DON CARLO Giuseppe Verdi
INHALT
Die Handlung
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Synopsis in English
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Über dieses Programmbuch
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Wenn ein Stoff zu schaffen macht → Markus Siber
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Don Carlo ist nicht gleich Don Carlo → Andreas Láng
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Karl V. in Don Carlo → Camille Du Locle
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Auf literarischer Suche: Don Carlo von Giuseppe Verdi → Annette Frank
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Verdi → Franz Werfel
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Ein »düsterer König« als Büchernarr → Thomas Gabler
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Herrschaft, Macht und Glaube → Richard Potz
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Verdi und die Zeit des Don Carlo → Daniel Brandenburg
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Der Großinquisitor → Fjodor Dostojewski
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Die Macht und das Paradies auf Erden → Diskussion
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Der Meister der fein nuancierten Farben → Gespräch mit Franz Welser-Möst
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Ein Kronos, der seine Kinder aß → Gespräch mit Daniele Abbado
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DON CARLO → Dramma lirico in vier Akten Musik Giuseppe Verdi Text Camille Du Locle nach dem französischen Libretto der Oper in der ital. Übertragung von Achille de Lauzières-Thémines & Angelo Zanardini Vorlagen Don Karlos, Infant von Spanien von Friedrich Schiller Dom Carlos, nouvelle historique von César Vichard Abbé de Saint-Réal Don Carlos, Prince of Spain von Thomas Otway Philippe II, Roi d’Espagne von Eugène Cormon Philippe II von Marie-Joseph Chénier Élisabeth de France von Alexandre Soumet Portrait de Philippe II, Roi d’Espagne von Louis-Sébastian Mercier Orchesterbesetzung 2 Flöten, 1 Piccoloflöte, 2 Oboen, 1 Englischhorn, 2 Klarinetten, 1 Bassklarinette, 4 Fagotte, 1 Kontrafagott, 4 Hörner, 2 Trompeten, 2 Pistons, 3 Posaunen, 1 Tuba, Schlagwerk, 1 Harfe, 1 Harmonium, Violine I, Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass; Bühnenmusik Spieldauer 3 Stunden, 45 Minuten (inklusive einer Pause) Autograph Verlagsarchiv Ricordi Mailand Uraufführung 10. Jänner 1884 Französische Originalfassung 11. März 1867 (Pariser Oper) Fünfaktige italienische Fassung 29. Dezember 1886 (Modena) Erstaufführung an der Wiener Staatsoper 10. Mai 1932
DIE HANDLUNG Kaiser Karl V. – einst der mächtigste Herrscher der Welt – legte im Kloster von San Yuste die Insignien seiner Macht nieder, um sein Leben in der Einsamkeit geistlicher Meditation zu beschließen.
1. Akt
← Vorherige Seiten: Szenenbild; Links: Frans Huys und Hans Liefrinck: Don Carlo, Infant von Spanien
Don Carlo, Infant von Spanien, gedenkt im Kloster von San Yuste der glücklichen Begegnung mit der ihm versprochenen französischen Prinzessin Elisabeth in Fontainebleau. Elisabeth wurde dann aber von seinem Vater, König Philipp II., geheiratet, zur Königin und damit zu Carlos Stiefmutter gemacht. Carlo wird von seinem Jugendfreund, dem Marquis von Posa angetroffen, der aus den von den Spaniern unterdrückten flandrischen Provinzen zurückkehrt. Posa überzeugt Don Carlo, als Retter des bedrohten Volkes nach Flandern zu gehen. Philipp und Elisabeth betreten das Kloster, um am Grabmal des vermeintlich gestorbenen Kaisers zu beten. In einem Garten unweit des Klosters unterhält die Prinzessin Eboli das Gefolge der Hofdamen mit einem maurischen Lied. Als die Königin erscheint, wird der Marquis von Posa gemeldet. Dem Marquis gelingt es, der Königin heimlich eine Nachricht von Carlo zu überreichen und für ihn eine heimliche Audienz zu erbitten. Prinzessin Eboli, die Mätresse des Königs, missversteht seine Andeutungen und glaubt, der Infant habe sich in sie verliebt. Allein mit der Königin kann Carlo seine Gefühle nicht länger verbergen. Elisabeth, die den Prinzen immer noch liebt, sich ihrer Pflicht als Königin jedoch bewusst ist, beschwört den Verzweifelten, auf die Erfüllung seiner Liebe zu verzichten. Als der König seine Gemahlin ohne Begleitung antrifft, verweist er die dafür verantwortliche Gräfin von Aremberg vom Hofe. Elisabeth nimmt Abschied von der Verbannten. Posa schildert dem Herrscher das Elend des flandrischen Volkes. Philipp, der an der mutigen Sprache Posas Gefallen findet, beschließt, diesen als seinen Vertrauten in seine Nähe zu ziehen, warnt ihn jedoch vor der Macht der Inquisition.
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2. Akt Don Carlo ist einer Einladung zu einem Rendezvous im königlichen Park von Madrid gefolgt, in der Annahme Elisabeth habe sie ihm geschickt. Als eine Verschleierte naht, bestürmt er sie mit Liebeserklärungen. Zu spät muss er erkennen, dass er der Prinzessin Eboli sein Geheimnis verraten hat. Posa, der hinzutritt, will die gefährliche Mitwisserin zum Schweigen bringen, doch Carlo fällt ihm in den Arm. Die in ihrem Stolz gekränkte Prinzessin schwört Rache. Der Marquis lässt sich von seinem Freund alle ihn gefährdenden politischen Briefe aushändigen. Vor der Kathedrale von Madrid hat sich eine große Menschenmenge versammelt, um einem Autodafé, der öffentlichen Hinrichtung der von der Inquisition verurteilten Ketzer, beizuwohnen. An der Spitze einer flandrischen Deputation tritt Don Carlo dem König entgegen, um von ihm die Regentschaft in den unterjochten Provinzen zu fordern. Als der König dieses Ansinnen zurückweist, zieht der vom Zorn übermannte Prinz seinen Degen. Keiner der Großen des Reiches kommt dem bedrohten Herrscher zu Hilfe, bis Posa den Freund entwaffnet und daraufhin von Philipp zum Herzog erhoben wird. Das Autodafé nimmt seinen Fortgang. Die Flammen des Scheiterhaufens lodern empor, während eine Stimme vom Himmel den Opfern ewigen Frieden verheißt.
3. Akt König Philipp beklagt die Einsamkeit und Bürde seines Amtes. Im Zwiespalt seines Gewissens sucht er Rat bei dem blinden Großinquisitor. Dieser bestärkt ihn in der Absicht, den Aufruhr des Infanten mit äußerster Härte zu bestrafen, fordert aber seinerseits das Leben des Marquis von Posa, den er der Freigeisterei verdächtigt. Philipp wehrt sich zunächst, unterwirft sich aber letztlich der Macht der Kirche. Die Königin führt lebhafte Beschwerde bei ihrem Gemahl über die Entwendung ihrer Schmuckschatulle und findet diese auf dem Schreibtisch des Königs. Als Philipp die Schatulle öffnet und das Portrait des Infanten darin entdeckt, bezichtigt er die Gattin des Ehebruchs. Um der in Ohnmacht Niedergesunkenen beizustehen, eilen die Prinzessin Eboli und der Marquis von Posa herbei. Allein mit der Königin gesteht die Prinzessin ihren Verrat an Carlo und ihre heimliche Liaison mit dem König. Sie wird von Elisabeth in ein Kloster verbannt. Posa sucht den gefangenen Infanten im Kerker auf, um ihm seine Handlungen zu erklären und von ihm Abschied zu nehmen. Mit Hilfe der ihm überlassenen Briefe hat er jeden Verdacht der Konspiration mit Flandern von DIE H A N DLU NG
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Carlo auf sich abgelenkt, um dem Freund die Möglichkeit zu geben, als künftiger König den unterdrückten Völkern einst zu ihrem Lebensrecht zu verhelfen. Ein Schuss aus dem Hinterhalt trifft den Marquis in den Rücken, sterbend verweist er den Freund an die Königin, die den Wunsch hat, Carlo ein letztes Mal zu sehen. Der König betritt den Kerker, um seinem Sohn den Degen zurückzugeben. Carlo klagt ihn als Mörder seines Freundes an. Das empörte Volk fordert die Befreiung des Infanten. Als es sich rebellierend gegen den König wendet, legt sich der greise Großinquisitor ins Mittel. Vor seiner Drohung sinkt das Volk in die Knie.
4. Akt Im Kloster von San Yuste erwartet die Königin den Infanten, der nach Flandern aufbrechen wird, zu einem letzten Lebewohl. Die beiden Liebenden entsagen jeder Erfüllung ihrer Liebe. Der König und der Großinquisitor treten hinzu. Als die Schergen der Inquisition Hand an den Prinzen legen wollen, entzieht ein geheimnisvoller Mönch, dessen Stimme an die des abgeschiedenen Kaisers gemahnt, Don Carlo seinen Verfolgern.
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SYNOPSIS
Emperor Charles V – once the most powerful ruler in the world – has laid down the insignia of his office at the Monastery of Yuste, to live out his days there in the solitude of spiritual meditation.
Act 1 At the Monastery of Yuste, Don Carlo, Infante of Spain, recalls his happy meeting at Fontainebleau with his intended bride, French Princess Elisabeth. However, his father King Philip II subsequently married Elisabeth himself, thereby making her both queen and Carlo’s stepmother. Carlo meets his boyhood friend the Marquis of Posa, recently returned from the Flemish provinces oppressed by the Spaniards. Posa convinces Don Carlo to go to Flanders to save the Flemish people from their plight. Philip and Elisabeth enter the monastery to pray at the tomb of the emperor they believe to be deceased. In a garden not far from the monastery, Princess Eboli entertains the entourage of her court ladies with a Moorish song. When the Queen enters, the Marquis of Posa is announced. He succeeds in surreptitiously slipping the Queen a note from Carlo asking for a secret audience. Princess Eboli, the King’s mistress, misunderstands Carlo’s intimations and believes that the Infante has fallen in love with her. Left alone with the Queen, Carlo can no longer hide his feelings. Elisabeth, who is still in love with the prince but is keenly mindful of her duty as queen, implores the desperate prince to renounce his dream of love. When the King finds his wife unattended, he dismisses the offending Countess of Aremberg from court. Elisabeth bids farewell to her banished friend. Posa describes the plight of the Flemish people to the King. Philip is moved by Posa’s bold speech and decides to bring him into his inner circle as a confidant, but he warns him of the power of the Inquisition. SY NOPSIS
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Act 2 Don Carlo has accepted an assignation in the royal park of Madrid, assuming that it has come from Elisabeth. When a veiled woman approaches him, he meets her with effusive declarations of his love. He realizes too late that he has revealed his secret to Princess Eboli. Posa, who has joined him, wants to silence Eboli, who now knows Carlo’s secret, but Carlo stops him. With her pride wounded, the princess swears revenge. The Marquis has his friend give him all his incriminating political papers for safekeeping. A large crowd has gathered in front of Madrid Cathedral to witness an auto-da-fé, the public burning of the heretics condemned by the Inquisition. A deputation from Flanders led by Don Carlo approaches the King, asking that he be allowed to govern the subjugated provinces. When the King rejects this request, in a fit of anger the prince draws his sword. None of the powerful men at the scene comes to the aid of the threatened King until Posa disarms his friend. For this, Philip makes Posa a duke. The auto-da-fé proceeds. The flames leap up the stake, and a voice from heaven promises everlasting peace to the victims.
Act 3 King Philip laments the loneliness and burden of his office. His conscience torn, he seeks advice from the blind Grand Inquisitor. The Inquisitor strengthens his resolve to punish the Infante’s rebellion with the utmost rigour; he furthermore demands the life of the Marquis of Posa, whom he suspects of freethinking. At first Philip refuses, but ultimately bows to the power of the Church. The Queen complains bitterly to her husband about the theft of her jewellery box, which she sees on the King's desk. When Philip opens the box and discovers a portrait of the Infante, he accuses his wife of adultery. Princess Eboli and the Marquis of Posa rush to the aid of the Queen, who has fainted. Left alone with the Queen, the Princess admits that it was she who betrayed Carlo and reveals 9
SY NOPSIS
her clandestine liaison with the King. Elisabeth banishes her to a convent. Posa goes to see the Infante in prison to explain his actions and bid him farewell. With the help of the papers entrusted to him, he has diverted all suspicion of conspiracy with the Flemish rebels from Carlo to himself, thereby giving his friend the opportunity as future king to restore the oppressed nation’s right to exist. A shot from the darkness hits Posa in the back. As he lies dying, he tells his friend that the Queen wants to see Carlo one last time. The King enters the prison to return his son’s sword to him. Carlo accuses him of having murdered his friend. The outraged people demand that the Infante be freed. When they rebelliously turn against the King, the Grand Inquisitor steps in. Daunted by his threat, the people fall to their knees.
Act 4 In the Monastery of Yuste, the Queen awaits the Infante to bid him a final farewell before he leaves for Flanders. The two lovers renounce their love. The King and the Grand Inquisitor enter. As the Inquisitor’s henchmen are about to seize the Infante, a mysterious monk with a voice like that of the deceased emperor draws Don Carlo away from his persecutors.
→ Dmitri Hvorostovsky als Rodrigo, 2015
ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH
Don Carlo gehört heute zu den bekanntesten und vom Publikum wie von vielen Künstlern geschätztesten Opern Giuseppe Verdis. Für den Komponisten selbst blieb das Werk zeitlebens ein Schmerzenskind: Die zahlreichen, zum Teil tiefgehenden kompositorischen und formalen Veränderungen – von der französischen Urversion bis zur letzten, fünfaktigen italienischen Fassung – zeugen vom intensiven Ringen Verdis um die endgültige Gestalt seines Don Carlo. Auffallend ist, wie sehr sich Verdi gescheut hat, ausgetretene Pfade der Operntradition zu verfolgen. Vielmehr ließ ihn seine kreative Gestaltungslust stets nach individuellen Lösungen suchen, die er aus der dramatischen Erzählung entwickelte. Wie sehr er sich darin von seinen Zeitgenossen abhob, beschreibt Daniel Brandenburg ab Seite 58. Schon die raffinierte Amalgamierung unterschiedlicher Vorlagen, unter denen Friedrich Schillers Don Karlos die wohl bedeutendste war, zeigt, mit welcher Akribie und Hingabe Verdi und seine Librettisten den Stoff für die Opernbühne tauglich machten. Eine detaillierte Gegenüberstellung der entsprechenden Inspirationsquellen samt ihren inhaltlichen Unterschieden zu Verdis Don Carlo bietet Annette Frank (Seite 28). Gemeinsam ist allen Autoren der sehr freie Umgang mit den historischen Begebenheiten rund um den spanischen König Philipp II. und seinen Sohn Don Carlo. Friedrich Schiller schuf mit dem Marquis von Posa eine Bühnenfigur, mit der er utopisch-politische Gedankenexperimente deklinieren konnte. Wie sehr er dabei eine für ihn selbst problematische Schwerpunktverlagerung weg vom Titelhelden in Kauf nehmen musste, untersucht Markus Siber (Seite 16.) In Verdis Don Carlo ist diese eindeutige Fokussierung auf Posa deutlich weniger zu spüren. Für Daniele Abbado, den Regisseur der aktuellen Inszenierung, stehen vielmehr Variationen von Vater-Sohn-Konflikten im Zentrum, die er in den Mittelpunkt seiner Interpretation rückt, Ü BER DIE SE S PROGR A M MHEF T
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wie er im Interview auf Seite 84 erläutert. Dieser 2012 herausgekommenen Produktion liegt jene Fassung zugrunde, die Verdi 17 Jahre nach der Pariser Uraufführung für Mailand geschaffen hat. Premierendirigent Franz WelserMöst erklärt in einem Gespräch (Seite 78), warum auch in Wien diese weltweit am häufigsten aufgeführte vieraktige, italienische Version zum Zuge kommt und spricht über Verdis Meisterschaft in der Klang- und Orchestrationsdramaturgie im Dienste der Beschreibung der Handelnden, deren Entwicklung und Konflikte. Die Problematik einer Berufung auf die Legitimation der Macht zur Schaffung eines (vermeintlichen) Paradieses ist das Thema einer Diskussion zwischen dem österreichischen sozialdemokratischen Sozialphilosophen Norbert Leser und Altabt Gregor Henckel-Donnersmarck (Seite 68). Thomas Gabler (Seite 42) und Richard Potz (Seite 50) untersuchen in ihren Beiträgen das geistig-gesellschaftliche Koordinatensystem, innerhalb dessen die historischen Persönlichkeiten agierten, Andreas Láng umreißt die reichhaltige und abwechslungsreiche Wiener Rezeptionsgeschichte seit der Staatsopern-Erstaufführung von Don Carlo im Jahr 1932 (Seite 22).
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Theodor W. Adorno → Über Don Carlos (1933)
» Die große Szene des Königs Philipp, die anschließende des Inquisitors, die Arie der Eboli – diese das innerste Geheimnis Mahlers vorwegnehmend: das ist nicht bloß bei Verdi ohne Beispiel; die zwielichtige Grazie der Gartenszene lässt sich nicht vergessen, und vom Tod des Posa weiß man längst als einem Verdi’schen Hauptstück. Gerade nachdem ich an dieser Stelle die VerdiSH A K E SPEA R E
Bewegung durchaus kritisch und unverführt verfolgte, glaube ich mich berechtigt, auf Don Carlos mit allem Nachdruck hinzuweisen. Das Werk – vielleicht das einzige, das ein Drama des deutschen Klassizismus durch eine Komposition nicht schändet, sondern in Musik löst – darf unseren Bühnen nicht wieder verloren gehen. «
Markus Siber
WENN EIN STOFF ZU SCHAFFEN MACHT
Anmerkungen zu Schillers Ringen mit Don Karlos
Selten hat ein Stoff selbst ausgewiesenen Theatergrößen derart zu schaffen gemacht wie Don Karlos. Bei Schiller, der ihn für die Bühne fruchtbar machte, vergingen von den ersten Entwürfen bis zur Uraufführung ganze vier Jahre (bis zur letzten Überarbeitung dann noch weitere 17), Verdi wiederum sollte sich mit dem Sujet über fast zwei Jahrzehnte beschäftigen – ganz zu schweigen von den Herausforderungen, vor die sich Theater- und Opernregisseurinnen und -regisseure im Abwägen der Versionen und Lesarten seit jeher gestellt sehen. Schillers Stück gilt als vergleichsweise sperrig, schon seine Zeitgenossen stuften es als überladenes dramatisches Konstrukt ein. Die vielen Einwände, mit denen sich der erfolgsverwöhnte Theaterstar konfrontiert sah, führten einerseits zu mehreren Überarbeitungen, andererseits gab Schiller mit den Briefen über Don Karlos den Zuschauern eine Art Gebrauchsanweisung an die Hand. Nicht zu übersehen ist freilich, dass selbst der Dichter in einem eigenartigen Spannungsverhältnis zu seinem Drama stand und es ihn wenige Jahre nach der Uraufführung bereits, wie er schreibt, vor dem »Machwerk ekelte«. Eine Ursache hierfür ist sicherlich, dass Schiller während der länger unterbrochenen Arbeit am Don Karlos selbst eine Entwicklung genommen hatte, die vieles, das ihm zunächst wichtig war, in den Hintergrund treten ließ, ihn mittlerweile sogar fast peinlich berührte. Im ersten Don Karlos-Brief schreibt er denn auch, dass ihm das Stück zunehmend fremder geworden sei, räumt ein, dass er in den ersten (und vorab publizierten) Akten andere Erwartungen geschürt hätte, als sich in den letzten erfüllen ließen – und wirbt schließlich um Verständnis dafür, dass Veränderungen in seinem Denken und Fühlen nicht ohne Einfluss auf das Stück bleiben konnten. Neue Ideen, schreibt Schiller, verdrängten die früheren: »Karlos selbst war in meiner Gunst gefallen, vielleicht aus keinem andern Grunde, als weil ich ihm in Jahren zu weit vorausgesprungen war, und aus der entgegengesetzten Ursache hatte Marquis Posa seinen Platz eingenommen. So kam es denn, dass ich zu dem vierten und fünften Akt ein ganz anderes Herz mitbrachte [...] Der Hauptfehler war, ich hatte mich zu lange mit dem Stücke getragen; ein dramatisches Werk aber kann und soll nur die Blühte eines einzigen Sommers sein. Auch der Plan war für die Grenzen und Regeln eines dramatischen Werks zu weitläufig angelegt. Dieser Plan z.B. forderte, dass Marquis Posa das uneingeschränkteste Vertrauen Philipps davon trug; aber zu dieser außerordentlichen Wirkung erlaubte mir die Ökonomie des Stücks nur eine einzige Szene.« Der berühmte zehnte Auftritt des dritten Aktes, in dem Marquis Posa dem einsamen und mehrfach enttäuschten Monarchen Philipp II. gefinkelt seine Visionen einer neuen, der Freiheit verpflichteten Gesellschaftsordnung auseinandersetzt, stellte Schiller folglich vor ganz besondere Herausforderungen. Entweder es gelingt ihm, Karlos’ Freund aus Jugendtagen so zu disponieren, dass er zum glaubwürdigen Träger der Handlung sowie aufklärerisch-humanistischer Ideale taugt – oder er muss das Stück verlorengeben, da die ur 17
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sprüngliche Konzeption nicht mehr mit seinen in der Zwischenzeit herangereiften Vorstellungen vereinbar ist. Schiller rang um diese Szene regelrecht, sie ist auch die größte Zäsur im Entstehungsprozess des Stückes. So sehr ihn im Anfangsstadium der Werkgenese »der Charakter eines feurigen, großen und empfindenden Jünglings, der zugleich der Erbe einiger Kronen ist« begeisterte und er Karlos auch ausdrücklich als seinen Freund bezeichnete, so wenig verspricht er sich am Ende von ihm. Er ist nur noch ein »Werkzeug« in Posas ehrgeizigen Weltentwürfen, eine Hilfskonstruktion, die nun bereits ihre Schuldigkeit getan hat. In Schillers Hauptquelle, Dom Carlos, nouvelle historique von César Vichard de Saint-Réal, ist Posa im Übrigen nur eine als Günstling des Prinzen angedeutete Nebenerscheinung, er kann also als ureigene Erfindung des Dichters gelten. Mit der Verlagerung des Schwerpunktes von Karlos auf Posa hat Schiller dem Stück jedenfalls zu einer Wendung verholfen, die über seine bisherigen, dem Sturm und Drang verpflichteten Werke hinausweist. Schiller bezeichnet in weiterer Folge Karlos unglückliche Liebesgeschichte auch als »bloß vorbereitende Handlung«, die zurückweicht, um derjenigen Platz zu machen, für welche sie notwendig gewesen ist. Es wurde viel darüber diskutiert, inwiefern Marquis Posa im Stück ein Sprachrohr Schillers sei. Ungeachtet der Für und Wider, die sich anführen ließen, kann zweifelslos festgestellt werden, dass dem Autor und seiner Figur das Verhältnis zu ihrer jeweiligen Zeit gemeinsam ist. Ihr profiliertes Sensorium versetzt sie in die Lage, nicht nur die Zeichen ihrer Zeit zu erkennen, sondern ihrer Zeit auch ein schönes Stück voraus zu sein. Schillers Vorwegnahme eines Freiheitsdespoten à la Robespierre ist ebenso visionär, wie die republikanischen Forderungen Posas fortschrittlich sind – nicht zufällig lässt der Autor seinen Helden sagen, dass »das Jahrhundert seinem Ideal nicht reif sei«. An Posa interessiert Schiller im Besonderen, dass er ein »großer Kopf« an einer historischen Zeitenwende ist. Den Zeitpunkt, in dem sich Posa bestmöglich entfalten kann, beschreibt er in den Briefen über Don Karlos denn auch ganz im aufklärerischen Sinn als den »Übergang von Finsternis zu Licht«, einen Moment »allgemeiner Gärung der Köpfe, Kampf der Vorurteile mit der Vernunft, Anarchie der Meinungen, Morgendämmerung der Wahrheit«. Im Gegensatz zu Karlos, der sich in einem »schmerzhaft-wollüstigen Zustand des Leidens« verkriecht und nicht viel von seinem Umfeld aufnimmt, erscheint der äußerst vielschichtige und widersprüchliche Posa als Handelnder, der alles daransetzt, seinen Traum von einer Menschenrepublik, in der »Bürgerglück versöhnt mit Fürstengröße wandelt«, in die Realität umzusetzen. Es ist also nachvollziehbar, dass sich Schiller nun vielmehr für den kühlen, überaus begabten Strategen interessiert und seine schwärmerischen Helden der frühen Stücke hinter sich zurücklässt. Im Avantgardisten Posa fand Schiller eine Figur, mit der er sich selbst als Visionär empfehlen konnte. Der Umstand, »dass man einen Mangel an deutschen Stücken hat, die große Staatspersonen behandeln«, kam ihm bei der Ausgestaltung seiner M A R K US SIBER
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politischen Ideen sehr entgegen – auch in dieser Hinsicht hat er eine feine Nase bewiesen. Geleitet wurde er hierbei natürlich von seinem großen historischen Interesse, das in seiner von Goethe vermittelten Jenaer Professur gipfelte. Im Übrigen stellt die Entstehung des Don Karlos in Schillers Schaffen selbst einen Übergang dar, in formaler Hinsicht drückt sich das dadurch aus, dass eine Versfassung in Jamben entstand, welche im Gegensatz zur Bühnenprosa des Sturm und Drang eine neue stilistische Klarheit mit sich brachte. Die Entscheidung für Posa gab Schiller freilich nicht nur die Möglichkeit, auf der Bühne Fragen der Staats- und Gesellschaftsformen diskutieren zu lassen, für den Don Karlos konnte er auch ein Interesse fruchtbar machen, das von seinem Medizin-Studium, bei dem er sich immer wieder mit dem Zusammenspiel von Leib und Seele sowie Erkenntnissen der sich damals als Disziplin entwickelnden Psychologie beschäftigte, herrührte. Schon in den Räubern lag ihm viel daran, die »verstohlenen Operationen der Seele« freizulegen, die »dramatische Manier« erschien ihm deshalb als so vorteilhaft, weil sie »die Leidenschaften und geheimsten Bewegungen des Herzens in eigenen Äußerungen der Personen schildert.« Im Marquis Posa präsentiert Schiller nun eine Figur, die nicht nur über eine unglaublich gute Menschenkenntnis verfügt und diese für sich zu nützen weiß, sondern selbst vom Publikum bei ihren geheimen und letzten Endes fatalen Winkelzügen beobachtet und ertappt wird. Wissen ist Macht. Posas Wissen von den Geheimnissen der Seele macht ihn bei seinem Handeln besonders mächtig. Es ist das Wissen um diese Macht, die ihn so stolz und selbstsicher macht. Besonders stolz ist Posa, wenn er sich in der großen Audienzszene nicht nur als politischer Reformer präsentiert, sondern seinem eigenmächtigen Handeln eine ästhetische Komponente zuschreibt. Von Anfang an pocht der Einzelgänger auf Autonomie. Als ihm der Monarch jede nur erdenkliche Stelle in seinem Staatsgetriebe anbietet, lehnt er dankend ab. Er will nicht, dass »die Schönheit seines Werks, das Selbstgefühl, die Wollust des Erfinders« in der Anonymität des Staates untergeht, will sich nicht unterordnen. Er weigert sich mit Nachdruck, das »Werk« von seinem Erzeuger losgelöst zu sehen. So fragt er den König auch unverhohlen: »Können Sie in Ihrer Schöpfung fremde Schöpfer dulden? Ich aber soll zum Meißel mich erniedern, wo ich der Künstler könnte sein?« Obwohl klar ist, dass hier vor allem die Eitelkeiten eines Urhebers konkret angesprochen sind, so weist dieses Gedankenexperiment Schillers, wenn auch mit anderen Vorzeichen, auf das hin, was in den Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen in Begriffen wie dem »ästhetischen Staat« oder der »ästhetischen Kultur« Präzisierung findet. Schiller spricht der Kunst einen gesellschaftsverändernden Impetus zu, fordert das Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Vernunft und baut seine Staatsutopie auf humanistischen Idealen auf. Posa, der kalkulierende Vernunftmensch, scheitert an seinem »Kunst 19
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werk«. Es scheint, als hätte sich Schiller in Posa eine Figur geschaffen, mit der er relativ risikofrei Gedankenexperimente durchspielen lassen konnte, ohne selbst noch zu endgültigen Schlüssen kommen zu müssen. Dass Posa »das Menschengeschlecht mehr liebt als Karln«, der sich in seiner individuellen Liebe verzehrt, machte ihn zu einer Figur, deren auf die Gesamtheit, auf die Totalität ausgerichteter Ehrgeiz dem universellen Ansatz Schillers weitaus mehr entgegenkommen musste als der des Königsohns. Diesem – auch das ein Kuriosum des Stückes – ist wenigstens die Ehre des Stücktitels geblieben.
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Jonathan Swift
» Was nützt die Freiheit des Denkens, wenn sie nicht zur Freiheit des Handelns führt. « SH A K E SPEA R E
Andreas Láng
DON CARLO IST NICHT GLEICH DON CARLO Anmerkungen zur Entstehung und der Wiener Rezeptionsgeschichte
Wenn ein Operndirektor, ein Dirigent oder ein Regisseurin beschließt Verdis Don Carlo herauszubringen, so muss der Betreffende zunächst zwei nicht unwesentliche Fragen beantworten. Erstens: Ist einem eine französische oder eine italienische Fassung des Werkes lieber? Und zweitens: Welche der Versionen in der entsprechend ausgewählten Sprache soll schließlich aufgeführt werden? Denn selbst der Komponist rang jahrelang und ohne zu einem echten schlussendlichen Ergebnis zu gelangen um die endgültige Form, um den endgültigen Aufbau dieser Oper. Und die Aufführungsgeschichte an der Wiener Staatsoper zeigt ebenfalls, dass Don Carlo nicht gleich Don Carlo ist. Wie kam es zu dieser Formenvielfalt, die Legionen von Musikwissenschaftlern beschäftigt hat? Zunächst erhielt Verdi von der Pariser Oper den Auftrag, anlässlich der Weltausstellung 1867 eine neue Grand opéra zu schreiben. Nach einigem Hin und her entschied sich Verdi für den Don Carlo-Stoff, wobei er und seine beiden Librettisten Joséph Méry und Camille Du Locle neben dem Schiller’ schen Schauspiel noch weitere Vorlagen benutzten. Obgleich Verdi sein ganzes Können aufbot, zumal er die beste Grand opéra aller Zeiten komponieren und damit die Franzosen auf ihrem ureigensten Gebiet schlagen wollte, konnte schon bei der Uraufführung am 11. März 1867 nicht mehr die Originalgestalt des Stückes erklingen, sondern eine um etliche Passagen gekürzte. Ausschlaggebend für die gar nicht wenigen, in der Probenzeit entstandenen Eingriffe in die Partitur war die Länge, genauer die als Überlänge empfundene Dauer A N DR EAS LÁ NG
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der Oper. In Paris war damals nämlich der zulässige Zeitumfang eines solchen Werkes genau reglementiert, zumal die Vorstellungen nicht über Mitternacht hinausgehen durften, da die letzten Züge in die Vorstädte und die Nachbardepartements 35 Minuten nach Mitternacht abfuhren und Teile des Publikums diese Züge erreichen mussten. Dass Verdi diese von ihm geforderten Kürzungen nur sehr ungern durchführte beziehungsweise billigte, liegt auf der Hand. Dass er daher danach trachtete, dem Werk eine neue, authentische Gestalt zu geben, ebenfalls. Und so führte er in den darauffolgenden 20 Jahren immer und immer wieder Verbesserungen, Korrekturen, Veränderungen an der Partitur des Don Carlos durch. Eine Übertragung ins Italienische war darüber hinaus ohnehin nur eine Frage der Zeit – und hier wiederum haben sich in der Rezeptionsgeschichte zwei Versionen durchgesetzt: die sogenannte vieraktige Mailänder Fassung, die 1884 an der Mailänder Scala zur Erstaufführung kam, und die fünfaktige Modena-Fassung von 1886, bei der Verdi den in der Mailänder Fassung weggelassenen Fontainebleau-Akt genauso wie im französischen Original wieder den übrigen Akten voranstellte. An der Wiener Staatsoper waren bislang die drei wesentlichen Fassungen zu hören gewesen. Die französische Urfassung (ohne die Striche, die bei den Proben zur Uraufführung entstanden), die Mailänder Fassung und die Modena-Fassung. Außerdem kamen noch weitere Versionen dazu – vor allem die deutschsprachige Werfel’sche von 1932. Doch zunächst zeichnete sich die Wiener Aufführungsgeschichte dadurch aus, dass nach langen Verhandlungen und vielen Bemühungen gar keine Vorstellung zustande kam. Noch 1882 hatte Verdi in einem Brief an Giuseppe Piroli vermerkt: »Ich arbeite, aber an einer praktisch nutzlosen Sache. Ich reduziere den Don Carlo ... für Wien. Sie wissen, dass die Hausmeister in dieser Stadt die Haupttüren der Häuser um zehn Uhr abends schließen, und um diese Zeit trinken alle Bier und essen Gâteaux. Folgerichtig müssen die Theatervorstellugen um diese Zeit beendet sein.« Was also in Paris die Vorortezüge waren, das waren in Wien die Hausmeister: Ungewollte Gegner einer freien Verdi’schen Komponierlust. Doch ungeachtet der Umarbeitungen fiel das Projekt ins Wasser, sodass dieses wichtige Opus der Operngeschichte verhältnismäßig spät, erst im Zuge der Verdi-Renaissance, den Weg auf die Bühne der Wiener Staatsoper fand, genauer am 10. Mai 1932. Verantwortlich für diese Pioniertat war Clemens Krauss, und das gleich zwei Mal: als Direktor des Hauses, der das Werk in den Spielplan nahm, und als Dirigent dieser Erstaufführung. Da die Zeiten der Originalsprachigkeit noch in weiter Ferne lagen und weder eine italienische noch eine französische Version in Frage kam, erstellte Regisseur Lothar Wallerstein, wie bereits oben angedeutet, mit niemand Geringerem als Franz Werfel eine vom Verlag Ricordi gestattete deutsche Neudichtung des Librettos, wobei auch einige dramaturgische Änderungen vorgenommen wurden, sodass durchaus von einer Wiener Fassung die Rede sein kann. Dass Julius Korngold die Musik dieser Oper in seiner ausführlichen Besprechung in der 23
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Erich Fried
» Wer sagt: hier herrscht Freiheit, der lügt, denn Freiheit herrscht nicht. «
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Neuen Freien Presse als »schwächeren Verdi« apostrophierte, weist ihn in Bezug auf kapitale Fehlurteile als würdigen Nachfolger Eduard Hanslicks aus. Neben Krauss war es in den nächsten Jahren bis 1938 vor allem Bruno Walter, der sich für den Don Carlo einsetzte, und auch während des Zweiten Weltkriegs war das Werk regelmäßig im Haus am Ring zu erleben. Als das Stück nach Kriegsende 1948 in den beiden Ausweichquartieren Volksoperngebäude beziehungsweise Theater an der Wien erneut gezeigt wurde, konnte man daher, trotz des späteren Erstaufführungstermines bereits an eine hauseigene Aufführungstradition anschließen. 1956 durfte das Werk dann endlich wieder zurück ins Haus am Ring. Als Regisseur fungierte diesmal Alfred Jerger, der sich von der Wallerstein’schen Fassung entfernte und eine vieraktige Version (sieben Bilder) auf die Bühne stellte. Einer der Höhepunkte dürfte Eberhard Waechters Posa-Interpretation gewesen sein. Kaum eine Besprechung, die nicht euphorisch über den jungen »Ensemble-Zuwachs« berichtete. Ebenfalls sieben Bilder umfasste die nächste Neuproduktion der Oper in der Regie von Margarethe Wallmann (1962). Diese insgesamt erfolgreiche Inszenierung wurde 1970 von Otto Schenks Sicht der Oper abgelöst, die wiederum die Liebe als eine der »treibenden Gestaltungsmotive Verdis« ansah und das politische Moment in den Hintergrund rückte. Geteilter Meinung war man beim nächsten Wurf: 1979 wurde Karajans Inszenierung aus Salzburg nach Wien übernommen, zu der Franz Endler in der Presse meinte: »Zwar deklarierte man die Vorstellung als Neuinszenierung, doch dies ist angesichts der Tatsachen als Euphemismus unschwer abzutun.« Dem Dirigenten Karajan galt allerdings großer Jubel. Rund zehn Jahre später entschieden sich Claudio Abbado und Pier Luigi Pizzi für eine Neuproduktion in der italienischen, fünfaktigen Modena-Fassung. Der Fontainebleau-Akt konnte sich aber auch diesmal nicht lange halten – zu vielen Sängern, die nur die vieraktige italienische Version einstudiert hatten, war er nicht geläufig. Nach nur sechs Vorstellungen begann Don Carlo an der Wiener Staatsoper wieder im Kloster statt im Wald, und das ist bis zur Premiere der französischen Urfassung in der Regie Peter Konwitschnys im Jahr 2004 auch so geblieben. Die aktuelle Produktion – gezeigt wird mit der Mailänder Fassung wieder die dramaturgisch wohl tauglichste Version – feierte am 16. Juni 2012 Premiere. Unter der Leitung von Generalmusikdirektor Franz Welser-Möst und in der Inszenierung Daniele Abbados sangen unter anderem KS Ramón Vargas (Don Carlo), KS Simon Keenlyside (Posa), KS Krassimira Stoyanova (Elisabeth), Luciana D’Intino (Eboli), KS René Pape (Philipp II.) und Eric Halfvarson (Großinquisitor).
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DON CARLO IST N ICH T GLEICH DON CARLO
Camille Du Locle
KARL V. IN DON CARLO Der Tod Karls V., der lange Zeit geheim gehalten wurde, ist kein Geschichtsdatum, denn schon seit mehreren Jahren war er von der Weltbühne abgetreten, auf der er einen so bedeutenden Platz eingenommen hatte. Er selbst hatte sich nach seinem Rückzug ins Kloster Yuste darin gefallen, sich mit einer Art Toten- mysterium zu umgeben. So hat er mit großem Pomp seine Beisetzung feiern lassen, der er, als Mönch verkleidet, inmitten seiner Klosterbrüder beiwohnte. Das ist mehr als genug, um in einer Oper die Rolle zu rechtfertigen, die die Verfasser des Librettos von Don Carlos dem großen Kaiser zugedacht haben. Sie ist im übrigen nicht weniger historisch als die Legende von Don Carlos insgesamt und die Art, wie sie Schiller abgehandelt hat. ... Die Streichung der Figur Karls V. würde die Introduktion des neuen ersten Aktes, so frappierend vom musikalischen Standpunkt, ihrer Großartigkeit und ihrer Wirkung berau- ben, und das wäre ein mehr als bedauerlicher Verzicht. Wenn der Mönch ein gewöhnlicher Mönch wäre, wie sollte man da die Reise rechtfertigen, die der gesamte spanische Hof zweimal im Verlauf des Dramas von Madrid und von Valladolid nach Yuste, tief in den Bergen von Extremadura, macht? ... Unter Berücksichtigung dessen ist der Autor dieser Zeilen der Meinung, dass die Rolle Karls V. beibehalten werden sollte. Vielleicht könnte und müsste das Geheimnis seines Lebens, das in den Reihen der Mönche fortdauert, während er an seinem leeren Grab betet, besser erklärt werden. Camille Du Locle, einer der Librettisten des Don Carlo, 1882
→ KS Ferruccio Furlanetto als Philipp II., 2015
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Annette Frank
AUF LITERARISCHER SUCHE: DON CARLO VON GIUSEPPE VERDI Als Giuseppe Verdi vom Direktor der Pariser Oper Émile Perrin anlässlich der Weltausstellung 1867 den ehrenvollen Auftrag bekommt, eine Oper zu schreiben, und sich unter den Vorschlägen für ein geeignetes Sujet auch Don Carlos befindet, ist er bereit, dieses Angebot anzunehmen. Die Geschichte des spanischen Infanten in der Zeit der Inquisition und der Religionskriege beschäftigt damals sowohl Historiker als auch Literaten, und es ist voraus zu sehen, dass sie auch ein breites Opernpublikum finden könnte. Friedrich Schillers Werk Don Karlos, Infant von Spanien. Ein dramatisches Gedicht (1787), das sich als »Familiengemählde in einem fürstlichen Hauße« (F. Schiller) dem Schicksal des Infanten, seinen individuellen Neigungen, seiner familiären Bindung und seinen Ambitionen als spanischer Thronnachfolger annimmt, ist zu dieser Zeit in Frankreich bekannt und geschätzt. Die Rezeption Schiller’scher Dramen in Frankreich setzt bereits zu Ende des 18. Jahrhunderts ein und ist mit dem Namen der Literaten Madame de Staël und Louis-Sébastian Mercier verbunden. Letzterer übersetzt nicht nur einige Dramen des deutschen Dramatikers ins Französische, sondern verfasst im Sinne der Aufklärung und unter harscher Kritik der autoritären Ausprägungen von Staat und Kirche ein Portrait de Philippe II., Roi d’Espagne (1785), den »démon du midi«. Seine kritischen Anmerkungen haben nicht nur das Werk Schillers beeinflusst, sondern finden über die Schiller’sche Vorlage auch den Weg in das Opernlibretto. Durch die Übersetzungen von Andrea Maffei kennt Giuseppe Verdi Schillers Dramen und hat zu diesem Zeitpunkt bereits drei A N N ET T E FR A N K
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Opern nach Vorlagen Schillers komponiert: Giovanna d’Arco (1845), I masnadieri (1847) und Luisa Miller (1849). Was nun das von François Joseph Méry und Camille Du Locle verfasste Libretto von Don Carlos betrifft, ist die Tatsache erstaunlich, dass der Komponist – meist im nicht konfliktarmen Miteinander von Librettisten, Theaterdirektoren, Dirigenten, Sängern und den ortsüblichen Bühnenbedingungen – zwanzig Jahre an der Vorlage arbeitet. So sollte es letztlich sechs Versionen geben, drei in französischer und ebenso viele in italienischer Sprache nach den Übersetzungen von Achille de Lauzières-Thémines, Angelo Zanardini und den Ergänzungen von Antonio Ghislanzoni. Die vorliegenden Fassungen der Operntexte schöpfen aus unterschiedlichen historischen und literarischen Quellen, wobei die entscheidende wohl Schillers Vorlage selbst ist, die sich wiederum auf Werke des 17. Jahrhunderts wie Dom Carlos, nouvelle historique (1672) von César Vichard Abbé de Saint-Réal oder das Drama von Thomas Otway, Don Carlos, Prince of Spain. A Tragedy (1676) stützt. Verdi schätzt diese so sehr, dass er im Zuge der Entstehung seiner Oper das Libretto mit zwei zusätzlichen Dialogen von Schiller ergänzen lässt: Es sind dies das Duett Philipp-Marquis von Posa sowie die Begegnung Philipp-Großinquisitor. Die weiteren Quellen entstammen den Werken jener französischen Dramatiker, die sich im Zuge der damals vorherrschenden »Schillermode« der Figur des Don Carlos widmen. Marie-Joseph Chénier verfasst Philippe II. Tragédie (1801, gedruckt 1828). Er ist bekannt als Revolutionär und als Bruder von André Chénier, der in der französischen Revolution zu Tode kommt und in der Oper von Umberto Giordano posthum eine Würdigung findet. Sein Drama ist im Geiste der französischen Revolution und der nachfolgenden napoleonischen Zeit verfasst. Auffallend sind die Darstellung von politischen Ritualen und die revolutionär anmutende Sprache sowie die Kritik an der von Philippe vertretenen monarchistischen Herrschaftsform und der Gedanke der politischen Mission von Don Carlos im Dienste einer universalen Reichspolitik. Dennoch bleibt diesem letztlich das Schicksal des unglücklichen Politikers nicht erspart. Alexandre Soumets Drama Élisabeth de France. Tragédie en cinq actes (1828) orientiert sich an Gestaltungsprinzipien der Romantik. Geheimnisvolle Orte, mystische Landschaften, der dunkle Königspalast in Madrid bestimmen das Bühnenbild. Große Gefühle werden angesprochen. Private Beziehungen wie Freundschaft, Liebe und religiöse Handlungen, wie die Beichte werden zu Themen von Dialogen. Pierre-Étienne Piestre (bekannt als Eugène Cormon) verfasst Philippe II, Roi d’Espagne, Drame en cinq actes, imité de Schiller et précédé de l’Étudiant d’Alcalá (1846). Der Einfluss Schillers zeigt sich bei ihm an deutlichsten: Teile seiner Szenen wirken wie eine wortgetreue Übersetzung Schillers. Sein Werk ist insofern bemerkenswert, als es die Gestaltungsprinzipien der Grand opéra, das Nachund Miteinander von Monolog-, Dialog- und Massenszenen und eine Vielzahl von Schauplätzen auf die Sprechbühne überträgt. Ebenso macht er den Ver 29
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such, Multimedialität durch akustische und visuelle Effekte einzubringen. Ihm verdankt die Oper unter anderem den ersten Akt der fünfaktigen Fassung, den so genannten Fontainebleau-Akt, die Idee einer Autodafé-Szene und die Szene des Volksaufstandes. Das Libretto übernimmt auch viele seiner szenischen Reihungen. Im Folgenden soll anhand einiger ausgewählter Beispiele gezeigt werden, wie die Aussagen einzelner vorgefundener Textbausteine die konzeptionelle Arbeit der Librettisten und des Komponisten anregen, sodass sich ein vielgestaltiges und inhaltlich weitgespanntes Feld eröffnet, das zahlreiche Bearbeitungen möglich und nötig macht.
Gegensätze als Stilmittel In der literarischen Darstellung einer dunklen Epoche, die die menschlichen Regungen und Bedürfnisse brutal unterdrückt, gilt es, sich auf Spurensuche zu begeben, um nicht nur die unvermeidliche Katastrophe zu beschreiben, sondern auch Auswege aus ihr zu finden und Lichter am geschichtlichen Horizont auszumachen. Dieses Vorhaben haben sich die genannten französischen Dramatiker und die Autoren der Oper zum Ziel gesetzt. Es bietet sich dabei jener Kunstgriff an, den man in Anlehnung an die in der Spätrenaissance und im Barock geübte Praxis in Graphik und Malerei als Chiaroscuro bezeichnet, eine plakative Gegenüberstellung von gegensätzlichen Elementen. Dieser Kunstgriff zeigt sich bereits in der Inszenierung von Schauplätzen. Das säkular konzipierte Drama Schillers bevorzugt den Gegensatz von Gärten und dem königlichen Palast. Das Libretto hingegen stellt die sakralen Orte (Kloster, Klostergarten, Grabmal, Platz vor der Kirche) den profanen gegenüber (Zimmer und Säle des Palastes, der Garten der Königin, das Gefängnis, der öffentliche Platz vor dem Königspalast). Diese Kontrastierung erinnert an das Drama von Soumet, dessen religiös bestimmte Handlung in der Felsbehausung des Eremiten und Beichtvaters Alvarès beginnt und im Königspalast seine Fortsetzung und sein Ende findet. Auch die vieraktige Fassung der Oper beginnt an einem religiösen Ort, dem Chiostro del Convento di San Giusto. Doch hier ist der Ort freundlicher und heller. Die locusamoenus-Stimmung der Gegend um das Kloster inmitten der Berg- und Hügellandschaft der Estremadura mit ihren Orangenhainen und ihrer südlichen Vegetation ist von der Vorlage Saint-Réals inspiriert. An diesem Ort hat sich Karl V. am Ende seiner Regierung zurückgezogen und auch den Besuch von Don Carlo und seiner Familie erhalten. In der Erzählung von Saint-Réal ist es auch jener Ort, an dem Don Carlo seine Liebe zu Elisabeth offen gesteht. Im starken Kontrast dazu stehen die dunklen, freudlosen Orte gegenwärtiger Machtträger. Als weiterer Gegensatz sei der zwischen alter und junger Generation genannt. Der Topos der »grauen bzw. weißen Haare/cheveux blancs/crin bianA N N ET T E FR A N K
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co« Philipps, der von Saint-Réal ausgehend, über Schiller und die französischen Dramatiker bis hin zur Oper das Alter des Königs kennzeichnet, steht im Kontrast zur jungen Frau Elisabeth und dem jugendlichen Infanten Don Carlo, der um die Übertragung politischer Aufgaben kämpft. Diese Gegensätze bestimmen die Frage nach dem Bestand der Ehe des Königs mit Elisabeth bzw. das Liebesverhältnis zwischen ihr und Don Carlo. An der Seite des alternden Königs und im Bannbereich des Palastes kommt es zur schmerzvollen Rückerinnerung Elisabeths an Frankreich, verbunden mit einer Würdigung des Landes der Jugend, ein Motiv, das von Schiller über Chénier, Soumet bis zur Opernszene reicht. In den jeweiligen Rezeptionen zeigen sich deutlich die patriotischen Intentionen der französischen Autoren, und es scheint, dass Schiller als literarische Autorität der Rechtfertigung der jeweiligen Laudatio dient. Bei Chénier wird in den Worten Elisabeths das Lob über die »mœurs de notre France« (III,1; »Sitten unseres Frankreichs«) angestimmt, das den nationalen Stolz der napoleonischen Epoche anklingen lässt. Für Soumet hingegen ist nach romantischem Muster der Rückblick stark verinnerlicht: »Elisabeth: France, doux pays où j’ai reçu le jour, la France, dont mon cœur garde toujours l’image.« (I,6; »Frankreich, süßes Land, wo ich geboren wurde, Frankreich, dessen Bild mein Herz für immer bewahrt.«) Fast wortwörtlich der Text der französischen Fassung der Oper: »Elisabeth: France, noble pays, si cher à mon jeune âge! Fontainebleau! Mon cœur est plein de votre image...« (V,1; »Frankreich, edles Land, so teuer meiner Jugend! Fontainebleau! Mein Herz ist erfüllt von deinem Bild...«).
Dialoge um Liebe und Freundschaft Die Dialoge des Schiller’schen Sprechtheaters als wesentliches literarisches Mittel zur Charakterisierung der Figuren und zur Entwicklung von Handlung haben auch die genannte Dramenproduktion und das Verdianische Musiktheater beeinflusst, wobei ihr literarischer Wert durch Kürzungen und Fragmentierungen teils sehr gelitten hat und sich in manchen konventionellen Floskeln ergeht. Dennoch regen sie an, den Gegensatz von institutioneller Macht und Gewalt und die individuellen Haltungen von Liebe und Freundschaft darzustellen und den sich daraus ergebenden Konflikt auf die Bühne zu stellen. In den Dialogen von Don Carlo und Elisabeth kommt das Liebesthema zur Sprache, das zum ersten Mal bei Saint-Réal aufscheint. Der Neigung Don Carlos zu Elisabeth, die durch die Hochzeit seines Vaters gleichsam seine Mutter geworden ist, steht die Pflicht der politischen Aufgaben entgegen. Chénier nimmt das Thema der Liebe auf, betont aber, dass es auch Elisabeth ist, die ihn zum politischen Auftrag, der Rettung Flanderns, inspiriert, ähnlich wie bei Schiller und im Schlussduett der Oper. Der Romantiker Soumet hingegen zeichnet Elisabeth als Wohltäterin und als Frau der Tugend, die in 31
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der Abschiedsszene die tröstliche Erwartung ausspricht, dass sie und Don Carlo im Himmel in ewiger Liebe verbunden blieben. Bei Cormon vertritt Elisabeth die Schiller’sche Maxime der Pflicht vor Neigung (III,2, »le devoir le commande« – »Die Pflicht verlangt es«), was das Libretto der Oper in der französischen Fassung bildhaft verstärkt, in der italienischen jedoch wieder etwas zurücknimmt: »Le devoir, saint flambeau, devant mes yeux a lui// Il dover, come un raggio al guardo mio brillò.« (II,Tab II,4 bzw. I,Parte II,4; »Die heilige Flamme der Pflicht (ital: Die Pflicht gleich einem Strahl) erstrahlte vor meinen Augen«). Sie wird auch von Don Carlo gebeten, sich beim König für eine politische Beauftragung einzusetzen. Das Drama von Cormon und das Libretto inszenieren – im Gegensatz zu Schillers Vorlage – in der vorletzten Szene sehr eindrücklich den Abschied der Liebenden, wobei die szenische Dehnung die Stärke des intimen Verhältnisses zum Ausdruck bringt. Cormons Sprechtheater in einer geradezu opernhaften Inszenierung: »Don Carlo: Eh! Bien! Adieu. La Reine: Adieu, Carlo ... adieu pour toujours! Don Carlo: Adieu! ... adieu, ma mère!« (V,4) In der Oper fast wortwörtlich: »Don Carlo: Adieu, ma mère! Elisabeth: Adieu, mon fils! Beide: Adieu, mon fils, adieu et pour toujours« (V,2; ähnlich auch in der italienischen Übersetzung). Auch die Tränen sind ein konventionelles Stilmittel der Abschiedsszene von Liebenden und Ausdruck der Innigkeit freundschaftlicher Beziehungen, ja, Ausdruck wahren Menschseins. Schon Schiller lässt Don Carlo zu seinem Vater, der die Tränen seines Sohnes als »unwürd’gen Anblick« herabwürdigt, sagen: »Die ewige Beglaubigung der Menschheit sind ja Tränen« (II,2). Als Personifikation von Freundschaft gilt Rodrigue/Rodrigo, der Marquis von Posa, eine literarische Figur, die Schiller von Thomas Otway übernommen hat. Bei Soumet und Chénier ist es der historisch belegte Lamoral von Egmont, der als Statthalter von Flandern bekannt ist. So fragt im Soumet’schen Drama D’Egmont Don Carlo: »Dans les bras d’un ami n’oses-tu pas pleurer?« (I,2; »In den Armen eines Freundes wagst du nicht zu weinen?«) Mit fast gleichem Wortlaut lässt die Oper Don Carlo zu Rodrigo sagen: »Laisse-moi pleurer dans tes bras.« (II,Tab I,3; »Lass mich in deinen Armen weinen«) Während sich die Freundschaftsdienste zwischen Don Carlo und Rodrigo/d’Egmont durch alle dramatischen Vorlagen ziehen und in der Oper eine besondere Steigerung erfahren, kann die Freundschaftsszene zwischen Rodrigo und König Philipp als einer der thematischen Höhepunkte von Drama und Oper angesehen werden. In ihr wird die Frage nach dem Frieden und der Freiheit thematisiert. Interessant erscheint hier die unterschiedliche Interpretation des Freiheitsbegriffes in der Rezeption Schillers. Marquis von Posas Aufforderung im Sinne des vom Fürsten verliehenen Rechts der Untertanen: »Geben sie Gedankenfreiheit« (III,10) wird von Chénier im Sinne der Menschenrechte weiter gedacht. D’Egmont zu Philippe: »Sire, c’est le beau droit de penser librement.« (II,4; »Sire, es ist das gute Recht frei zu denken«) A N N ET T E FR A N K
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Soumet verinnerlicht den Freiheitsbegriff und verbindet ihn mit dem Trost der Religion: »La liberté de l’âme, de cette âme que Dieu de force environna«. (III,6; »Die Freiheit der Seele, jener Seele, die Gott mit Kraft umgibt«) Der Freiheitsbegriff der Oper spricht in einem sehr allgemeinen Sinn die politische Freiheit an. So äußert Rodrigo gegenüber dem Großinquisitor: »Donnez a vos enfants la Liberté!« (II, Tab II,6; »Gebt euren Kindern Freiheit«)
Große Szene auf der Bühne Einer besonderen Idee Verdis und der Librettisten entspringen die monumentale Darstellung des Autodafé am Ende des 2. bzw. 3. Akts und der darauf folgende Monolog Philipps und sein Dialog mit dem Großinquisitor zu Beginn des 3. bzw. 4. Akts. In diesen Szenen eskaliert die Machtfrage, die zur Katastrophe führt. Die Autodafé-Szene ermöglicht es der Oper, medial alle Facetten der Grand opéra einzusetzen. Thematisch ist sie den historischen Musikdramen zuzuordnen, die sich wie etwa Jacques Fromental Halévy in La Juive (1835) und Giacomo Meyerbeer in Les Huguenots (1836) dem bislang tabuisierten Thema der Verfolgung von Minderheiten und der Tötung von Menschen mit unterschiedlichen politischen und religiösen Einstellungen widmen. In dieser Szene werden alle Möglichkeiten ausgelotet, die eine Oper gegenüber dem Sprechtheater auszeichnet. Schiller stellt die Autodafé-Szene nicht auf die Bühne. Stattdessen lässt er ihren fragwürdigen Festcharakter im Dialog Elisabeths mit der Hofdame Mondecar in folgender Weise kommentieren: »Mondecar: Und ein Autodafé hat man uns auch versprochen – Königin: Uns versprochen! Hör ich das von meiner sanften Mondecar? Mondecar: Warum nicht? Es sind ja Ketzer, die man brennen sieht.« (I,3) Auch die französischen Dramen widmen sich dem Autodafé, das in allen Texten als »fête« bezeichnet wird. Bei Chénier spricht der zum Tod verurteilte Carlo von der »horrible fête« (V,1, »schreckliches Fest«), bei Soumet lässt er gleich zu Beginn die Flammen des Autodafé in Madrid sichtbar werden. In beiden Dramen wird die szenische Darstellung jedoch vermieden. Anders bei Cormon. Er stellt die Szene in den Mittelpunkt der Handlung (II,7+8), deren Kern, die Ketzerverbrennung, im off-stage stattfindet. Die szenische Ausgestaltung setzt Effekte ein, die einer gewissen Trivialität nicht entbehren. Aus dem Inneren des Königspalastes sind die Glocken und Schreie der Delinquenten zu hören und das rötliche Licht der Flammen der Scheiterhaufen zu sehen. D’Egmont hat sich vom Geschehen distanziert, wird aber zu seinem Augenzeugen. Don Carlo gesellt sich zu ihm, beteuert, die »horrible scène« nicht gesehen zu haben, da er sich um eine in Ohnmacht gefallene Hofdame angenommen hätte und in Gedanken bei Elisabeth und seiner geplanten Flucht aus Madrid gewesen sei. In der Autodafé-Szene der Oper dürften Elemente aus Cormons Darstellung 35
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übernommen worden sein, so etwa die Geste des Königs, der die Königin bei der Hand nimmt und sie zur »tribune« führt, von der aus die Flammen der Scheiterhaufen zu sehen sind. In der Opernszene eskaliert der Konflikt zwischen dem König und seinem Sohn, ein Konflikt, der in seiner Plakativität die Dramen Schillers und seiner französischen Epigonen bei weitem übersteigt. Der in Schillers Dialog beschriebene Versuch Don Carlos, sich mit seinem Vater zu versöhnen, fehlt hier völlig. Stattdessen kommt es zum Ausbruch der offenen Gegnerschaft vor aller Augen. Hat Carlo bei Schiller den Degen gegen Alba, dem grausamen Statthalter der Flamen, gerichtet, tut er dies in der Oper gegen seinen Vater. Die Oper verzichtet auf die antagonistische Figur des Alba und überträgt das Charakterbild des unbeugsamen Verfolgers einzig auf den Großinquisitor. Der kritische Kommentar zur Handlung des Autodafé wird in der »voce dal cielo« szenisch verwirklicht, die den Opfern des Glaubenswahns himmlischen Frieden verspricht. Dass hier Verdi gleichsam ein Element im Geiste der Tradition der barocken Intermedien in die Handlung einfügt, die den Einbruch des Jenseitigen ins Diesseits eindrucksvoll darstellt, mag einen Verdienst der Tradition der Grand opéra darstellen, die für unterschiedliche szenische Formen offen ist.
Zwischen literarischer Nachahmung und künstlerischer Kreation – der Monolog Philipps und die Begegnung mit dem Großinquisitor Im literarischen Vergleich zwischen dem Libretto und den Texten der französischen Dramatiker fällt auf, dass in den genannten beiden Szenen der Einfluss der Schiller’schen Vorlage besonders deutlich ist. Man ist geneigt, von einer literarischen Nachahmung zu sprechen, da aus dem reichen Fundus bekannter Schillerscher Verse geschöpft wird, die dem literarisch kundigen Publikum im Zuge der Schillerbegeisterung geläufig gewesen sein dürften. Es zeigt sich jedoch auch, dass die Vorlagen Schillers geeignet sind, eine eigene Version dieser Szenen zu schaffen, die – wie im Falle der Oper – zu den Höhepunkten musikdramatischen Schaffens werden sollten. Im Monolog Philipps (IV, Tab I,1 bzw. III, Parte I,1), der die Schattierungen der Gefühlswelt des alternden Königs zum Ausdruck bringt, finden wir zahlreiche Schiller’sche Motive, die auch von Soumet rezipiert und verarbeitet werden. In allen Texten begegnet man einer beinahe gleichlautenden Beschreibung von Ort und Zeit. Das Bühnenbild zeigt einen mit Papieren bedeckten und durch zwei brennende Lichter erleuchteten Tisch, über den der Herrscher gebeugt und im Übergang der Nacht zum Tag in Gedanken versunken ist. Folgende Motive werden bei Schiller und Soumet in einem Monolog bzw. anschließenden Dialog mit Hofleuten verarbeitet, in der Oper jedoch in einer großen monologischen Szene gebündelt: die verlorene Liebe der Ehefrau, die UmA N N ET T E FR A N K
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triebe am Hof, die Nacht ohne Schlaf, die als Metapher des Todes gedeutet wird, die dunklen Gräber des Escorial, der Prinz in »blutschänderischer Umarmung« (Schiller III,2). Eine ähnliche Vorgangsweise finden wir im Dialog Philipps mit dem Großinquisitor (IV, Tab I,II bzw. III, Parte I,2), wobei im Sujet der Oper aus dramaturgischen Gründen die Reihung der Motive anders vorgenommen wird als im Schiller’schen Referenztext. Als Beispiel für das »Zitieren« sei der Regietext erwähnt, der bei Schiller, Soumet und im Libretto nahezu gleichlautend ist. Der Großinquisitor wird hier als Greis von neunzig Jahren und blind beschrieben und wird von zwei Dominikanern (bei Soumet sind es zwei Männer mit schwarzen Roben; – Zensur?) begleitet. Oder auch die anfängliche Frage des Großinquisitors: »Steh ich vor dem König? König: Ja [...] Philipp, der Infant, holt Rat bei seinem Lehrer« (V,10), die bei Soumet folgendermaßen lautet: »Suis-Je devant le Roi, mon éleve? Le Roi, assis: Oui, vieillard. Il vous fait appeler près de lui.« (V,2) und im Libretto wie folgt klingt: »Suisje devant le Roi? Philippe: Oui, J’ai recours à vous, mon père éclairez-moi.« Ähnlich auch die italienische Übersetzung. Weitere Ähnlichkeiten sind nachweisbar: die zynische Frage des Großinquisitors nach dem Sinn seines Besuchs, die jedoch bei Verdi szenisch effektvoll an den Schluss gestellt wird, die Entscheidungsfrage über das Schicksal des Infanten, der Hinweis auf den Schatten Samuels, das Motiv des Friedens zwischen König und dem Großinquisitor, der Geist der »Weltverbessrer«, die Unterordnung der Natur unter den Glauben, die abwertende Beurteilung des Menschseins. Auch im revolutionär ausgerichteten Drama von Chénier gibt es eine Szene der Begegnung zwischen dem König und dem Vertreter der kirchlichen Macht, Spinola, einem umtriebigen, in den Religionskriegen Europas auf der Seite der katholischen Kirche kämpfenden Kardinal. In dessen Augen erscheint Egmont als »rebelle«, der im Sinne aufklärerischer Kritik nicht mit dem im Zuge einer Totenbeschwörung genannten Schatten Samuels verglichen wird, sondern mit dem biblischen Rebellen Absalom (IV,2).
Über die zahlreichen Möglichkeiten, eine Schlussszene zu finden Die Schlussszene, die sich mit dem Ende von Don Carlo befasst, ist bei Schiller in extremer Kürze gehalten. In ihr überantwortet Philipp seinen Sohn der Inquisition: »Kardinal! Ich habe das Meinige getan. Tun Sie das Ihre.« (V, letzter Auftritt) Sie hat bei den französischen Dramatikern und in der Oper ebenfalls ihren Niederschlag gefunden. Soumet: »Le Roi, au Chef du Tribunal: [...] Mon devoire strempli; viellard faites le vôtre«(V,7).Libretto: Philippe: [...] Jeferais mon devoir. (à l’Inquisiteur) Et vous? L’Inquisiteur: Le Saint-Office fera le sien!/ Filippo: [...] Il dover mio farò (all‘Inquisitore) Ma voi? L’Inquisitore: Il Santo Uffizio il suo farà!« 37
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Dennoch scheint dieses Ende, das im überraschenden Triumph der Inquisition endet und allen Plänen Don Carlo ein Ende setzt, für die meisten französischen Autoren zu abrupt, eine Katastrophe ohne Ausweg. So gibt es unterschiedliche Versuche, Hoffnungsaspekte anklingen zu lassen. Im Drama von Chénier möchte Don Carlo mit seinem Gefolge fliehen, wird aber verhaftet und einem Schauprozess zugeführt, bei dem auch Spinola anwesend ist. Ein flehentlicher Hilferuf an den verstorbenen »Charles, du haut des cieux« (IV,7; »Karl, von den Höhen des Himmels«) kann eine Auslieferung an den Kardinal nicht verhindern. Zum Tode verurteilt, muss Don Carlo aus einem Giftkelch trinken. Um zu sterben, küsst Elisabeth seine Lippen, die von Gift erfüllt sind. Vor ihrem Tod erhebt sie eine letzte Anklage gegen die Schreckensherrschaft von Philippe. Sie sehnt sich nach einer Vereinigung im Himmel mit dem Ehemann ihrer Wahl (»époux de mon choix«, V,4), woraufhin Philippe von Gewissensbissen befallen wird. Auch im Text von Cormon stirbt Don Carlo am Gift, das ihm vom Großinquisitor in einem goldenen Becher gereicht wird. Zum Tode verurteilt, verspricht er, im Himmel als »ange« (V,6) Fürbitte für Philippe und seine Mutter einzulegen und bittet um den Segen des Vaters. Am Schluss gesteht der König – Herrscher eines Weltreichs – seine Einsamkeit ein. An diesen Beispielen ist zu ersehen, dass auch die Gestaltung der Schlussszene zahlreiche Gemeinplätze enthält. Im Hinblick auf den Geschmack des Pariser Publikums erhoffte Direktor Perrin ein spektakuläres Ende der Oper, einem Ansinnen, dem sich Verdi mit Erfolg widersetzte. Dennoch ist die französische Urfassung der Schlussszene reicher ausgestaltet als die italienische Fassung. In Ersterer kommt es zu einer mehrmaligen Verfluchung des »hérétique, rebelle et traître« Don Carlo durch Philippe, dem Großinquisitor sowie die Dominikanermönche und Schergen der Inquisition. Die knappere italienische Version orientiert sich am Schiller’schen Ende. In beiden Versionen jedoch kommt es zumAuftritt des Frate/CarloV. und zur mystischen Hinwegnahme Don Carlos. Die Rahmenhandlung in der italienischen Fassung der Oper, die den Frate/ Carlo V. schon zu Beginn vor dem Grabmal von San Giusto erscheinen lässt, ist in dieser Form in keinem der literarischen Vorbilder zu finden. Dennoch gibt es einzelne Motive, die die szenische Ausgestaltung der Anfangsund Schlussszene beeinflusst haben könnten. In den Dramen von Chénier und Soumet wird – gemäß der Vorlage von Saint-Réal – vom Besuch Don Carlo bei seinem Großvater erzählt, der sich nach seiner Regierung hinter Klostermauern zurückzog. Anlässlich dieses Zusammentreffens wird Don Carlo die Größe der Herrschaft seines Ahnen sowie die Majestät Gottes bewusst, wie er in seinem Botenbericht darlegt. Gleichzeitig sieht er in ihm den wahren Vater. Angesichts der Grausamkeit Philipps ist jedoch der Schmerz allgegenwärtig. Auch im Libretto findet sich Don Carlo an diesem Ort ein, zerrissen zwischen der Suche nach der langersehnten Ruhe und dem Schmerz A N N ET T E FR A N K
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über die vom Vater Philipp geraubte Liebe zu Elisabeth. Der Frate preist die Größe Gottes: »Grand’ è Dio sol«, die den Machthaber zur Erkenntnis des Größenwahns der Weltherrschaft und zur Buße führen soll: »Ei voleva regnare sul mondo [...] L’orgoglio immenso fu, fu l’error suo profondo« (I, Parte I,1 bzw. II, Tab. I,1; »Er wollte die Welt beherrschen [...] Sein Hochmut war groß, sein Wahn war tief«). Es ist auffallend, dass diese vom Religiösen ausgehende Herrschaftskritik auch bei Soumet zu finden ist, der das Gotteslob durch den Beichtvater Alvarès aussprechen lässt, der kurz vor seiner Hinrichtung dem König die Grenzen seiner Macht aufzeigt: »Mais devant l’Éternel un roi ne suffit pas [...] Roi, Dieu seul est puissant.« (III,6; »Aber vor dem Ewigen Herrn genügt ein König nicht [...] König, Gott allein ist mächtig«) Man kann Alvarès gleichsam als Modell für die Figur des Frate/Moine im Libretto sehen. Ein weiteres Motiv der Gestaltung der Schlussszenen ist das Requisit des Gewandes. In der französischen Fassung – im Unterschied zur italienischen – zieht der Mönch den Infanten in die Arme und bedeckt ihn mit seinem Mönchsgewand gleichsam als Transfiguration des Königmantels. Bei Cormon verweist Elisabeth auf die Volkssage, nach der Karl V. als Mönch verkleidet wie ein Geist durch die Gemächer von Saint Just wandelt und bei den Wachen Angst verbreitet. Cormon lässt Don Carlo als verkleideten Mönch erscheinen, in der Absicht zu fliehen. Ein ähnliches Motiv entdecken wir auch bei Schiller, als Don Carlo mit Hilfe des Gewandes und der Maske unbeschadet den Weg zur Geliebten Elisabeth finden möchte, aus aufklärerischer Sicht ein Betrug, der misslingt und zur Verhaftung des Verkleideten führt. Die Szene mit dem Frate/Carlo V. bietet den Librettisten und Verdi die Möglichkeit, die menschenverachtenden Mächte der staatlichen und kirchlichen Institutionen nicht in ihrem Triumph enden zu lassen.
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Franz Werfel
VERDI Während um ihn herum ein allgemeines Musikgeschluder herrschte, die Maestri ihre Texte blind herunterkomponierten, nur um der Nachfrage zu dienen, hat der junge Dramatiker, der doch einen bequemen Weg hätte gehen können, das Leben sogleich sich und anderen wütend schwer gemacht. Was bis dahin unerhört war, er verweigerte sehr bald den Sängern Zusatzarien und Rondis, er duldete kein Transponieren, man musste mit Zähneknirschen die Generalprobe im Kostüm singen. Er tyrannisierte die Tyrannen. Und die stärksten Tyrannen am unerbittlichsten: die Theaterunternehmer und Verleger. Es wäre ganz falsch, aus diesen Briefen [Verdis] ein vorwiegendes Interesse an Geld und Gewinn herauszulesen, was wir in unsren Tagen einem Künstler am allerwenigsten verzeihen wollen. Verdi war alles eher als ein Mann des Geldes. Keine unlautere Sucht, der unbestechliche Sinn sozialer Gerechtigkeit bestimmt sein Verhältnis zu den Unternehmern. Er braucht seine Kraft in ungeheurer Arbeit auf und sieht, dass untätige und gerissene Händler die Früchte seiner Mühe genießen, und ihn, den Arbeiter, moralisch und materiell schädigen, so weit es nur geht. Das macht ihn rasend. Denn er wird nie begreifen, dass jedes Geschäft auf Erden die Absicht gegenseitiger Schädigung zur psychologischen Voraussetzung hat! Wir haben gesehen, wie Giuseppe Verdi von den Bedingungen der heimischen Opernwelt bestimmt wurde und wie er sogleich selbst diese Welt bestimmte. Bei aller Freiheit und Verwegenheit, die er sich gestattete, konnte er den Kanon der musikalischen Form nicht niederreißen wie ein Deutscher oder in geringerem Maße ein Franzose. Denn diese Form stand nicht unter Willkür des Komponisten, sie gehörte zum höchst lebendigen Komplex der Oper nicht anders als der Komponist selbst. Und er wollte sie gar nicht vernichten, diese Form, denn sie war ja italienisch, war seines Wesens, und sie allein hat ihn davor gerettet, ein anderer in der Musik zu werden, als er war.
→ KS Roberto Alagna als Don Carlo, 2014
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Thomas Gabler
EIN »DÜSTERER KÖNIG« ALS BÜCHERNARR Als Herrscher über ein Reich, in dem dank seines Vaters Karl V. »die Sonne nie unterging«, als Regent in einem Europa des Wandels und als Befehlshaber nicht immer erfolgreicher Kriegszüge beeindruckt Philipp II. von Spanien mit seiner Regierungszeit von fast 50 Jahren. Was für ein Mensch aber war dieser historische Philipp, der von der Wissenschaft als »düsterer König« beschrieben wird und diese bis heute beschäftigt? Auf jeden Fall war Philipp in Sachen Bildung ein Spätzünder: Während sich seine Cousins am Wiener Hof der Habsburger bereits mit dem Lesen und dem Schreiben abmühten, blieb der Knabe Philipp bis zum achten Jahr unter den Fittichen seiner Mutter Isabella von Portugal: »Sie verfährt mit dem Knaben viel strenger als die Damen des Hofes, bisweilen prügelt sie ihn in diesen Jahren gehörig durch«, so einer der Philipp-Biographen Manfred Vasold. Zwar suchte sein Vater Karl früh in Italien nach einem Lehrer, aber erst Isabella findet in Juan Martínez Guijeño, der sich mit lateinischem Namen Siliceo nannte, den scheinbar idealen Ausbilder für den Prinzen: » ... doch scheint er dem Knaben Philipp unschöne Einstellungen beigebracht zu haben, er weckte in ihm die Intoleranz gegenüber anderen Völkern (Philipp musste in späterer Zeit über solche Völker herrschen! Anm.) und ein hohes Maß an Bigotterie.« Königliches Benehmen lernte er mit Hilfe des Buches Institutio principis christiani, das Erasmus von Rotterdam seinem Vater Karl gewidmet hat. Auch eine anderes Detail unterscheidet die Ausbildung des blassen und blauäugigen Kindes Philipp zu den Wiener Vettern. Während sich die österreichischen Habsburger stets um die Sprachen ihrer Völker bemühten, sie lernten, konnte Philipp Zeit seines Lebens nur ein paar Brocken des Portugiesischen, Französischen und Italienischen. Immerhin beherrschte er später Griechisch und Latein, was seiner großen Leidenschaft für Bücher entgegenkam. Trotz des Mankos, des Nichtkönnens lebender Fremdsprachen, galt er als gebildeter Mann, der in Jünglingsjahren auch eine intensive AusT HOM AS GA BLER
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bildung in Mathematik und Architektur (er ließ sich etwa nach Plänen von Juan Bautista de Toledo El Escorial die monumentale Kloster- und Palastanlage in der Region Madrid erbauen), Geographie und Geschichte genoss. Aber: »Philipp blieb zeitlebens ein schlechter Rechner, selbst die Grundrechenarten beherrschte er nur unvollkommen.« Was auch an seiner Haushalts- und Finanzwirtschaft abzulesen ist, denn dreimal (1557, 1575 und 1596) musste er den Staatsbankrott erklären, seinen Gläubigern, etwa der deutschen Handels- und Finanzdynastie Welser, seine Zahlungsunfähigkeit eingestehen. Philipps Leben und Regieren auf seinem Sitz, dem Kloster Real Sitio de San Lorenzo auf dem öden kastilischen Hochland, war von Pedanterie und Monotonie geprägt: »Er trug immer schwarz (selbst auf dem berühmten Gemälde in spanischer Hoftracht von Alonso Sánchez Coello im Kunsthistorischen Museum Wien zu sehen), aß jeden Tag pünktlich die gleichen Speisen und machte jeden Tag die gleiche Ausfahrt.« Ob er aber wirklich nie gelacht hat, kaum eine Miene im Gespräch verzogen hat, wird wohl nie ganz erforschbar sein. Jedenfalls herrschte bei seinem Hofe strengstes Zeremoniell und reinster Bürokratismus, so auch ein anderer Philipp-Biograf, Friedrich Edelmayer. Eine Atmosphäre der Strenge und der Religiosität, die sich auch in Verdis Oper nach Schillers Don Karlos wiederentdecken lässt. » Jedes noch so kleinste Detail in seinem Weltreich musste von ihm persönlich abgesegnet werden«, jede Entscheidung oblag ihm. Ersichtlich ist das auch aus seinem Nachlass von kurzen Mitteilungen an seine Vertrauten, rund 10.000 Zettel mit kurzen Nachrichten oft kryptischen Inhalts, die heute in zahlreichen europäischen Archiven und Sammlungen verstreut sind. Heiterer korrespondierte er nur mit seinen Schwestern Maria und Johanna. Als junger Mann liebte Philipp die Aufregungen und Gesellschaften der Jagd, später, als Herrscher eines Weltreiches bildete er – bis auf die Ehejahre mit Elisabeth von Valois – einen Schild um sich: Der Brillenträger Philipp galt durch seine Unnahbarkeit »fast schon als ein Art Gottheit, als weltentrückter Mönchskönig«. Er war aber auch ein König in einer Zeit der kulturellen Blüte Spaniens mit Malern wie Murillo und Velázquez, mit Dichtern wie Lope de Vega. Und er zeigte sich als ein am Musischen sehr Interessierter, mit hohem Intellekt und Geschmack, der Musik und Literatur liebte, für den Komponisten wie Juan Vásquez, Luis Milán oder Thomas Morley Werke schufen, der sogar in späteren Jahren niemals auf einen größere Reise ohne seine Orgel ging. An überlieferten Meisterwerken wird auch sein Sinn für Kunst sichtbar: Tizian (der schon seinen Vater, aber auch Philipp als Kronprinzen malte) schuf für ihn einige mythologisch-erotische Bilder wie Venus und Adonis (1554), Danae oder Der Raub der Europa (1559 bis 1562). Sein Hofbildhauer war der Mailänder Bildhauer, Medailleur und Goldschmied Pompeo Leoni, dessen Statuen von Karl V. und von Philipp noch immer in der Basilika des Escorial stehen. 43
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Eine besondere, sympathische Leidenschaft entwickelte er schon im Knabenalter: jene für Bücher, die er sich in jungen Jahren bald selbst kaufte. Darunter befanden sich aber nicht nur antike und theologische Schriften, Bibeln und Bände von Erasmus von Rotterdam, sondern auch Werke von Albrecht Dürer, Fabeln und sogar verbotene Bücher und Trivialliteratur. Vasold: »Im Alter von 26 Jahren besaß er weit über 800 Bücher und eine Vielzahl von Manuskripten. Zur Lebensmitte bestand seine Sammlung aus rund 5400 Bänden, am Lebensende war er Besitzer von ca. 14.000 Bänden, davon fast 100 hebräische und arabische Codices.« Es war die Zeit des raffinierter werdenden Buchdrucks: In König Philipp fanden die kostspieligen Werke, die kunstvollen Ausgaben und wissenschaftlichen Traktate einen glücklichen Abnehmer – und landeten (wohl die meisten davon gelesen) in der damals größten privaten Bibliothek des Abendlandes. Biograph Edelmayer sieht im bibliophilen Philipp den »ersten modernen Monarchen«, der mit viel Geschick und nüchternem Verstand regierte – bei näherem Hinsehen entpuppt sich Philipp aber wohl auch als historische Figur mit vielen Zwiespälten zwischen Pflicht und Neigung, der sich wohl wie jeder Bücherfreund gerne in eine zweite Welt, in die der Geschichten und Geschichte, der Religion und der Mythologie, der Wissenschaft und der Kunst, zurückzog.
Ein Tod ohne Versöhnung Weit entfernt von Friedrich Schillers (auch von Giuseppe Verdis, Joseph Mérys und Camille Du Locles) idealisierter Figur begegnet uns der historische Don Carlo, der erste und einzige Sohn Philipps mit dessen erster Gemahlin, Prinzessin Maria von Portugal (sie starb zwei Tage nach der Geburt des Infanten): »Des Knaben Gemüthsart war (...) eine störrige, heftige, überdieß war seine Körperbeschaffenheit im Alter von zwölf Jahren und später eine schwächliche«, liest man im Biographischen Lexikon des Kaiserthums Österreich. Einige Wissenschaftler vermuten hinter seiner wütenden Haltung die Folge der Verwandtschaft der Eltern – sie waren in allen Familienlinien Cousin und Cousine, andere wiederum als tragisches Ergebnis eines schweren Sturzes in jungen Jahren. Oder war er einfach nur verrückt? Carlo meinte dazu bei seiner Verhaftung im Jahr 1568, »dass er nicht verrückt sei, sondern nur verzweifelt und dies allein die Schuld seines Vaters wäre«. Seltsam zweideutig oder gar treffend (?) sind da die zum Zitat gewordenen Sätze, die Schiller im letzten Auftritt Carlos im Angesicht des Vaters in den Mund legt: »Ich habe das meinige getan. Tun Sie das Ihrige.« Bereits mit 15 Jahren wurde Carlo vom spanischen Adel als Fürst von Asturien, also als Thronfolger, anerkannt – mit großer Skepsis von Philipp wahrgenommen. Dieser ließ ihn nach einem Verrat des Beichtgeheimnisses (»er wolle seinen Vater tot sehen«) unter klerikales Kuratel stellen. Auch vermutet man, dass Carlo wie in Tragödie und Oper Sympathien für die nieT HOM AS GA BLER
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derländischen Aufständischen im Achtzigjährigen Krieg hegte. Carlos Hoffnung auf den Statthalterposten in den Niederlanden platzte, ein Besuch bei seiner Verlobten Anna von Österreich in Wien wurde ihm verweigert: Da tötete er »aus Wut das Lieblingspferd seines Vaters«, so die Geschichte. »Die Spannungen zwischen Carlo und seinem Vater wurden so groß, dass Carlo seinen Großvater, den Kaiser Karl V. Vater und seinen Vater aber Bruder nannte.« Ein wütender, aber wohl auch enttäuschter Prinz, dessen schlechter Ruf bald durch ganz Europa ging. Nach seiner Verhaftung durch Philipps Schergen – er wollte in die Niederlande flüchten – plante sein Vater einen Hochverratsprozess, aber nach einem Selbstmordversuch und langen unerträglichen Haftbedingungen in einer Dachkammer erkrankte Carlo und starb am 24. Juli 1568 noch vor Beginn desselben. Ohne mit dem Vater (die Legende sagt, dass sich Philipp noch einmal seinem schlafenden Sohn genähert hat) ausgesöhnt zu sein. Geblieben sind von dem unglücklichen spanischen Königskind ein paar Gemälde, etwas vom Hofmaler Alonso Sañchez Coello oder Sofonisba Anguissola, die uns einen zarten, sensibel erscheinenden Knaben zeigen, der durchaus auch Züge seines Vaters aus jungen Jahren trägt. Porträts, die aber schon einen leichten tragischen Zug des Verstört-Seins spüren lassen.
Eine Stiefmutter als Vermittlerin
→ Folgende Seiten: KS Sir Simon Keenlyside als Rodrigo und KS René Pape als Philipp II., 2012
Philipps dritte Gemahlin (zuvor war er vier Jahre mit »Bloody Mary«, Maria Tudor, Königin Maria I. von England, verheiratet) Elisabeth von Valois (2. April 1545 bis 3. Oktober 1568) versuchte den Vater mit dem Sohn Carlo auszusöhnen. Daraus entstand auch der Mythos, den Schiller zu seinem Drama inspirierte: Aus Elisabeths Vermittlungsversuchen zwischen dem strengen Vater und dem ihr gleichaltrigen Sohn wurde eine Liebesgeschichte. Ohne Zweifel gelang es ihr, die angespannte Beziehung, die aufgeheizte Stimmung am Hof zu beruhigen. Auch nahm sie Anteil an Carlos doch eher traurigem Schicksal, baute eine Vertrauensebene zu ihm auf und war wirklich schockiert, als Carlo am 24. Juli 1568 starb. Einige dieser historischen Tatsachen spiegeln sich in den Bühnenstücken wider. Die Prinzessin von Frankreich, Tochter König Heinrichs II. von Frankreich und Caterina de’ Medici, spielt aber wohl in den Dramen eine weniger aufregende Rolle als der Mensch Elisabeth im realen Leben. Als schöne, elegante, lernbegierige und kluge junge Frau wird Elisabeth von Zeitzeugen beschrieben. Beste Charaktereigenschaften eines Mädchens, auf die europäische Fürstenhöfe und Adelsfamilien sicherlich bald aufmerksam wurden. Denn sie war sehr wohl Don Carlo zur Braut versprochen, aber im Rahmen der Friedensverhandlungen mit Frankreich wurde die Heirat der 14-Jährigen mit Philipp beschlossen: Sie fand, überschattet vom nahenden Tod Heinrichs II., der sich bei einem Turnier zu den Hochzeitsfeierlichkeiten
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eine schwere Verletzung zuzog, am 2. Februar 1560 in Toledo statt. Elisabeth nahm ihre Rolle als Königin von Spanien sehr ernst, half ihrem, zu jener Zeit heiteren, Gatten bei Staatsgeschäften. Beschrieben wird sie als »intelligente, mildtätige, fromme und mitfühlende Frau«, die bald in ganz Europa Berühmtheit erlangte. In ihrer kurzen Daseinszeit veränderte sich das Gemüt Philipps, es wurde heller, fröhlicher: Als »liebevoller Ehemann« einer gescheiten Frau wird er da beschrieben, der sich sogar politischen Rat von ihr holte. Und dank Elisabeth Anwesenheit das strenge spanische Zeremoniell etwas lockern ließ. Doch auch sie sollte ein tragisches Schicksal ereilen. Elisabeth hatte fünf Schwangerschaften und dadurch jedes Mal mit großen gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Die Chroniken berichten, dass ihre erste Schwangerschaft »im Vergleich zu den folgenden harmlos« war: Im April 1560 gebar sie einen Sohn, der kurz nach der Entbindung starb. Im Mai 1564 folgt die nächste Schwangerschaft, die sich zu einer Qual für die junge Königin entwickelte und in einer Fehlgeburt endete. Schon im Frühwinter 1565 war sie wieder schwanger und brachte im Jahr darauf die Tochter Isabella Clara Eugenia zur Welt. Nach einer wieder lebensgefährlichen Geburt folgte 1566 Catalina Micaela. Zwei Jahre später, am 3. Oktober 1568, bekam sie dann in Aranjuez ein Mädchen (das ebenfalls vor dem raschen Tod die Nottaufe erhielt): eine Geburt, die zwei Monate nach dem Ableben von Carlo der Einzigen, die Philipp wohl je wirklich geliebt hatte, den Tod brachte. Kleiner Nachsatz der Geschichte: Aus politisch-dynastischen Erwägungen heiratete Philipp 1570 seine Nichte Anna von Österreich, die ihm den lang ersehnten Thronfolger, den späteren Philipp III., schenkte.
Von der Intrigantin zur unglücklich Liebenden Den Berichten zufolge soll sie zur Zeit Philipps II. eine der schönsten Frauen Spaniens gewesen sein: Ana de Mendoza y de la Cerda, Fürstin von Eboli. Das Geschöpf, das sich in sehr abgeschwächter Form in Drama und Oper Don Carlo als tragisch liebende Prinzessin Eboli wiederfindet, hatte zu Lebzeiten nicht gerade den besten Ruf. Porträts zeigen uns ein herrisch ins Gegenüber blickendes Wesen mit einer schwarzen Augenbinde. Die Tochter des peruanischen Vizekönigs – sie büßte in der Jugend bei einem Fechtkampf ihr rechtes Auge ein – wird laut Wikipedia von Zeitgenossen als »intrigant, hochmütig, herrschsüchtig, verschwenderisch, respektlos und hysterisch« charakterisiert. Vielleicht lässt man auch deshalb die Chroniken über sie verschlossen, hält man sie in den Archiven bedeckt. 1540 in Cifuentes in der spanischen Provinz Guadalajara geboren, wurde sie bereits mit zwölf Jahren mit Ruy Gómez de Silva, Fürst von Eboli, vermählt. Dem Günstling Philipps II. schenkte sie ab 1561 zehn Kinder, von T HOM AS GA BLER
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denen sechs überlebten. Später verstärkte die spanisch-portugiesische Hofdame ihre Macht, die sie über ihren Gatten zu nutzen wusste. Die »einäugige Fürstin« hatte angeblich nach dem Tod de Silvas ein Liebesverhältnis mit Philipps Staatssekretär Alonso Pérez de Guzmán, mit dem sie sich politisch engagierte, sich unter anderem gegen »die strenge Politik des Herzogs von Alba« stellte und sich in die portugiesische Erbfolge und bei den Aufständen in Flandern einmischte. Angeblich soll sie sogar Staatsgeheimnisse an Meistbietende verkauft und im Auftrag Philipps einen Mord begangen haben. Wann König Philipp die Eskapaden der »begabten Politikerin« durchschaute, ist nicht ganz geklärt. Jedenfalls wurde die »Intrigantin« Ana de Mendoza y de la Cerda 1579 in Verbindung mit dem Sturz von de Guzmán wegen Verrats angeklagt und zu lebenslangem Hausarrest verurteilt. 1592 starb sie in ihrem von außen karg und bedrohlich erscheinenden Renaissanceschloss in Pastrana, das sie sich zu Lebzeiten vom Baumeister Alonso de Covarrubias erbauen ließ. Über Marquis von Posa lässt sich nur schweigen: Er ist eine reine Kunstfigur, aber ein perfekt erdachter Idealcharakter.
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Richard Potz
HERRSCHAFT, MACHT UND GLAUBE
Die Welt Philipps II.
Nachdem er lange Zeit als der Repräsentant der »Schwarzen Legende« angesehen wurde, die den Spaniern zu Beginn der Neuzeit eine alle anderen Europäer übertreffende menschenverachtende Rücksichtslosigkeit nachsagt, wird Philipp II. (1556-1598) heute eher als eine der großen Herrscherpersönlichkeiten der europäischen Geschichte gesehen (Manfred Vasold). Die düstere Sicht Philipps traf auch für das Verhältnis zu seinem Sohn Don Carlo zu, im deutschen Sprachraum geprägt durch die Darstellung im Schiller’schen Drama. Philipp II. war allerdings nicht der einzige große Monarch im Zeitalter des Absolutismus, der ein charakteristisches »Kronprinzenproblem« hatte. Im 18. Jahrhundert ließ Peter der Große seinen Sohn Alexei zum Tode verurteilen, und der Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. konnte nur mit Mühe von der Hinrichtung seines Sohnes, dem späteren Friedrich dem Großen, abgebracht werden. Philipp scheint im Vergleich zu seinen königlichen Kollegen mit Don Carlo mehr Geduld gehabt zu haben, seine Versuche den laut Auskunft der Zeitgenossen psychisch behinderten Sohn in die Regierungsgeschäfte einzubinden, scheiterten jedoch regelmäßig. Es gehört zur Tragik der Persönlichkeit Philipps, die ihn – durch ein stark ausgeprägtes Pflichtbewusstsein gesteuert – zum unerbittlichen Richter über einen Sohn und präsumptiven Nachfolger werden ließ, der dieser Aufgabe so offensichtlich nicht gewachsen war. Philipp zeigte sich in all seinen Handlungen als die erste Verkörperung eines absoluten Monarchen. Die Grundprinzipien seiner Herrschaft finden sich auch noch bei den Herrschern des aufgeklärten Absolutismus. Immer wieder betont Philipp, dass der König für das ihm anvertraute Volk arbeiten müsse und daher die Verantwortung für Ruhe und Sicherheit, Gerechtigkeit und Ordnung alleine trage. Dazu passt seine Überzeugung, dass kein König seine Untertanen mit einer limitierten Gewalt regieren könne. Zu dieser Verantwortung gehörte es für ihn aber auch, die Einheit im wahren Glauben zu erhalten. Diese erste Phase des Absolutismus, der konfessionelle Absolutismus, ist im Spanien des 16. Jahrhunderts ohne die Erfahrung der Reconquista nicht verstehbar, in der gleichsam ein religiös fundiertes politisches und militärisches Kapital angesammelt worden war. Diesem stand nun ein globales Betätigungsfeld offen. In der Mitte des 16. Jahrhunderts, insbesondere nach dem Sieg über Frankreich 1559, stand Spanien am Höhepunkt seiner Macht. Philipp sah sich nicht nur an der Spitze der katholischen Sache, sondern zugleich als Weltgendarm, der global für Ruhe und Ordnung zu sorgen hatte. Auch in seinem persönlichen Arbeitsstil war Philipp der Prototyp des pflichtbewussten absoluten Monarchen. Sein Pflichtbewusstsein und die eiserne Disziplin wiesen in ihrer Pedanterie jedoch pathologische Züge auf. Alles, selbst die unbedeutendsten Kleinigkeiten, behielt er sich zur persönlichen Entscheidung vor, seine schriftlichen Anweisungen sind in einer unvorstellbaren Menge in Archiven erhalten geblieben. Spanien erfuhr durch 51
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die Bürokratisierung zwar eine Modernisierung, langfristig erwies sich das System jedoch als zu schwerfällig für die zentralistische Regierung eines Weltreiches. Nichts verdeutlicht den konfessionellen Absolutismus Philipps II. so sehr wie die Konzeption der Klosterresidenz Escorial. Einerseits verwirklicht sich darin der monumentale Bauwille eines neuzeitlichen, absoluten Monarchen. Andererseits ist der Grundriss der Anlage Ausdruck einer mittelalterlichen Religiosität, war er doch einem Grillrost nachgebildet – zu Ehren des auf einem solchen zu Tode gequälten Heiligen Laurentius. Philipp schrieb dem Heiligen die Hilfe für einen entscheidenden Sieg über die Franzosen an dessen Festtag zu. Dieses Bauwerk verkörpert Philipps konfessionell-absolutistischen Regierungsstil, »seinen Zentralismus, seinen Sinn für Symmetrie, für Askese und seine Frömmigkeit« (Manfred Vasold). Das Überlappen von rationalplanender, neuzeitlicher Staatlichkeit und mittelalterlichen Denkweisen macht sich auch in den so genannten »relaciones topográficas« bemerkbar. Um statistisches Material zu sammeln, wurden im ganzen Land Fragebögen ausgeteilt. In dieser Datenerhebung wurden 59 bzw. 45 Fragen gestellt, die überwiegend auch in modernen Statistikformularen zu finden sind. Bei einer Frage ist dies wohl auszuschließen: Philipp wollte auch wissen, wieviele Reliquien in den Kirchen vorhanden wären. Im Rahmen dieses frühneuzeitlichen Systems spielte auch die Spanische Inquisition eine wichtige Rolle, und zwar als staatliche Behörde. 1478 auf königlichen Wunsch vom Papst bewilligt, diente sie zunächst der Kontrolle von zum Christentum konvertierten Juden und Muslimen, denen man unterstellte, im Geheimen ihren alten Glauben weiter auszuüben. Später wurde die gnadenlose Verfolgung auf Personen ausgedehnt, die man der Sympathie für die Reformation verdächtigte. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass anders als sonst in Europa die Hexenverfolgung in Kastilien überhaupt keine Rolle spielte. Anfangs wurden die Großinquisitoren noch vom Papst bestellt, später jedoch vom König ernannt. Die Inquisition war die erste und lange Zeit neben der Krone die einzige gesamtspanische Institution, sie stellte damit für den absolutistischen Zentralismus einen effektiven Verwaltungsapparat in den Händen des Königs dar. Als staatliches Unterdrückungsinstrument war die Spanische Inquisition mit ihren als Autodafé (Glaubensakt) bezeichneten öffentlichen Hinrichtungen sozial indifferent und tendenziell sogar eher gegen die Oberschicht gerichtet. Ein bezeichnendes Licht wirft auch der Fall des Erzbischofs Bartolomé de Carranza auf das Vorgehen der Inquisition. Er war ein Vertrauensmann Karl V. in kirchenpolitischen Fragen gewesen. Auch für Philipp war er ein wichtiger Berater, weshalb er zum Erzbischof von Toledo bestellt worden war. Wegen seines Kommentars zum katholischen Katechismus protestantischer Irrtümer verdächtigt, wurde er 1559 von der Inquisition verhaftet, nach acht Jahren Haft in Spanien nach Rom ausgeliefert und nach weiteren RCH A R D POTZ
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→ Folgende Seiten: Szenenbnild mit Dan Paul Dumitrescu als Mönch und KS Ramón Vargas als Don Carlo, 2012
zehn Jahren freigesprochen. Dem kurz danach Verstorbenen setzte Papst Gregor XIII. später in Rom ein Denkmal. Philipp hat in der ganzen Zeit für seinen ehemaligen Vertrauten offenbar aus Staatsräson keinen Finger krumm gemacht. In den Niederlanden, wo unter Karl V. ein eigener Großinquisitor ernannt worden war, stieß dieses absolutistische Machtinstrument angesichts der traditionellen Autonomie der Städte und Provinzen mit ihrer eigenen Gerichtsbarkeit an seine Grenzen. Die maßvolle Politik Karls wurde von Philipp nach einigem Zögern schließlich aufgegeben. Der Aufstand des flandrischen Adels ist nur schwer eindeutig zu bewerten, er zeigt sowohl religiöse wie politische Aspekte. Die Regentin der Niederlande, Margarethe von Parma, eine Halbschwester Philipps, war überzeugt, dass die religiöse Frage nur ein Vorwand der Aufständischen war, die ihre alten Rechte gegen den spanischen Absolutismus verteidigen wollten. Einer spanischen Theologenkommission, die gutachtete, dass es angesichts der kritischen Lage in Flandern politisch nicht unverzeihlich wäre, Gewissensfreiheit zu gewähren, antwortete Philipp, er habe sie nicht versammelt, um zu erfahren, was er unter Umständen tun könne, sondern was er tun solle. Dieser konfessionelle Absolutismus bestimmte auch das Verhältnis zum Papsttum. Während seiner 42 Regierungsjahre war Philipp mit neun Päpsten und einer wechselnden päpstlichen Politik konfrontiert. Es darf schon aus diesem Grund nicht verwundern, dass er sich – wie bereits sein Vater Karl V. – als das eigentliche Haupt und den ruhenden Pol der katholischen Sache verstand und dabei auch gegen päpstliche Ansprüche wandte. Dass Philipp, der im Mai 1527 während der verheerenden Plünderung Roms (»Sacco di Roma«) durch die Truppen seines Vaters geboren worden war, die sich im Kampf gegen den mit Frankreich verbündeten Papst Klemens VII. (1523-1534) befanden, hat man prompt als böses Vorzeichen gedeutet. Als dann Papst Paul IV. (1555-1559), der die strikt antispanische Politik wieder aufnahm und zu diesem Zweck nicht nur ein Bündnis mit Frankreich, sondern sogar mit dem Osmanischen Reich eingegangen war, einen Krieg vom Zaun gebrochen hatte, standen 1557 wiederum habsburgische Truppen vor Rom. Ein zweiter »Sacco di Roma« schien sich anzubahnen, doch es kam nicht dazu, und Philipp zeigte sich in seinen Friedensbedingungen maßvoll. In dieser Auseinandersetzung hatte Paul IV., der alles andere als eine Lichtgestalt auf dem Stuhle Petri war, Philipp wegen seiner papstfeindlichen Politik als Häretiker und Schismatiker bezeichnet und, in anachronistischer Weise seine Stellung verkennend, exkommuniziert. Als mitleidloser Verfolger von Häretikern stand der Papst dem König jedoch nicht nach. Es ist bezeichnend, dass von Paul IV. und Philipp II. gleiche Äußerungen überliefert werden. Philipp soll bei einem Autodafé einem jungen Adeligen auf dessen Vorhaltungen geantwortet haben, dass er persönlich das Holz für den Scheiterhaufen herbeitragen würde, wenn sein eigener Sohn eine derartige Schandtat begangen
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Dietrich Bonhoeffer
» Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen, nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen, nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit. «
SH A K E SPEA R E
hätte. Dieser Satz wird auch von Paul IV. überliefert, der allerdings aus bekannten Gründen nicht von einem Sohn sprechen konnte, sodass dessen Vater für diese Ungeheuerlichkeit herhalten musste. Philipps Selbstverständnis musste auch Papst Pius V. (1566-1572) zur Kenntnis nehmen, der dem König 1566 zur Mäßigung gegenüber den Niederlanden riet. Philipp wies den Papst zurecht und erklärte, dass er sich lieber allen Gefahren des Krieges und allen Übeln, die daraus erwüchsen, aussetzen wollte, als die geringste Unbotmäßigkeit gegenüber dem Heiligen Stuhl zu dulden. In diesem Fall »könne man nicht auf dem Verhandlungsweg Gott dienen und den heiligen katholischen Glauben wieder einführen«. Überliefert ist in diesem Zusammenhang die wiederholte Äußerung Philipps: »Ich werde meine Haltung nicht ändern, und wenn ich die ganze Welt gegen mich hätte.« (Cesare Giardini). Die Kirchenpolitik Philipps ist in einem gesamteuropäischen Kontext zu sehen. Überall hatten sich separatistische nationalkirchliche Tendenzen breit gemacht, in Frankreich hat das gallikanische Konzept fast zum Bruch mit Rom geführt, und in England ist es tatsächlich dazu gekommen. Aber auch in Spanien hatte der Erzbischof von Toledo und spätere unerbittliche Großinquisitor und kurzfristige Reichsverwalter Jiménez de Cisneros bereits unter Isabella einen nationalkirchlichen Sonderweg ins Auge gefasst. Auch während des Konzils von Trient (1545-1563) haben die spanischen Bischöfe ihre Selbständigkeit gegenüber den päpstlichen Ansprüchen deutlich gemacht. Philipp II. hat im 16. Jahrhundert das katholische Europa verkörpert (Manfred Vasold). Einerseits hat er sich zwar Sachzwängen unterworfen gesehen, die nicht zuletzt auch in seinem unerschütterlichen Glauben wurzelten. Andererseits hat er die sich daraus ergebenden politischen Entscheidungen aus souveräner herrscherlicher Machtvollkommenheit getroffen.
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Daniel Brandenburg
VERDI UND DIE ZEIT DES Don Carlo Die Jahre nach der Uraufführung des Don Carlos im März 1867 (Académie Imperiale de Musique, Paris) und bis zur der Erstaufführung der vieraktigen italienischen Fassung im Jänner 1884 (Teatro alla Scala, Mailand) brachten Italien und Europa einige Veränderungen. Der Deutsch-Französische Krieg und die Schlacht von Sedan im Jahr 1870 ordneten das politische Machtgefüge in Europa neu und stießen Entwicklungen mit nachhaltigen Folgen an. Verdi, der sich in seinen Briefen immer wieder über die Arroganz und den künstlerischen Snobismus der Franzosen beklagte, erwies sich während des Krieges in seiner Besorgnis um die politischen Freiheiten, die Frankreich seinen Bürgern gewährte, und um das Schicksal und Wohlergehen der Hauptstadt Paris dann doch als sehr frankophil. Diese Sympathien wurden allerdings von nur wenigen seiner Landsleute geteilt. Frankreich unterstützte den Papst und konnte damit lange die Einheit Italiens verhindern, bis zur kriegerischen Auseinandersetzung mit Preußen, die zum Abzug der Schutztruppen aus Rom führte. Damit fühlten sich viele Italiener gerade dem preußischen Kanzler zu Dank verpflichtet, zumal Preußen bereits 1866 Österreich besiegt hatte, das ebenfalls über lange Zeit territoriale Ansprüche in Italien geltend gemacht hatte. Bismarck schonte Paris, und Frankreich verlor nur den Kaiser Napoleon III., Elsaß-Lothringen und einen Teil des Gesichts. Die nachfolgende schwierige wirtschaftliche Lage zwang viele Theater zur Schließung und hatte zur Folge, dass die Opernbühne als Karrieresprungbrett für junge Komponisten schlechtere Aussichten bot, als es bis dahin der Fall gewesen war. Dafür eröffnete diese neue Konstellation die Möglichkeit, dem Publikum auf breiterer Basis die Instrumentalmusik näherzubringen und damit dem öffentlichen Konzertwesen größere Resonanz zu verschaffen. Aber nicht nur Frankreich war wirtschaftlich gebeutelt, auch in Italien und Österreich machte sich die Rezession bemerkbar und forderte Einschränkungen im kulturellen Leben. 1870 starb Saverio Mercadante, der trotz seiner DA N IEL BR A N DEN BU RG
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Erblindung noch nominell Direktor des Konservatoriums in Neapel gewesen war und zu den wenigen Musikerpersönlichkeiten Italiens gehörte, die neben Verdi in Italien nationales Gewicht hatten. Er war ebenso einflussreich wie in seinen Ansichten konservativ, mit seinem Tod war der Weg frei, die musikalische Ausbildung in Italien zu reformieren und in ihren Studiengängen zu modernisieren. Verdi sollte einer entsprechenden Kommission vorsitzen und entwickelte aus diesem Anlass einige Reformgedanken, die für den Zustand der Ausbildung und der Musik im Italien der 1870er Jahre aufschlussreich sind. Mit der Einigung Italiens wurde auch der Unterhalt der Operntheater immer schwieriger. Der Staat verringerte aufgrund der angespannten wirtschaftlichen Lage seine finanzielle Unterstützung, immer mehr waren die Kommunen gefordert, die dazu aber immer weniger Geld hatten. Ironischerweise wurden jedoch gerade die Jahre zwischen 1870 und 1890 zu der großen Zeit der italienischen Grand opéra, oder Opera-ballo, wie sie in Italien genannt wurde. Ausgerechnet dieser kostenträchtigste Typ von Oper, zu dem auch Verdis Don Carlo gehört, erfreute sich in jenen Jahren größter Beliebtheit. Er forderte große Orchester und Chöre, ließ die Gagen explodieren und trug auf diese Weise sicherlich nicht zur finanziellen Konsolidierung bei. Anders als zuvor gehörten die Rechte an den Partituren nun nicht mehr den Theatern, sondern Musikverlagen, die nun einen umso härteren Konkurrenzkampf führten. Vor allem das Verlagshaus Ricordi, das seine Domäne im Teatro alla Scala in Mailand hatte, und das Verlagshaus Lucca, dessen Bühne das Teatro Comunale in Bologna war, lieferten sich erbitterte Werbeschlachten. Lucca war es zu verdanken, dass 1871 mit Lohengrin in Bologna die erfolgreiche italienische Erstaufführung einer Wagner-Oper stattfand. Zwei Jahre später wurde das Werk dann aber an der Scala erwartungsgemäß ausgepfiffen, und der angesehene italienische Musikschriftsteller Francesco Florimo wettert gegen Wagner, indem er Verdi zitierte: »Torniamo all’antico, sarà un progresso« – »Kehren wir zum Bewährten zurück, das wird ein Fortschritt sein.« Verdi hatte diesen Satz im Zusammenhang mit den Reformbestrebungen der Konservatorien geprägt, war aber nun über die Instrumentalisierung dieses Ausspruchs gegen den deutschen Kollegen peinlich berührt. Die Debatte um Wagner belebte die musikalische Szene in Italien, förderte aber auch eigentlich untalentierte Kleinstmeister wie Stefano Gobatti, der mit seiner Goten-Oper I Goti, die 1873 in Bologna ihre Uraufführung erlebte, Verdi zu einem vernichtenden Urteil über seine Fähigkeiten bewegte. Ab 1878 gab es in Florenz und Venedig keine durchgehende Saison mehr, 1880 musste das Teatro Carlo Felice in Genua schließen, während das Teatro Regio in Turin nur dank seines geschickten Intendanten und seines fähigen Chefdirigenten den Betrieb nicht einzustellen brauchte. Auch dem Mailänder Teatro alla Scala gelang es durchzuhalten, wenn auch mit größeren Schwierigkeiten. Hier waren es vor allem der umsichtige Verleger Giulio Ricordi und der Komponist und Dirigent Franco Faccio, die das Theater am Leben hielten. 59
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Schlechter erging es dem Teatro San Carlo in Neapel, das am finanziellen Abgrund stand und wohl nicht über ein so glückliches Management verfügte. Verdi sah diese Entwicklung mit allergrößter Sorge: »Unser Theater [...] ist todkrank und muss um alles auf der Welt am Leben erhalten werden. Theater, die schließen, werden nicht mehr öffnen.« Ähnlich wie in Frankreich gewannen nun auch in Italien die Konzertvereinigungen an Bedeutung, die Symphonik aus dem Norden Europas wurde in Italien bekannter, Virtuosen wie Franz Liszt und Sigismund Thalberg beeinflussten durch ihr Wirken die Instrumentalmusik. In rascher Folge wurden nun auch weitere Werke Wagners in Italien gegeben (Tannhäuser, Rienzi, Holländer), 1883 brachte Angelo Neumann den Ring in den Süden. Als 1888 der Lucca-Verlag an Ricordi verkauft wurde, muss dieses Haus nun auch ein Opernschaffen vertreiben, das es bis dahin erbittert bekämpft hatte. Trotzdem sind zwischen Aida und Otello in der italienischen Oper kaum Wagner’sche Spuren zu finden. Zu den beliebtesten Opern jener Jahre gehörten Bizets Carmen und Delibes Lakmé. Italienische Werke wie Filippo Marchettis Don Giovanni d’Austria oder Giovanni Bottesinis Ero e Leandro fanden nur wenig Verbreitung. Verdi beäugte seine Kollegen kritisch und äußerte z.B. über Alfredo Catalani, den Schöpfer von La Wally Folgendes: »Ein ausgezeichneter Musiker, auch wenn er eine übertriebene Vorstellung von der Bedeutung des Orchesters hat.« Und über Giacomo Puccini ließ er nach der Uraufführung von dessen Le villi (1884) verlauten: »Er folgt den modernen Trends, was natürlich ist, hält sich aber an die Melodie [...] Es scheint jedoch, dass das symphonische Element dominiert. [...] Da muss man aber vorsichtig sein. Oper ist Oper und Symphonie ist Symphonie.« Mit Ausnahme von Amilcare Ponchiellis La Gioconda und Arrigo Boitos Mefistofele gelang es zwischen Aida und Otello keiner italienischen Oper, sich im Ausland zu behaupten. Dies änderte sich erst mit dem explosionsartigen Erfolg von Pietro Mascagnis Cavalleria rusticana, mit dem die italienische Oper wieder die Alpen überquerte und die führenden Theater Europas füllte. Großen Anteil an dieser neuen Wendung hatte Bizets Carmen. Die Oper wurde 1880 am Teatro Bellini in Neapel gegeben, einer Bühne, die ihre Nische im komischen bzw. Semiseria-Repertoire suchte und deshalb auch einer Opéra comique gegenüber aufgeschlossen war. Carmen wurde von dort auf die großen Bühnen übernommen, veranlasste die italienischen Komponisten von der Grandiosität des Modells »Grand opéra« Abstand zu nehmen. Das Verlagshaus Sonzogno, das später maßgeblich am Erfolg Mascagnis und Leoncavallos beteiligt war, übernahm den italienischen Vertrieb der Oper Bizets. Carmen ist eine Oper über »normale« Leute und unverstellte Leidenschaften und löste mit dem Mord auf offener Bühne eine wahre Flut ähnlicher Szenen in anderen Opernwerken aus. Die damit ausgelöste Tendenz zu einem DA N IEL BR A N DEN BU RG
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größeren Realismus führte auch in der italienischen Oper zu Veränderungen, insbesondere im italienischen Libretto. Verdi wurde in der Revision von Simon Boccanegra und Don Carlos von diesen Entwicklungen nicht direkt beeinflusst, ihm war jedoch bewusst, dass er für dasselbe Publikum wie die nun ebenfalls erfolgreichen Kollegen schrieb. Beginnend mit der Bearbeitung des Don Carlos 1884 nimmt Verdi immer weniger Rücksicht auf die traditionellen Formen, egal ob französisch oder italienisch, und sucht in der musikalischen Gestaltung seiner Werke für jede Szene, jede dramatische Konstellation nach individuellen Lösungen. Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch bei Alfredo Catalani feststellen, der in seinem letzten Werk, La Wally (1890), die Befreiung von der Grand opéra endgültig vollzieht und den einzelnen Akt, nicht die einzelne Gesangsnummer, zur bestimmenden Struktureinheit dieser Komposition macht. Verdi blieb auf diese Weise also selbst in seiner späteren Phase dem Streben nach musikalisch-dramaturgischer Innovation treu. Und nicht zuletzt dank dieser ungebrochenen kreativen Gestaltungslust bedrängte man ihn noch in hohem Alter, mit Otello und Falstaff zwei neue Opern zu schreiben. Nachwachsende Komponistengenerationen hatten es schwer, aus seinem Schatten hervorzutreten, selbst wenn sie durch kluge Marketingstrategien eines Verlagshauses Sonzogno ans Licht der Öffentlichkeit katapultiert wurden. Das Feuer der Veristen währte nur kurz, lediglich zwei von ihnen, Mascagni und Leoncavallo, haben sich im Repertoire halten können. Erst mit Puccini gab es wieder einen Vertreter der glorreichen italienischen Operntradition von wirklich internationaler Statur, es wurde auch ihr letzter.
→ Folgende Seiten: KS Ramón Vargas als Don Carlo und KS Krassimira Stoyanova als Elisabeth, 2012
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V ER DI U N D DIE ZEIT DE S DON CA R LO
Fjodor Dostojewski
DER GROSSINQUISITOR ... Es war dies freilich nicht jenes Herniedersteigen, bei dem Er gemäß seiner Verheißung am Ende der Zeiten in all seiner himmlischen Herrlichkeit erscheinen wird und welches plötzlich stattfinden soll, »wie der Blitz scheinet vom Aufgang bis zum Niedergang«. Nein, es verlangte Ihn, wenn auch nur für sehr kurze Zeit, seine Kinder zu besuchen, und zwar vor allem dort, wo gerade die Scheiterhaufen der Ketzer prasselten. Nun wandelt Er in seiner unermesslichen Barmherzigkeit noch einmal unter den Menschen in eben jener Menschengestalt, in der Er fünfzehn Jahrhunderte früher dreiunddreißig Jahre unter ihnen geweilt hat. Er steigt hinab auf die heißen Straßen und Plätze der südlichen Stadt, wo erst tags zuvor in Gegenwart des Königs, des Hofes, der Ritter, der Kardinäle und der reizendsten Damen des Hofes sowie der ganzen zahlreichen Einwohnerschaft von Sevilla auf Geheiß des Kardinal-Großinquisitors in einem Zug fast hundert Ketzer ad maiorem gloriam Dei verbrannt worden sind. Er erscheint still und unauffällig, und siehe da, es geschieht etwas Seltsames. Alle erkennen Ihn. Die Volksmenge strebt mit unwiderstehlicher Gewalt zu Ihm hin, umringt Ihn, folgt Ihm. Schweigend, mit einem stillen Lächeln unendlichen Mitleids, wandelt Er unter ihnen. Die Sonne der Liebe brennt in seinem Herzen, Strahlen von Licht, Aufklärung und Kraft gehen von seinen Augen aus, ergießen sich auf die Menschen und erschüttern ihre Herzen in Gegenliebe. Er streckt die Hände nach ihnen aus und segnet sie, und von seiner Berührung, ja sogar von der Berührung seines Gewandes geht eine heilende Kraft aus. Da ruft aus der Menge ein Greis, der von seiner Kindheit an blind ist: »Herr, heile mich, damit auch ich dich schaue!« Und siehe da, es fällt ihm wie Schuppen von den Augen, und der Blinde sieht Ihn. Das Volk weint und küsst die Erde, über die Er dahinschreitet. Die Kinder streuen vor Ihm Blumen auf den Weg, singen und rufen »Hosianna! Das ist Er, das ist Er selbst! Das muss Er sein, niemand anders!« Er bleibt am Portal des Domes von Sevilla stehen, gerade in dem Augenblick, FJODOR DOSTOJ EWSK I
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wo ein offener weißer Kindersarg unter Weinen und Wehklagen hineingetragen wird; darin liegt ein siebenjähriges Mädchen, die einzige Tochter eines angesehenen Bürgers. Das tote Kind ist ganz in Blumen gebettet. »Er wird dein Kind auferwecken«, ruft man der weinenden Mutter aus der Menge zu. Ein Pater des Doms, der herauskommt, um den Sarg in Empfang zu nehmen, macht ein erstauntes Gesicht und zieht die Augenbrauen zusammen. Aber da ertönt das laute Schluchzen der Mutter des gestorbenen Kindes. Sie wirft sich Ihm zu Füßen. »Wenn du es bist, so erwecke mein Kind!« ruft sie und streckt Ihm die Hände entgegen. Der Zug bleibt stehen, der Sarg wird am Portal zu seinen Füßen niedergestellt. Er blickt voll Mitleid auf die kleine Leiche, und seine Lippen sprechen wiederum die Worte: »Talitha, kumi – Mädchen, stehe auf!« Das Mädchen erhebt sich im Sarg, setzt sich auf und schaut lächelnd mit erstaunten, weitgeöffneten Augen um sich. In den Händen hält es den Strauß weiße Rosen, mit dem es im Sarg gelegen ist. Das Volk ist starr vor Staunen, schreit und schluchzt – und siehe da, genau in diesem Augenblick geht plötzlich der Kardinal-Großinquisitor selbst über den Platz vor dem Dom. Er ist ein fast neunzigjähriger Greis, hochgewachsen und gerade, mit vertrocknetem Gesicht und eingesunkenen Augen, in denen aber noch ein schwaches Feuer glimmt. Er trägt nicht die prächtigen Kardinalsgewänder, in denen er am Vortag prunkte, als die Feinde des römischen Glaubens verbrannt wurden; nein, in diesem Augenblick trägt er nur seine alte, grobe Mönchskutte. Ihm folgen in einiger Entfernung seine finsteren Gehilfen und Knechte und die »heilige« Wache. Er bleibt vor der Menge stehen und beobachtet von fern, sieht alles: wie man Ihm den Sarg vor die Füße stellt, wie das Mädchen aufersteht. Und sein Gesicht verfinstert sich. Er zieht die dichten grauen Brauen zusammen, und ein böses Feuer funkelt in seinem Blick. Er streckt einen Finger aus und befiehlt der Wache, Ihn zu ergreifen. Und seine Macht ist so groß, das Volk ist so an Unterwürfigkeit, an den blinden, furchtsamen Gehorsam ihm gegenüber gewöhnt, dass die Menge vor den Wächtern sofort auseinanderweicht und diese in plötzlicher Grabesstille Hand an Ihn legen und Ihn fortführen können. Und augenblicklich neigt sich die Menge wie ein Mann zur Erde vor dem greisen Inquisitor, der erteilt dem Volk schweigend den Segen und geht weiter. Die Wache führt den Gefangenen in ein enges, finsteres, gewölbtes Verlies in dem alten Gebäude des Heiligen Tribunals und schließt Ihn dort ein. Der Tag vergeht, die dunkle, heiße, reglose Nacht von Sevilla bricht an. Die Luft ist voll vom Duft »nach Lorbeer und Zitronen«. In der tiefen Dunkelheit öffnet sich plötzlich die eiserne Tür des Kerkers, und der greise Großinquisitor selbst tritt mit einem Leuchter in der Hand ein. Er ist allein, hinter ihm schließt sich sogleich wieder die Tür. Er bleibt am Eingang stehen und blickt Ihn lange, ein oder zwei Minuten, an. Endlich tritt er leise näher, stellt den Leuchter auf den Tisch und sagt zu Ihm: »Bist du es? Ja!« Doch ohne eine Antwort abzuwarten, fügt er schnell hinzu: »Antworte nicht, schweig! Was solltest du auch sagen? 65
DER GROS SINQU ISITOR
Ich weiß genau, was du sagen willst. Und du hast gar kein Recht, dem etwas hinzuzufügen, was du früher schon gesagt hast. Warum bist du gekommen, uns zu stören? Denn du bist gekommen, uns zu stören, du weißt das selbst. Aber weißt du auch, was morgen geschehen wird? Ich bin nicht informiert, wer du bist, und es interessiert mich auch gar nicht, ob du Er selbst bist oder nur eine Kopie von Ihm. Schon morgen jedoch werde ich dich verurteilen und als den schlimmsten aller Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrennen, und dasselbe Volk, das heute deine Füße geküsst hat, wird morgen auf einen Wink meiner Hand herbeistürzen und Kohlen für deinen Scheiterhaufen heranschaffen. Weißt du das? Ja, du weißt es vielleicht«, fügt er ernst und nachdenklich hinzu, ohne auch nur einen Moment den Blick von seinem Gefangenen abzuwenden. »Hast du das Recht, uns auch nur eines der Geheimnisse jener Welt aufzudecken, aus der du gekommen bist?« fragt Ihn der Greis und antwortet selbst für Ihn: »Nein, ein solches Recht hast du nicht! Du darfst dem, was du früher schon gesagt hast, nichts hinzufügen, und du darfst den Menschen nicht die Freiheit nehmen, für die du so warm eingetreten bist, als du auf Erden warst. Alles, was du neu verkünden könntest, würde die Glaubensfreiheit der Menschen beeinträchtigen, da es wie ein Wunder erscheinen würde.« gekürzt aus: Die Brüder Karamasow
→ Paul Almasy, Zellentür
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DIE MACHT UND DAS PARADIES AUF ERDEN
Diskussion von Gregor Henckel-Donnersmarck und Norbert Leser 68
Welche menschlichen oder gesellschaftlichen Grundkonflikte und Lebensentwürfe sowie allgemeine moralische Fragen, die Schiller und Verdi im Schauspiel Don Karlos bzw. in der Oper Don Carlo behandeln, sind für Sie zentral und stets neu diskutierbar?
Nun, zum einen sicherlich der uralte Vater-Sohn-Konflikt, der nach Sigmund Freud sogar den Beginn der Staatlichkeit bedingte, und zum anderen der Konflikt, der für denjenigen entsteht, der nach seinem Gewissen handeln möchte und damit in Konfrontation zu Autoritäten gerät – ganz gleich, ob diese nun kirchlicher oder staatlicher Natur sind. Mich erinnert der Don Carlo an den Großinquisitor von Dostojewski, der den wiederkehrenden Christus vertreibt oder vertreiben möchte, weiters an Das Heilige Experiment von Fritz Hochwälder, in dem der Jesuitenstaat in Paraguay zugunsten der weltlichen Interessen der spanischen Krone geopfert wird, und an Reinhold Schneiders Las Casas vor Karl V. Denn in all den genannten Beispielen geht es um dasselbe Motiv – um das Problem der Macht und des Machtmissbrauchs, die Berufung auf die Macht zur vermeintlichen oder wirklichen Behebung von Schäden in der Gesellschaft, um den Widerspruch zwischen Autorität und Freiheitsstreben, den Widerspruch zwischen Macht und Geist sowie die Unmöglichkeit beziehungsweise Schwierigkeit, diesen je aufzulösen. Selbst der Demokratie, in der es ja nie so viel absolute Macht geben kann wie in anderen Staatsformen, bleibt dieser Konflikt nicht erspart. NL
Mich interessiert in der Verdi’schen Fassung des Don Carlo die konkrete Polarität zwischen der Position des Mönchs oder Karl V. einerseits und der Gestalt des Marchese Posa. Man könnte sie als weltabgewandt, respektive weltzugewandt, als kontemplativ oder aktiv, wie es bei den Orden in der Kirche heißt, bezeichnen. Es ist wichtig, dass man in der philosophischen, oder wenn Sie wollen, auch in der theologischen Schau der Welt diese beiden Lebensentwürfe nicht als Antithese sieht, sondern als zwei Brennpunkte, um die sich alles drehen muss. Es geht einerseits um die Morbidität der endlichen Welt – Gottfried Wilhelm Leibniz hätte gesagt des malum metaphysicum, in dem die Übel der Welt begründet sind – die einen natürlich zur Weltskepsis bringen könnte, und andererseits um den gestaltenden Marchese Posa, der die Welt verändern möchte. Das Christliche versucht das Gleichgewicht zwischen diesen beiden Polen zu wahren, in der Erkenntnis, dass ein Paradies auf Erden nicht möglich sein kann, aber dennoch Aktionen der Liebe zur Stillung des konkreten Übels, das einem auffällt, nötig sind. Allerdings stehen diese Aktionen daher unter keinem Erfolgszwang und sie dürfen nicht die Opferung einzelner oder ganzer Generationen beinhalten. Wenn man sich jene Position Posas, die Schiller, aber auch Verdi ihm zuschreiben, ansieht, muss man daher gemeinsam mit Sir Karl Poppers GHD
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DISK US SION
kritischem Rationalismus sagen: »Vorsicht vor jenen, die mit allen Mitteln versuchen, das Paradies auf Erden zu errichten – sie erreichen immer die Hölle«. NL
Das stimmt. Aber wenn es um die Frage der Macht an sich geht, bleibt immer ein unauflösbarer Rest, auch innerhalb der christlichen Tradition, übrig. Ist denn nun die Macht an sich wirklich böse, wie Jacob Burckhardt zum Beispiel sagt? Oder ist die Macht an sich neutral und kann nur missbraucht werden? Eines scheint auf jeden Fall sicher, dass nämlich Macht immer mit Gewaltausübung und oft mit Krieg verbunden ist und war. Das hat ja die Kirche durch die bellum-iustum-Lehre zwar einzudämmen versucht, aber in der Geschichte leider in vielen praktischen Fällen negativ belegt. Da auch im Vatikan Machtkämpfe existieren, scheint sich wirklich keine Institution von solchen Verführungen freihalten zu können. Ich stimme Ihnen zu, dass Macht Gefahr in sich birgt. Gerade darum ist es die Aufgabe großer – und bescheidener – Menschen, diese Macht in der richtigen Weise zu gebrauchen. Ich möchte ein Beispiel aus der österreichischen Geschichte anführen, nämlich Leopold Figl. Für mich gibt es kaum eine bescheidenere, demütigere politische Figur in der Vergangenheit, die aber dennoch in schwierigen Jahren entscheidend für Österreich war und unglaublich viel bewirkt hat. Ohne das jetzt monopolisieren zu wollen, ist Leopold Figl ein gutes Beispiel für einen, dessen Bescheidenheit die beste Voraussetzung für eine Machtausübung im Guten war. GHD
NL
Wenn wir schon bei historischen Persönlichkeiten sind, fällt mir jetzt Charles de Gaulle ein, gerade als ein Mann, dem die üblichen negativen Begleiterscheinungen der Macht fehlten. Seine moralische Größe und Untadeligkeit sind von allfälligen Nachfolgern nur sehr schwer zu erreichen. GHD
Ich sehe Macht überhaupt als etwas Ambivalentes an, wie vie les andere auch – etwa Sexualität, Geld, Selbstverwirklichung. Alles Dinge, die der Mensch in der Freiheit, die er aus seiner Würde hat, verschiedenartig gebrauchen kann. Karl V. und sicher auch Philipp II. haben wohl stets geglaubt, ihre Macht zum Besten der Menschen auszuüben – da waren sie sich mit vielen Herrschern ihrer Zeit einig – und haben, mit aus unserer heutigen Sicht falschen Mitteln, das, was sie für gut hielten, zu verwirklichen gesucht. Man darf nie vergessen, dass Menschen anderer Epochen, Mentalitäten, Erziehungen und Geistigkeiten andere Einstellungen hatten. Ich glaube, wie gesagt, dass der kritische Rationalismus eines Karl Popper oder eines Hans Albert einen Weg aufzeigt, der auch im Christlichen einiges neu anregen kann. Nicht Strukturveränderungen, Utopien, Visionen DISK US SION
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oder Konstrukte, von denen wir überhaupt nicht wissen, ob wir sie je erreichen, sind wichtig, sondern ein bescheiden im Kleinen bleibendes, vorsichtiges, falsifizierendes Vorantasten in die Zukunft. NL
Ich glaube dennoch, dass die Neigung zum Bösen, der Macht mehr innewohnt als anderen menschlichen Qualitäten, denn sonst wären die Prinzipien unserer Verfassung wie Gewaltenteilung nicht notwendig, wenn es nicht die ständige Versuchung der Macht durch die Korruption geben würde. Sie ist ja auch in der Kirche immer wieder ein Thema gewesen – Stichwort Simonie. Gerade die Zisterzienser haben diese und andere Verfehlungen durch Reformen auszumerzen gesucht. GHD
Herr Professor, das Ordensleben ist seiner Entstehung nach im mer ein Wollen zur Reform, aber keineswegs immer mit der Garantie des Erfolges gesegnet. Karl V. sagt in der Oper Don Carlo: »Der irdische Schmerz verfolgt uns auch im Kloster.« Ich sage aus eigener Erfahrung und mit einem Schmunzeln: Tatsächlich, wir kommen dem menschlichen Leid auch im Kloster nicht aus. Jene, die glauben, dass sie im Kloster das Paradies finden, oder glauben, sich dort in andere Menschen zu verwandeln, werden im Kloster scheitern.
Als christlicher Würdenträger hat man im Umgang mit der Macht, besonders im Neuen Testament, eine absolute moralisch-geistige Basis, an die man sich halten kann. Welche, wenn möglich absolut geltende, Richtschnur hat ein Politiker?
NL
Es gibt freilich das Naturrecht, das zur Anwendung kommen kann – obwohl ich ja eigentlich Anhänger der reinen Rechtslehre bin. Letzten Endes mündet die Frage nach dem Guten immer in einer metaphysischen und theologischen Dimension; wer das ausschließt, ist nicht nur kein guter Theologe, sondern auch kein guter Philosoph. GHD
→ Folgende Seiten: KS René Pape als Philipp II. und Eric Halfvarson als Großinquisitor, 2012
Als Christ ist für mich, wie Sie sagten, das Neue Testament wich tigste Quelle – aber auch anderes: Die Zisterzienser, Benediktiner, Trappisten, Kamaldulenser leben nach der Regel des Heiligen Benedikt. Ich darf vorlesen, welche Begriffe der Heilige Benedikt dem Abt, der letztlich im Kloster Macht und das letzte Wort hat, zuordnet: Er ist Vater, Lehrer, Erzieher, Seelsorger, Hirt, Arzt, Diener, Begleiter und auch – etwas politischer: Richter, Vorbild, Verwalter und Vorsteher, jetzt ganz spirituell: Stellvertreter Christi. Natürlich eine hoffnungslose Überforderung, aber ein Richtungsweiser. Vielleicht wäre das für Politiker auch eine Regel.
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DIE M ACH T U N D DAS PA R A DIE S AU F ER DEN
NL
Wobei es auch bei Ihnen traurige Beispiele gibt, wo Würden träger dem nicht entsprechen. Sie selber waren an der Sanierung eines solchen Beispiels von Korruption im Stift Rein beteiligt. GHD
Ich war in den 1980er Jahren dort sozusagen ein Troubleshooter, nach einer unglückseligen Situation, in der der damalige Abt wegen Misswirtschaft sogar ins Gefängnis musste. NL
Zum Glück sind das seltene Fälle.
GHD
Aber von besonderer Tragik. Denn diejenigen, die Ethik, Mo ral und das gottgefällige Leben predigen, sollten in besonderer Weise Vorbild sein. NL
Kommen wir zum Großinquisitor. Gerade sein Festhalten an überkommenen Strukturen, das ein Zusammenbrechen der als richtig geltenden Ordnung sichern soll, bringt mich zu einer Gefahr, die ich für die heutige Kirche sehe. Denn sie scheint den Fehler zu wiederholen, den sie gegenüber Luther begangen hat. Könnten manche Reformbestrebungen der Gegenwart, die nicht dogmatisch, sondern historisch bedingte Aspekte betreffen, etwa die auch vom ehemaligen Innsbrucker Diözesanbischof Reinhold Stecher vorgeschlagene Aufhebung oder Lockerung des Zölibats, nicht akzeptiert werden, ohne dass die Kirche deshalb in der Substanz Schaden erleidet? GHD Bei Luther war es mehr die Politik, die sich auf seine Anliegen draufgesetzt hat, in unserer Zeit sind es die Medien. Als Mutter Teresa einst von einem Journalisten gefragt wurde, was in der Kirche zu reformieren sei, lautete ihre Antwort: »You and me«, also »Sie und ich«. Auch in diesem Punkt geht es also um die eigene Umkehr, den Ruf ins Religiöse und nicht um die Änderung der Gesamtstruktur.
Noch einmal zurück zu den angesprochenen »falschen Mitteln«. Vielleicht sah Philipp II. die Gewalt nur als ein Mittel zum Zweck an? Vielleicht empfand er die Unterdrückung Flanderns selbst nicht als gut, aber eben als notwendiges Mittel zur Durchsetzung von für ihn positiv konnotierten Interessen. Wieweit ist das Mittel zum Zweck tolerierbar? In der Kirche, in der Politik?
NL
Bei den Jesuiten gibt es das lateinische Zitat Cum finis est lici tus, etiam media sunt licita das, je nach Übersetzung, lautet: »Wenn der Zweck gerecht ist, dann auch die Mittel«. Oder »Wenn ein guter Zweck vorhanden ist, dann gibt es auch gute Mittel.« Die Problematik solcher DISK US SION
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Sätze kann man sich – je nach Übersetzung – denken. GHD
In meiner theologischen Ausbildung hieß es, dass der Zweck nur neutrale Mittel heiligt. Ein schlechtes Mittel darf also nicht für einen guten Zweck angewendet werden. Denn damit wird sogar der gute Zweck diskreditiert. NL
Dazu möchte ich die Frage stellen, ob man verpflichtet oder be rechtigt ist, auch einem irrenden Gewissen zu folgen – wenn man den Irrtum nicht durchschaut? Handelt dann der, der ein irriges Gewissen hat, trotzdem moralisch, wenn er diesem Gewissen folgt? Das ist eine Frage, die sich in der Politik immer stellt. GHD
Auch dem irrenden Gewissen muss der Betreffende folgen. Un ter zwei Bedingungen: Erstens, dass er dies nicht als Freibrief für ein Ich-mache-was-ich-Will sieht, sondern weiß, dass Gewissensentscheidungen immer unter dem Auge Gottes erfolgen. Und zweitens, dass alle Mittel der Gewissensbildung wirklich ausgeschöpft wurden.
Die Kirche sieht das Paradies nicht auf Erden, sondern im Jenseits; was aber will eine weltliche Politik, die nicht auf ein Jenseits verweisen kann? Wird da ein erdachtes Paradies auf Erden angestrebt?
NL
Das hat man zumindest oft geglaubt, es ist aber auch oft abhanden gekommen...
GHD
Wenn man in die Welt schaut und die verschiedenen Übel da rin sieht, möchte man oftmals verzweifeln. Nun gibt es unter den vier Kardinaltugenden eine, die ein wenig im Hintergrund steht, aber neue Aktualität gewinnt: das Maßhalten. Damit ist nicht so sehr weniger trinken, weniger essen und ähnliches gemeint, sondern das Erkennen der Begrenztheit der Möglichkeiten des Menschen in der Welt und der Wille, trotzdem den nächsten klugen Schritt zu tun. Ich glaube, dass es letztlich vielen Menschen jenseits aller politischen und machthaberischen Missbräuche in der Vergangenheit und Gegenwart, gelingt, in ihrer Familie, mit Freunden und Verwandten oder im Beruf glücklich sein zu können und eine gewisse Erfüllung zu finden. Ich habe meinen Navigator im Auto so gern, er sagt: »Sie haben Ihr Ziel erreicht.« Das gibt eine bescheidene Zufriedenstellung. (lacht) Der kritische Rationalismus hat mich diese kleine Bescheidenheit gelehrt. Sich auf die kleinen Ziele des jeweils Besseren zu beschränken. NL
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Es gibt, ohne deshalb allzu philosophisch sein zu müssen, einen gewissen Relativismus, der besagt, dass alle menschlichen BeDIE M ACH T U N D DAS PA R A DIE S AU F ER DEN
strebungen letzten Endes zum Scheitern verurteilt sind.
Aber ist das als Mensch nicht zu klein gedacht? Marquis von Posa ist ja gerade darum ein Sympathieträger, weil er sehr an etwas Großes zu glauben imstande ist. Ist nicht das Spannende am Menschen diese Möglichkeit einer Vision eines Besseren?
GHD
Die christliche Position dazu lautet: Wahnsinnig an die Liebe zu glauben. Der Heilige Bernhard sagt: Das Maß der Liebe ist die Maßlosigkeit. Jetzt »widerspreche« ich sogar meiner Aussage zur Tugend des Maßhaltens von vorhin! Und wenn einer das Große, an das er glaubt, durch diese Liebe erreicht, kann er nicht durch falsche Machtausübung fehlgeleitet werden. NL
Oder sagen wir es mit Augustinus: »Liebe und tu, was du willst.« Das Gespräch führten Oliver Láng und Andreas Láng
← KS Krassimira Stoyanova als Elisabeth, 2012
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DIE M ACH T U N D DAS PA R A DIE S AU F ER DEN
DER MEISTER DER FEIN NUANCIERTEN FARBEN
Im Gespräch mit Franz Welser-Möst
Maestro Welser-Möst, am 16. Juni 2012 brachte die Wiener Staatsoper eine Neuproduktion des italienischen Don Carlo heraus. Warum fiel die Entscheidung für die vieraktige Mailänder Fassung und nicht für die fünfaktige Modena-Version?
FWM Es ist keine Frage, die Musik des in der Mailänder Fassung feh lenden Fontainebleaubildes ist wunderschön. Dennoch bin ich, wie viele Dirigenten an diesem Haus vor mir – unter anderem Herbert von Karajan – der Meinung, dass die vieraktige Fassung dennoch kompakter wirkt, der Praxis des Musiktheaters eher entspricht und vom Blickpunkt des Dramatischen her wirkungsvoller und stringenter ist als die längere Version und somit einem lebendigen Repertoiresystem, wie es die Wiener Staatsoper besitzt, besser entgegenkommt. Obendrein ist die Architektur des Stückes durch den Wegfall des ursprünglichen ersten Aktes nicht nur nicht windschief, sondern in sich ausbalancierter, einfach perfekt geworden.
Als Verdi die Mailänder Fassung schrieb, übernahm er manches aus der französischen Fassung von 1867, anderes komponierte er neu. Sind dadurch stilistische Brüche auszumachen – hier der frühere Verdi, da der alte Verdi?
FWM Nein, überhaupt nicht. Das ist ja unter anderem das Geniale an Verdi, dass er es geschafft hat, auch mit der italienischen Version von 1884 ein stilistisch einheitliches und geschlossenes Werk vorzulegen. Der Carlo ist also nicht vergleichbar mit der Pariser Fassung des Tannhäuser, in der die unterschiedlichen Entwicklungsstufen Wagners sehr wohl spürbar sind.
Merkt man im Carlo eigentlich das eine oder andere, das bereits auf Otello und Falstaff hinweist?
FWM
Ich finde, der Don Carlo steht durchaus für sich selbst. Natürlich, Sie werden in nahezu jedem Werk Dinge finden, von denen man sagen kann: »Aha, da geht es schon in diese oder jene Richtung!« Aber, dass sich aus dem Carlo schlussendlich zwangsläufig der Falstaff ergeben musste, das sehe ich nicht.
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Was sagen Sie zur Meinung Bruno Walters, nach der man ein fließendes Bächlein gesehen haben muss, um Beethovens Pastorale dirigieren zu können? Was sollte man erlebt haben, um Don Carlo zu interpretieren?
GE SPR ÄCH MIT FR A NZ W ELSER-MÖST
FWM Ich schätze Bruno Walter wirklich außerordentlich! Aber diese Meinung teile ich nicht, da sie sich rasch ad absurdum führt. Eine Sängerin braucht niemanden zu ermorden, um eine glaubwürdige Tosca geben zu können. Ich persönlich war zwar schon in San Yuste, was aber für das Dirigieren des ersten Aktes von Don Carlo letztlich unerheblich ist. Man muss nicht alles persönlich erlebt haben, es reicht, wenn man um die Dinge weiß, die Mittel kennt, die notwendig sind, um zum Beispiel eine bestimmte Atmosphäre, die Verdi in seiner Musik eingefangen hat, zu porträtieren und sie dadurch im Zuhörer entstehen zu lassen.
2012 sprachen Sie bei Ihrer Gesprächsmatinee Positionslichter über den Einfluss diverser Faktoren auf das zu wählende Tempo eines Stückes. Wie sieht es diesbezüglich, auch in Hinblick auf den Don Carlo, an der Wiener Staatsoper aus? Dirigiert man hier schneller oder langsamer als anderswo?
FWM Tempi hängen immer vom Raum, von den Sängern, von der Disposition der Sänger, von den klanglichen Möglichkeiten des Orchesters ab. Man kann hier an der Wiener Staatsoper vieles vom Klanglichen her süffiger nehmen als in einem kleinen, akustisch trockenen Haus, da dort die Gefahr sehr groß ist, dass alles sehr schnell zerbröselt – da muss man die Bögen anders spannen als hier. Jeder Phrase sollte ja, aus dem Moment heraus, eine Natürlichkeit innewohnen, die in einen größeren Zusammenhang hineinpasst. Objektiv gesagt würde ich unter den gleichen Voraussetzungen hier an der Wiener Staatsoper etwas breitere Tempi wählen als etwa an der Mailänder Scala. Aber das sind theoretische Überlegungen, weil man selbst an ein und demselben Haus bei zwei Vorstellungen des selben Stückes nie identische Voraussetzungen bekommt.
Inwieweit hat Verdi den Charakter der Handelnden im Carlo durch die Musik beschrieben? Ist etwa aus der Partitur ablesbar, dass der Großinquisitor böse ist?
FWM Verdi liebte es, mit fein nuancierten Farben zu spielen. Auch darin war er ein unnachahmlicher Meister. Den Großinquisitor etwa umgibt er mit einer trägen, dumpfen und dunklen Orchesterfarbe, sodass jeder im Zuschauerraum sofort spürt: »Da kommt etwas Unheilvolles!« Ganz anders das Klosterbild am Beginn der Oper – hier zaubert Verdi durch die Musik eine feierlich-meditative Atmosphäre herbei, im Schleierlied der Eboli wiederum findet sich spanisches Kolorit, am Beginn des dritten Aktes zeigt er hingegen die Einsamkeit Philipp II. durch das Solocello und diese bohrenden Halbtonvorschläge. Er wusste auch die Farben der unterschiedlichen Tonarten dramaturgisch klug einzusetzen. Kurzum: Das Lautmalerische ist
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bei Verdi ein ganz wesentlicher Aspekt, wobei solche Klangcharakterisierungen im Carlo nichts Neues waren, man findet sie bereits im Macbeth oder auch in der Traviata, im Rigoletto.
Der Beginn der Autodafé-Musik klingt wie ein Festmarsch. Wieso hat Verdi dieser mörderischen Veranstaltung eine so positive Atmosphäre verliehen?
FWM Abgesehen davon, dass dieser positive Charakter nicht die gan ze Zeit durchgehalten wird, gibt Verdi ja nicht seine Einstellung in dieser Musik wieder, sondern die Stimmung, die bei einem Autodafé geherrscht hat – und diese entsprach der eines öffentlichen Großereignisses. Denn was war denn ein Autodafé? Für die Massenunterhaltung organisierte öffentliche rauschende Volksfeste im fürchterlichsten Sinne des Wortes, die der menschlichen Gier nach blutiger Sensation entgegenkamen und sich in vergleichbarer Form in zahlreichen Systemen wiederfinden: in der Antike, in der Französischen Revolution, in diversen Diktaturen. Mich wundert der scheinbar positive Grundzug der Musik am Beginn des Autodafés somit gar nicht.
Die Oper heißt Don Carlo, dennoch hat gerade die Titelfigur keine nennenswerte wirklich große Arie aufzuweisen. Warum?
FWM
Die zentrale Figur in dieser Oper ist, meines Erachtens nach, König Philipp. Und auf ihn beziehen sich alle in irgendeiner Form. Sein Sohn Carlo ist genau genommen nichts anderes als ein Möchtegern ohne eine wirklich eigenständige oder gar entwickelte Persönlichkeit: Ein Möchtegern- Nachfolger, ein Möchtegern-Revolutionär, ein MöchtegernLiebhaber – ein zaudernder, leicht beeinflussbarer Mensch. Und jede andere Person der Handlung, ob Philipp, Elisabeth, Rodrigo, Eboli oder gar der Großinquisitor – alle haben mehr Eigenprofil aufzuweisen als Carlo. Das Fehlen großer Arien ist somit auch eine Form der Charakterisierung.
Wieso schrieb Verdi für diese Oper keine wirkliche Ouvertüre und nur ein kurzes Vorspiel?
FWM Die Antwort ist in seiner eigenen persönlichen musikalischen Entwicklung begründet. Man höre sich nur den Falstaff an – dort geht er ja auch sehr rasch zur Sache! Ich sehe hier übrigens eine Parallele zu Mozart, der immer kürzere Arienvorspiele schrieb, je reifer er wurde. Offenbar ist es ein Kennzeichen der Entwicklung eines Komponisten, dass er im Laufe seines Lebens immer mehr zum Kern vordringen will und auf unnötige Umschreibungen mehr und mehr verzichtet.
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DER MEIST ER DER FEIN N UA NCIERT EN FA R BEN
Joseph Haydn, Ludwig van Beethoven, Richard Wagner gelten als Erneuerer, Johann Sebastian Bach oder Wolfgang Amadeus Mozart hingegen eher weniger. Wie steht es diesbezüglich um Verdi?
FWM Der große Revolutionär innerhalb des Musiktheaters war Verdi – im Gegensatz zu Wagner – sicher nicht. Aber, ich ziehe eine weitere Parallele zu Mozart, er hatte einen enormen Theaterinstinkt und war an den Figuren der Geschichte interessiert, an den Menschen, die die Handlung tragen. Wagner hatte einen anderen Anspruch, er konzentrierte sich mehr auf den großen Kosmos, der sich bei ihm in symphonischen Formen ausdrückt, sich über den Zuschauer ergießt und diesen gewissermaßen vereinnahmt. Verdi ging es um die einzelne Person, ihre Entwicklung, ihr Verhältnis zu den anderen und die Konflikte, die sich daraus ergeben. Es gibt aber dennoch einen ganz anderen Aspekt, der bei Wagner und Verdi gleichermaßen zu finden ist: Wenn die jeweiligen Handlungen in der Zielgerade sind, enden die Opern sehr bald. Kaum ist Violetta in der Traviata tot, fällt nach 30 Sekunden der Vorhang, kaum hat der Mönch die schützende Hand über Carlo gebreitet, fällt der Vorhang.
Manche Zeitgenossen haben Verdis Musik ungerechterweise als unintellektuell verachtet. Und auch heute finden sich gelegentlich Musikliebhaber, die in dieses Horn stoßen...
FWM
Diese Ansichten waren damals, zu Lebzeiten Verdis, ebenso falsch wie heute. Er hatte kompositionstechnisch alles im kleinen Finger – man denke an die Schlussfuge im Falstaff, an die Quattro pezzi sacri. Er konnte aber auch noch etwas ganz anderes: Er wusste den Zuhörer mit seiner Musik einzufangen, zu packen. Ich erinnere mich noch gut an meinen ersten Carlo, den ich als Jugendlicher im Linzer Landestheater erlebt habe: Tagelang war ich von dieser Musik wie gefesselt. Warum? Weil Verdi eine sehr emotionale Sprache hat, eine, die dem Zuhörer direkt unter die Haut, direkt ans Herz geht. Das Gespräch führte Andreas Láng
→ Elena Zhidkova als Eboli und KS Plácido Domingo als Rodrigo, 2017
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Ein Kronos, der seine Kinder aß
Im Gespräch mit Daniele Abbado
In Don Carlo wird ein breites Spektrum an Themen abgehandelt. Zentral unter anderem die Problemstellungen rund um die VaterSohn-Beziehung. Gerade auch dieser Frage räumen Sie in Ihrer Inszenierung Raum ein.
DA Wir haben in dieser Oper gleich mehrere Vaterschaften, die the matisiert werden: Besonders augenfällig natürlich jene von Philipp II. und Don Carlo, aber man kann das auch fortsetzen und etwa an das Verhältnis Mönch und Philipp II. denken, im übertragenen Sinn ist die Beziehung von Philipp II. und dem Großinquisitor eine weitere in diesem Zusammenhang wesentliche. Giuseppe Verdi war an diesem Thema besonders interessiert, gerade ein Konflikt zwischen Vätern und Söhnen beziehungsweise zwischen Vätern und Töchtern ist ja ein Element in seinen Opern, das immer wieder von größter Bedeutung ist. Auch wenn Friedrich Schiller, der ja mit seinem Schauspiel Don Karlos die Basis für die Oper bildet, die historischen Persönlichkeiten für die Bühne stark verändert hat – seine Theaterfiguren atmen selbstverständlich ganz den Geist ihrer Entstehungszeit – und Giuseppe Verdi hat aus ihnen echte romantische Figuren gemacht hat, so ist die Geschichte zeitlos: Es geht um die Jugend, die unter dem Druck eines Vaters leidet.
Sie sprachen Karl V. an, eine Figur, die bei Schiller ja so nicht vorkommt.
DA Verdi hat sich lange mit der Figur dieses Mönchs beschäftigt. Zunächst war er dagegen, dass der Mönch Karl V. ist, er hielt das für einen Theatereffekt. Doch mit der Zeit änderte er seine Meinung, hielt es sogar für eine fantastische Theateridee. Wobei sie in der Umsetzung ja nicht gerade einfach ist... Ich möchte aber gerade den Beginn der Oper in einer engen Verbindung mit dem Ende zeigen: Es ist ein Kreislauf.
Trotz aller dunklen Seiten: Gibt es in Don Carlo letztendlich einen Funken Hoffnung?
DA Das Stück ist hoffnungslos negativ. Wir reden in Don Carlo über Opfer. Aber die Tatsache, dass letztlich eine Kraft da ist, die Philipp II. und den Großinquisitor stoppt, schwächt dieses hoffnungslos Negative ab. Interessant ist, dass, obgleich Verdi der Kirche bekanntermaßen kritisch gegenüberstand, am Ende der Oper doch das Übernatürliche als ein wichtiges Element, gewissermaßen als letztes Glied in einer Kette, ins Spiel kommt. Es sagt uns, dass es etwas Stärkeres gibt als den Großinquisitor, dass es etwas Stärkeres gibt als den schlechten Vater Philipp. Und dass es, obgleich Posa tot ist, noch Hoffnung geben kann.
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Lassen sich an Philipp II. nur schlechte Seiten ausmachen? Oder besteht die Möglichkeit, auch in dieser Figur einen Aspekt des Menschlichen zu finden?
DA Ich sehe ihn nicht nur als negative Figur. Philipp II. ist jemand, der absolut unter dem Einfluss des Großinquisitors steht. Er ist aber, in seiner Einsamkeit und seiner Schwäche, in seinem Leid und seinem Leiden, zutiefst menschlich: Sein Charakter ist durch und durch menschlich, er ist auf der Suche nach einem Freund, den er in Posa zu finden hofft. Im Grunde bleibt Philipp bei all seinem Königtum und seiner Größe ein schwacher Mann, dessen Vater-Sein und Ehemann-Sein von Unglück gekennzeichnet ist. Auf der anderen Seite ist er eine schreckliche Persönlichkeit, denn er ist dabei, seinen Sohn zu töten, heiratet die Braut seines Sohnes: fast schon ein archetypischer Charakter, der aus der antiken Sagenwelt zu uns hinüberleuchtet. Ein Kronos, der seine Kinder aß!
Dieselbe Frage in Bezug auf den Großinquisitor: Ist er eine vollkommen »schwarze«Gestalt oder lässt sich auch so etwas wie Hoffnung für ihn finden?
DA Für mich ist der Großinquisitor – eine in dieser Form letztlich literarische, theatrale Erfindung – eine politische Figur, die Kirche hatte ja – vor allem in dieser Zeit – eine große politische Kraft und setzte diese auch negativ ein: Man mordete im Namen des Glaubens und tötete sogar jede Hoffnung auf Veränderung. Besonders in Spanien, aber auch in anderen Staaten. Der Großinquisitor ist eine Figur eines Vaters, der kastriert, strenge Gesetze erlässt, gleichzeitig aber im eigenen System verhaftet ist. Ich finde, dass das Duett zwischen dem Großinquisitor und Philipp nicht nur zum Spannendsten in der Oper gehört, sondern überhaupt in der gesamten Opernliteratur. Man denkt beim Großinquisitor auch sofort an die gleichnamige Geschichte von Dostojewski, in der Christus wiederkehrt und vom Großinquisitor angegriffen wird. Kern der Aussage: Was willst du hier? Du hast Fehler gemacht, die wir nun beheben müssen.
Wie sieht der Charakter von Marquis Posa aus? Ist er ein Träumer, ein Idealist ohne Wenn und Aber oder ein Freund, wie ihn sich nicht nur Philipp und Carlo, sondern jeder wünscht?
DA Ich denke, dass Posa sicherlich eine Figur des 19. Jahrhunderts ist und von idealistischen Zielen träumt, aber er ist noch mehr. Er wird zu einer von einer Ambiguität gezeichneten Person, sobald er in das Gefüge der Macht kommt und in die Nähe von Philipp II. Darüber hinaus ist er eine sehr intelligente Figur, die auch sehr genau um die Umstände weiß,
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die ihn umgeben. Das bedeutet, dass er den spanischen Hof sehr genau kennt, nicht nur Philipp durchschaut, sondern auch den Großinquisitor. Er glaubt an eine Idee, doch ist dieser Glaube auch mit großen Freundschaftsgefühlen verbunden. Er will den jungen Thronfolger Carlo aus seiner augenblicklichen Situation herausholen und er ist überzeugt, dass Carlo nur dann lernen kann ein guter König zu werden, wenn er mit dem Leiden der Menschen konfrontiert wird, vor allem aber mit dem Leid jener Menschen, die aus politischen Gründen verfolgt werden. Keine Vaterfigur für Carlo, aber so etwas wie ein älterer Bruder, der ihn anleitet.
Lässt sich für Sie unter diesen Figuren eine Lieblingsgestalt ausmachen?
DA Nein. Natürlich ist Philipp eine Zentralgestalt, aber letzten En des finde ich sie alle wunderbar gezeichnet. Sie sind voneinander nicht zu trennen, sie sind sehr eng miteinander verbunden: Es geht um die genannten familiären Beziehungen, die politischen Beziehungen. Das zentrale Thema, das alle verbindet, ist das Thema der Macht. Ich nenne noch zwei Figuren, die ich etwas näher ausführen möchte. Eboli, ein genial gezeichneter Charakter, der immer im Zentrum von Intrigen und Liebeswirren ist: Sie liebt Carlo, sie liebt Elisabeth, sie ist die Geliebte Philipps. Don Carlo wiederum repräsentiert die Jugend, er stemmt sich gegen die Unterdrückung der Väter, ist, auch wenn er schwach ist, doch einer, der gegen die Unterdrückung kämpfen möchte.
Wie wichtig ist für Sie die historische Perspektive des Stoffes in Ihrer Inszenierung?
DA Ich sehe Don Carlo als ein zeitloses Werk an, allerdings finde ich, dass man dem Publikum einige Referenzpunkte geben muss. Es geht mir nicht darum, eine genaue historische Situation abzubilden oder Details aus der Geschichte genau nachzuvollziehen, sondern vielmehr darum, einige Bezugsmomente zu schaffen, die man etwa von berühmten Gemälden kennt. Daher ist in dieser Produktion zwar ein abstrakter Raum zu sehen, die Kostüme hingegen verweisen in eine historische Epoche. Ich möchte die Geschichte so klar wie nur möglich, mit den nötigsten Einsatzmitteln zeigen. Darin sehe ich meine Aufgabe als Regisseur, der ja ein Vermittler zwischen dem historischen Stück und dem heutigen Publikum ist.
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Haben Sie den Wunsch, das Publikum mit einem bestimmten Gefühl nach der Vorstellung nach Hause gehen zu lassen?
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DA Das ist eine Frage, über die ich noch nie nachgedacht habe. Ich fühle mich vom ersten Moment der Beschäftigung mit einem Werk bis zum Abschluss der Arbeit dem Publikum verantwortlich. Das ist das erste Ziel für mich. Diese Verantwortung schließt nicht nur ein, dass ich all das, was ich im Vorfeld über das Stück erfahren habe und was ich bei den Proben lerne, einbringe, sondern auch, dass ich die Intelligenz des Publikums nicht zur Seite schiebe und diesem zu sagen versuche: Das müsst ihr glauben! Ich vertraue den Zuschauerinnen und Zuschauern, dass sie keine Anleitung zum Erfahren einer Theater- oder Opernvorstellung brauchen. Und wenn ich mir als Zuschauer eine solche Vorstellung anschaue, dann will ich ja auch nicht, dass mir einer sagt, was ich zu denken habe. So etwas langweilt mich.
Das Gespräch führte Oliver Láng
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Impressum Giuseppe Verdi DON CARLO Spielzeit 2021/22 Wiederaufnahme (Premiere der Produktion: 16. Juni 2012)
HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Sergio Morabito, Andreas Láng, Oliver Láng Basierend auf dem Programmheft der Premiere von 2012 Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Julia Pötsch Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH, Bad Vöslau
TEXTNACHWEISE Die Handlung (revidierte Übernahme aus dem Don CarloProgrammheft der Wiener Staatsoper 2012), englische Übersetzung von Andrew Smith – Andreas Láng: Über dieses Programmbuch – Markus Siber: Wenn ein Stoff zu schaffen macht (Übernahme aus dem Don Carlo-Programmheft der Wiener Staatsoper 2012) – Andreas Láng: Don Carlo ist nicht gleich Don Carlo (Übernahme aus dem Don Carlo-Programmheft der Wiener Staatsoper 2012) - Annette Frank: Auf literarischer Suche: Don Carlo von Giuseppe Verdi (Übernahme aus dem Don Carlo-Programmheft der Wiener Staatsoper 2012) – Thomas Gabler: Ein »düsterer König« als Büchernarr (Übernahme aus dem Don Carlo-Programmheft der Wiener Staatsoper 2012) – Richard Potz: Herrschaft, Macht und Glaube (Übernahme aus dem Don Carlo-Programmheft der Wiener Staatsoper 2012) – Daniel Brandenburg: Verdi und die Zeit des Don Carlo (Übernahme aus dem Don Carlo-Programmheft der Wiener Staatsoper 2012) – Diskussion: Die Macht und das Paradies (Übernahme aus dem Don Carlo-Programmheft der Wiener Staatsoper 2012) – Franz Welser-Möst: Der Meister der fein nuancierten Farben (Übernahme des Interviews aus dem Don Carlo-Programmheft der Wiener Staatsoper 2012) – Daniele Abbado: Ein Kronos, der seine Kinder aß (Übernahme des Interviews aus dem Don Carlo-Programmheft der Wiener Staatsoper 2012)
BILDNACHWEISE Coverbild: Alessandro Mendini, Lassù, 1974 © Vitra Design Museum, Foto: Jürgen Hans Szenenbilder (Seite 2, 3, 11, 27, 32, 33, 41, 46, 47, 54, 55, 62, 63, 72, 73, 76, 83): Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH akg-images: Seite 4, 67, 88
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