhält: das heißt, es bestände hier wie dort keine Nachahmung, aber eine gewisse Analogie. Die bezaubernde Naivität vieler Szenen der Zauberflöte kann man natürlich nicht erreichen, aber der Einfall ist, glaub ich, sehr glücklich und sehr ergiebig.« Mit der Erwähnung der »Analogie« zur Zauberflöte wird eine Konstante der schöpferischen Zusammenarbeit zwischen Strauss und Hofmannsthal berührt: Beide schaffen »späte Kunst« und sind sich dessen bewusst; sie sehen sich im Kontext eines bereits verfestigten historischen Repertoires, das nicht nur Anregung, sondern auch Herausforderung bedeutet – denn man will neben Werken wie dem Figaro, der Zauberflöte oder den Meistersingern bestehen. Mehr als einmal wird im Briefwechsel deutlich,

dass etwa grundlegende Konstellationen der Meistersinger, so die Funktion des Hans Sachs, im Rosenkavalier – im konkreten Fall in der Figur der Marschallin – ihr Gegenstück finden und damit den Anspruch des Autorenpaars verkörpern, neben die großen, zu Fixbestandteilen des Repertoires gewordenen Meisterwerke der Vergangenheit Neues, aber ebenfalls historisch Bestehendes zu setzen. Dass dieser Anspruch bei der zeitgenössischen Kritik auf oftmals heftigen Widerspruch stößt, ändert nichts an dem Selbstbewusstsein, mit dem er gestellt wird und dem der Verlauf der Aufführungsgeschichte zweifellos Recht gegeben hat. Strauss spricht wohl mit innerster Überzeugung, als er nach Hofmannsthals Tod am 15. Juli 1929 in seinem Schreiben an dessen Witwe seine Erschütterung bekundet: »Noch nie hat ein Musiker einen solchen Helfer und Förderer gefunden – Niemand wird ihn mir und der Musikwelt ersetzen!«

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HUGO VON HOFMANNSTHAL

ZUR ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER FRAU OHNE SCHATTEN In einem alten Notizbuch finde ich die folgende Eintragung des ersten Einfalles unterm 26. Februar 1911. »Die Frau ohne Schatten, ein phantastisches Schauspiel. Die Kaiserin, einer Fee Tochter, ist kinderlos. Man verschafft ihr das fremde Kind. Schließlich gibt sie es der rechten Mutter zurück. (›Wer sich überwindet. –‹) Das zweite Paar (zu Kaiser und Kaiserin) sind Arlekin und Smeraldine. Sie will schön bleiben. Er täppisch und gut. Sie gibt ihr Kind her, einer als Fischhändlerin verkleideten bösen Fee; der Schatten als Zugabe.« Dies ist der eigentliche Kern des Stoffes. Für Arlekin und Smeraldine traten bald in meine Phantasie zwei Wiener Volksfiguren. Ich wollte das Ganze als Volksstück, mit bescheidener begleitender Musik, machen, zwei Welten gegeneinanderstehend, die Figuren der unteren Sphäre im Dialekt. Nachdem sich das Ganze etwas ausgeformt hatte, erzählte ich es einigen Freunden, darunter auch Strauss. Ich fragte ihn, ob er sich diese Handlung als Oper denken könne, oder er selber, scheint mir, fasste sie gleich als Opernhandlung auf. Das Musikalische des Prüfungsund Läuterungsmotives, die Verwandtschaft mit dem Grundmotiv der Zauberflöte fiel uns beiden auf. Damit war es entschieden, dass beide Figurengruppen im gleichen Stil, in höherer Sprache zu behandeln wären: an Stelle von Arlekin und Smeraldine, oder dem Wiener Flickschneider und seiner schönen unzufriedenen Frau, waren der Färber und die Färberin

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ZUR ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER FRAU OHNE SCHATTEN

getreten. 1913 schrieb ich dann den ersten und zweiten Akt und Strauss fing gleich zu komponieren an. Im Juli 1914, wenige Tage vor der Mobilisierung, hatte ich den dritten beendet. 1915 war die Komposition fertig, dann lag die Oper vier Jahre in Strauss‹ Schreibtisch. Wir konnten uns nicht entschließen, sie während des Krieges spielen zu lassen. Zu einer Gestaltung des gleichen Stoffes in erzählerischer Form, die demnächst erscheint, habe ich die Feder erst angesetzt, nachdem die dramatische, das heißt die Opernform fertig vorlag.

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»EINE SACHE,DIE MIT GEWALT HERVOR WILL« ANMERKUNGEN ZU HOFMANNSTHALS INSPIRATIONSQUELLEN »Bitte viel Naturstimmungen, deutscher Wald. Sturm, wenn der Holländer Michel seine Äste fällt, damit könnte das Werk beginnen«, schreibt Richard Strauss am 5. März 1911 aus dem Grand Hotel St. Moritz seinem Librettisten Hugo von Hofmannsthal zur Idee, als nächste gemeinsame Oper ein Stück nach Hauffs Märchen Das kalte Herz zu machen. Dieser hatte wenige Tage zuvor »entscheidende Einfälle« dafür angekündigt. So wirklich überzeugt ist Strauss von diesem Thema aber nicht, wie seinem Brief gleichfalls zu entnehmen ist. Ausdrücklich moniert er, dass die Liebesgeschichte bei Hauff ›flau und uninteressant‹ ist.« Trotzdem zeigt er sich »gespannt, bald was von Ihnen darüber zu hören.« Schon wenig später klingt alles anders. In seinem aus dem oberbayerischen Schloss Neubeuern abgesendeten Brief vom 8. Jänner 1911 an Strauss bezeichnet sich Hofmannsthal als »unglückseliger Esel«. Selbstkritisch konstatiert er, eine »reine cura posterior« zu einer »cura proxima« gemacht zu haben. »Ihnen den Namen und den Stoff zu sagen, dadurch in Ihrer Phantasie das Hauff‹sche Märchen hervorzurufen, mit dem mein Phantasiegebilde nichts als den inneren Kern

gemein hat, und dadurch in Ihnen bestimmte Vorstellungen, Wünsche zu erregen, so dass mein Szenarium Sie nun auf jeden Fall enttäuschen wird. Ich ärgere mich wirklich sehr«, fuhr er fort, um schließlich seine Idee einer »alten romantischen Oper« zu entwickeln. Konkret einen Dreiakter mit einigen wenigen starken Hauptfiguren, um diese »die ganze Welt, Haus und Gasse, Kirche und Bankett, Brandstätte und Friedhof, menschliche Stimmen, Orgel und Kloster und Tod und Teufel.« Am Ende des ersten Aufzugs schlägt er eine Schlussszene im Sinne des Schlusses des ersten Akts von Webers Der Freischütz, »die Sie mit Recht so sehr schätzen.« Aber »freilich durchaus nicht das Hauff’sche Märchen, weder Holländermichl noch Glasmännlein, und nichts von Schwarzwälder Bauern Hauffs, mit denen ich nichts anfangen kann, und vor allem kein Wald«, und schloss: »Auch hat Wagner ja zwar Natursphärenszenerien fast erschöpft, dagegen bleiben Herz und Schicksal, schlagendes Herz und erstarrtes Herz als Grundmotiv, das ist so gut wie unerschöpflich.« Bereits im Oktober und Dezember 1910 hatte Hofmannsthal Harry Graf Kessler mitgeteilt, dass ihn seit vori-

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gem Frühjahr die Idee eines phantastischen Schauspiels beschäftige. Dazu habe er »eine Sache im Kopf, die mit Gewalt hervor will.« Diese Überlegungen teilt Hofmannsthal Strauss nun in seinem Brief vom 20. März 1911 aus dem heimatlichen Rodaun mit. Darin skizziert er ein »Zaubermärchen, worin zwei Männer und zwei Frauen einander gegenüber stehen«. Wohl um seinem Plan gegenüber dem für seine besondere Mozart-Affinität bekannten Komponisten besonders Nachdruck zu verleihen, fügt Hofmanns ausdrücklich an, dass sich dieses neue, erst in grundsätzlichen Überlegungen präsente Werk, »zur Zauberflöte so wie sich der Rosenkavalier zum Figaro verhält: das heißt, es bestände wie dort keine Nachahmung, aber eine gewisse Analogie.« Eine, würde man heute sagen, gewiefte Marketingstrategie. Die Fährte für einen neuen Plot ist damit gelegt. Aus nur kurz debattierten Überlegungen für eine Märchenoper nach einem Hauff-Stoff – erwähnenswert, dass dabei Komponist wie Librettist von Steinernes Herz sprechen, wenngleich Hauff sein Märchen stets Das harte Herz bezeichnet – ist der Weg frei für Die Frau ohne Schatten, dem ambitioniertesten gemeinsamen Projekt von Strauss und Hofmannsthal. Allerdings sollte es noch bis Herbst 1915 dauern, ehe Hofmannthals Libretto, bei dessen Ausformung es zu einer Reihe von Detaildiskussionen mit dem Komponisten kam, fertig vorliegt. Strauss nutzt diese Zeit, um seine gleichfalls auf einem Text von Hofmannsthal basierende Oper Ariadne auf Naxos fertigzustellen, seine Deutsche Motette, das Ballett Josephs Legende (nach einer Handlung von Harry Graf Kessler und Hofmannsthal) und die

Symphonische Dichtung Eine Alpensinfonie zu komponieren. Tiefes müsse »zur Oberfläche«, »da darf nichts leer bleiben, nichts abstrakt, nichts bloß gewollt und bloß gemeint.« Nur so gelinge es, die für die Musik entsprechende literarische Basis zu schaffen, antwortet Hofmannsthal auf Bitten von Strauss nach einem Libretto-Entwurf Mitte Mai 1911. Schließlich sucht er für seinen später auch als eigenständiges Prosawerk herausgebrachten, anspruchsvollen Text für diese Oper nach zahlreichen Motiven aus der Weltliteratur, bemüht auch eigene Werke. Allein das relativiert die in diesem Zusammenhang zuweilen geäußerte Ansicht, es handle sich bei Der Frau ohne Schatten im Wesentlichen um eine eine Art Fortsetzung von Mozarts Zauberflöte, so vielfältig sich die Beziehungen zwischen diesen beiden Opern auch darstellen. Nicht nur die aus der Zauberflöte bekannte Prüfungsthematik hat Eingang in Die Frau ohne Schatten gefunden. Hier wie dort trifft man auf zwei Paare aus unterschiedlichen Welten. Wäre, was Hofmannsthal ursprünglich erwog, dieses Musiktheater ein aus der Gedankenwelt der italienischen Commedia dell‹arte entwickeltes Zaubermärchen mit Gesang geworden, wären als Pendant zu Papageno und Papagena ein Flickschneider und seine zänkische Frau vorgesehen gewesen. In der das Symbolische überhöhenden Oper definierte Hofmannsthal das Buffo-Paar zum Färber-Ehepaar um. Unübersehbar sind auch die Parallelen in beiden Opern bei der zu einer anderen, »höheren« Gesellschaft zählenden Geisterwelt, denkt man an die Sehnsucht der Pamina bei Mozart und der Kaiserin bei Strauss nach einer von

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hoher Humanität erfüllten menschlichen Existenz. Wie die Königin der Nacht bei Mozart fungiert die Amme bei Strauss als Symbol des Bösen, die ihre Zauberkräfte bewusst einsetzt, um negativen Einfluss auf die Menschen zu nehmen. Zudem findet sich im Schicksal der Kaiserin das in Beethovens Fidelio zentrale Thema der Gattenliebe angesprochen. Das führte zu Hofmannsthal Bemerkung, dass in der Frau ohne Schatten eine »heroisch-seelenhafte, der Atmosphäre des Fidelio oder der Zauberflöte verwandte Situation herrsche.« Bemerkenswert, dass er angesichts des im Libretto ebenfalls enthaltenen Erlösungsgedankens Wagners Parsifal in dieser Deutung nicht miteingeschlossen hat. Ohne den mutigen Versuch der Kaiserin, einen Schatten zu erwerben, wäre ihr Gatte seinem Schicksal rettungslos ausgeliefert geblieben.

»DIESER MUSIKTEXT KANN ES MIT JEDEM AUFNEHMEN« Apropos Wagner: Seine, wie er es nannte, »schweren Stockungen« bei der Arbeit am Libretto der Frau ohne Schatten versucht Hofmannsthal in einem Brief an den Komponisten vom September 1913 vor allem mit der aufmerksamen Lektüre von Textbüchern nicht näher beschriebener fünf Wagner-Opern zu entschuldigen. Ein Beweis, wie sehr dessen musikalische Dramen ihm Vorbild für seine eigenen Operntext waren, von dessen hohem Niveau er überzeugt war: »Nicht der dramatische Aufbau – in diesem kann die Frau ohne Schatten es mit jedem existierenden Musiktext aufnehmen – aber die unnachahmliche Vortrefflichkeit, mit der in der Musik vorgewaltet KS TOMASZ KONIECZNY als BARAK

ist – die unerreichbare Qualität: dass, wie die Flussläufe eine Landschaft bestimmen – so hier die poetische Landschaft durch die vom Dichter schon gewussten Ströme und Bäche der Melodie figuriert sind – das hat mich wirklich niedergeschlagen.« Anregen ließ sich Hugo von Hofmannsthal für sein Opernlibretto auch von Wagners früher Oper Die Feen. Auch hier ist von einem höheren und einem niederen Paar die Rede, geht es um Treue, Prüfungen, den Verfall in den Wahnsinn, Versteinerung. Das Libretto gründet auf Carlo Gozzis La donna serpente, ein Stück, das Hofmannsthal in seiner Bibliothek besaß und sein bis in seine Jugend hineinreichendes Interesse für die Commedia dell‹arte dokumentiert. Anfangs überlegte er, das spätere Färberpaar mit zwei Figuren aus dem Umfeld der italienischen Komödie – Smeraldine und Arlekin – zu besetzen. Mit Komödianten aber lässt sich der angepeilte Entwicklungsprozess von Personen kaum plausibel machen. Damit war dieser Plan rasch vom Tisch. Aus La donna serpente entlehnte Hofmannsthal nicht nur die Szene, in welcher der König ein Wild jagt, das sich als Fee entpuppt, sondern auch Gozzis Dienerin Ferzana, die ihre Herrin Cherestani begleitet und zu verhindern sucht, dass diese sterblich wird: Sie wurde zur Amme der Frau ohne Schatten. Hofmannsthals Text führt auch zu Goethe, wie nicht zuletzt der Literaturwissenschaftler Hans Mayer herausgearbeitet hat. Er setzt die Amme mit Mephistopheles gleich, die Kaiserin mit Faust, verweist auf die fast zitatgleiche Anlehnung des Chors der ›Ungeborenen‹ an den Schlusschor des zweiten Teils des Faust.

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»In Märchen über Märchen breitet der Dichter seinen inneren Reichtum aus«, urteilte Hofmannsthal enthusiastisch in der Einleitung zu einem Band über Goethes Werke, der auch dessen einzige Prosa mit der Bezeichnung Märchen enthält. »Der Leser fühlt sich tausendfach sanft berührt und bewegt, niemals aufgeregt; ihm ist zumute, als strömte eine Symphonie dahin, die seine Seele ganz erfüllt, worin sich gar manches lieblich verkettet, sich aneinander läutert und erhöht, um sich schließlich, in einer innigen letzten Verschlingung, sanft aufzulösen. Wäre es eine Oper, es wäre leicht die vollkommenste aller Erfindungen, die jemals der Musik gedient haben: denn es ist naiv und bedeutungsvoll, lebendig und tief; es unterhält die Sinne, beschäftigt die Phantasie und bewegt das: und wie in einem Glockenspiel klingt die Harmonie aller irdischen Wesen und Himmelkräfte an«, rühmt Hofmannsthal diesen ihm für seine Frau ohne Schatten ebenfalls als Inspirationsquelle dienenden Text. Er wurde erstmals 1795 in der von Schiller edierten Zeitschrift Die Horen als letzter Beitrag zu Goethes Novellenzyklus Unterhaltung deutscher Ausgewanderter veröffentlicht.

MENSCHWERDUNG, WAS SONST? Ende Oktober 1913 berichtet Hofmannsthal der Tänzerin Grete Wiesenthal: »Ich habe mit neunzehn den Tor und der Tod gemacht und mit 39 ein Märchen von einem König, der lebenden Leibes zu Stein wird.« Aber nicht nur von diesen eigenen Texten ließ sich der Dichter bei der Erstellung seines Librettos beeinflussen, wie man in der nach seinem

Tod veröffentlichten Selbstdeutung Ad me ipsum nachlesen kann. Darin verweist er noch explizit auf andere seiner Dramen, wie Die Hochzeit der Sobeide und Das Bergwerk zu Falun: Die Frau ohne Schatten: Triumph des Allomatischen. Allegorie des Sozialen. Kreuzung zweier Hauptmotive: Erfassung des Schicksalsbegriffs (Schicksal auf sich nehmen und fliehen* und Sich erläutern = sich verwandeln. *Sobeide iterum. »Tyche«. Das Motiv schon in Tor und Tod (»Verworrner Traum entsteigt der dunklen Schwelle und Glück ist alles: Stunde Wind und Welle«). Tyche: die Welt, die das Individuum entfernen will, um es zu sich zu bringen. Vereinigung und Verknüpfung sämtlicher Motive in der Frau ohne Schatten. Die Färberin und der Färber: zusammen Träger des Schicksalsmotives, vorgezeichnet in der Sobeide (Situation zwischen Gatte und Efrit wie dort zwischen Gatte und Ganem.) Die Kaiserin und der Kaiser vereinigen sich, Motive der Schicksalsfindung durch Auf-sich-Nehmen des Fluches zugleich das Gewahr-Werden der Mitwelt als gleichberechtigt (wie am Schluss von Kaiser und Hexe) ferner die Umkehrung der Motive von Kaiser und Hexe und Bergwerk: die Liebe zu einem Dämon wird hinaufgeläutert zur Liebe zu einem menschlichen Wesen, anstatt zu dieser Antithese zu stehen. Für beide Gruppen wird die Erlösung durch die Ungeborenen – aber in magischem Sinn – situiert: zugleich sind die Ungeborenen Spiegelbilder der Eltern diese kommen also zu sich selber, indem die Kinder zu ihnen kommen.« Weshalb nennt Hofmannsthal in diesem Zusammenhang nicht die 1916 entstandene Ballettpantomime

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Die grüne Flöte, die wie die Frau ohne Schatten die Liebe eines Menschen zu einem Vertreter der Geisterwelt thematisiert? Warum berücksichtigt er in dieser Aufzählung nicht sein Märchen der 672. Nacht oder die das SchattenThema referierende Ballade Anna von Nikolaus Lenau? Oder hat Alma Mahler-Werfel, die einen Zusammenhang dieser Prosa mit der Entstehungsgeschichte der Frau ohne Schatten sah, worauf eine Bemerkung in ihren kritisch zu lesenden Memoiren schließen ließe, auf eine falsche Fährte geführt? Und wie steht es mit der These, dass Hofmannsthal sich bei der Figur der Kaiserin auch am Lebensstil von Kaiserin Sisi orientiert hat? Ein Aspekt, mit dem die Wiener Literaturwissenschaftlerin Bettina Mais in ihrer literaturkritischen Arbeit über Hofmannsthals Die Frau ohne Schatten-Libretto überrascht. Sie untermauert dies damit, dass es sich bei beiden um Frauen handelt, die einem neuen Schönheitsideal verpflichtet sind, zufällig zur Gattin eines Kaisers werden und die, »abgeschirmt von jeglicher Öffentlichkeit, im Palast des Gatten ein ästhetisches Da sein« fristen. »Hofmannsthals fein mit- und nachempfindende Poetenseele vibriert wie venezianisches Glas bei jedem Dichterklang der Weltliteratur« umschreibt der einflussreiche Wiener Kritiker Julius Korngold bildhaft-blumig den Stil des Librettos, worin manchen die Grundidee der Oper zu wenig klar zum Ausdruck kam. Nicht für Richard Strauss, dem Hofmannsthal, wie sein ausführlicher Briefwechsel mit ihm dokumentiert, alle Wünsche erfüllt hatte. »Gerade dort, wo das Verständliche aufhört, beginnt ja das ureigentliche Reich der Musik, die immer der Aus-

druck des Unmessbaren ist«, entgegnet er jenen, die am Text wenig Gefallen fanden. Im Gegensatz zum Dichter – setzte er in diesem Interview aus Mitte der 1930er-Jahre nach –, »der Wort an Wort reihen muss, um einen Sinn zu umschreiben, da kann der Komponist alles in einem Akkord ausdrücken, – ja noch mehr: er kann in Tönen all das sagen, was der Sprache ewig unzugänglich und unerreichbar bleibt.« Ebenso unmissverständlich fällt sein Urteil über die Verständlichkeit von Hofmannsthals Operntextbuch aus: »Ist es denn wirklich so schwer? Sind es nicht ganz einfache Symbole, die da gegeben sind: der Kaiser, der versteinern muss, die Frau, die keinen Schatten wirft – das sind doch alles Dinge, die man sieht und verstehen kann.« Hat Strauss sich dabei an jenen Brief Hofmannsthals an ihn vom Juli 1914 erinnert, in dem gleichfalls in wenigen prägnanten Sätzen die Grundidee des Werks ausgeführt wird? »Ich möchte ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Figur der Kaiserin lenken. Diese hat nicht viel Text und doch ist sie eigentlich die wichtigste Figur des Ganzen. Dies dürfen sie niemals übersehen. Um ihr Menschwerden dreht es sich, sie ist, nicht die andere, die ›Frau ohne Schatten‹.« Offen bleibt, ob Hofmannsthal Harry Graf Kessler nach seinen kryptisch gehaltenen Hinweisen in seinen Briefen aus 1910 noch vor seinem Brief­wechsel mit Strauss die Stückidee konkreter ausgeführt hat. Den Titel Die Frau ohne Schatten mit einer ersten Inhaltsskizze liest man jedenfalls zum ersten Mal in Hofmannsthals Notizbuch am 26. Februar 1911.

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EIN GESCHENK AN DIE WIENER DIE FRAU OHNE SCHATTEN IM HAUS AM RING Die Wiener Musikwelt konnte sich 1919 glücklich schätzen, dass die Uraufführung von Richard Strauss’ und Hugo von Hofmannsthals vierter gemeinsamer Oper, Die Frau ohne Schatten, hier im Haus am Ring das Licht der Bühnenwelt erblickt hat. Und gern wird bis heute mit Stolz auf diesen Umstand verwiesen – schließlich wurde dem eher traurigen Uraufführungskatalog der Wiener Oper wieder eine der seltenen Kostbarkeiten hinzugefügt. Doch Wien wäre schon damals nicht Wien gewesen, wenn nicht bereits das Vorhaben, das Werk hier zur Weltpremiere zu bringen, auch eine mieselsüchtige Opposition auf den Plan gerufen hätte. Die positive Vorberichterstattung der Befürworter wurde als »eifrig betriebene Reklame der willigen Presse, die beim sensationswitternden Publikum die nötige Spannung vorbereitete«, abgetan. Strauss’ Designierung zum Direktor der Wiener Oper und die Uraufführung eines seiner Werke an eben diesem Haus verstanden manche als düstere Vorboten einer »Verstraussung« der geliebten Bühne. Die Anschuldigungen, Verdächtigungen und journalistischen Attacken gingen so weit, dass Strauss kurzfristig bereit gewesen war, die Frau ohne Schat-

ten anderswo herauszubringen (Hofmannsthal hatte schon zuvor gegen die Donaumetropole als Uraufführungsort gewettert). Und so schrieb Strauss an seinen Co-Direktor Franz Schalk: »Mit der Frau o. Sch. glaubte ich Wien vor dem eigentlichen Antritt ein Geschenk zu machen. Wenn dasselbe missdeutet wird – will ich das Werk gerne zurückziehen.« Doch auch wenn man Schalk den Vorwurf machen möchte mitgeholfen zu haben, Strauss später aus der Direktion zu verdrängen, kann man ihm immerhin dankbar sein, dass er Die Frau ohne Schatten für Wien gerettet und das »Zurückziehen« verhindert hat. Doch auch nachdem die Gemüter fürs Erste abgekühlt und die Vorbereitungen zur Premiere in vollem Gang waren, stellten sich unerwartete Schwierigkeiten ein: Lotte Lehmann, die vorgesehene Färberin, sah in den gewaltigen Anforderungen der Partie eine Gefahr für ihre Stimme und wollte die Rolle zurücklegen. »Was sagen sie zu dieser Gans«, schrieb der erboste Komponist darauf hin an Schalk – der Sängerin gegenüber verhielt er sich hingegen freundlichdiplomatisch, sodass diese letztlich für die Uraufführung erhalten blieb. Und diese erfolgte schließlich am 10.

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Oktober 1919 mit einem Staraufgebot, das sich sehen beziehungsweise hören lassen konnte: Neben der erwähnten Lehmann sangen unter Franz Schalks Leitung Maria Jeritza (Kaiserin), Karl Aagard Oestvig (Kaiser), Richard Mayr (Barak) und Lucy Weidt (Amme). Apropos Lotte Lehmann und ihre Furcht vor der Partie: Besieht man sich den Proben- und Aufführungsplan der Wiener Staatsoper in diesem denkwürdigen Oktober, so fällt gleich eine Besonderheit, besser ein heute eher undenkbares Kuriosum auf: Gleich am Tag nach der Uraufführung der Frau ohne Schatten wurde das Werk in derselben Besetzung noch einmal gebracht – ohne, dass die Stimmen Schaden nahmen. Auf jeden Fall erhielten alle Mitwirkenden auf der Bühne und im Orchestergraben ungeteiltes Lob. Nicht aber das Stück selbst. Denn so wie schon im Vorfeld gab es auch nach der Uraufführung zwei Lager, deren Ansichten einander völlig widersprachen. Aussagen wie »das vielleicht größte Meisterwerk, das seit dem Tode Wagners über die Bühne gegangen ist« (Georg Bittner) standen solche wie »das Werk eines der außerordentlichsten Talente, dem aber über das Talent hinaus das erlebnisfähige Menschentum, die Gabe der Wandlung fehlt, aus der erst das Kunstschaffen großen Stils erwächst« (Paul Bekker) gegenüber. Hofmannsthal wurde als »Neuvergolder alter Poesien, gewandt und kunstfertig wie kein anderer« (Wiener Zeitung) gelobt oder als ein »von modern pathologischer Perversität überreizter Lyriker« (Reichspost) abgetan. Aber das Publikum machte sich ein eigenes, positives Urteil: Es kam in dieser Produktion innerhalb von neun Jahren zu immerhin 39 Aufführungen!

Zwei Jahre nach seinem Amtsantritt als Direktor der Wiener Staatsoper brachte Clemens Krauss eine neue Produktion des Werkes heraus – unter seiner Leitung und in der hoch gelobten Inszenierung Lothar Wallersteins sangen unter anderem Krauss’ Gattin Viorica Ursuleac (Kaiserin), Josef Kalenberg (Kaiser), Gertrude Rünger (Amme), wieder Lotte Lehmann (Färberin) und der spätere fanatische Nationalsozialist Josef Manowarda (Barak). Krauss, der für Strauss bei Capriccio auch als Librettist arbeiten sollte, begann den Komponisten schon hier bei dieser Frau ohne Schatten-Produktion »vom Standpunkt des Theaterdirektors, Regisseurs, des Dramaturgen zu beraten«. Unter anderem wirkte er auf den Bühnenbildner Roller ein, wodurch etwa »aus der Färberstube noch ein Färberhof entstanden ist« – was von Julius Korngold in seiner Besprechung in der Neuen Freien Presse sofort positiv vermerkt wurde. Mit dieser Produktion ging Clemens Krauss 1934 sogar auf Gastspielreise – und zwar nach Venedig anlässlich der Biennale. In zwölf Eisenbahnwaggons reisten insgesamt 200 Personen aus dem Haus am Ring und brachten am 14. September Così fan tutte zur Erstaufführung am Teatro La Fenice (!) und am 16. September eben die Frau ohne Schatten zur gesamtitalienischen (umjubelten) Erstaufführung. Und auch hier wieder ein Kuriosum: Es war dieselbe Besetzung, die die Mozart-Oper und die StraussOper innerhalb von zwei Tagen zum Besten gab! Die Inszenierung brachte es bis 1934 immerhin auf 14 Vorstellungen und dann, bei einer Neueinstudierung 1939 unter Rudolf Moralt (mit Heinz

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Kraayvanger als Kaiser, Daniza Ilitsch als Kaiserin, Karl Kamann als Barak und Anny Konetzni als Färberin), auf weitere zwei Vorstellungen. In den letzten Kriegsjahren, genauer ab 18. November 1943, setzte der damalige und spätere Staatsoperndirektor, Karl Böhm, eine weitere Neuproduktion an – diesmal in der Regie von Rudolf Hartmann. Von den Interpretinnen und Interpreten der Premiere seien Torsten Ralf (Kaiser), Hilde Konetzni (Kaiserin), Elisabeth Höngen (Amme), Josef Herrmann (Barak) und Else Schulz (Färberin) erwähnt. Nach sechs Aufführungen war dann in Wien für längere Zeit keine vollständige Frau ohne Schatten mehr zu erleben. (Im Wiener Konzerthaus brachte Karl Böhm 1947 am Pult der Wiener Symphoniker die Uraufführung der Symphonischen Fantasie Frau ohne Schatten zu Gehör sowie zweimal eine gekürzte konzertante Fassung der Oper (unter anderem mit Set Svanholm als Kaiser, Eleanor Steber als Kaiserin, Elisabeth Höngen als Amme, Karl Kamann als Barak und Christel Goltz als dessen Frau.) Anlässlich des Wiedereröffnungsfestes kam am 9. November 1955 – wieder in einer Inszenierung Rudolf Hartmanns, und wieder unter der Leitung Karl Böhms – die nächste Frau ohne Schatten-Produktion heraus. »Als eine Märchenoper für sehr Erwachsene« bezeichnete Herbert Schneider im Neuen Kurier das Werk, um dann in den nächsten Zeilen die Inszenierung (»im keinesfalls ausverkauften Haus«) lauwarm zu kommentieren: »Rudolf Hartmann hat das Stück sicher und solide in der ihm liegenden konventionellen Vordergründigkeit in Szene gesetzt«. Auch die musikalischen

Leistungen waren nach seinem Geschmack etwas durchwachsen: Lobte er Karl Böhm, Leonie Rysanek (Kaiserin), Christel Goltz (Färberin) und die Amme vom Dienst, Elisabeth Höngen, so kritisierte er Hans Hopfs Kaiser und Ludwig Webers Barak. Vier Jahre und 13 Aufführungen lang existierte diese Produktion, ehe sie skartiert und schließlich 1964 abgelöst wurde. Mit einer erlesenen Besetzung brachte Herbert von Karajan am Ende seiner Staatsoperndirektionszeit anlässlich des 100. Geburtstages von Richard Strauss das Stück in seiner eigenen Inszenierung und im Bühnenbild Günther Schneider-Siemssens zur Premiere – zur Doppelpremiere mit zum Teil unterschiedlicher Besetzung – der jedoch vorerst keine Reprisen folgten. (11. Juni 1964: Jess Thomas (Kaiser), Leonie Rysanek (Kaiserin), Grace Hoffman (Amme), Christa Ludwig (Färberin), Walter Berry (Barak); 17. Juni 1964: Jess Thomas (Kaiser), Gundula Janowitz (Kaiserin), Grace Hoffman (Amme), Gladys Kuchta (Färberin), Otto Wiener (Barak)). »Ein Abend der Superlative« titelte die Wiener Zeitung über diese Neuproduktion, »Spannungen auch im Meditativen« hörte der Rezensent des Kurier heraus. Eine Fortsetzung erfuhr die Inszenierung ab dem 16. Jänner 1977 – der Abwechslung halber vorerst wieder unter Karl Böhm (mit Matti Kastu als Kaiser, Leonie Rysnek als Kaiserin, Walter Berry als Barak und Birgit Nilsson als Färberin). Über diese Wiederaufnahme befand Franz Endler in der Presse: »Selten konnte man an einem Opernabend so viel genießen und bedenken ... so soll die Oper – das Genre und das Wiener Institut – auch bleiben.«

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Am 11. Dezember 1999, gewissermaßen zum 80jährigen Jubiläum des Werkes kam die Frau ohne Schatten in einer Aufsehen erregenden Inszenierung Robert Carsens zur Premiere. Carsen erzählte das symbolträchtige Märchen um Mutterschaft, Selbstsucht und empathisches Gattenglück aus der Perspektive von Freuds Psychoanalyse: Ein aus der Kindheit herrührendes Schuldgefühl gegenüber ihrem Vater macht die Kaiserin unfruchtbar und wirft daher – dies ist schon für Hofmannsthal das entsprechende Symbol – keinen Schatten. Die kontrovers diskutierte Regie erhielt auch ein großes Echo in den internationalen Kulturseiten. Für Manuel Brug (Die Welt) beispielsweise gelang Robert Carsen ein Meisterstück: »Man muss sich die unfruchtbar, weil schattenlose Kaiserin ein anrührendes Geisteswesen mit tiefer Menschensehnsucht, einfach als Psychose-Fallbeispiel berühmt gewordener Patientinnen in der Berggasse 19 vorstellen. Da liegt sie als HysterieOpfer Ann O. oder Dora in Michael Levines luxuriös entworfenem Schlafbehandlungsraum und träumt sich analysierend in ihre Kindheit zurück. Der Geisterbote, das ist der Doktor, der die Hypnose einleitet, ihr Über-Ich wird als zänkische Färberin hinter der transparenten Wand sichtbar, welche das gleiche Zimmer – als metaphorischen Spiegel der Seele – noch einmal offenbart.« Und Gerhard Rohde schrieb in der FAZ von einer möglichen Visitenkarte des Wiener Opernrepertoires. Unter der Leitung des inzwischen leider viel zu früh verstorbenen Giuseppe Sinopoli sangen damals Johan Botha (Kaiser), Deborah Voigt (Kaiserin), Marjana Lipovšek (Amme), Falk Struckmann (Barak) und Gab-

riele Schnaut (Färberin). Bis 2003 gingen insgesamt 24 Aufführungen über die Bühne, ehe die Frau ohne Schatten für fast zehn Jahre vom Spielplan verschwand. Am 17. März 2012 feierte sie schließlich unter dem damaligen Generalmusikdirektor Franz WelserMöst und mit Robert Dean Smith als Kaiser, Adrianne Pieczonka als Kaiserin, Birgit Remmert als Amme, Wolfgang Koch als Barak und Evelyn Herlitzius als Färberin ihre umjubelte Wiederaufnahme, der noch drei weitere Vorstellungen folgten. Die aktuelle Produktion in der Inszenierung von Vincent Huguet und unter der Leitung von Christian Thielemann (erstmals wurde an diesem Haus die Oper ohne Striche gespielt) gelangte am 25. Mai 2019 anlässlich eines Doppeljubiläums zur Premiere: Man feierte den 150. Geburtstag des Hauses am Ring und den 100. Geburtstag der Frau ohne Schatten.

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1919 AN DER WIENER STAATSOPER »Wien will eine Musikstadt bleiben«, so eröffnete der legendäre Musik­schriftsteller Max Graf sein Kapitel über die Musikwelt der Inflationszeit nach dem Ersten Weltkrieg. »Ein neues Publikum drängt sich in die Staatsoper und in die Konzertsäle, und der Zudrang zu musikalischen Veranstaltungen ist niemals so groß geworden wie in dieser Zeit einer neuen Gesellschaftsbildung.« Und er fährt fort, über das »neue« Publikum zu schreiben, das selbst hohe Eintrittspreise für große Namen zu zahlen bereit ist. Die neuen Zuschauer, über die Graf spricht, sind die Kriegsgewinnler und Konjunkturprofiteure, die den alten Mittelstand finanziell zur Seite geschoben und seinen Platz auch in den Kulturtempeln eingenommen haben. Ein Umbruch in einer Zeit vieler Umbrüche. Und während Graf der Krise in der Gewinnung eines neuen Publikums Positives abgewinnt, blieb die Zeit doch eine Zäsur, nicht nur in Europa, nicht nur in der Politik, sondern auch in der Kultur. Die Frage, wie man mit den Hoftheatern – Burgtheater und Hofoper – umgehen solle, beschäftigte nicht nur Politik und Öffentlichkeit, sondern naheliegender Weise auch die Künstlerinnen und Künstler der Institutionen. Brauchte das klein gewordene Österreich so große Institutionen? Wenn ja: zu welchem Preis? Und mit welcher Funktion? Die zuvorgehenden Jahre des Ersten Weltkriegs waren, natürlich, auch in der Wiener Hofoper ein Ausnahmezustand. Die Eröffnung der Spielzeit musste 1914 mehrfach verschoben werden und fand letztlich erst am 18. Oktober statt, in der Saison 1914/1915 fielen eine Anzahl an Vorstellungen aus, eine Reihe von Sängern und Mitarbeitern des Hauses wurden eingezogen – schon im Oktober 1914 zählte man 105 Hofopern-Angehörige an der Front. Weiters senkte man die Spitzengagen

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(um Geld zu sparen) wie auch die Eintrittspreise (um dem Publikum kostengünstige Ablenkung zu bieten). Doch nach diesen anfänglichen Einschränkungen und Änderungen bemühte man sich mehr und mehr, den Vorstellungsbetrieb möglichst störungsfrei stattfinden zu lassen – um wenigstens kulturell die Illusion einer heilen Welt zu suggerieren. Diskussionen gab es über einen patriotischen Spielplan bzw. über Werke von Komponisten aus den »Feindstaaten« – man einigte sich darauf, Werke verstorbener Komponisten zu spielen, jene von noch lebenden aber abzusetzen. So fehlten – spätestens ab Mai 1915 – Opern von Puccini, Mascagni und Leoncavallo am Spielplan. Die Diskussion flammte erneut stark auf, als im Februar 1918 Leoš Janáčeks Jenůfa erstmals am Spielplan erschien: das deutschnationale Lager schoss sich dabei systematisch auf die Hofoperndirektion ein. Es kam auch im Sängerlager zu entsprechenden politischen Reaktionen: Enrico Caruso etwa trat – entgegen vorhergehender anderslautender Planung – nach Kriegsbeginn nicht mehr im Haus am Ring auf. Direktor seit 1911 war Joseph Gregor, ein rührige Theatermann aus Deutschland, ein Manager (wenn man auch das Wort so nicht verwendete), der mit einer griffigen Ästhetik und einem guten Gefühl für wirtschaftlich erfolgreiches Theater vor einigen Jahren herbei gewünscht wurde, nun aber mehr und mehr in Ungnade fiel. Noch während des letzten Monarchie-Frühlings, also im Frühjahr 1918, wird der Plan geboren und geschmiedet, Richard Strauss und Franz Schalk gemeinsam für das Direktorenamt der Hofoper zu gewinnen. Und wenige Tage nach Kriegsende wird Gregor abgesetzt – sein Vertrag läuft zwar noch ein Jahr, doch man beurlaubt ihn und holt Franz Schalk als interimistischen Leiter. Eine

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kleine Notiz in der Illustrierten Kronen Zeitung vom 10. November (ein Tag vor Kriegsende) weist auf dem Umbruch hin: »Amtlich wird mitgeteilt, dass Herr Hans Gregor am 15. November d. J. einen Urlaub antreten und seine Amtsgeschäfte als Direktor der Hofoper an Franz Schalk übergeben wird. Mit Dr. Richard Strauss wurde ein Vertrag abgeschlossen, der den Künstler zunächst für fünf Jahre an die Hofoper bindet. Vom Beginn der nächsten Saison werden Strauss und Schalk gemeinsam die Hofoper leiten. Zwischen beiden Künstlern besteht vollkommene Übereinstimmung in allen die Oper betreffenden Fragen.« Doch alles ist unklar, aberwitzige Ideen kursieren, um gleich wieder dementiert zu werden. Der Vorschlag, die ehemaligen Hoftheater auszu­gliedern und in Pachttheater umzuwandeln, sorgt für Aufregung – und kein Wunder, dass man Gregor (man traut ihm kommerziell alles zu!) sofort in diesem Zusammenhang nennt. Schnell schiebt man das Thema vom Tisch: »Als authentisch Richtiges sei heute nur noch bemerkt, dass der Staatsrat (und darunter verstehen wir die wirklich Verantwortlichen) den Beschluss gefasst hat, die Hoftheater unter keinen Umständen zu verpachten, vielmehr alles daranzusetzen, um das Niveau der beiden Institute zu erhalten«, bemühte sich das Neue Wiener Tagblatt richtig zu stellen. Doch die Unruhe blieb. Der Arbeiterzeitung-Feuilletonchef David Josef Bach fordert in seiner Zeitung die Nicht-Privatisierung der ehemaligen Hoftheater: »Wir haben schon vor langer Zeit auseinandergesetzt, welch einzigen Zweck solch eine Intendanz haben könnte: die Umwandlung der Hoftheater in Nationaltheater verwaltungsrechtlich vorzubereiten. Wir erneuern heute die Forderung, die Hoftheater in Nationalbühnen zu verwandeln. Das ist keine Laune, kein ästhetischer Einfall, sondern das gehört einfach zu den kulturellen Lebensbedingungen des deutschen Volkes in Österreich. Zu dieser Umwandlung bedarf es jetzt keiner vorgesetzten Behörde mehr, es genügt der Wille des Volkes, ausgedrückt durch einen Entschluss des Staatsrates.« Und: »Die Hoftheater sollen nicht Staatstheater werden in dem Sinne, als ob sie nur den Brotgeber gewechselt hätten. Sie müssen Nationaltheater werden, um das Bewusstsein der Station, des Volksganzen, künstlerisch zu verkörpern. Nur wenn man dies will, kann man fordern, dass unter Umstän-

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den der Staat die Gesamtheit ist, auch finanzielle Opfer auf sich nimmt, sonst aus keinem anderen Grunde.« Man ruft nach der Politik, um für Ordnung zu sorgen: »Dass das so nicht weitergeht, leuchtet jedem ein, dem das Schicksal der Hofoper am Herzen liegt. Gewiss, der Staatsrat in seiner Gesamtheit hafte in der vorigen Woche Dringenderes zu erledigen, allein er muss sich nunmehr auch mit der Frage der Hoftheater beschäftigen«, meint das Neue Wiener Tagblatt, viele andere schreiben ähnlich. Man staunt fast, wie populär das Thema Kultur ist. Also macht man sich an die Arbeit. Inmitten der Umstürze wird ein Gesetz entworfen, das die Hoftheater in das Staatseigentum überführt. Damit ist auch klar, dass der Staat die Verantwortung für die Theater übernimmt. Ideologisch spielte der Gedanke eines kulturell starken Österreichs eine ganz wesentliche Rolle: Wenn schon die geografischen Grenzen überschaubar sind und die politische Macht klein ist, von der wirtschaftlichen ganz zu schweigen, so sollte doch das große kulturelle Erbe bewahrt werden, mehr noch: Österreich sollte sich die Chance nicht entgehen lassen, zumindest in Sachen Kultur ein »global player« zu bleiben. Auch darum hielt man an Richard Strauss als Direktor fest, und auch darum war man bereit, selbst in wirtschaftlich bedrängter Zeit finanziell – halbwegs – großzügig zu bleiben. Doch Strauss muss sich mit Intrigen auseinander setzen. Hans Gregor, der Vorgänger, und Felix von Weingartner, ebenfalls ein Vorgänger (und späterer Nachfolger) spinnen ihre Fäden. Nicht nur sie: Auch vom Dirigenten Leopold Reichwein, einem zweitrangigen Kapellmeister des Hauses, der 20 Jahre später als Vorkämpfer im Nationalsozialismus eine dunkle Rolle in der Staatsoperngeschichte spielt, geht eine bedrohliche Intrige aus. Diese gipfelt im Frühjahr 1919 in einer Resolution gegen die Doppeldirektion, eigentlich gegen Strauss, die von größten Teilen des Hauses unterzeichnet wird. Nicht nur Strauss‹ im Raum stehende Gage von 80.000 Kronen wird gegen ihn ins Treffen geführt, sondern es mischten sich unterschiedlichste Konkurrenz- und Existenzängste vieler Beteiligter. »Braucht diese [die Wiener Oper] einen Komponisten oder Direktor? Ist Strauss ein Organisator? Was liegt näher als der Verdacht, dass Strauss auch in Wien weniger die

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OLIVER LÁNG

Direktionssorgen als die Direktionseinkünfte sucht«, vermeldet etwa Hans Gregor in einem Zeitungsartikel. Doch auch die Befürworter formierten sich und stellten sich – ostentativ – neben Richard Strauss: Von Stefan Zweig über Adolf Loos bis Arthur Schnitzler. Und Strauss wird und bleibt Direktor. Die Wiener Oper selbst spielte weiter – und rein äußerlich, vom Titel des Hauses (er wurde sukzessive auf »Operntheater« geändert) änderte sich nicht viel, nur das eine oder andere »von« im Künstlernamen verschwindet, wie es das Neue Wiener Journal auflistet: »In der Hofoper gab es nur einen Herrn Rokitansky, keinen Baron Rokitansky, Frau v. Halban blieb auf dem Programm Frau Halban-Kurz.« Und es kommt zu späten, allgemein gutgeheißenen Änderungen, wie etwa die Öffnung des Stehplatzes: Mit 15. März 1919 fällt die bisherige Regelung, dass Offiziere in Uniform zum ermäßigten Preis von 20 Hellern einen reservierten Bereich des Stehparterre besuchen können. Ein halbes Jahr darauf, am 1. November 1919, werden Damen und Herren gleichermaßen zugelassen: »Die in den beiden hofärarischen Theatern bisher bestandene Beschränkung, wonach das Stehparterre ausschließlich für Herren reserviert war, wird ab 1. November d. J. aufgehoben«, heißt es kurz in der Wiener Zeitung. Bei aller Ideologie, die sich zwischen Arbeiterklasse, Bürgertum und anderen Kräften aufbaute, bleibt man im Haus doch der Qualität verpflichtet. »Wir sind kein Industriestaat, Wien steht vor der Gefahr, völlig herunterzukommen. Was Österreich und Wien besonders ausgezeichnet hat, war die auffallende musikalische Begabung und die hohe musikalische Kultur. Hier wäre anzuknüpfen, um ein wichtiges Kulturzentrum der Welt zu erhalten, und um den Weg, der vom Norden nach dem Süden führt, begehenswert zu machen, wenn er über Wien geht«, liest man im Neuen Wiener Journal. »Die bevorzugte Stellung dieser Bühne im allgemeinen Bewusstsein beruht auf der noch immer richtigen Meinung von der Einzigartigkeit ihrer Leistung. Um dieser ihrer Einzigartigkeit willen muss die ehemalige Hofoper erhalten bleiben«, liest man in der Arbeiterzeitung. Zumindest in diesem Punkt ist man einer Meinung.

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WOLFGANG KOCH als BARAK


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UNPOLITISCHE BETRACHTUNGEN EINER WELT VON GESTERN VARIATIONEN ZUM THEMA EINES KULTURELLEN WANDELS I. DAS ENDE EINER KÜNSTLERISCHEN EPOCHE »Traum und Wirklichkeit« ist die wohl bekannteste Kennmarke einer Periode, die zahlreichen Ausstellungen und Büchern einen klingenden und verheißungsvollen Titel geliefert hat. Ihr Zeitraum reicht vom viel berufenen Fin de Siècle, also von den späten 90er-Jahren, bis zum Ende des Ersten Weltkriegs und hat als »Wien um 1900« in Literatur und Musik, Architektur und Malerei, Philosophie und Naturwissenschaft bleibende Spuren gesetzt und herausragende Ergebnisse gezeitigt. Für diese »Wiener Moderne« hat man nach ›Conditions of Excellence‹ gesucht und sie in einem Miteinander von gesellschaftlicher Struktur und wirtschaftlicher Blüte, von ethnischer Vielfalt und ethischem Anspruch vermutet. Ein produktives Zusammenspiel von persönlicher Freundschaft und beruflicher Konkurrenz der Protagonisten, eine Erprobung von Normen und die Überschreitung tradierter fachlicher Grenzen, dazu eine Öffnung des Visiers EVELYN HERLITZIUS als AMME KS CAMILLA NYLUND als KAISERIN KS NINA STEMME als FÄRBERIN

und eine mutige Erweiterung des Horizonts gegenüber Phänomenen, Erkenntnismöglichkeiten und Deutungsmustern scheinen gleichermaßen für diese Hochzeit außergewöhnlicher Leistungen verantwortlich zu sein. Ein kreatives Milieu lässt sich nicht simpel und monokausal beschreiben, begründen und erklären. Die verantwortlichen Motive und Momente verschränken sich, greifen ineinander und reiben sich aneinander: Es bedarf also der Harmonie wie der Spannung, der Konvergenz ebenso wie der Divergenz, um Reservate aufzuschließen, kognitive Schranken zu durchbrechen, spirituelle Tabuzonen zu missachten, um letztendlich von der Hermetik zu der Hermeneutik zu gelangen. Zunehmende Beschleunigung in allen Bezirken des menschlichen (Zusammen)Lebens, ebenso die Freisetzung von Energien, ermöglicht durch technische Fortschritte, für alle kulturellen Belange und höheren Interessen gelten vielfach als Signaturen der Moderne schlechthin. Elite im ursprünglichen Wortsinn einer positiven Auslese und frei von Begleitgefühlen einer sozialen Diskriminierung bezieht sich

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nicht bloß auf die Erweckung produktiver Kräfte, sondern erstreckt sich vielmehr auf die Rezeption und Akzeptanz durch das kulturelle ›Publikum‹. Eine Verschmelzung der Gesichtskreise von hüben und drüben gerät dabei zum idealen, immerhin erreichbaren Ziel. Doch wie sind das Verebben dieser Hochstimmung, die sukzessive Verkarstung der kulturellen Landschaft und das Versickern der produktiven Kräfte um 1920 zu erklären? Handelte es sich dabei überhaupt um einen defizitären Befund, um eine neue Kargheit zwischen einem nicht mehr und noch nicht, oder hat sich nur die Perspektive verschoben? Enthält nicht jeder kultureller Wandel neben Gebietsverlusten auch eine Gewinnzone, die erst eine veränderte Blickrichtung wahrnehmen kann? Dass der ungünstige Verlauf und das für die Habsburgermonarchie verlustreiche Ende des Ersten Weltkriegs materielle Kräfte gebunden und ihrem friedlichen Zweck entfremdet hat, dass die freundliche Oase empfindlich gestört wurde und in den zum Symbol verdichteten ›Garten‹ geschützter Lebensfreude und Schaffenslust ungebetene Gäste eindrangen, ist eine unbestreitbar wichtige Erklärungsschiene. Aber zu diesem Kontext externer Faktoren treten mit Sicherheit auch interne Merkmale: Erscheinungen einer ›Überreife‹ , Erschöpfungssymptome, beginnende Anzeichen von Epigonalität, zudem ein Manierismus, welcher nach Gustav René Hocke zwangsläufig auf eine als ›klassisch‹ empfundene Hochblüte folgt. Dazu kommt noch das politische Ferment, der gesellschaftliche Umbruch, die Verarmung auf beiden Ufern des Kunstbetriebs. War demnach die Zeitspanne von zwei Jahrzehnten gar keine Epoche,

sondern nach dem strengen Maßstab der Kulturgeschichte bloß eine Episode? Fragen über Fragen, die im bescheidenen Rahmen dieses Essays nur vorläufig gestellt, nicht aber schlüssig beantwortet werden können. Unbestreitbar sind jedenfalls geistesgeschichtliche Erscheinungen, welche die einschlägige Forschung jeweils auf einen pointierten Nenner gebracht hat: »Ende der Illusion«, »Krise der Identität«, »Destruktion des persönlichen Ich«. In der Abfolge der definierten Perioden finden sich dementsprechend Kontinuitäten und Bruchlinien, durchgängige Strömungen wie auch kurzatmige Syndrome.

II. LEBHAFT, ABER NICHT SCHNELL: EINE LITERARISCHE TRIAS Man stellt sie in der germanistischen Fachliteratur nebeneinander und baut sich auch als Liebhaber von Dichtung assoziative Brücken zwischen ihnen. Dabei ist ihre profane Dreifaltigkeit keineswegs als Dreieinigkeit misszuverstehen. Der preziöse Rainer Maria Rilke, der wertkonservative Hugo von Hofmannsthal und der Seelendiagnostiker Arthur Schnitzler sind in Gedanken, Worten und Werken autonome und autarke Schriftsteller. Dennoch verbinden sie über die zeitliche Nähe und altösterreichische Herkunft hinaus prägende Wesenszüge: Ein untrügliches Gespür für verbale Pointen und semantische Nuancen sowie eine fast zwanghafte Allergie gegenüber ästhetischer Wiederholung in fremden wie eigenen Schriften. Alle drei haben in der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts eine schöpferische Hochphase

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erlebt und durchmessen. Gleichwohl spiegelt sich auch in ihrem Werk der kulturgeschichtliche Einschnitt in dieser Epoche. Schnitzler hatte mit den Bühnenstücken Das weite Land (1910) und Professor Bernhardi (1912) Höhepunkte seines dramatischen Schaffens erreicht. In der politischen Krisenzeit schreibt er die bitter-satirische, im journalistischen Milieu angesiedelte Komödie Fink und Fliederbusch (1917) und das seltsame ›Lustspiel‹ Die Schwestern oder Casanova in Spa (1919) mit einer seltsamen Auslegung des Treuebegriffs und einer wohl auch autobiographisch getönten Auseinandersetzung mit dem beginnenden Altern. Hofmannsthals dramatisches Schaffen zum Ende des Weltkriegs beschreitet gleichfalls neue Wege. In der subtilen Komödie Der Schwierige (1919) wirkt eine Verschüttung des Protagonisten im Kampfgeschehen auf sein Bewusstsein ein: das Aussetzen kritischer Zweifel im Zustand der Agonie befördert eine emotionale Entscheidung. Und im Jahr 1920 gewinnt der davor diffuse Plan einer zeitgeistigen Tragödie auf der Grundlage von Calderóns Das Leben ein Traum erste konkrete Umrisse: Der Turm wird zum Schmerzenskind von Hofmannsthals letztem Lebensabschnitt. Auch in Rilkes dichterischer Arbeit kann man eine Zäsur feststellen. Nach seinem großen Prosawerk Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) und dem rasch hingeworfenen Gedichtzyklus Das Marien-Leben (1912) ringt er über ein Jahrzehnt lang um das Gelingen seiner Duineser Elegien. Mehrmaliger Wechsel des Wohnorts und versuchte Ablenkung, daneben aber auch strenge Konzentration, kön-

nen seine quälende Schreibhemmung lange Zeit nicht beenden. Er klagt darüber wortreich in Briefen und merkt nicht, dass dieser Zustand wohl auch mit einer Krise im Weltbild und in der Weltanschauung ursächlich zusammenhängt. III.

ALLA MANIERA ITALIANA: DIE EPISODE DER RENAISSANCEOPERN Sie tauchen ebenso unvermutet am künstlerischen Horizont auf, wie sie nach einer kurzen Blüte wieder jäh verschwinden. Musikalische Bühnenwerke im Milieu der italienischen Renaissance bereicherten um die Mitte des Jahrzehnts das szenische Ambiente um neue Schauplätze und ein apartes Zeitkolorit. Die ›Tetralogie‹ der Opern, die in knapper Abfolge und wohl kaum ohne atmosphärische Wechselbeziehung entstanden sind, wurde durchwegs beifällig aufgenommen. Zeitlich am Beginn steht Mona Lisa von Max von Schillings, die 1915 in Stuttgart ihre Uraufführung erlebte. Zwei Jahre später erobert Eine florentinische Tragödie von Alexander Zemlinsky (nach einem Text von Oscar Wilde) ebendort die musikalische Bühne, während im Zwischenjahr Erich Wolfgang Korngold mit dem Einakter Violanta in München einen großen Erfolg landet. Franz Schreker, dem mit Die Gezeichneten der Prototyp dieses Genres gelungen ist, hat bereits zwischen 1911 und 1915 am Entwurf gearbeitet, ehe das Stück endlich 1920 am Opernhaus von Frankfurt am Main szenisch realisiert wurde. Städte wie Florenz, Venedig oder Genua waren während ihrer Glanzperiode gleichsam Sehnsuchtsorte, zudem

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abgelegene Plätze für verstiegene Hoffnungen, aber auch Zonen einer bizarren Décadence, wie sie bestimmte Züge des Milieus und der Handlung nahelegen. In diesem Zusammenhang mutet ein Detail des künstlerischen Kontakts zwischen Hofmannsthal und Strauss merkwürdig und zugleich typisch an. Als der Musiker seinem Librettisten im Anschluss an die Zusammenarbeit für Die Frau ohne Schatten als weiteren Plan einen Renaissancestoff vorschlug, verwahrte sich der feinnervige Dichter geradezu entsetzt und gleichsam mit erhobenen Händen dagegen: Ein solches Sujet sei doch obsolet, abgeschmackt, ästhetisch indiskutabel!

IV. NICHT OHNE ANMUT: METAMORPHOSEN DES WALZERS – »OPERETTUNGSVERSUCHE« Die Gattung der Wiener Operette hat nach dem beinahe sinnbildlichen Ableben Carl Millöckers am Silvestertag des Jahres 1899 quasi ihre materielle Substanz verändert: Aus der goldenen Ära des Genres wurde die silberne Periode. Franz Lehár hat die beiden Edelmetalle gleichrangig im Titel seines berühmten Walzers Gold und Silber aufgehoben. Hatte der einst unbeschwerte Ableger der großen Oper im ersten Jahrzehnt strahlende Werke wie Lehárs Lustige Witwe oder seinen Graf von Luxemburg hervorgebracht, so zeigen die Stücke von 1918/19 ein anderes Gesicht. Wo die Lerche singt etwa zitiert jenes vertraute ungarische Landleben herbei, das in der politischen Realität schon bald zum entfernten Terrain abdriften wird. Emmerich Kálmán schildert in seiner Csárdásfürstin (1915) einen aris-

tokratischen Circle mit ›nachtlokalem‹ Umfeld, in dem die Kriegssignale bereits unüberhörbar sind. In Gräfin Mariza (1924) muss sich der abgehalfterte Offizier und Graf Tassilo der Not gehorchend als Verwalter verdingen: Die Donaumonarchie wird also zum Gegenstand kollektiver Nostalgie. Leo Fall endlich schreibt nach vierjähriger Schaffenspause eine Operette mit dem ambivalenten Titel Der letzte Walzer (1920). In der Handlung als ritterlicher Gnadenakt für den zu Tode verurteilten Grafen Sarrasow verankert, verweist der Wortlaut unbewusst auch auf das Schicksal des urwienerischen Tanzes. In Liedtexten wie »Ein Walzer zu zweien« oder »Mein Liebeslied muss ein Walzer sein« in den 20er- und 30er-Jahren noch präsent, macht diese Kennmarke alter Operettenseligkeit in jenen Dezennien allmählich neuen Modetänzen wie dem Tango oder Shimmy Platz. Und auch der Walzer selbst ging in seiner späteren Phase bemerkenswerte Wege abseits von Herkunft und sozialer Rolle. Jean Sibelius hatte schon 1904 aus der Bühnenmusik zum Drama Kuolema (»Der Tod«) einen Walzer verselbstständigt und ihn nach seiner situativen Funktion im Theaterstück Valse triste benannt. Und als Maurice Ravel für die Ballets Russes eine choreographisch passende Musik schreiben sollte, entsprach die Komposition keineswegs der Erwartung des Auftraggebers Sergei Djagilew. So gilt dieses Werk seit seiner Pariser Uraufführung von 1920 bis heute vor allem als Konzertnummer, geradezu als symphonische Dichtung. Denn in der Tat wirkt die raffinierte Komposition eher als Musik über den Tanz denn als Tanzmusik. Es bietet sich an, in diesem

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Stück zugleich eine Apotheose und eine Apokalypse des Wiener Walzers zu erkennen.

V. MAESTO, MORENDO: UND DAS ENDE? Das Jahr 1918 bescherte dem Habsburgerreich nicht bloß eine folgenschwere militärische Niederlage. Auch das Wiener Kunstleben verarmte durch den Tod von vier richtungsweisenden bildenden Künstlern: der Jugendstilmaler und Designer Koloman Moser, Gustav Klimt als Galionsfigur der Epoche, der neue Maßstäbe setzende Architekt Otto Wagner und der Exponent des österreichischen Expressionismus Egon Schiele verstarben im gleichen Jahr. Zwischen 1915 und 1922 schrieb Karl Kraus seine monumentale Tragödie Die letzten Tage der Menschheit, nach den eigenen Worten des Schriftstellers einem künftigen »Marstheater« vorbehalten, als eine Abrechnung mit dem Kriegsgeschehen, seinen manifesten wie latenten Ursachen und den unsäglichen Begleitumständen. Der real existierenden Monarchie gilt der

beißende Spott des Autors mit seinem unbestechlichen und rücksichtslosen Panoramablick ebenso wie den kulturellen Unzulänglichkeiten und moralischen Haltungsschäden. Das Kaffeehaus steigt in einigen Szenen beinahe zum weltliterarischen Ort auf. Die hier geführten Gespräche und getroffenen Entscheidungen haben Aufschlusswert für die Tatsachen und Sachverhalte der hohen Politik: ›Espressionismus‹ und ›Melangeolie‹ erweisen sich als Grundpfeiler des öffentlichen Lebens. Den Wechsel und Wandel auf der Kunstszene dieses Zeitenbruchs aber haben bedeutende Chronisten und Interpreten der Epoche beispielhaft zum Ausdruck gebracht. Carl E. Schorske nennt in seinem Standardwerk Wien. Geist und Gesellschaft in Wien des Fin de Siècle das Kapitel zu einer entscheidenden kulturgeschichtlichen Wende: »Die Explosion im Garten: Kokoschka und Schönberg«. Diesem Aspekt sowie den Ausprägungen und Wirkungsweisen von Hermann Brochs berühmter Bezugsformel einer »fröhlichen Apokalypse« nachzugehen, verbietet freilich der begrenzte Umfang dieses Beitrags.

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Folgende Seiten: SZENENBILD




BRUNO BETTELHEIM

DAS MARCHEN Das Märchen nimmt die existenziellen Ängste sehr ernst und spricht sie unmittelbar aus: das Bedürfnis, geliebt zu werden, und die Furcht, als nutzlos zu gelten; die Liebe zum Leben und die Furcht vor dem Tode. Zudem bietet das Märchen seine Lösungen so, dass das Kind sie verstehen kann. Manche Märchen zum Beispiel rühren an das Dilemma der Sehnsucht nach ewigem Leben mit dem Schluss: »Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.« Der andere Schluss: »Und sie lebten vergnügt miteinander immerdar« spiegelt dem Kind keinen Augenblick vor, ewiges Leben sei möglich. Er weist aber auf das hin, was allein den Stachel aus der engen Begrenzung unserer Lebenszeit zu nehmen vermag: eine echte Bindung an einen anderen Menschen. Die Märchen lehren, dass man aufgrund einer solchen Bindung die höchste dem Menschen mögliche emotionale Lebenssicherheit und eine dauerhafte Beziehung erreicht; dies allein kann die Angst vor dem Tod zerstreuen. (…) Die Verzauberung, die wir erleben, wenn wir es uns gestatten, auf ein Märchen zu reagieren, entstammt nicht seiner psychologischen Bedeutung (obwohl diese auch dazu beiträgt), sondern seinen literarischen Qualitäten – wir erleben das Märchen als Kunstwerk. Seine psychologische Wirkung auf das Kind könnte es nicht ausüben, wenn es nicht in erster Linie ein Kunstwerk wäre. Märchen sind einzigartig, nicht nur als Literaturgattung, sondern als Kunstwerke, die das Kind gänzlich erfassen kann wie keine andere Kunstform. (…) Das Märchen ist in erster Linie ein Kunstwerk in der Art dessen, von dem Goethe im Prolog zu Faust sagt: »Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen.« Daraus folgt, dass es nicht der Zweck eines Kunstwerks sein kann, einem bestimmten Menschen etwas Spezifisches bringen zu

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DAS MÄRCHEN

wollen. Das Anhören eines Märchens und das Aufnehmen seiner Bilder kann mit dem Ausstreuen von Samen verglichen werden. Einige Samenkörner fallen unmittelbar in das Bewusstsein, andere setzen unbewusste Vorgänge frei. Die Samenkörner aber, die auf fruchtbaren Boden fallen, wachsen zu schönen Blumen und kräftigen Bäumen – sie bestärken wichtige Gefühle, vermitteln Einsichten, nähren Hoffnungen und bewältigen Ängste.

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BARBARA FRISCHMUTH

EINE KURZEST- GESCHICHTE DER MARCHEN Es war einmal, es war keinmal… so beginnen die meisten türkischen Märchen, und damit ist schon viel über Märchen und ihren Bezug zur Realität gesagt. Wie sie entstanden sind? Das weiß niemand so genau, wahrscheinlich im Zusammenhang mit der Sprache. Als diese zu benennen begann, und der Name Wirklichkeit erzeugte, über den Sehsinn, den Hörsinn, den Tastsinn, den Geschmacks- und den Geruchssinn hinaus zur Wahrnehmung des anderen beitrug. Die Benennung ist eines, die Verkörperung ein anderes, eine Art sechster Sinn machte einen Unterschied zwischen der Bezeichnung und ihrem Gegenstand, ungefähr da begann das Erzählen. Im Deutschen Wörterbuch beschrieben die Brüder Grimm das Märchen als kleine Erzählung, die im Gegensatz zur wahren Geschichte stehe, als eine Kunde, eine Nachricht, die der genauen Beglaubigung entbehre, auch wenn die meisten der von den Brüdern Grimm gesammelten Märchen mit einem widerspruchslosen Es war einmal… anfangen. Das Märchen berichtet nicht bloß von dem, was angeblich gewesen ist, sondern auch von dem, was hätte sein können und vielleicht noch möglich wäre wie das Sprechen von Tieren, Pflanzen und Dingen. Dabei wird das

Unsichtbare zum Erträumten, das Unerhörte nährt sich vom Erlauschten, das Unantastbare wechselt die Gestalt, das Geschmacklose neigt zur bloßen Selbstdarstellung und das Ruchlose verschwindet nach Möglichkeit im Spurlosen. Kaum gab es die Welt, musste sie auch erklärt werden. Ihre Entstehung war Sache der Mythen, ihr Warum die der Religionen. Das Spiel mit ihren Möglichkeiten blieb den Märchen im Wort – bis heute. Erzähl mir keine Märchen, sagen die, deren sechster Sinn, der der Phantasie, die Pubertät nicht überlebt hat. Und doch legt Friedrich Schiller im Wallenstein dem Feldherrn Piccolomini Sätze wie diesen auf die Zunge: »Auch für ein liebend Herz ist die gemeine Natur zu eng, und tiefere Bedeutung liegt in dem Märchen meiner Kinderjahre, als in der Wahrheit, die das Leben lehrt.« Inzwischen ist die Menschheit erwachsen geworden und begnügt sich meist mit dem Märchenhaften. Wer erzählt sie wohl noch, die alten Volksmärchen? Vorlesen, ja – wenn Eltern Zeit dafür haben. Und doch weiß noch jeder, was ein Froschkönig ist und wie lange Dornröschen schlief. Die sogenannten Volksmärchen heißen nicht

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von ungefähr so, aus ihnen speisen sich viele Redewedungen. Heutzutage bleiben sie vor allem durch Film, Funk und Fernsehen am Leben und werden in verschiedener Gestalt als Film oder als graphic novel wiedergeboren. Und noch immer hinterlassen sie Spuren. Märchen bedeuten moralische Herausforderung, durch die Begegnung mit der Andersheit, dem nicht Vorhergesehenen, dem Anschein, der der zum Vorschein kommenden Wirklichkeit weichen muss oder auch nicht. Das Unmögliche soll zum Möglichen werden, die Ungerechtigkeit sich in Gerechtigkeit verwandeln. Die gelegentliche Grausamkeit der alten Märchen ist der Zeit geschuldet, in der sie entstanden sind, und die mit einer weit drastischeren Gerichtsbarkeit ausgestattet war. Mit ein Grund, warum einige von ihnen in Verruf geraten sind. Dennoch nehmen die meisten ein glückliches Ende, zumindest für ihre Heldinnen und Helden. Wie immer gibt es auch bei den von den Brüdern Grimm gesammelten und bearbeiteten Märchen Ausnahmen, in denen zumindest die Protagonistinnen das Nachsehen haben und nicht nur unbelohnt bleiben, sondern in ihrem Charakter gebrochen werden. Ich denke dabei an Die kluge Else, die, verunsichert von ihrem Mann, an ihrer Identität zu zweifeln beginnt (will sagen, sich geradezu philosophisch anmutende Gedanken macht) und verliert diese, als ihr Mann sie in ihrem Zweifel dermaßen bestärkt, dass sie »fort lief, zum Dorf hinaus, und nie mehr gesehen ward.« Das andere Märchen, Allerleirauh, handelt von einem König, dessen wunderschöne Frau stirbt. Auf dem Totenbett bittet sie ihn, sich niemals

mit einer Frau zu vermählen, die weniger schön sei als sie. Da bleibt trotz allen Suchens bloß die eigene Tochter. Der König will sie und nur sie zur Gemahlin, worauf die Tochter in den Wald flieht und in einem hohlen Baumstamm ihr Leben fristet. Von den Jägern des Königs aufgestöbert, wird sie, da niemand sie mit ihren aschegeschwärzten Wangen und im Allerleirauchwerksmantel erkennt, ins Schloss gebracht, wo sie in der Küche arbeiten muss. Doch irgendwann verrät sie sich (wie sollte eine Königstochter es auch ewig als Aschenputtel am Herd aushalten?) und der König macht sie zu seiner Frau. Wie es der Tochter dabei geht, fragt sich das Märchen nicht, es begnügt sich mit dem Stehsatz: »Darauf ward Hochzeit gefeiert, und sie lebten vergnügt bis zu ihrem Tod«. Ein typischer Fall von Da weiß die Zehe nichts mehr von ihrem Fuß. Wer immer heute von Märchen spricht, wird um Tausendundeine Nacht nicht herumkommen. Es ist die umfangreichste Märchensammlung aller Zeiten, die, auf Arabisch erzählt, Texte aus mehreren Jahrhunderten und aus einer Reihe von Kulturen, vordringlich der indischen, aber auch der persischen, türkischen, ägyptischen und nordafrikanischen, vereint, die wiederum in vielen verschiedenen Ausgaben ediert wurden. Die Rahmenerzählung, in der Schehrezâd um ihr Leben erzählt, soll bereits Ende des 14. Jahrhunderts nach Italien gewandert sein und in der italienischen Literatur Spuren hinterlassen haben. Das eigentliche Werk kam erst im 18. Jahrhundert in Europa an im Gepäck des Gelehrten und Reisenden Antoine Galland, der von 1704 an Les milles et une Nuits en Francois bändchenweise

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BARBARA FRISCHMUTH

veröffentlichte. Bei seinen Übersetzungen berücksichtigte er die Kultur seiner Landsleute, ließ da etwas weg und fügte dort etwas hinzu, was zum ungewöhnlichen Erfolg dieser Ausgabe beitrug. Für Deutschsprechende sind vor allem Die Erzählungen aus den tausendundein Nächten, vollständige deutsche Ausgabe nach dem arabischen Urtext der Calcuttaer Ausgabe aus dem Jahr 1830, übertragen von Enno Littmann und erstmals 1953 erschienen (der Orientalist Littmann wurde bereits 1918 vom Insel Verlag mit der Übersetzung beauftragt) relevant. Ebenso die seit 2004 erschienen Bände Tausendundeine Nacht, nach der ältesten arabischen Handschrift in der Ausgabe von Muhsin Mahdi, erstmals ins Deutsche übertragen von Claudia Ott. Wobei die Übersetzung von Ott sexuelle Begriffe und Darstellungen tatsächlich übersetzt, ohne sich mit den (für nicht arabisch Sprechende unverständlichen) arabischen Wörtern zu begnügen. Hofmannsthal hat schon sehr früh eine Einleitung zu Littmanns langsam entstehender Übersetzung geschrieben, in der er sich als großer Bewunderer zeigte: »Es sind Märchen über Märchen, und sie gehen bis ans Fratzenhafte, ans Absurde; es sind Abenteuer und Schwänke, und sie gehen bis ins Grotske, ins Gemeine; es sind Wechselreden, geflochten aus Rätseln und Parabeln, aus Gleichnissen, bis ins Ermüdende; aber in der Luft dieses Ganzen ist das Fratzenhafte nicht fratzenhaft, das Unzüchtige nicht gemein, das Breite nicht ermüdend, und das Ganze nichts als wundervoll: eine unvergleichliche, eine vollkommene, eine erhabene Sinnlichkeit hält das Ganze zusammen.«

Aus Gallands Schatzkammer hatten sich bereits einige Autoren märchenmäßig bedient. Ließen die Brüder Grimm in ihren Kinder- und Hausmärchen und Ludwig Bechstein in seinen Büchern Deutsches sowie Neues Deutsches Märchenbuch die Kirche noch im Dorf, klagt Wilhelm Hauff, in der Einleitung zur vollständigen Ausgabe seiner Märchen, dass das bescheidene Märchen es nicht mehr so leicht wie ihre Brüder, die Träume, hätte. Er beschreibt die Situation allegorisch als Familienaufstellung, in der die Mutter Phantasie der Tochter Märchen rät, doch das Gewand des Almanachs anzulegen, damit die böse Muhme Mode ihr nicht mehr dazwischenpfuschen könne, und getrost zu den Kleinen zu gehen, denn die Kinder würden sie am ehesten brauchen. Dennoch ähneln seine Märchen, die in Zyklen wie Die Karawane und Der Scheik von Alessandria gefasst, sich vieles an orientalischem Repertoire zunutze machten, mehr den in Mode gekommenen Kunstmärchen, als den schlichten Volksmärchen, die der Bewahrung der mündlich weitergegebenen alten Märchen galten. Aus den Märchen wurden immer öfter märchenhafte Erzählungen, eher für Erwachsene gedacht als für Kinder. Die wahrscheinlich bekannteste und mit dem größten Nachhall versehene märchenhafte Erzählung ist wohl Peter Schlemihls wundersame Geschichte von Adelbert von Chamisso aus dem Jahr 1813, die einen Mann zum Helden hat, der seinen Schatten an den Grauen (gemeint ist der Teufel) um einen Geldbeutel, in dem immer Geld sein würde, verkauft. Offenbar hatte Schlemihl nicht gewusst, dass seine Schattenlosigkeit, die meist als Makel galt (wurde

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sie doch gemeinhin Vampiren, bösen Geistern usw. zugeschrieben), ihm Schwierigkeiten bereiten würde. Er versucht, seinen Schatten zurückzugewinnen, indem er den Geldbeutel wegwirft, was ihm den Schatten aber nicht zurückbringt. Da macht ihm der Graue ein zweites Angebot, nämlich, wenn ihm Schlemihl seine Seele verschriebe, würde er seinen Schatten wiederbekommen. Schlemihl widersteht der Versuchung und findet als Gelehrter, als reisender Botaniker und Zoologe mit geretteter Seele eine neue Art zu leben. 1847, also 34 Jahre nach dem Erscheinen des Schlemihls, veröffentlicht Hans Christian Andersen, der sich die meisten, wahrscheinlich auch die schönsten Kunstmärchen hat einfallen lassen, eine Erzählung mit dem Titel Der Schatten, in der er das Schlemihl-Thema wieder aufnimmt. Diesmal wächst der Schatten über seinen Besitzer, einen Schriftsteller, hinaus, wird zu einem Mann ohne Seele, der so ziemlich alles weiß und weit in der Welt herumgekommen ist und nun mit seinem ehemaligen Herrn die Rolle tauschen möchte. Gutmütig und sanft, wie dieser geblieben ist, ist er seinem

Schatten zu Willen, was letztlich zu einem gar nicht märchenhaften, düsteren Ende führt. Das vermeintliche Märchen kippt vom Ironischen ins Makabre und vermittelt ein Bild der Realität, das dem Schriftsteller unterstellt, von der Welt nichts zu verstehen. Verglichen damit ist die Schattenlosigkeit der Frau ohne Schatten zwar ein Hindernis, aber kein Makel: »Denn durch ihren Leib wandelt das Licht, als wäre sie gläsern.« Die Frau ohne Schatten, eine Lichtgestalt, die unter den Menschen nicht schuldig werden will und daher den Schatten, den die Amme für sie gekauft hat, nicht annimmt, besteht damit die ihr auferlegte Prüfung als Mensch. Sie sieht, dass im goldenen Wasser Blut schwimmt und verweigert auch dieses, der Fee gemäße, mit dem einzigen Argument, das für sie zählt: »Goldenen Trank Wasser des Lebens, mich zu stärken, bedarf ich nicht! Liebe ist in mir, die ist mehr.«

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ARTHUR SCHOPENHAUER

MITLEID Wenn nun aber meine Handlung ganz allein EINES ANDERN WEGEN geschehen soll; so muß SEIN WOHL UND WEHE UNMITTELBAR MEIN MOTIV seyn: so wie bei allen andem Handlungen das MEINIGE es ist. Dies bringt unser Problem auf einen engern Ausdruck, nämlich diesen: wie ist es irgend möglich, daß das Wohl und Wehe EINES ANDERN, unmittelbar, d.h. ganz so wie sonst nur mein eigenes, meinen Willen bewege, also direkt mein Motiv werde, und sogar es bisweilen in dem Grade werde, dass ich demselben mein eigenes Wohl und Wehe, diese sonst alleinige Quelle meiner Motive, mehr oder weniger nachsetzen – Offenbar nur dadurch, dass jener Andere DER LETZTE ZWECK meines Willens wird, ganz so wie sonst ich selbst es bin: also dadurch, daß, ich ganz unmittelbar SEIN Wohl will und SEIN Wehe nicht will, so unmittelbar, wie sonst nur das MEINIGE. Dies aber setzt nothwendig voraus, daß ich bei SEINEM Wehe als solchem geradezu mitleide, SEIN Wehe fühle, wie sonst nur meines, und deshalb sein Wohl unmittelbar will, wie sonst nur meines. Dies erfordert aber, dass ich aufirgend eine Weise MIT IHM IDENTIFICIRT sei, d.h. dass jener gänzliche UNTERSCHIED zwischen mir und jedem Andem, auf welchem gerade mein Egoismus beruht, wenigstens in einem gewissen Grade aufgehoben sei. Der hier analysirte Vorgang aber ist kein erträumter, oder aus der Luft gegriffener, sondem ein ganz wirklicher, ja, keineswegs seltener: es ist das alltägliche Phänomen des MITLEIDS. d.h. der ganz unmittelbaren, von allen anderweitigen Rücksichten unabhängigen THEILNAHME zunächst am LEIDEN eines Andern und dadurch an der Verhinderung oder Aufhebung dieses Leidens, als worin zuletzt auch Befriedigung und alles Wohlseyn und Glück besteht. Dieses Mitleid ganz allein ist die wirkliche Basis aller FREIEN Gerechtigkeit und aller ECHTEN Menschenliebe.

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AUGUSTINUS

»UND WAS IST DAS MITLEID ANDERES ALS EINE ART VON MITLEIDEN, DAS UNSER HERZ ERGREIFT FREMDEM ELEND GEGENÜBER UND UNS DOCH WOHL ANTREIBT, ZU HELFEN, WENN WIR KÖNNEN?« 93


ALEXANDER BATTHYÁNY

DAS ICH UND DIE ANDEREN EMPATHIE UND ALTRUISMUS IM SPIEGEL DER KRISE UNSERES MENSCHENBILDS MITTEN IM WOHLSTAND: EIN MANGEL Die psychologische Forschung attestiert der Gegenwart ein zunehmend um sich greifendes Lebensgefühl der Demoralisierung, der Lebensskepsis, Unverbindlichkeit, Resignation und Verunsicherung, vor allem in den reichen Industrienationen. Mitten im Wohlstand beobachten wir damit eine ganze Reihe seltsamer und an sich zutiefst beunruhigender psychologischer Phänomene, die in dieser Virulenz und Ausbreitung bis dahin unbekannt waren. Zugleich ist dies ein Ausgangsbefund, den es gerade mit Blick auf die Frage, wie Empathie und Altruismus heute realistisch und alltagsnahe in Stellung gebracht werden können, zu untersuchen gilt. Zunächst scheint dieser Befund nämlich nahezulegen, dass die angesichts der Entbehrungserlebnisse der vergangenen Jahrhunderte naheliegende Idee, der Mensch würde gemeinschaftsfähiger, wenn er keine akute Überlebensnot mehr erleide und sich nicht mehr im fortwährenden Überlebenswettkampf befände, sich soweit jedenfalls nicht bewahrhei-

tet hat. Zumindest so lange nicht, wie dem äußeren Reichtum eine mitunter beträchtliche innere, geistig-seelische Verarmung gegenübersteht. Marx‹ oft zitierte Wendung, der zufolge das Sein das Bewusstsein bestimme, bestätigte sich somit zumindest in Hinblick auf die Frage nach seiner Gemeinschaftsfähigkeit und Güte nicht – vielmehr scheint es vielerorts, als verdunkle das falsche Bewusstsein auch das noch so materiell abgesicherte Sein. Diese Verdunklung zeigt sich heute vor allem in einer um sich greifenden Gleichgültigkeit des »modernen Menschen« – er hat viel, manchmal sogar zu viel oder gar nicht selten viel zu viel, und glaubt bisweilen immer noch, dass er einfach noch mehr bräuchte, um endlich erfüllt zu sein. Bis er resigniert und in dieser Resignation auf das bloße Überleben zurückfällt und sich in die Unverbindlichkeit des Alltags zurückzieht. Alles scheint ihm nun gleichgültig, nichts spricht ihn an. Ein solches Lebensgefühl der Unverbindlichkeit ist seinerseits der Boden, auf dem sich weitere Haltlosigkeit und mangelnde Orientierung ausbreiten können. Nun besteht angesichts solcher Befunde über die »Pathologie des Zeit-

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geists« (Viktor Frankl) zugleich kein Grund zu akutem Alarmismus. Man braucht sich diesen Zustand auch nicht dramatischer vorstellen, als er tatsächlich ist. Vielleicht wird er sogar gerade deswegen, weil er meist relativ symptomarm auftritt, übersehen und noch öfter resigniert als die Normalität des Alltags hingenommen, womöglich sogar zur Normalität des Alltags erklärt. Die augenscheinlichsten Merkmale dieses Syndroms sind daher auch vor allem Mangelerscheinungen: Eben ein Mangel an Empathie, an Altruismus, Ansprechbarkeit, ein Mangel aber auch an der Bereitschaft, Eigen- und Mitverantwortung zu übernehmen und sich gestaltend ins Leben einzubringen, wo keine äußere Kraft einen dazu treibt. Eine Patientin formulierte es einmal sehr treffend: Irgendwie gehe sie das Leben nicht so wirklich viel an. Ihr komme vielmehr alles etwas uninteressant und langweilig vor und das Meiste gleich und ebenso wenig gültig wie das Nächste. Das weist schon sprachlich die Nähe von Empathiemangel und Gleichgültigkeit auf. Psychologisch betrachtet begegnet uns hier ein äußerst interessantes Phänomen: Die Welt wird unter diesem Vorzeichen gewissermaßen verdoppelt. Sie wird zweischichtig: Sich selbst vergisst man nicht und ist sich in der Regel auch nicht gleichgültig; aber der oder das andere wird an den Rand gedrängt, vielleicht sogar innerlich abgespalten. Die Welt ist nun nicht mehr der Ort der Bewährung, des Einsatzes, der freiwilligen Zuwendung zum anderen. Sie ist vielmehr entweder Zweck der eigenen Bedürfnisse, oder: irrelevant. Das primäre Bezugssystem weist somit auf ein einziges Zentrum hin: auf das Ich, und die Dinge sind entweder auf

dieses Ich bezogen und sollen seinem Wohlergehen dienen, oder sie sind uninteressant und werden alsbald an den Rand der Welt oder gleich ganz aus der Welt gedrängt. Zwar könnte man auf den ersten Blick meinen, ein solches Bezugssystem und Erleben sei reich und lebendig, weil das Ich ja noch viel stärker und involvierter am Geschehen teilnimmt, als dies »normalerweise« der Fall sei. Die klinische Erfahrung zeigt aber: Das Gegenteil ist wahr. In dem Maße, in dem nicht das Ich sich den Dingen zuwendet, sondern sich die Dinge dem Ich zuwenden sollen, verkümmert seine Welt, weil es ja letzten Endes überall nur sich selbst und seine eigenen Bedürfnisse antrifft und gar nicht mehr die Welt. Das Problem ist nun unter anderem, dass eine solche Lebenshaltung oftmals wie eine selbst erfüllende Prophezeiung wirkt: Wen die Welt wenig angeht, und wer sich von nichts oder kaum etwas in der Welt persönlich und verbindlich angesprochen fühlt, der fühlt sich auch dann noch nicht angesprochen, wenn, bildlich gesprochen, das gesamte Orchester nur auf seinen Einsatz wartet. Er wartet mit, verpasst seinen Einsatz und ist doch feinfühlend genug, um zu merken, dass das Lebensstück um eine Stimme verarmt ist und er selbst zugleich etwas versäumt. Allerdings zeigen Forschung und klinische Erfahrung: Auf Dauer macht ein durch reines Eigeninteresse geleitetes Handeln nicht nur einsam – es schneidet einen auch von der Fülle der Wirklichkeit und ihrer Möglichkeiten ab. Genau genommen schneidet es einen vom Leben selbst ab, denn Leben ist grundlegend und grundsätzlich bestimmt durch Teilen, Teilhaben, Zuwendung und Ansprechbarkeit.

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EINE ANATOMIE DER GÜTE Der Zusammenhang zwischen Eigeninteresse, Empathie und Lebensglück erschließt sich aber auch jenseits des Blicks auf die psychologischen und sozialen Perspektiven der Gleichgültigkeit in der Betrachtung einiger mitunter sehr einfacher empirischer Tatsachen des Lebens, etwa der Bedingungen unseres Gewordenseins: Kein anderes Lebewesen tritt so wehrlos in die Welt wie der Mensch, kein anderes ist so sehr darauf angewiesen, dass sich jemand über Jahre hinweg kümmert, ihn nährt und schützt: Entweder die eigenen Eltern, oder, wo dies nicht möglich war, jemand anderer, der sich dem Kind sogar ohne den sonst handlungsanleitenden »Elterntrieb« annimmt. Das ist ein gleichermaßen wesentliches wie aufgrund seiner Offensichtlichkeit leicht übersehenes Indiz: Es veranschaulicht, wie sehr Empathie und Güte von Anfang an in unser Leben eingewoben, wie sehr sie eigentlich Grundsubstanz und Tragflächen des Daseins sind. Und es verdeutlicht auch, weshalb die Suche nach der Wiederentdeckung von Empathie und Altruismus so dringlich ist: Im Grunde geht es hier um nicht weniger als um unsere andernfalls gefährdete Lebensgrundlage. Ähnliche Indizien ließen sich aber nicht nur aus dem Werden, sondern auch aus der Struktur des Menschen herleiten – etwa, wenn man sich vor Augen führt, dass der Mensch von seiner ganzen Biologie, und insbesondere seiner Neurobiologie, her darauf ausgerichtet und hingeordnet zu sein scheint, nach außen zum anderen zu blicken und zu wirken. Der Mensch verfügt über ein »soziales Gehirn« –

ganze Areale und komplexe Regelkreisläufe unseres Zentralnervensystems sind der Gabe gewidmet, sich in andere Menschen und Lebewesen hineinzuversetzen und im Bewusstsein dessen, wie unser Verhalten und unsere Worte auf andere wirken, unser Handeln zu gestalten. Mit anderen Worten: Empathie, Zuwendung und Weltoffenheit ist auf mehreren Beschreibungsebenen Teil unserer Natur. Schon deshalb liegt es nahe, dass es uns und der Welt nicht gut tun kann, wenn wir dieses zentrale Merkmal unserer Natur leugnen.

DIE »UTOPISCHE NATUR« DES MENSCHEN Nun stehen zugleich heute nicht wenige Menschen solch einfachen Beobachtungen – und schon Worten wie »Zuwendung«, »Liebe«, »Hilfs- und Opferbereitschaft« – oftmals grundlegend skeptisch gegenüber. Die Empathiekrise unserer Tage bildet sich mit anderen Worten oft nicht nur in einem Empathie- und Altruismusdefizit, sondern auch in einem grundlegenderen und zugleich rational nicht besonders überzeugend begründeten Generalverdacht allem Reden von Güte, oder allgemeiner vom Guten, vom Schönen und vom Wahren, gegenüber ab – als wäre das Eigennützige, Schlechte, Hässliche und Unwahre in irgendeiner Weise wirklicher als die Hoffnung und das Vertrauen auf das Gute und Gelingende (und vor allem: als definierte es sich nicht seinerseits über die Abweichung vom Guten, Wahren und Schönen). Ein solcher Nihilismus versteht sich zwar gern als postmodern und nimmt für sich bisweilen in Anspruch, aufgeklärt zu sein. Aber er ist zugleich scheinbar nicht aufgeklärt genug (oder

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bereits zu abgeklärt), um anzuerkennen, dass Hoffnung und die oft nur mit den Augen der Hoffnung wahrgenommenen Werte und Sinnmöglichkeiten auf gleich mehreren Ebenen in die Ordnung des Lebens geschrieben sind. Denn auch hier finden wir ein empirisches Indiz, das darauf hinzuweisen scheint, dass der Abgesang auf die Güte an weiten Stellen der menschlichen Wirklichkeit vorbeizielt: Da ist schon die einfache Tatsache, dass der Mensch das einzige uns bekannte Lebewesen ist, das bereits mit seinem Eintreten in die Welt die Hoffnung äußert, das, was in der Welt im Argen liegt, sei in irgendeiner Weise heilbar. Der Mensch ist tatsächlich das einzige Lebewesen, das Utopien entwickelt – Bilder und Modelle dessen, wie diese Welt besser, gerechter und das Leiden geringer sein könnte. Man kann es auch anders wenden: Mit eine der stärksten Gegenstimmen gegen die Gleichgültigkeit ist auch die Welt selbst, gerade in ihrer Unvollkommenheit. Denn diese Unvollkommenheit sagt uns: Die Welt ist auf unsere Hoffnung und unser Wohlwollen angewiesen, und nur der Mensch ist es, der Hoffnung und Wohlwollen überhaupt in die Welt trägt. Gäbe er sie auf, verschwände sie folglich sang- und klanglos von der Erdoberfläche – mit absehbaren Folgen allerdings nicht nur für die Welt, sondern auch für den Menschen selbst: Das stille psychologische Elend im Wohlstand gibt davon hinreichend Zeugnis. Das bedeutet aber: Die Hoffnung und Hilfs- und Opferbereitschaft des Menschen ist keine Chimäre, keine Projektionsfläche, kein psychologischer Mangel. Sie liegt vielmehr in seiner Natur und damit auch in der Natur der Welt. Der psychologische

Mangel offenbart sich vielmehr in der Abkehr von Hoffnung und Empathie – denn es ist die Abkehr von einem Kernmerkmal menschlichen Selbst- und Welterlebens.

ZUR PARADOXIE DER GROSSZÜGIGKEIT Es mag eine der vielen Paradoxien des Daseins sein, dass sich in diesen Zusammenhängen erweist, dass wir seelisch und geistig meist nicht daran verarmen, dass wir etwas nicht oder insgesamt zu wenig bekommen. Seelisch und geistig verarmen wir vielmehr an dem, was auszusenden und frei zu geben wir verabsäumt und verweigert haben. Es sind die hier beschriebenen Zusammenhänge durchaus nicht besonders komplex: Wenn wir unsere Fähigkeiten und Stärken in den Dienst des Lebens stellen, dann finden diese Stärken und Fähigkeiten vielleicht erstmals ihren bestmöglichen Bestimmungsort: Sie wenden sich den Bereichen der Welt zu, die auf eben diesen Beitrag warten. Unsere Hoffnung gewinnt und gestaltet Wirklichkeit ebenso, wie unsere Hoffnungslosigkeit sie preisgibt. Selbst unsere Schwächen sind in diesem Gefüge gut aufgehoben – denn sie bieten einem anderen, der sich vielleicht gerade dort erfolgreich bewähren kann, wo wir auf seine Hilfe und Unterstützung angewiesen sind, einen Ort und eine Gelegenheit, an dem er seine Fähigkeiten (und seine Güte) zur Geltung bringen kann. Es ist bezeichnend, dass ein Großteil des harmonischen Gefüges der Natur auf dem Prinzip einer vergleichbaren gegenseitigen Ergänzung und Kooperation beruht. Ausgerechnet der moderne Mensch, der zudem noch

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über die Fähigkeit der sprachlichen Kommunikation und einer im Verhältnis zur übrigen Natur vergleichsweise freien Intelligenz verfügt, hat diese einfachen Zusammenhänge jedoch vielfach aus den Augen verloren und sich stattdessen Lebensmodelle angeeignet, die im Grunde dauerhaft keine Gewinner kennen. So erschließt sich auch, weshalb die oft in der psychologischen Populärliteratur verbreiteten Rezepte so wenig tragfähig sind. Man liest und hört etwa oft, man solle, damit es einem gut ergehe, beginnen, an sich selbst zu denken und nicht an andere. Man solle beginnen, aus dem Vollen des Lebens zu schöpfen, indem man in erster Linie für sich aus dem Vollen schöpft, also vor allem an das eigene Wohlergehen denkt. Die bedeutende österreichische klinische Psychologin Elisabeth Lukas hat vorgeschlagen, dass solch ein Rat in früheren Zeiten womöglich durchaus angebracht und hilfreich war – Psychologie soll nicht zuletzt vorherrschende hinderliche Lebenshaltungen korrigieren. Es mag sein, dass hierzu in früheren Zeiten auch eine einseitige und übertriebene Aufopferungstendenz zählte, der mit der Ermunterung, sich nicht ganz selbst zu vergessen, gegenzusteuern war. Dem heutigen Zeitgeist steuert man allerdings mit dem Aufruf, mehr

KS NINA STEMME als FÄRBERIN

an sich selbst zu denken, beim besten Willen nicht mehr korrigierend entgegen – man fördert vielmehr die ohnehin weitverbreitete (und paradoxerweise zugleich oft beklagte) einseitige Tendenz, die eigenen Bedürfnisse auf Kosten der Anliegen anderer durchzusetzen und für die Nöte und Anliegen der anderen verhältnismäßig weniger offen zu sein. So wohlgemeint und hilfreich solche Ratschläge zur »Kunst, ein Egoist zu sein« daher einmal gewesen sein mögen, so wenig hilfreich sind sie in einer Zeit der ohnehin um sich greifenden Egozentrierung. Womöglich ist genau das einer der Hauptirrtümer unserer Tage: Menschen resignieren, weil sie glauben, die Welt biete nichts oder: nichts Gutes – und übersehen dabei zwei einfache Dinge: Erstens das Gute, das sie bereits haben und teilen könnten; und zweitens, dass ein Gutteil des Schicksals der Welt unserem Handeln überantwortet ist und wir zugleich über die inneren und äußeren Ressourcen verfügen, mit Hilfe derer wir zumindest etwas von eben jenem Guten verwirklichen können, das wir und die Welt vermissen. Schon dieses Verlusterleben und die Klage über das Erkalten sozialer Welten gibt uns Antwort auf die Frage nach der Wiederkehr des Verlorengeglaubten: Es ist nicht nur möglich, sondern nötig. Alles andere hieße, ein Kernmerkmal menschlicher Existenz zu verraten und zu vergessen.

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ICH BIN DURCH DICH SO ICH ÜBER DIE UNEIGENNÜTZIGE LIEBE

In den 100 Jahren seit der Premiere von Die Frau ohne Schatten am 10. Oktober 1919 an der Wiener Staatsoper haben sich die Erkenntnisse der Psychoanalyse Sigmund Freuds tief ins Bewusstsein aller gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Bereiche eingeprägt. Die Neurobiologie hat in den vergangenen Jahrzehnten viele dieser Erkenntnisse beeindruckend bestätigt und nicht nur durch die Entdeckung der Spiegelneuronen den Menschen als Gemeinschafts- und Resonanzwesen noch deutlicher in den Mittelpunkt ihrer Forschung gestellt. Was den Menschen berührt, muss direkt aus dem Herzen des anderen Menschen kommen. »Kern aller menschlichen Motivation ist es, zwischenmenschliche Anerkennung, Wertschätzung, Zuwendung oder Zuneigung zu finden und zu geben.« (Joachim Bauer) Die größte Sehnsucht des Menschen ist der andere Mensch! Oder, wie es bereits Paracelsus formuliert: »Der Mensch ist des Menschen beste Medizin, das beste Maß dafür ist die Liebe!« Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss widmen sich diesem Thema, indem sie sich in freier Assozia-

tion mythologischer Stoffe bedienen, deren tiefenpsychologische Gründlichkeit geradezu spielerisch als Märchen erzählt wird. Aus psychoanalytischer Sicht geht es dabei im Grunde letztlich darum, verlorenen gegangene Liebe wieder zugänglich zu machen, Menschen dabei behilflich zu sein, wieder voll und ganz, mit Licht und Schatten, Mensch sein zu können. Oder aber, um es sinngemäß mit Worten Freuds zu sagen: Es geht »lediglich« darum, Menschen dabei zu helfen, ihr »neurotisches Elend« in »gewöhnliches Elend« zu verwandeln, die Prüfungen des Lebens zu bestehen, aus dem neurotischen Dünkel der Hybris zu erwachen und sich als Mensch unter Menschen wiederzufinden, um sich so vor den Gefahren solipsistischer Versteinerung zu bewahren. Der Schatten in diesem Märchen steht für Einfühlungsvermögen, Beziehung, Liebe, Fruchtbarkeit, Mutterschaft und Ehe und damit auch für die in der Musikgeschichte so zentralen Themen wie Prüfung und Erlösung. Auf der Jagd erlegt der Kaiser eine weiße Gazelle; vor seinen Augen verwandelt sich diese in eine Schönheit, die der Kaiser begehrt und sie zur Frau nimmt; weil aber diese seine

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Frau keinen Schatten wirft, gehört sie nicht vollständig zu den Menschen. Ihr steht die Amme zur Seite, die alles Menschliche verabscheut, die Kaiserin aber über alles »liebt«. Wir haben es in dieser Oper mit drei Grundmustern zu tun, die als Liebe getarnt einem erfüllten Leben im Wege stehen: Die »Liebe« des Kaisers, die über das nackte Begehren nicht hinausfindet. Die »Liebe« der Amme, die im Kaiser ihren Rivalen sieht und ihn wie alle anderen Menschen verachtet. Die »Liebe« der Frau des Färbers, hin- und hergerissen zwischen Reichtum und Liebe. Einzig die Liebe der Frau ohne Schatten vermag durch ihre Sehnsucht nach Nähe dem exotischen Zauber ihrer Liebe die Bodenhaftung zu verleihen; ihre Art zu lieben treibt sie zu den Menschen. Wo menschliches Miteinander in den Spielarten vermeintlicher Liebe steckenbleibt, droht ihr die Versteinerung im nackten Begehren, im Kampf um die Macht, im billigen Geschäft. Alles menschliche Leben ereignet sich in Paradoxien, im Hin und Her von Traum und Wirklichkeit, von Gut und Böse, von Liebe und Hass. Immer geht es dabei um Heimat und Fremde, Nähe und Distanz, Zeit und Ewigkeit, die nicht zu schnell nach der einen oder anderen Seite hin glattgestrichen werden dürfen. Es war Romano Guardini, der in seinem Werk Der Gegensatz. Versuche zu einer Philosophie des LebendigKonkreten bereits 1925 darauf hingewiesen hat, dass ein Menschenleben in seiner Paradoxie im Grunde überhaupt nicht verstanden werden kann. Denn dem Menschen als Gemeinschaftswesen wird seine Sehnsucht nach Nähe gerade dort bewusst, wo er einsehen

muss, dass ihm trotz des besten Willens Grenzen des Verstehens aufgetan sind. »Ich merke, wo ich den Anderen in seinem Eigenen zu verstehen glaubte, habe ich in Wahrheit sein Bild geformt nach dem meinen. Wo ich Motive zu durchdringen glaubte, habe ich tatsächlich solche unterlegt. Ich habe den Anderen vereinfacht. Ich habe ihn verändert; selbst wesentlich verändert; vielleicht sogar mehrmals, je nach dem Bedarf der Stunde. Ich habe eine bestimmte Seite seines Wesens verstanden; aber nicht, was darunter lag. Ich habe seine Handlung eine Strecke lang richtig aufgefasst, aber nicht gemerkt, aus welcher Tiefe sie kam, und dass sie also ein ganz anderes Gewicht hatte. Mir wird klar, wie oft ich ungerecht gewesen bin; wie dumm meine Urteile über den Anderen oft waren. Mir kommt zu Bewusstsein, wie fremd wir nebeneinander gewesen sind, und glaubten doch in Wissen und Verstehen verbunden zu sein… Man merkt nicht, dass, was man Verstehen nannte, in Wahrheit Selbstbestätigung war.« Es käme also darauf an, so sinngemäß Guardini, zu erkennen und einzugestehen, dass die eigentliche Gemeinschaft unter Menschen und erst recht das, was mit Liebe gemeint ist, seinen Entscheidungspunkt darin findet, den Anderen anzuerkennen, nicht nur in seinem verständlichen Eigensein, sondern auch in seiner Fremdheit. Es ginge also darum, dem anderen Menschen zu »gestatten«, dass er im Letzten vielleicht überhaupt nicht verstanden werden kann und dass Liebe gerade daraus lebt, den anderen Menschen nicht verstehen zu müssen. Alle Menschenbeziehung geht vielleicht wirklich aus einem Unbekannten in ein Unbekanntes, wie Guardini vermutet.

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Dieser Sachverhalt stellt die Psychoanalyse vor die große Herausforderung, einem Menschen dabei behilflich zu sein, sein Leben gemäß der in ihm schlummernden Potenziale so zu leben, dass es sein unverwechselbares Leben wird und bleibt. Der argentinische Psychotherapeut und Schriftsteller Jorge Bucay (*1949) stellt in seinem Buch Geschichten zum Nachdenken die Frage, ob es für einen solchen Liebesdienst aneinander einen verlässlichen Ausgangspunkt gäbe. Und er erkennt diesen in der Feststellung: Was ist, das ist! In dieser zunächst lapidar erscheinenden anmutenden Feststellung liegt auch die Grundlage und der Ausgangspunkt aller Pädagogik, aller Sorge um die seelische und körperliche Gesundheit jedes Menschen. Was ist, das ist. Um aber zu wissen, dass »das, was ist, ist«, muss man zunächst einmal akzeptiert haben, dass die Geschehnisse, die Dinge, die Situationen ebenso sind, wie sie sind. Die Wirklichkeit ist nicht so, wie ich sie gerne hätte. Sie ist nicht so, wie sie sein sollte. Sie ist nicht so, wie man mir gesagt hat, dass sie sei. Sie ist nicht so, wie sie einmal war. Auch ist sie nicht so, wie sie morgen sein wird. Die Wirklichkeit um mich herum ist, wie sie ist und gleichzeitig, wie ich sie aus ganz persönlichen Gründen in einer ganz bestimmten Art und Weise »wahr-nehme«, sie also als einen wahren Teil meiner Welt registriere. Veränderung kann nur stattfinden, wenn ich mir der gegenwärtigen Situation bewusst bin. Meinen Weg kann ich nur von dort aus beginnen, wo ich gerade bin, und das bedeutet: Wer es immer wieder übt, die Dinge so zu akzeptieren, wie sie sind, schafft sich einen verlässlichen Ausgangspunkt

für das, wie er mit diesen Dingen umzugehen lernt. Daraus leitet Bucay einen zweiten Schritt ab, der im Blick auf mich selbst mich erkennen lässt: Ich bin nicht der, der ich sein möchte. Noch bin ich der, der ich sein sollte. Ich bin nicht der, den meine Mutter gern in mir sähe. Und auch nicht der, der ich einmal war. Ich bin der, der ich bin. All unsere Neurosen beginnen dort, wo wir versuchen, jemand zu sein, der wir nicht sind. Und wenn es schon schwierig ist, zu akzeptieren, dass ich bin, wer ich bin, wie viel schwieriger mag es dann manchmal sein, im Blick auf den anderen Menschen anzunehmen: Du bist, wer du bist. Das heißt: Du bist nicht der, den ich in dir suche. Du bist nicht der, der du einmal warst. Du bist nicht so, wie es mir passt. Du bist nicht so, wie ich dich will. Du bist, wie du bist. Dies zu akzeptieren bedeutet, dich zu respektieren und nicht von dir zu verlangen, dass du, wenn du es mit mir zu tun bekommst, dich änderst, dich so verhalten hättest, als würdest du dich meiner würdig erweisen müssen. Voraussetzung dafür aber wäre eine Grundhaltung, die im Vollbesitz unserer sinnlichen Wahrnehmung als überzeugend praktizierte Liebe bezeichnet werden kann. Jorge Bucay »definiert« eine so verstandene Liebe als die »die uneigennützige Aufgabe, Raum zu schaffen, damit der andere sein kann, wer er ist«. Diese »Wahrheit« in ihren drei Ausfaltungen ist der Anfang und das Prinzip (sowohl im Sinn von Ursprung wie auch von Grundlage) jeder erwachsenen Beziehung. Das ist im Grunde auch das Leitmotiv allen menschlichen Miteinanders, das im biblischen Doppelgebot »Liebe deinen Nächsten wie

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dich selbst« zum Ausdruck kommt. Die Rabbinen übersetzen diese Stelle mit »Liebe deinen Nächsten! Er ist wie du!« Am DU wird der Mensch zum ICH. Ohne diese Verwobenheit gibt es kein Lebendig-Sein. Liebe erscheint so als »gelebtes Ja zur Zugehörigkeit«, wie das David Steindl-Rast ausdrückt. Liebe ist »die Kunst, im Anderen bei sich zu sein«, wie Hegel sagt. Umgangssprachlich sagen wir: »Ich ver-

steh mich mit Dir so gut!« Das heißt ja im Grunde: »Ich verstehe mich besser, wenn ich mit Dir zusammen bin!« Oder, wie es Friedrich Rückert in einer Gedichtzeile zum Ausdruck bringt: »Dass du mich liebst, macht mich mir wert!« Oder, um es mit dem Titel eines Buches zum 90. Geburtstag von Bruder David Steindl-Rast zu sagen: »Ich bin durch dich so ich«.

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IMPRESSUM RICHARD STR AUSS

DIE FRAU OHNE SCHATTEN SPIELZEIT 2023/24 W IEDER AU FNA H M E A M 14. OKTOBER 2023 (PREMIERE DER PRODU KTION A M 25. M A I 2019) Herausgeber WIENER STAATSOPER GMBH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor DR. BOGDAN ROŠČIĆ Musikdirektor PHILIPPE JORDAN Kaufmännische Geschäftsführerin DR. PETRA BOHUSLAV Redaktion SERGIO MORABITO, ANDREAS LÁNG, OLIVER LÁNG Gestaltung & Konzept EXEX Layout & Satz ROBERT KAINZMAYER Druck PRINT ALLIANCE HAV PRODUKTIONS GMBH, BAD VÖSLAU TEXTNACHWEISE Alle Texte wurden aus dem Premierenprogrammheft der Wiener Staatsoper 2019 übernommen: ORIGINALBEITRÄGE: Christian Thielemann: »Die Partitur ist wunderbar eindeutig!«, Andreas Láng im Gespräch mit Christian Thielemann – Die Qualität eines Märchens, Oliver Láng im Gespräch mit Vincent Huguet – »Knoten im Herzen lösen« (Übersetzung aus dem Französischen: Interlingua) – Louis Geisler: Der Schatten ist zur Dämmerung am schönsten (Übersetzung aus dem Französischen: Interlingua) – Christian Wildhagen: »… die letzte romantische Oper« (Übernahme aus dem Die Frau ohne Schatten-Programmheft der Wiener Staatsoper 2012) – Daniel Froschauer: Im Ausnahmezustand – Anna Baar: Was bleiben soll, bleibt – Thomas Leibnitz: »Sie sind Da Ponte und Scribe in einer Person…« – Walter Dobner: »Eine Sache, die mit Gewalt hervor will« – Andreas Láng: Ein Geschenk an die Wiener – Oliver Láng: 1919 an der Wiener Staatsoper – Oswald Panagl: Unpolitische Betrachtungen einer Welt von gestern – Barbara Frischmuth: Eine Kürzestgeschichte der Märchen – Alexander Batthyány: Das Ich und die Anderen – Arnold Mettnitzer: Ich bin durch dich so ich. ÜBERNAHMEN: Francesco Alberoni: Über Liebe und Verliebtheit, aus: Le Choc amoureux, Pocket, 1979 (Übersetzung aus dem Französischen: Magali Grandpierre) – Hugo von Hofmannsthal: Reflexionen aus dem Nachlass / Entstehungsgeschichte der Frau ohne Schatten – Bruno Bettelheim: Das Märchen, aus: Kinder brauchen Märchen, dtv, 2006 – Arthur Schopenhauer: Mitleid. BILDNACHWEISE Coverbild: Mariage funambules (c) Bernard Bonnefon / akg-images / Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin / Alle Szenenbilder: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie. Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten. Die Produktion wird gefördert von


KR B OU PN FZ O E BI L EE TTELHEIM

»WIE BEI JEDEM GROSSEN KUNSTWERK IST AUCH DER TIEFSTE SINN DES MÄRCHENS FÜR JEDEN MENSCHEN UND FÜR DEN GLEICHEN MENSCHEN ZU VERSCHIEDENEN ZEITEN SEINES LEBENS ANDERS. JE NACH DEN AUGENBLICKLICHEN INTERESSEN UND BEDÜRFNISSEN ENTNIMMT MAN DEM GLEICHEN MÄRCHEN UNTERSCHIEDLICHEN SINN.«

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UNSERE ENERGIE FÜR DAS, WAS UNS BEWEGT. Das erste Haus am Ring zählt seit jeher zu den bedeutendsten Opernhäusern der Welt. Als österreichisches und international tätiges Unternehmen sind wir stolz, Generalsponsorin der Wiener Staatsoper zu sein. Alle Sponsoringprojekte finden Sie auf: omv.com/sponsoring


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Make culture happen

Kultur ist ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft und hat großen Einfluss auf unsere Gedanken, Handlungen und sozialen Beziehungen. Wir setzen uns mit Hingabe dafür ein, etablierte Kultureinrichtungen, junge Talente und innovative Initiativen zu fördern. So tragen wir dazu bei, die Vielfalt von Kunst und Kultur in unseren Heimatmärkten, insbesondere Österreich und Zentral- und Osteuropa, zu stärken.



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