Programmheft »Eugen Onegin«

Page 1

EUGEN ONEGIN Piotr I. Tschaikowski


INHALT

Die Handlung Synopsis in English Über dieses P ­ rogrammbuch Tschaikowski, der ewige Moderne → Tomáš Hanus Was er wohl heut’ für eine Rolle spielt? → Natalija Jakubova

Vom Familienleben zur Kunst → Polina Vaidman Wie war einst das Glück so nahe! → Oswald Panagl Code-Änderung → Vadim Gajewski La Melancholia → Gerd Rienäcker Von Legenden, Schneefall und langen Pausen Eugen Onegin an der Wiener Staatsoper → Andreas Láng

Leise lyrische Szenen. Zugänge zu Tschaikowskis einzigartiger Oper → Alexei Parin

4 6 9 12

18 31 38 50 62

70

78


EUGEN ONEGIN → Lyrische Szenen in 3 Akten (7 Bildern) Musik Piotr I. Tschaikowski Text vom Komponisten & Konstantin K. Schilowski nach Alexander S. Puschkin

Orchesterbesetzung Piccoloflöte, 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Pauken, Harfe, Streicher Spieldauer ca. 3 Stunden 15 Minuten inkl. einer Pause nach ca. 2 Stunden Autograph Musikmuseum Moskau Uraufführung 29. März 1879, Maly Theater Moskau Erstaufführung an der Wiener Hofoper 19. November 1897


Andrè Schuen als Eugen Onegin und Nicole Car als Tatjana



DIE HANDLUNG

1. Bild FRAU LARINA, ihre Töchter TATJANA und OLGA, die Amme FILIPJEWNA, WLADIMIR LENSKI, EUGEN ONEGIN Nachbarn, Gäste Im Haus der Larins. Der Nachbar Lenski, Olgas Bräutigam, kommt in Begleitung eines unangekündigten neuen Gastes. Sein Freund, der junge Onegin, ist kürzlich aus der Hauptstadt eingetroffen. Der Gast bringt den Alltag im Larin-Haushalt durcheinander: Niemand kann sein Interesse an ihm verbergen. Onegin äußert Zweifel an der Brautwahl seines Freundes.

2. Bild TATJANA, FILIPJEWNA

Nacht. Die Begegnung mit Onegin hat Tatjana aufgewühlt. Die Amme, die Tatjanas Aufregung spürt, versucht sie abzulenken und zu beruhigen. Alleingelassen schreibt Tatjana Onegin einen Brief. Sie sieht in ihm ihren Auserwählten. Im Morgengrauen bittet Tatjana ihre Amme, den Brief an Onegin zu überbringen.

3. Bild TATJANA, EUGEN ONEGIN

Tag. Voll Unruhe erwartet Tatjana die Antwort auf ihre Liebeserklärung. Onegin kommt. Tatjanas Aufrichtigkeit hat ihn berührt, aber er kann ihre Gefühle nicht erwidern. DIE H A N DLU NG

4


4. Bild FRAU LARINA, TATJANA, OLGA, WLADIMIR LENSKI, EUGEN ONEGIN, FILIPJEWNA, SARETSKI

Nachbarn, Gäste Tatjanas Namenstag. Lenski hat Onegin überredet, den Larins einen weiteren Besuch abzustatten. Aber Onegin fühlt sich durch alles gereizt. Er beschließt, Lenski zu verletzen, indem er demonstrativ mit Olga flirtet. Die Bereitwilligkeit, mit der Olga auf Onegins Avancen eingeht, peinigt Lenski. Er bricht mit Onegin einen Streit vom Zaun und fordert ihn zum Duell.

5. Bild WLADIMIR LENSKI, EUGEN ONEGIN, SARETSKI, OLGA, FRAU LARINA, FILIPJEWNA, GUILLOT

Nachbarn, Gäste Morgen. Lenski erwartet Onegin. Er denkt mit Wehmut und Schmerz über sein Leben nach. Der sich verspätende Onegin möchte eine weitere Eskalation abwenden. Die ehemaligen Freunde haben das Gefühl, sich verrannt zu haben. Aber es ist zu spät, eine Rücknahme ist unmöglich. Ein Schuss fällt, Lenski bricht tot zusammen.

———— 6. Bild EUGEN ONEGIN, TATJANA, FÜRST GREMIN

Gäste Mehrere Jahre später. Nach langer Abwesenheit kehrt Onegin ins hauptstädtische Leben zurück und begegnet dort Tatjana. Sie ist verheiratet und steht im Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit. Onegin ist schockiert über seine Ablehnung. Die Verwandlung Tatjanas und ihre Unerreichbarkeit wecken in Onegin eine rasende Leidenschaft.

7. Bild TATJANA, EUGEN ONEGIN

Onegin gelingt es, ein Treffen mit Tatjana zu erzwingen. Aus seinen Worten klingen Reue und Bedauern. Er fordert Erwiderung seiner Leidenschaft und entreißt Tatjana das Eingeständnis, dass sie ihn immer noch liebt. Aber ihre Entscheidung, bei ihrem Ehemann zu bleiben, ist unwiderruflich. Onegin verzweifelt. 5

DIE H A N DLU NG


Synopsis

Scene 1 MADAME LARINA, her daughters TATIANA and OLGA, the nurse FILIPPYEVNA, VLADIMIR LENSKY, EUGENE ONEGIN Neighbours, guests The Larins’ home. Lensky, a neighbor of the Larins and Olga’s bridegroom, unexpectedly brings his friend Onegin, recently arrived from the capital, to visit them. The unknown guest causes a kerfuffle in the dailyroutine of the Larin household: No one hides their interest in him. Onegin doubts in the wisdom of his friend’s choice. The meeting with Onegin has made a deep impression on Tatiana.

Scene 2 TATIANA, the nurse FILIPPYEVNA

Noticing Tatiana’s agitation, her nurse tries to distract her and calm her down. Left alone, Tatiana writes a letter to Onegin. She sees him as her chosen one. At dawn, Tatiana asks her nurse to deliver the letter to Onegin.

Scene 3 TATIANA, EUGENE ONEGIN Day-time. Tatiana anxiously awaits an answer to her declaration of love. Onegin arrives. He is touched by Tatiana’s sincerity, but cannot reciprocate her feelings.

SY NOPSIS

6


Scene 4 MADAME LARINA, TATIANA, OLGA, VLADIMIR LENSKY, EUGENE ONEGIN, FILIPPYEVNA, ZARETSKY

Neighbors, guests Tatiana’s Name-day. Lensky has persuaded Onegin to pay another visit to the ­Larins. But he is irritated by everything. Deciding to punish Lensky for bringing him, he demonstratively flirts with Olga. Olga’s prompt response to Onegin’s a­ dvances, ­afflicts Lensky. He picks a quarrel with Onegin and challenges him to a duel.

Scene 5 VLADIMIR LENSKY, EUGENE ONEGIN, ZARETSKY, OLGA, MADAME LARINA, FILIPPYEVNA, GUILLOT

Neighbors, guests Morning. Lensky awaits Onegin. He thinks with pain and anguish about his life. Onegin, who arrives late, is reluctant to take the conflict to its conclusion. Both men feel privately that they have acted rashly. But it is too late, there is no going back. A shot is fired, Lensky is fatally wounded.

———— Scene 6 EUGENE ONEGIN, TATIANA, PRINCE GREMIN

Guests Several years later. After a long absence, Onegin has returned to life in the capital and meets Tatiana. She is married and social life in the capital now revolves round her. Onegin is shocked at his refusal. The transformation in Tatiana and the fact she is now out of reach arouse mad passion in Onegin.

Scene 7 TATIANA, EUGENE ONEGIN Onegin manages to obtain a meeting with Tatiana. His words ring with repentance and regret. Demanding that his passion be reciprocated, he extorts from Tatiana the admission that she still loves him. But her decision to stay with her husband is final. Onegin is distraught.

7

SY NOPSIS



ÜBER DIESES ­ ROGRAMMBUCH P

← Nicole Car als Tatjana

9

Alexander Puschkins 1831 erschienener Versroman Eugen Onegin, an dem sich die musikalische Phantasie Tschaikowskis entzündete, stellt eine meisterhafte Schilderung das Leben der damaligen Gesellschaft in seiner ganzen Vielfalt dar und ging als »Enzyklopädie des russischen Lebens« in die Kulturgeschichte ein. Mit seinem Titelhelden gestaltete Puschkin erstmals den ­später sogenannten »überflüssigen Menschen«, einen wiederkehrenden Archetyp der neueren russischen Literatur. Auszüge aus dem Versroman (in der scharfzüngigen Übersetzung von Theodor Commichau) ziehen sich als roter Faden durch dieses Programmbuch. Sie verdeutlichen die gesteigerte Emphase, die Tschaikowskis in seinen 1879 uraufgeführten »Lyrische Szenen« den Figuren zuteilwerden lässt, und stellen zugleich einen wichtigen Bezugspunkt auch für die Inszenierung Dmitri Tcherniakovs dar. Über die zeitlose Modernität von Tschaikowskis Figurenzeichnung und den Unterschied zwischen Traditionsbewusstsein und Routine reflektiert der Premierendirigent Tomáš Hanus auf den folgenden Seiten. Insbesondere in Russland ist das Verhältnis zur langen Aufführungstradition ein komplexes, das von der Regie vielschichtig reflektiert wird. Die Theaterwissenschaftlerin Natalija Jakubova war bei der Premiere der 2006 in Moskau entstandenen Produktion dabei und beschreibt die Inszenierung und ihre kulturellen Verweise ab S. 18. Der Inszenierungsgeschichte und den Aufführungstraditionen in Wien und in Russland folgen Andreas Láng ab S. 70 und Alexei Parin ab S. 78. Dass Tschaikowskis Sympathien weitaus mehr Tatjana als Onegin gelten, steht außer Frage. Die Musikwissenschaftlerin Polina Vaidmann hat biographische Motivationen dafür in seiner Familiengeschichte gefunden (S. 31). Vadim Gajewski erläutert ab S. 50, wie die Oper entstand, welche Innovation sie darstellte und worin ihre Nähe zu den Dramen Tschechows liegt. Interpretatorischen Fragen stellen sich der Dramaturg Oswald Panagl und der Musikwissenschaftler Gerd Rienäcker: Während Panagl insbesondere den in ein »Niemandsland zwischen Happy End und aristotelischer Katharsis« fallenden Schluss befragt (S. 38), analysiert ­Rienäcker die Melancholie, die bereits in den allerersten Takten aufscheint und die gesamte Partitur durchzieht (S. 62). Ü BER DIE SE S ­P ROGR A M MBUCH


Sie hieß Tatjana … Solcherweise Bin ich’s zuerst, der unverzagt Euch diesen Namen niedrer Kreise Gar im Roman zu bieten wagt. Warum auch nicht? Er klingt poetisch, Obschon, ich weiß es, zart ästhetisch Geschulten Ohren sehr trivial. Kurzum: Tatjana hieß sie eben. Mit jener frischen Wangenpracht, Der Schönheit und dem quicken Leben Der Schwester war sie nicht bedacht.

10


Schwermütig, wortkarg, ernst und eigen, Scheu wie ein Reh im Waldesschweigen Erschien sie im Familienkreis Wie ein verpflanztes, fremdes Reis. Den Eltern zärtlich anzuhängen Verstand sie nicht; als Kind sogar Vermied sie schon, sich in die Schar Der Spielgenossen einzumengen, Und hockte lieber ganz allein Am Fenster, um für sich zu sein. → 2. Kapitel, 24 & 25

11


Tomáš Hanus

TSCHAIKOWSKI, DER EWIGE MODERNE


Natürlich: Wir könnten analysieren. Wir könnten untersuchen und das Werk in seine kleinsten Bestandteile zerlegen. Es durchleuchten und anhand von zahlreichen Einzelaspekten (wie zum Beispiel Atmosphäre, Form, Harmonik, Melodik, Phrasierung) zu ergründen versuchen, was denn das »Russische« an Eugen Onegin sei. Ob es überhaupt da ist? Wenn ja, in welcher Hinsicht? In welchem Ausmaß? Und wahrscheinlich hätten wir am Ende ein komplexes, spannendes Ergebnis. Nur: Was wüssten wir dann? Wüssten wir wirklich mehr? Ich persönlich glaube, dass ein solcher oder ähnlicher Einzelaspekt letztendlich keine große Aussagekraft hat, wenn es darum geht, etwas wirklich Grundlegendes über ein Werk wie Eugen Onegin oder gar Tschaikowski auszusagen. Denn was mich stets aufs Neue fasziniert ist die Tatsache, dass der Komponist kraft seiner Genialität solche Fragen einfach beiseitegeschoben und mit Werken wie Eugen Onegin Originale geschaffen hat, die Grenzen sprengen. Nationale wie interpretatorische. Auch zeitliche, übrigens: Es ist faszinierend, welche Modernität diese Oper in sich trägt, sie spricht heute, im 21. Jahrhundert auf Augenhöhe mit uns, ganz aus dem Jetzt. Tatjana, Onegin, Olga, Lenski, sie alle sind keine fernen historischen Charaktere, sondern ihre Fragen ans Leben sind auch unsere Fragen. Onegin ist demnach keine Konserve mit schönen Melodien, die wir alle kennen und in die wir gerne hineingreifen. Nein, diese Oper hat ihr eigenes, immer aktuelles Leben und muss demnach aus dem jeweiligen Heute verstanden und verhandelt werden. Und hier kommen wir zu einem Paradoxon: Obwohl Eugen Onegin unmittelbar heutig ist, hat die Oper doch auch eine Ebene der Geschichtlichkeit. Die man beachten muss, die jedoch Tücken hat. Denn schnell wird aus der erworbenen und wichtigen Tradition eine falsch verstandene, eine routinierte, eine, der man aus Bequemlichkeit unreflektiert huldigt. Diese Haltung drückt sich in dem ominösen Ausdruck »Man« aus, ein bequemer Schutzwall gegen einen neugierig forschenden Geist. Wir alle kennen das, dieses betuliche »Man«, das an interpretatorischen Weggabelungen und in Diskussionen immer wieder vorgebracht wird: »Man hat das schon immer so gemacht«, oder »Man macht das hier so«. Wer dieser »Man« ist, das weiß aber keiner so genau. Zweifellos gibt es Aufführungstraditionen, doch sind sie nicht dazu da, sich auszuruhen, sondern sie müssen befragt und immer wieder auch in Frage gestellt werden. Und damit bin ich erneut bei der Persönlichkeit des Komponisten, die sich im Werk abbildet: Die Hervorbringung dieser, jenseits aller Tradition, ist die wahre Aufgabe der Künstlerinnen und Künstler. Natürlich meine ich hier nicht die menschliche, sondern den weiter gefassten Ausdruck seiner künstlerischen Persönlichkeit. Um diese zu verstehen, ist ein Musiker freilich gut beraten, ein wenig über den Tellerrand zu blicken und zu interpretierende Werke in Tschaikowskis Schaffenskontext zu sehen. Ein Beispiel: Ohne dass er sich selbst bestohlen hätte, ist doch seine vierte Symphonie, die in einer zeitlichen Nähe zu Eugen Onegin entstanden ist, stark 13

TOM ÁŠ H A N US


mit der Oper verbunden. Im dem Sinne, dass beide Werke eine innere und äußere Welt bzw. entsprechende Lebensumstände nachzeichnen, in denen der Komponist damals lebte. Hört man sie, so kommt man dem auf die Spur, was Tschaikowski damals seelisch umtrieb, sie sind also Ausdruck seiner Geistes- und Lebenswirklichkeit. Zum Beispiel zeigt die Intimität des langsamen Satzes der »Vierten« eine Melodienwelt, die den Zustand Tatjanas sehr gut widerspiegelt beziehungsweise kommentiert – und gleichzeitig auch auf Tschaikowskis Einsamkeit zu beziehen ist. Überhaupt: Der ganzen vierten Symphonie ist eine Verweigerung des einfachen Triumphes zu diagnostizieren. Und ist es nicht auch das, was Tschaikowski uns in Eugen Onegin erzählt? Zu dieser Auseinandersetzung mit der Tradition gehört auch die Frage nach der Sprache. In Wien hat sich Gustav Mahler, wie schon zuvor in Hamburg, sehr für Eugen Onegin eingesetzt und die Oper zur Erstaufführung gebracht, natürlich, wie damals üblich, auf Deutsch. Und es hat an diesem Haus tatsächlich bis 1988 gedauert, bis Eugen Onegin erstmals in der Originalsprache, also russisch, gesungen wurde. Das ist nicht ungewöhnlich, wird ja Eugen Onegin bis heute an manchen Theatern nach wie vor in der jeweiligen Landessprache gegeben. Da Tschaikowski aber – bewusst und unbewusst – aus der Sprachfarbe des originalen Librettos wie auch aus dem Russischen an sich schöpfte, sind musikalisches und sprachliches Idiom eng verwandt: die Sprache bedingte also Melodik, Klangfarbe, Phrasierung und Mikro­ dynamik. Insofern kann man die Oper also nicht einfach von ihrer originalen Sprache abkoppeln und in ein diesbezüglich fremdes Terrain überführen, ohne dass sie an innerer Geschlossenheit verlöre. Müsste ich Eugen Onegin ein Schlüsselwort zuschreiben, dann lautete es Intimität. Es ist kein Wunder, dass Tschaikowski als Werkbezeichnung »Lyrische Szenen« und nicht »Oper« wählte und uns damit eine Fährte legte, wie wir dieses Werk zu lesen haben: behutsam, sensibel, mit einem präzisen Blick. Denn bekanntermaßen wurde Eugen Onegin ja nicht in einem großen, repräsentativen Opernhaus uraufgeführt, sondern an einem kleinen Theater, mit Studenten des Konservatoriums. Wobei es gar nicht um Raumgrößen, sondern um den entsprechend differenziert, feinkörnig gestalteten Ausdruck geht: Wir können also mit einem größeren Ensemble in einem großen Haus arbeiten, solang es uns gelingt, eine intime Stimmung erzeugen. Keine großen Gesten, also, sondern feine Charakterzeichnungen der Figuren, der Atmosphäre und der inneren Vorgänge. Tschaikowski lässt uns Interpreten diesbezüglich großen Spielraum, denn im Gegensatz zu anderen Komponisten wie etwa Giacomo Puccini oder ­Richard Strauss setzte er dynamische Anweisungen in der Partitur sehr sparsam ein – übrigens eine Eigenheit vieler slawischer Komponisten, wie mir scheint. Während ein Strauss, um bei diesem Beispiel zu bleiben, innerhalb von beliebig gewählten 30 Takten zahlreiche Anweisungen gibt, schreibt TOM ÁŠ H A N US

14


Tschaikowski auf gleicher Länge oft nur eine einzige. Das heißt aber nicht, dass 30 Takte lang kein Wechsel der Lautstärke, des Ausdrucks oder des Tempos stattfinden soll, sondern nur, dass der jeweilige Interpret hier selbständig, wenn auch natürlich im Sinne des Komponisten, agieren muss. Es bedeutet auch, dass sich der Ausführende ganz in die Geisteswelt des Werks und ihrer Autoren versenken muss, um herauszufinden, wie er zu differenzieren und interpretieren hat. Mitunter werden sich sogar mehrere, unterschiedliche Wege anbieten, mehrere gangbare wohlgemerkt. Um hier eine Entscheidung zu treffen, braucht es nicht nur Erfahrung, sondern auch ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen – wie auch spontanen Gestaltungswillen!

15

TSCH A IKOWSK I, DER EW IGE MODER N E


Eugens Gefühl war bald erstorben, Die bunte Welt erschien ihm leer; Und, die er sonst so heiß umworben, Die Schönen reizten ihn nicht mehr: Er war es satt, genarrt zu werden. Auch Freundschaft schuf ihm nun Beschwerden, Denn ewig konnte man doch nicht Zum Beefsteak oder Nachgericht Champagner durch die Kehle jagen, Und auf Verlangen obendrein Mit schwerem Kopf noch geistreich sein; Ja, sonst bereit, sich gleich zu schlagen, Selbst Ehrenhändel ließ er nun, So Degen wie Pistole, ruhn.


Ein Leiden, welches aufzuklären, Obschon verwandt mit Englands Spleen, Die Ärzte längst verpflichtet wären, Kurz: Russlands Trübsinn hatte ihn Seitdem bedenklich in den Krallen. Sich aber einfach totzuknallen, Das, Gott sei Dank, missfiel ihm just; Nur schwand ihm jede Lebenslust. Und nun erschien er auf den Festen Gleich Ritter Harold eisig stumm Und blieb für Tanz und Spiel ringsum, Für holde Seufzer, zarte Gesten, Skandalgeschichten, Spott, Bonmots Vollkommen kalt und teilnahmslos. → Kapitel 1, 36–38


Natalija Jakubova über die Moskauer Premiere von Dmitri Tcherniakovs Eugen Onegin

WAS ER WOHL HEUT’ FÜR EINE ROLLE SPIELT? Noch immer mit demselben Sparren Wie früher? Oder abgekühlt? Was dünkt Sie, was er uns zum Narren Wohl heut für eine Rolle spielt? 1


Vermutlich hat sich jeder Theaterfreund auf dem Weg zur Onegin-Neuinszenierung am Bolschoi im September 2006 diese Fragen so oder so ähnlich gestellt. Unabhängig davon, dass dem »ins sechsunddreißigste Jahr vorgerückten« 2 Dmitri Tcherniakov bereits bedeutende Anerkennung und zahlreiche Auszeichnungen zuteilwurden, stellt eine Neuinszenierung dieses Werks an diesem Haus für jeden Regisseur einen Prüfstein dar. Von Tcherniakov durfte man sich mehr als nur eine interessante Aufführung, nämlich eine szenische Neudeutung erwarten. Wird er die Oper in ein neues Milieu versetzen, das in nichts mehr an die kanonische Bolschoi-Inszenierung erinnert? Oder spielt er ein ironisch-nostalgisches Spiel mit der Tradition? Tcherniakov waren beide Möglichkeiten zuzutrauen. Was er uns zeigte, erwies sich als deutlich komplexer als jede dieser beiden Annahmen. Eine originelle Raumlösung liegt vor, doch diese ist dem Kanon sowohl ähnlich als unähnlich. Ein ironisch-nostalgisches Spiel findet statt und findet doch nicht statt. Fast die gesamte Handlung entfaltet sich in nur einem Bühnenbild: Ein großer, in sanftem beige gehaltener Speisesaal mit hohen Fenstern im ersten Teil, der sich für den zweiten Teil zu einem in kaiserlichem Purpur und blendendem Weiß ausgestatteten, nun fensterlosen Raum verwandelt. Das heißt: Kein Garten, in dem die alte Larina Obst einkochen könnte, keine Allee, in der Onegin seine Worte »Welche Rosen wird eine Ehe uns bereiten?« an Tatjana adressieren, kein Schnee, in den ein Lenski »mit schulterlangen Locken«3 stürzen könnte. Nicht einmal Tatjanas kleines, stickiges Zimmer, in dem sie den Brief schreibt, nicht die »eigenen Wände« ihres Petersburger Hauses, das als Allerheiligstes die Standhaftigkeit der Fürstin Gremin stärken könnte: »Ich bin einem anderen gegeben und ewig bleibe ich ihm treu!« Keine wirbelnden Paare beim Fest im Hause Larin und kein mondäner Petersburger Ball. Was es gibt ist ein fast die ganze Szenenbreite einnehmender, leicht schräggestellter langer Tisch, der die gesamte Mise en scène strukturiert. Dieser Minimalismus nötigt die Zuschauer, dem Regisseur Virtuosentricks zu unterstellen (Aber im nächsten Bild wird es sicher keinen Tisch mehr geben? Und wenn doch, wie wird er damit umgehen?), aber der Regisseur unterläuft alle diese Vermutungen. Und auf paradoxe Weise ist dennoch die ganze Atmosphäre eines adligen Landguts da (mit Anklängen an die verschiedenartigsten »Generals-Datschen« der folgenden Epochen), und später auch die ganze »Flitter-Maskerade«, »der Glanz, der Lärm, der Rausch« 4, die im Petersburger Finale verlangt sind. Wenn wir annehmen können, dass es heute gesellschaftliche Kreise gibt, die sich nach dem Vorbild des russischen Landadels stilisieren, dann kann auch Onegin »im Hier und Jetzt« geschehen. Wir sind eingeladen, diese Oper nicht als einer fernen, abgeschlossenen, auf ewig verflossenen Zeit angehörig zu betrachten, die sich darüber erhitzen konnte, dass eine junge Frau (!), einem jungen Mann (!) ihre Liebe (!) in einem Brief gesteht (!), der, statt ihr 19

NATA LIJA JA K U BOVA


Vertrauen zu missbrauchen, ihr empfiehlt »zu lernen, sich selbst zu beherrschen«. Diese Welt wird von den gleichen, uns allzu vertrauten Leidenschaften bewegt, wie die unsere. Hier singen die Larin-Schwestern ihr einleitendes Lied »Habt ihr gehört?« nicht etwa – wie die Musikliteratur annimmt – aus dem Drang, mit der russischen Natur zu verschmelzen, sondern weil Frau Mama vor den Gästen unbedingt mit ihnen glänzen will. Diese Mama stimmt ihr »Sie singen – auch ich sang einst« nicht an, um sich treuherzig über ihre entschwundene Jugend zu betrüben, sondern weil sie die angenehme Versicherung »Sie waren jung, damals!« nicht oft genug hören kann. Bauern treten keine auf, Schlichtheit ist hier modische Attitüde: Die Volksweise »Es schmerzen meine raschen Füße« wird von der Tischgemeinschaft der gesättigten, gepflegten Gästeschar intoniert. Wenn eine Modernisierung stattfindet, dann insofern, als wir daran gehindert sind, Onegin in ehrfürchtiger Unschuld als »Legende aus der Tiefe der alten Zeit« 5 aufzufassen, denn dieser Onegin ist natürlich ein Zeitgenosse Tcherniakovs. Doch in Bezug auf Puschkin – und erst recht auf die Zeitgenossen Tschaikowskis – stellt der Sarkasmus, mit der hier die vielgestaltige »Rührung« über die patriarchale russische Kultur ironisiert wird, keinen Anachronismus dar. Alle Elemente der Inszenierung, die traditionellen wie die zeitgenössischen, dienen der Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit dessen, was in und mit dieser jungen Frau geschieht. Um die eigentliche Offenbarung dieser Inszenierung des Postmodernisten Tcherniakov zu beschreiben, muss man sich der Ebene der Figurenzeichnung zuwenden. Am einen Ende des langen Speisetischs sitzt Tatjana, am anderen Onegin. Er hat diesen Saal kaum betreten und hat sich schon gesetzt, ohne dass ihm bewusst ist, dass er damit eine räumliche Metapher für jene Entfremdung des Ehelebens geschaffen hat, die er Tatjana gleich prophezeien wird: Vereint am selben Familientisch, an dem sie beide den Vorsitz innehaben, doch zwischen ihnen – eine unendliche Leere. Auf seinen Teller starrend doziert er über den Ehestand und über »Hymenäus« … Mein Gott, doch nicht davon hat sie ihm geschrieben! Nicht darauf zielte ihr kaum verklungener Ruf nach »dunkler Seligkeit«! Er unterstellt ihr irgendwelche »Vollkommenheiten«. Keine »Vollkommenheiten«, sondern ihre »verrückte Leidenschaft« hatte sie ihm angetragen. Doch darauf erhält sie von Onegin überhaupt keine Antwort, es bleibt abgedrängt in den Bereich des Unschicklichen. Das »zauberhafte Gift des Begehrens« wird Tatjana von jetzt an von innen verzehren. Beim Verfolgen dieser Szene, in der Onegin unbewusst die Richtigkeit seiner Prophezeiung bestätigt – da ist er, der genervte Ehemann, der von seiner hohen Berufung schwärmt, von der seine Frau ihn natürlich nur abhält –, möchte man ständig sagen: »Ja, stimmt! Genauso ist es!« Als ob alles zum ersten Mal an den richtigen Platz gerückt ist: seine abgezirkelten musikalischen Phrasen, seine sogenannte »edle Zurückhaltung«, die Leidenschaftslosigkeit des Dandys. Und zugleich: die unendliche Leere. WAS ER WOHL HEU T ’ F Ü R EIN E ROLLE SPIELT ?

Bogdan Volkov als Lenski, Andrè Schuen als Onegin, Mitglieder des Slowakischen Philharmonischen Chors. →

20



Halt, hier muss ich unterbrechen. Ist das tatsächlich noch Tschaikowskis Musik? Die traditionelle musikalische Interpretation ist in Tcherniakovs Aufführung nicht nur eine Gegebenheit, auf die zu reagieren er gezwungen ist. Wir hören nicht einfach die Musik Tschaikowskis, wir hören die Musik Tschaikowskis, wie sie im Bolschoi interpretiert wird, wir hören einen Referenzwert der nationalen Kultur. Und diese Referenz verdient, anhand ihrer die zahllosen Illusionen und Selbsttäuschungen unserer Kultur zu analysieren. Ich selbst habe an einen andern Onegin geglaubt, an einen romantischen, ungestümen, »echten« und nicht parodistischen Childe Harold 6. Ich glaubte, und ich glaube bis heute, dass das »Doch ich bin für die Vollkommenheit nicht geschaffen« dämonisch gesungen werden kann, wodurch sich Onegins Predigt in eine Beichte verwandelt, die sich auf den Horizont existentialistischer Verweigerung öffnet. Und wodurch Onegin natürlich zur Hauptfigur der Oper wird. Tcherniakov kehrt zur ursprünglichen Auffassung der »Lyrischen Szenen« zurück, denen Tschaikowski eigentlich lieber den Titel Tatjana Larina gegeben hätte. Hier singt Olga ihr vermeintlich sorgloses »Ich bin nicht fähig zu dunkler Schwermut« mit wachsender innerer Wut, als wolle sie der Schwester beweisen, dass auch sie sich zu einer romantischen Heroine stilisieren könnte, aber es vorzieht, die Kontrolle über sich nicht zu verlieren. Am Ende ist sie trotzdem den Tränen nahe und muss ihr Gesicht in den Händen verbergen. Hier wird Lenskis Dichterworten nicht mit Andacht gelauscht, sondern bestenfalls mit spöttischer Herablassung. Sich seinem Drängen entziehend, wendet sich Olga den Gästen entlang des Tisches zu und bittet für seine Verstiegenheit wortlos um Verzeihung, was diese mit verständnisvollem Lächeln gewähren. Tcherniakov tritt in die polemische Auseinandersetzung von Deutungen ein, die den Helden entweder durch Rückgriff auf den Roman oder durch seine hemmungslose Romantisierung enträtseln wollen. Tcherniakovs zahllose ironischen à parts sind äußerst nah an Puschkin und dennoch sind alle seine Figuren anders als jene des Romans. Lenski – nach Tatjana übrigens der zweite Anwärter Tschaikowskis auf die »Titelheldenschaft« seiner »Lyrischen Szenen« – wurde vom Romanautor ironisch gezeichnet. In der Inszenierung denunziert der Spott, dem er ausgesetzt ist, aber nicht ihn, sondern die satte, selbstgefällige Gesellschaft. Und es bleibt unerklärt, wie ein so direkter und aufrichtiger Lenski in diese Gesellschaft geraten konnte. Lenski bemüht sich darum, ein russischer Dichter zu werden. Er glaubt, wenn er Verse schreibt, in diese Hochkultur eintreten zu können. Aber die »Hochkultur« will schon lange keine Gedichte mehr hören. Nun gut, zum Dessert vielleicht, wenn es Eis gibt und man sich den Mund mit der Serviette abtupfen kann. Die Darsteller werden zu Inkarnationen der Sättigung und Selbstgenügsamkeit. Zu Beginn des Balls bei den Larins wird einer der vollgefressenen Gäste mit dem Rücken zum Zuschauerraum ans Proszenium gesetzt, wobei NATA LIJA JA K U BOVA

22


man ihm die Hände hinter der Stuhllehne zusammenlegt. Und in diesem unzurechnungsfähigen Zustand bleibt er sitzen. Diese Körperhaltung – Bauch stolz nach vorn, Hände zurück (so lässt sich der Bauch leichter steuern) – gibt die Bewegungen auch der übrigen, vergleichsweise nüchternen Gästeschar vor: vor guter Laune berstend, selbstzufrieden und nur auf einen Vorwand lauernd, um in prustendes (dabei hochmusikalisch gesetztes) Gelächter auszubrechen. Lenksi will den Eifersüchtigen spielen: Gelächter. Lenski hat Triquet seine Couplets abgenommen, offensichtlich will er uns demonstrieren, dass wir ihn als Narren behandeln: Gelächter. Lenski hat Onegin zum Duell gefordert: Gelächter. Dieser junge Mensch verhält sich unangemessen. Nichts für ungut: Ein grüner Junge, der sich in Rage steigert. Warten wir ab, was noch geschieht. Onegin erweist sich als Fleisch vom Fleische dieser gackernden Herde. Diese ist es, die ihn dazu inspiriert, den anmaßenden Jüngling zu reizen, es sind die Zeichen ihrer Zustimmung, auf die er schielt. Übrigens war seine innere Zugehörigkeit zur Gesellschaft – die viel stärker ist als sein Abgrenzungsbedürfnis – bereits in der ersten Szene sichtbar geworden, mag er sich mit seinem deplatzierten schwarzen Samtjackett auch noch so sehr zum Outsider und Einzelgänger stilisieren. Als er, seine Menschenscheu bezwingend, endlich Platz genommen hatte, gab er sein »Mein Onkel, ein Muster an Ehrenhaftigkeit« als eine Art Passierschein in diese Welt zum Besten, in diese Welt der unverbindlichen und schalen Plaudereien über irgendwelche Onkel und Tanten, mit denen man die Zeit überbrückt bis endlich »die Gaumen sind in Tätigkeit« 7. Wie konnte sich Tatjana ausgerechnet in diesen Onegin verlieben? Nun, so: »Die Seele wartete … auf irgendwen.« 8 Die Antwort wurde lange vor seinem Auftritt gegeben, denn der Regisseur hat das Präludium in eine stumme Szene verwandelt, in der Tatjana sich von der kauenden Gesellschaft separiert und mit suchendem Blick die Fenster abschreitet. Damit bleibt das Vorspiel keine einfache Zusammenfassung der Oper, in der das Thema des Liebesbriefs angespielt wird, sondern dieses Motiv wird zu Tatjanas »Sehnsuchtsmotiv«, ihr Begehren geht jeder Handlung voraus, lange bevor der künftige Adressat des Liebesbriefs eine Verkörperung gefunden hat. Diese Antwort findet am Ende des Balls bei den Larins ihre Bestätigung, wenn Tatjana, die die Vorgänge dieser Szene mit apathischer Benommenheit verfolgt hat, plötzlich zu Lenski geht, seine Abschiedsworte unterbricht, und – statt ihn, der ein Gewehr in Händen hält, zu entwaffnen, – ihm sanft über die Wange streicht. Da ist noch ein Mensch, der vom gleichen Gift des Begehrens verzehrt wird. Er war mir die ganze Zeit nah. »Aber das Glück war so möglich, so nah …« Es ist paradox, dass diese Worte am Ende der Oper nicht Lenski, sondern Onegin gelten. Oder geht es in ihnen ganz allgemein um den Verlust, um das, was vorübergezogen ist, wonach die Hand gewunken hat? Wie die alte Dame, die bei Lenksi steht, 23

WAS ER WOHL HEU T ’ F Ü R EIN E ROLLE SPIELT ?



← Anna Goryachova als Olga, Tamuna Gochashvili als Tatjana und Larissa Diadkova als Filipjewna.

während er singt »Doch ich steige vielleicht ins geheime Schattenreich hinab.« Aber, junger Mann! Für Sie ist es zu früh, daran zu denken. Um dann später zu verstehen und von unterdrücktem Schluchzen geschüttelt zu werden. Diese individuelle Erkenntnis des bevorstehenden Verlusts bildet einen Kontrapunkt zur gesamten Duell-Szene. Das Haupt-Thema setzt das Thema der Ball-Szene fort: Das Duell artet zu einer Verhöhnung Lenksis aus. Niemand glaubt an das Duell, niemand bereitet sich vor. Die Szene zeigt öde morgendliche Unordnung. Während Lenskis Abschied vom Leben durchquert Olga den ganzen Saal, sucht ein verlorenes Ohrgehänge, findet es und entschwebt überglücklich, noch während Lenski singt »Komm zu mir, ich bin dein Gatte!« Der Tisch ist bis zum Ende nicht abgeräumt, und auch wenn wir ahnen »Wo die reiche Tafel stand, steht ein Sarg« 9 bleibt dennoch völlig unklar, wie auf diesem Tisch ein Toter zu liegen kommen wird. Die Duell-Szene ist der unerwartetste, kühnste und vielleicht treffendste Moment der ganzen Inszenierung. Lenskis Tod ist nicht das Resultat eines uns undurchschaubar gewordenen Ehrenkodex’, sondern das Ergebnis des Eigendünkels der Lenski umgebenden Menschen, die ihn bis zum letzten Moment zurechtweisen wollen. Lenski erschießt sich selbst, aber Onegins Schuld wird dadurch größer, als wenn er seinen Tod im klassischen Duell verursacht hätte. Seine Schuld ist, dass er zur Erheiterung der Gaffer das ihm angebotene Gewehr verächtlich hat fallen lassen, sowie ein Dutzend weiterer spöttischer Gesten auf Kosten dessen, der uns, seht ihr, zu beweisen versucht, dass es auch in unserer Zeit noch ernstzunehmende Konflikte gibt. Lenski wird in einem Handgemenge umkommen, von dem bis zum Schluss niemand glauben wollte, dass es in einer Tragödie enden würde. Er kommt zu Tode und bricht tatsächlich dort zusammen, »wo die reiche Tafel stand«. Im Nachhinein erweist sich, dass alles vorhergesagt war. Nicht nur das Glück, auch das Unglück »war so nah, so möglich«. Ich gestehe, dass für mich das Thema erschöpft ist. Die zwei letzten – im Rahmen der Gesamtinterpretation sehr logisch, sehr scharfsinnig durchgeführten – Bilder, fügen nichts hinzu, auch wenn sie vieles zu Ende erzählen. Um noch etwas hinzuzufügen, hätte Lenksi in Onegin eindringen müssen. Dass ebendies geschehe, meint ein anderer Rezensent dieser Aufführung – ich bin nicht überzeugt. Stattdessen entdeckte ich eine Vielzahl kleinerer und stärkerer Widerhaken, durch die der Regisseur mit seinem Helden abrechnet. Als Onegin den prunkvollen Bankettsaal betritt, erkennt ihn niemand. Kein Lakai stürzt hinzu, um ihn von seinem Mantel zu befreien, ihm seinen Platz anzuweisen und den Stuhl hinzurücken. All das muss der neuangekommene Childe Harold selbst erledigen. Und der Eifer, mit dem Childe Harold seine Aufnahme in die Festrunde zu erzwingen sucht, sich an den namhaften Gastgeber klammernd, gereicht ihm nicht zur Ehre. Der ganze Bericht, warum ihn »die Lust zum Ortswechsel« überfiel, ist eine Rechtfertigung seiner hiesigen Unbekanntheit und seines ungenierten Wunsches, zu den celebrities

25

WAS ER WOHL HEU T ’ F Ü R EIN E ROLLE SPIELT ?


gezählt zu werden. Viel kann er nicht vorweisen. Aber vielleicht zählt, dass er »den Freund im Duell getötet« hat. Der berühmte Verführer, der berühmte Duellant, der berühmte Reisende. Die Gäste freilich warten das Ende seines Toasts nicht ab, um sich zu zerstreuen, ohne Unmutsbekundung, ohne jede Reaktion auf den wortreichen Erguss. Sie sind einfach nur gelangweilt. Vielleicht kennt man hier Onegin zunächst wirklich nicht. Sobald man es weiß, verbirgt man dieses Wissen. So wie Gremin vor Onegin verbirgt, dass er über seine und Tatjanas Geschichte Bescheid weiß. Doch spätestens als sie sich zu Beginn der letzten Szene mit den Worten »Wieder Onegin!« schluchzend an seiner Schulter festhält, wird klar, dass er alles weiß. Er rettet sie aus der Verwirrung, als ob er von nichts wüsste. Mit einem kurzen Seufzer schickt er sich an, seine Arie zu singen, als sei sie eine heikle diplomatische Mission. Nur kurz drückt er Onegins Hand: Ich kenne dich, Freundchen, aber Tatjana lässt du in Ruhe! »Der Liebe ist jedes Alter ergeben« singt er wie eine Hymne, als offizielle Version von Tatjanas Eheleben. Und vielleicht wissen alle, dass es anders war, dass nicht Tatjana Gremin zu einer Neugeburt verholfen hat, sondern dass Gremin Tatjana ein neues Leben schenken musste (was gleichfalls schön ist), und dass man trotzdem daran glauben muss. Die herrliche, mondäne Tatjana sitzt währenddessen am gegenüberliegenden Ende der Tafel und nimmt mit leichtem Lächeln die an sie adressierte Lobeshymne huldvoll entgegen. Die vertrauliche, intime, an einen Freund gerichtete Beichte Gremins wird dergestalt zu einer öffentlichen Bestätigung von Tatjanas Status als Gattin eines hohen Würdenträgers und zugleich wird dieser Status als Tatsache anerkannt, auch von Tatjana selbst. Man weiß die Fähigkeit, die richtigen Worte zu finden, den erforderlichen Tribut zu zollen, zu schätzen. Völlige Beherrschung der Formen der mondänen Gesellschaft. Alles ist perfekt. Bis hin zu den Wänden, zwischen denen man sich versammelt hat, und die an Tatjanas sprichwörtliches »himbeerfarbenes Barett« erinnern. Als ob die Inszenierung die trostlose Prophetie Onegins widerlegen wollte vom Ehepaar, das sich über den Tisch hinweg nicht verständigen kann, ist das Ehepaar Gremin vereint, obwohl es durch die Weite des Bankettsaals und die ihn füllenden VIPs getrennt ist. Ist es diese seelische Nähe, die gleichzeitig soziales Wohlbefinden und Selbstvertrauen schenkt? Die Aufführung gibt hierauf keine Antwort. Tatjana hat es geschafft, ihrem Elend zu entkommen – wie, zu welchem Preis – all das bleibt jenseits der Grenzen der Inszenierung, wie übrigens auch von Tschaikowskis Oper und von Puschkins Roman. Tcherniakov deutet im Finale nicht nur »die frühere Tatjana« an, sondern auch die verschmähte Tatjana, gebrochen und von hysterischen Krämpfen geschüttelt. Das, was sie hinter der Fassade einer glücklichen Ehe verborgen hat (oder immer noch verbirgt?), Tatjanas fanatische Ergebenheit zu ihrem Ehemann (»Und ewig bleibe ich ihm treu«) ist die Bindung des Kranken an seinen Arzt, des Bedürftigen an seinen Pfleger. NATA LIJA JA K U BOVA

26


Man kann ihre Geschichte psychoanalytisch deuten: Das verdrängte Begehren führt zu einer Neurose, nach deren Therapie muss es zu einer Konfrontation mit der Realität kommen, die im Finale endlich stattfindet. Diesen Weg muss sie allein beschreiten. Daher verbirgt sich Gremin hinter irgendeiner Tapetentür des Prunksaals, um Onegins lächerliche Ansprüche (»Bis zum Grab bin ich dein Beschützer«) von dort aus zu verfolgen. Onegin zieht eine Pistole und droht mit Selbstmord. Aber alles wird nur noch lächerlicher: Der Knall zweier Schüsse durchbricht nicht die Musik, Onegin hat vor seiner letzten Replik »O mein elendes Los!« zwei Fehlzündungen seiner Pistole ausgelöst.

1 Puschkin, Eugen Onegin, VIII, 8 (deutsch von Theodor Commichau); in der Oper sind diese Verse den Gästen des Petersburger Balls (3. Akt, 1. Szene / 6. Bild)) in den Mund gelegt. 2 Puschkin, Eugen Onegin, VIII, 12; dort mit Bezug auf Onegin allerdings: »sechsundzwanzigstes Jahr«. 3 Puschkin, Eugen Onegin, II,6 4 Puschkin, Eugen Onegin, VIII, 46 5 Puschkin, Ruslan und Ljudmila, 1. Gesang 6 Die Titelfigur von Byrons Verserzählung Childe Harold’s Pilgrimage (1812–1818), die zum Prototyp des ernüchterten und verfemten Anti-Helden wurde. 7 Puschkin, Eugen Onegin, V, 29 8 Puschkin, Eugen Onegin, III, 7 9 Zitat aus Gavriil Dershavins Ode Auf den Tod des Fürsten Meschtscherski (1779), von Puschkin als Epigraph zum 4. Kapitel seines Dubrovskij-Fragments (1832/33) gewählt.

27

WAS ER WOHL HEU T ’ F Ü R EIN E ROLLE SPIELT ?


Dortselbst erschien in jenen Tagen Ein neuer Gutsherr auf dem Land, An dem mit gleichem Unbehagen Die Nachbarschaft zu kritteln fand: Wladimir Lenski, ein im Busen Göttingisch freier Sohn der Musen, Von jugendfrischem Hauch umweht, Anhänger Kants, dazu Poet. Er brachte aus Germaniens Nebeln Die Früchte reifer Wissenschaft: Verstand, sehr tief, doch rätselhaft, Freiheitsbegeisterung, kaum zu knebeln, Beredsamkeit, höchst wunderbar, Und langes, schwarzes Lockenhaar.


Er sang von demutsvoller Liebe, Und harmlos war sein Lied und rein Wie eines Mägdleins Unschuldstriebe, Wie Kindestraum, wie Mondenschein, Dem, wenn er nachts so friedlich leuchtet, Die Sehnsucht ihren Kummer beichtet; Er sang von Wehmut, Trennungsharm, Von Nebelduft und andrem Schwarm, Von Rosen, die romantisch sprossen; Er sang von Ländern fern und weit, Wo in verschwiegner Einsamkeit Einst bitter seine Zähren flossen; Er sang von frühem Tod sogar – Ein halbes Kind von achtzehn Jahr! → 2. Kapitel, 6 & 10



Polina Vaidman

VOM FAMILIENLEBEN ZUR KUNST

← Tschaikowskis Familie 1848: Piotr, seine Mutter Alexandra, seine Schwester Alexandra, Zinaida, Nikolai, Ippolit, Vater Ilya

Nach Tschaikowskis eigenen Aussagen setzte er sich eher zufällig mit Puschkins Onegin auseinander. Und doch hatten ihn sein familiärer Hintergrund, ja sein ganzes Leben gewissermaßen zu diesem Puschkin-Text hingeführt. Die Mutter des Komponisten, Alexandra Andrejewna Tschaikowskaja, war eine Schülerin von Piotr Alexandrowitsch ​​ Pletnjow, einem Freund Puschkins, dem der Dichter seinen berühmten »Roman in Versen« gewidmet hatte. Alexandra Andrejewna hat in einem ihrer sieben überlieferten Studienhefte Mitschriften zu Pletnjows Vorlesungen am Patriotischen Institut in Petersburg hinterlassen, in denen sich Eintragungen zu Eugen Onegin mit tagebuchartigen Bemerkungen abwechseln, in denen sie ihre Liebe und Bewunderung für den Dozenten zum Ausdruck bringt. Alle Hefte stammen aus Alexandra Andrejewnas letzten Jahren am Institut.

31

POLINA VA IDM A N


In einem Heft, das mit Poetik betitelt ist, hat die Studentin im Abschnitt Epische Poesie die folgenden Pljetnowschen Gedanken niedergeschrieben, in denen Eugen Onegin interessanterweise in Bezug gesetzt wird zu Beispielen aus dem Genre romantischer Poeme: »In der russischen Literatur sind die originellsten romantischen Poeme die von Puschkin. Bis jetzt hat er vier ­solcher Poeme veröffentlicht, nämlich: 1) Ruslan und Ljudmila, 2 ) Der Gefangene im Kaukasus 3 ) Der Brunnen von Bachtschissaraj und 4 ) Eugen Onegin.« Obwohl sich Pletnjow nicht an der Polemik zwischen Romantikern und Klassikern beteiligte, gehörte er als Schüler der Karamsin-Schule dennoch zu den erstgenannten. Und im Kontext ihrer Kunstanschauungen interpretierte er vor den Schülerinnen des Patriotischen Instituts Puschkins Versroman als romantisches Poem. Es ist zu bedauern, dass keine Dokumente darüber Aufschluss geben, wann und unter welchen Umständen Tschaikowski selbst Eugen Onegin zum ersten Mal gelesen hat: Geschah das im Kreis der Familie? Kommentierten seine Eltern, insbesondere seine Mutter, die Lektüre? Und hat vielleicht das von Pletnjow vertretene, durch Tschaikowskis Familie vermittelte Verständnis von Puschkins Onegin als eines romantischen Poems Tschaikowskis eigenes Werk-Verständnis beeinflusst? Denn der spätere Komponist hat in seiner gleichnamigen Oper die literarische Quelle in erheblichem Masse romantisch überhöht. Tschaikowski trug die ersten Skizzen für seine Oper in ein PuschkinBändchen ein, das möglicherweise aus der Familienbibliothek stammt. Der Inhalt des Bandes ist bekanntlich folgender: Eugen Onegin, Boris Godunow sowie die unter Dramatische Szenen zusammengefassten Stücke Aus Faust, Das Gelage während der Pest, Mozart und Salieri, Der geizige Ritter. Das Buch enthält viele Notizen, Zeichnungen und Eintragungen verschiedener Personen, von denen manche sich nicht auf den Text beziehen. Dass Tschaikowski Puschkins Eugen Onegin mehrmals las, belegen seine Notizen auf den Seitenrändern des Bandes. Und im Mai 1877 begann er dort auch die ersten Umrisse seiner Oper zu skizzieren. Tschaikowski hat ganze Episoden, bestimmte Strophen und manchmal auch einzelne Wörter seitlich angestrichen oder unterstrichen. Beim Lesen dieser Notizen ist seine Sympathie für Tatjana und Lenski zu spüren, während er Onegin gegenüber eher kühl bleibt. Tschaikowski ergänzt Verse, macht Änderungen am Text und hält musikalische Ideen fest. Auf diese Weise führt Tschaikowskis Lektüre zur Erstellung eines eigenen Szenariums, zu einem Auszug des Romans gleichsam, dessen Analyse seine Interpretation des Puschkin-Textes erhellt. Das andere Dokument, das Tschaikowskis Lesart des Romans veranschaulicht, ist das Libretto der Oper, das vom Komponisten nach Vollendung der Partitur geschrieben wurde und das zahlreiche Regieanweisungen und Erklärungen umfasst. Weitere Notizen seiner Mutter – diesmal nicht zur Literatur, sondern zur POLINA VA IDM A N

Piotr Tschaikowski 1875 bei der Familie seiner Schwester Alexandra in Kamjanka →

32


Moral und zu den seelischen Eigenschaften, die ein junges Mädchen auszeichnen sollten – spiegeln sich gleichfalls in Gedanken Tschaikowskis über seine Heldin wider. Ihre Notizen korrespondieren nicht nur mit Puschkins Charakterisierung von Tatjana, sondern auch mit den folgenden Äußerungen des Komponisten über seine Heldin: »Tatjana ist nicht nur eine provinzielle Gutsbesitzertochter, die sich in einen Dandy aus der Großstadt verliebt. Sie hat die reine, weibliche Schönheit einer jungfräulichen Seele, die noch ­unberührt ist vom wirklichen Leben. Sie ist eine träumerische Natur, die unbewusst ein Ideal sucht und es leidenschaftlich verfolgt. […] Es muss ein dramatisches Potenzial in der Tatsache liegen, dass ein abgestumpfter Gesellschaftslöwe aus der Hauptstadt aus Langeweile und belangloser Verärgerung gegen seinen Willen infolge einer fatalen Kette von Umständen einem jungen Mann, den er eigentlich doch liebt, das Leben nimmt! All dies ist, wenn Sie so wollen, sehr einfach, sogar alltäglich, aber Einfachheit und Alltäglichkeit schließen weder Poesie noch Drama aus.«

33

VOM FA MILIEN LEBEN Z U R K U NST


Das im Alltäglichen verborgene Drama ist in vielen Tschaikowskis Werken ein wichtiges Motiv. Eine der Formen, die dieses Motiv annimmt, ist verbotene Liebe, ein ebenso prominentes wie konstantes Thema in Tschaikowskis Schaffen: in der symphonischen Fantasie Francesca da Rimini (eine verbotene Liebe, die in die Hölle führt) ebenso wie in den Opern Die Zauberin oder Pique-Dame. Auch in Eugen Onegin ist das Thema verbotener Leidenschaft zentral, und Tschaikowski hat dieses Motiv in seiner ersten Oper nach einer Vorlage von Puschkin noch verstärkt: Tatjana überwindet und entsagt einer Liebe, die für jemanden in ihrer Position eine Verfehlung darstellen muss: »Aber ich bin die Frau eines anderen geworden, ihm bleibe ich treu mein Leben lang!« Tatjana verhält sich anders als Anna Karenina, die sich laut Marina Zwetajewa von ihrer Leidenschaft leiten lässt und der, »nach Erfüllung all ihrer Wünsche nichts anderes übrigbleibt, als sich auf die Schienen zu legen«. Im ersten Entwurf des Finales seiner Oper hatte Tschaikowski die Dramatik der Situation noch gesteigert, indem er den Ehemann der Heldin beistehen und sie moralisch unterstützen ließ, um ihre seelische Entschlossenheit zu festigen: Auf dem Höhepunkt der letzten Szene trat der Fürst herein und Tatjana sank, nachdem sie Onegin endgültig zurückgewiesen hatte, ihrem Mann ohnmächtig in die Arme, der wiederum Onegin die Türe wies. Es ist durchaus möglich, dass Tschaikowski durch einen rein biografischen, analogen Moment aus dem Leben seiner eigenen Familie motiviert wurde, die Dramatik dieser Szene so zu verstärken. Wir kennen keine Details aus dem Eheleben von Tschaikowskis Eltern, abgesehen von der Tatsache, dass zwischen ihnen und ähnlich wie bei Tatjana und ihrem Gatten ein großer Altersunterschied bestand, tatsächlich fast zwanzig Jahre. Aber ihre Verbindung scheint eine glückliche gewesen zu sein. Die Atmosphäre in der Familie war freundlich und harmonisch, alle Familienmitglieder gingen sehr liebevoll miteinander um. Gab es Parallelen zwischen dem Leben von Tschaikowskis Mutter und dem von Tatjana? Und nahm er vielleicht deswegen die Hauptfiguren in Onegin so ernst, ganz ohne Puschkins Ironie und Humor? Mit anderen Worten: Tschaikowski las Puschkins Eugen Onegin als das persönliche Drama Tatjanas. Ihr Schicksal und die Motive ihres Handelns waren ihm vertraut. Seine Sichtweise, die den Rahmen des Versromans überschritt, war von den Umständen seines eigenen Lebens geprägt, von den Traditionen seiner Familie, die den Einfluss von Puschkins Welt in nicht geringem Maße selbst erfahren hatte. So lassen sich in Prinz Gremins Erklärung an Onegin: »Alle erliegen der Liebe – unabhängig von ihrem Alter …« Parallelen entdecken zu Briefen, die der Vater des Komponisten, Ilja Petrowitsch, seiner künftigen Frau schrieb. Wir wissen, wie dieses Ehepaar aussah, nämlich wie zwei in einen Rahmen hineinmontierte Miniaturen, aus dem eine junge Tatjana und ein schon in die Jahre gekommener Ehemann auf uns herabblicken. POLINA VA IDM A N

34


Tschaikowski 1889 zu Gast in Tiflis →

Puschkins Welt erwies sich als äußerst stabiler Faktor in Tschaikowskis Leben und Werk, als wichtiges Element seines Seelenlebens. Wäre Tschaikowski der Autor von Mein Puschkin – jenes berühmten Essays von Marina Zwetajewa – gewesen, hätte er sich vielleicht als Tatjanas Sohn dargestellt. Hätte Eugen Onegin echte Vorfahren gehabt – eine Möglichkeit, die der Historiker Wassili Kljutchewski (1841–1911) in Betracht gezogen hat –, hätte sich Tschaikowski möglicherweise entsprechend als Onegins Nachkommen bezeichnet. Jedenfallls: Eugen Onegin ist das autobiografischste Puschkin-Sujet in Tschaikowskis Œuvre.

35

VOM FA MILIEN LEBEN Z U R K U NST


Freund Lenski freilich, tief durchdrungen Von patriotisch heil’ger Pflicht, Er hätte Oden gern gesungen – Nur Olga las dergleichen nicht. Ob je dem heißgeliebten Wesen Sein schmachtend’ Verschen vorzulesen So ein Poet die Gunst besaß? Es heißt, dies Glück sei ohne Maß. Und wahrlich, höchste Wonne leuchtet Dem Sänger, der mit keuschem Sinn Vor seiner Herzenskönigin In Tönen seine Liebe beichtet – Sofern nicht, sonstwie abgelenkt, Sie selbst an ganz was andres denkt. → 4. Kapitel, 34


Bogdan Volkov als Wladimir Lenski


Oswald Panagl

WIE WAR EINST DAS GLÜCK SO NAHE!

»Onegin« oder die Suche nach dem verlorenen Lebenssinn


Ein Mann hat eben noch versucht, eine Frau für sich zu gewinnen, die inzwischen Gattin eines anderen geworden ist. Leidenschaftlich hat er auf sie eingeredet, Erinnerungen beschworen, Zukunftsvisionen aufgebaut: Sie solle ihr gesichertes, aber letztlich unerfülltes Leben, ihre gesellschaftliche Stellung aufgeben und ihm folgen, dann könnten sie beide glücklich werden. Doch die Frau widersteht seinem Drängen, der Überzeugungskraft seiner Rede ebenso wie dem Zauber seiner Person, den Zeichen der Überlegenheit und den Gesten der Unterwerfung. Zwar liebt sie ihn noch immer wie vor Jahren als junges Mädchen, als er unvermittelt in ihr Leben getreten war: warum sollte sie es leugnen? Doch die Zeit lässt sich nicht verrücken und nicht hintergehen (sie ist nicht erst in Hofmannsthals Rosenkavalier »ein sonderbar Ding!«), Geschehenes kann nicht aufgehoben werden. Mit den Worten »Leb wohl auf ewig!« lässt sie, Tatjana, den Partner dieser Auseinandersetzung, Eugen Onegin, allein auf der Bühne, genauer: im Empfangszimmer ihres Palais, zurück. Verzweifelt bricht er in die Worte aus: »Schande! … Wehmut! … O welch ein bittres Los!« und stürzt davon. So endet eines der seltsamsten »Liebesduette« der Opernliteratur, so endet zugleich eine Oper, die seit über hundert Jahren ebenso viele stille Liebhaber wie lautstarke Kritiker gefunden hat, die im Widerstreit von Zustimmung und Ablehnung immer noch keinen gesicherten Platz auf der Werteskala des musikdramatischen Schaffens einnimmt. Was hat man an diesem eigenwilligen Werk nicht alles gerühmt: Die liebevolle Nachzeichnung der Charaktere, besonders von Tatjana und dem jungen Dichter Lenski; die subtile Schilderung der Natur im Einklang und im Widerspruch mit den Befindlichkeiten der menschlichen Seele. Man denke nur an den Sonnenaufgang und die Weise des Hirten am Ende von Tatjanas Briefszene; an den authentischen, keineswegs sentimental überhöhten Realismus der bäuerlichen Welt im Chorgesang und Tanz der ersten Szene; an den Glanz der kontrastierenden Ballszenen – mit Walzer und Mazurka auf dem Landgut der Larins (3. Bild), mit Polonaise im Palais des Fürsten Gremin zu St. Petersburg (6. Bild). Und wo hat nicht überall der tadelnde Rotstift der »Beckmesserei« angesetzt: Bei der mangelnden Opernhaftigkeit des Entwurfs; bei der Beliebigkeit und Zufälligkeit der Handlung, die kein tieferreichendes Interesse beim Zuhörer auslöse und seine Anteilnahme in bescheidenen Grenzen halte; bei formalen Schwächen dieser angeblich nur sehr lose untereinander verbundenen sieben Bilder. Und eben auch und gerade bei jenem undramatischen, abrupten und offenen Schluss, mit dem wir unsere Betrachtungen begonnen haben. Ein Titelheld, der weder erlöst wird noch stirbt (was sich bekanntlich nicht ausschließt), ein Schlusstableau ohne Hochzeitstafel und ohne Höllenfahrt, ein Mensch, der einfach davonläuft und eine leere Bühne zurücklässt, der uns verschweigt, wohin die Reise geht: in den Freitod, in das nächste Abenteuer, in einen sinnentleerten Alltag oder in den Anbruch einer neuen 39

OSWA LD PA NAGL


vita activa. Ende oder Neubeginn? Zäsur oder Kontinuum? Kein Rufzeichen, sondern mehrere Fragezeichen, die der Schlussakkord setzt. Kein moralisierend erhobener Zeigefinger des Librettisten, sondern eher ein resigniertes Achselzucken. Welch unerhörter Affront gegenüber dem Publikum, das sich mit der Eintrittskarte doch wohl den Anspruch auf eine saubere, eindeutige Lösung erworben hat! Gegen alle kolportierten Vorwürfe lassen sich gewichtige, wohlüber­legte, historisch und ästhetisch lupenreine Argumente vorbringen: Der fehlende äußere Prunk des Stückes, das »Vorbeikomponieren« an der traditionellen Norm der Gattung Oper ist beabsichtigt, vom Komponisten immer wieder gerechtfertigt worden und findet in der alternativen Benennung als ­»Lyrische Szenen« seinen sprechenden und angemessenen Ausdruck. Aber auch der zweite Vorwurf lässt sich mit Tschaikowskis ästhetischen Kategorien zurückweisen, von seinem künstlerischen Gewissen her entkräften. Er zog die Binnenspannung dem pompösen äußeren Konflikt vor, er fühlte sich im vertrauten Milieu seiner russischen Heimat wohler als in exotischen Fernen, und die Seelenlandschaft der Menschen erschien ihm konfliktreicher als jedes Schlachtfeld. Darum hat er Bizets Carmen so begeistert aufgenommen und sich im gleichen Maße an Verdis Aida gestoßen. Und was sind denn schon Effekte! Wenn Sie sie zum Beispiel in irgendeiner Aida finden, so versichere ich Sie, dass ich um nichts in der Welt eine Oper mit einer solchen Handlung schreiben könnte, weil ich Menschen brauche und keine Puppen […]. Die Gefühle einer ägyptischen Prinzessin, eines Pharaos […] ve­stehe ich nicht. (Brief vom 2. Jänner 1878) Auch die behauptete Formlosigkeit von Libretto und Partitur erweist sich als Vorurteil, hält näherer Betrachtung nicht stand. An anderer Stelle hoffe ich die klaren Proportionen und dramaturgischen Bauprinzipien des Werkes ­näher erläutern zu können. Hier müssen – auch als Vorgriff auf einen späteren Argumentationsschritt – ein paar flüchtige Hinweise auf formale Entsprechungen und unverkennbare Strukturen genügen: Die Vorliebe für die dreiteilige Form zeigt sich im Großen in den drei Szenen des ersten Aktes und setzt sich in der Binnengliederung einzelner Bilder fort. In der großen Briefszene der Tatjana, die von Gesprächen mit ihrer Amme symmetrisch gerahmt wird (2. Bild) aber auch in ihrer ersten Auseinandersetzung mit ­Onegin, dessen »belehrende« Arie, in der er das briefliche Liebesbekenntnis Tatjanas höflich zurückweist, von einem Chor beerenpflückender Mädchen umsäumt wird (3. Bild). Dass diese in ihrem neckischen Lied von Liebes­ tändelei singen, bei der ein Bursche der werbende Partner ist, während sich im Bühnengeschehen der Mann zurückzieht, ist noch eine besondere inhaltliche Pointe. Auch auf die dramaturgische Rolle des Briefes als Entsprechung W IE WA R EINST DAS GLÜCK SO NA HE!

Helene ­Schneiderman als Larina und Tamuna Gochashvili als Tatjana →

40



zwischen dem ersten und dritten Akt soll hingewiesen werden. Hier wie dort führt er eine Begegnung der beiden Hauptfiguren herbei, die diese aber nicht zueinander bringt, sondern jeweils mit Verzicht und Resignation endet. Das Handlungsschema ist spiegelverkehrt angelegt: Die Offensive Tatjanas und die Verweigerung Onegins im ersten Akt schlägt am Ende der Oper ins genaue Gegenteil um. Nun ergreift Onegin die Initiative, und Tatjana gibt ihr (freilich aus anderen Motiven) nicht nach. Dass wir den Brief Tatjanas szenisch miterleben dürfen, an seinen Geburtswehen als Zuhörer ­teilneh­men, während wir von Onegins Botschaft nur aus dem Munde Tatjanas ­erfahren, verknappt den Schlussakt, schafft Variation und bewahrt vor öder Schematik. Doch was ist mit dem merkwürdig zwiespältigen Schluss, der uns ziemlich ratlos entlässt, der in ein Niemandsland zwischen Happy End und aristotelischer Katharsis zu fallen scheint? Wer ist überhaupt dieser Onegin, der dieselbe Frau, die er einst verschmäht hat, nunmehr stürmisch begehrt und mit Liebesanträgen verfolgt? Dürfen wir die Wende seines Gefühlslebens ernst nehmen, oder ist sie nur eine flüchtige Episode, ein neurotisches ­Manöver? Und wenn wir seiner neuen Emotion trauen dürfen, wodurch ist sie ausgelöst worden? Die Skala der Deutungen von Tschaikowskis (und Puschkins) Titelhelden bewegt sich zwischen den Extremen eines russischen Fliegenden Holländers und The Dandy’s Progress. Sie pendelt zwischen er­ lösungsträchtiger Dämonie und seelischer Labilität, zwischen Schicksal und Laune, Suche und Sucht unstet hin und her. Das äußere Handlungsgerüst gibt dem Interpreten nur unsicheren Halt: Der junge Gutsherr Onegin hat durch seine weltmännische Offenheit, durch seine Souveränität im Denken und Auftreten der verträumten Tatjana einen Weg aus der bedrückenden Enge ihres ländlichen Milieus gewiesen. Tatjana bekennt sich über die Schranken von Erziehung und Sitte hinweg zu ihrem starken Gefühl. Doch der Impuls verpufft, Onegin igelt sich ein, er versagt der Absprungbereiten den emotionalen Landeplatz. Ja, er geht noch weiter: Er steigert die illusionslose Ehrlichkeit zum Zynismus. Wenn er an Tatjanas Namenstagsfest aus Ärger und Langeweile aufreizend mit ihrer Schwester Olga tanzt und damit die Enttäuschung zur Tragödie ausweitet: Sein Freund und Nachbar, der Dichter Lenski, der eifersüchtige Bräutigam Olgas, verkennt die Absichten Onegins und fordert ihn in übersteigerter Sensibilität zum Duell. Zwar fühlen beide bald die Sinnlosigkeit ihres Vorhabens und klammern sich innerlich an die tiefsitzende Vertrautheit. Doch diese versöhnliche Stimmung dringt nicht durch die Kruste gesellschaftlicher Spielregeln. Der Zweikampf findet statt, und Lenski fällt. Jahre der ziellosen Wanderschaft auf der Flucht vor dem Geschehenen, vor dem Bewusstsein subjektiver Schuld, vor sich selbst, haben Onegin nicht den Seelenfrieden zurückgegeben, ihn keinen neuen Lebenssinn finden lassen. Er überlässt sich, kaum zurückgekehrt, dem Rausch eines Balles und sieht dort unvermutet Tatjana OSWA LD PA NAGL

42


wieder, die nun die Frau eines verdienten Generals, des Fürsten Gremin, geworden ist. Als sie einander erkennen, zieht sie sich rasch zurück. In Onegin aber brechen heftige Gefühle auf, er führt eine Begegnung herbei, deren Verlauf wir eingangs beschrieben haben. Ist Onegins Liebeserwachen also glaubwürdig, seine neue seelische Befindlichkeit von Dauer? Puschkin gibt uns in seinem Versroman keine eindeutige Antwort – er betont den Überschwang, ohne sich der Nachhaltigkeit zu versichern. Doch was Tschaikowski als Librettist (zusammen mit seinem Freund und Schüler Konstantin S. Schilowski) in der Schwebe hält, entscheidet er als Komponist schlüssig. Wenn er Onegin sein kurzes Arioso nach dem Wiedersehen mit Tatjana (»Weh mir, ich zweifle nicht, ich bin verliebt […] voll jugendlicher Leidenschaft«), dessen Text noch persönlicher Deutung offensteht, auf die Anfangsmelodie von Tatjanas Briefmonolog (2. Bild) ­singen lässt, so ist das eine klare künstlerische Aussage. Der Versuch, in dieser strengen musikalischen Entsprechung nur die Unfähigkeit Onegins zu eigenem Gefühl zu suchen, die ihn zum emotionalen Zitat nötigt, wäre sophistisch und leicht zu widerlegen. Tschaikowski war ein zu bedeutender Symphoniker um die Semantik einer Reprise zu verkennen. Und die Ehrlichkeit von Tatjanas Gefühlswelt steht wohl außer Zweifel. Was hat diese Wende bei Onegin verursacht? Ist es der Glanz, der Tatjana nun umgibt, ist es ihr hoher gesellschaftlicher Rang, wie sie das selbst Onegin vorhält? Ist es ihre Unerreichbarkeit, die seine Wünsche herausfordert? Auch diese Frage hat Tschaikowski mittelbar beantwortet, sofern man das Libretto genau liest und die Entstehungsgeschichte der Musik beachtet. Der Umschwung erfolgt mitten in der Arie des Gremin, die damit weit über eine dankbare Bassnummer hinausgehoben und zu einem dramaturgischen Angelpunkt wird. Als einziges größeres Solo hat diese Episode, in der der Fürst sein Eheglück mit Tatjana preist, kein wirkliches Gegenstück und Vorbild in Puschkins Text. Ein paar knappe Worte, mit denen er Onegin zu Tatjana geleitet, das dürre Faktum der Eheschließung, keine Offenlegung von Gefühlen: So steht es im Original. Der Arientext bei Tschaikowski weiß es anders: »Onegin, ich verheimliche dir nicht: Unendlich liebe ich Tatjana! Einsam war für mich das Leben […]. Sie erschien und gab mir, wie ein Sonnenstrahl beim Unwetter, Leben und Jugend, ja, Jugend und Glückseligkeit […]. Inmitten kalter Schuldsprüche, hartherziger Geschäftigkeit, inmitten verdrießlicher Leere, Erwägungen, Gedanken und Gespräche, leuchtet sie wie ein Stern in der Nacht am klaren Himmel […].« Der Regisseur Adolf Dresen hat in seinen Inszenierungen des Onegin (Hamburgische Staatsoper 1979; Berlin Komische Oper 1988) den Kontrast zwischen einer hohlen, verlogenen Gesellschaft auf dem Ball und dem besungenen Wert Tatjanas optisch herausgestellt. Das plötzliche Umdenken Onegins, der nach dieser Schilderung schlagartig seine versäumte Lebenschance erkennt, wird so überzeugend manifest. Kein Zufall, dass Tschaikowski, der zunächst um eine plausible dramaturgische Brücke 43

W IE WA R EINST DAS GLÜCK SO NA HE!


im Verhalten Onegins verlegen war, die Arie des Gremin vergleichsweise spät ›hinzukomponiert‹ hat. Ist das Leben Tatjanas innerlich erfüllt und warum verweigert sie sich Onegin, da sie ihn doch liebt? Die zweite Frage haben bereits Interpreten der Puschkin’schen Vorlage im 19. Jahrhundert wie Belinski und Dostojewski zu beantworten versucht, und sie ist bis in unsere Tage lebendig geblieben. Ist es ihr dominantes Pflichtgefühl? Traut sie Onegins unstetem Charakter nicht? Kann sie die einstige Kränkung nicht verwinden? Marxistische Literaturtheoretiker haben die unaufhebbare Fixierung Onegins in seiner Gesellschaftsklasse als letzte Ursache seiner Zerrissenheit und damit auch der Entscheidung Tatjanas aufgeboten. Historiker haben auf die standhaften Gattinnen verwundeter Veteranen, auf ›Dekabristen‹-Frauen, die ihren Männern in die Verbannung gefolgt sind, als geschichtliches Vorbild eines literarischen Musters verwiesen. Aber greifen diese Erklärungsschemata, allein oder im Zusammenspiel, nicht zu kurz, sind sie nicht zu grobschlächtig und oberflächlich? Lässt sich ein subtiles Individuum wie Tatjana auf einen Typus reduzieren? Und wo hat ihre reiche, differenzierte Seelenlandschaft im Klassenkampf ihren Ort? Viel näher kommt da Leonore Scheffler (Das erotische Subjekt in Puschkins Dichtung, München 1968) einer Lösung, wenn sie vom schicksalhaften Liebesleben und von der Verfehlung der Liebesbestimmung spricht. Tatjana und Onegin sind als ideales Paar angelegt, in ihren Wesenszügen aufeinander orientiert. Und so gehen sie denn auch aufeinander zu, aber eben phasenverschoben und asynchron. Als sie sich ihm öffnet, weicht er zurück, lehnt eine Bindung ab, für die er nicht reif ist: »Wie war einst das Glück so nahe!« Als er in ihr die ›wahlverwandte‹ Partnerin wahrnimmt, ist sie nicht mehr frei: »Vergangenes bringt man nicht zurück!« Es genügt nicht, füreinander bestimmt zu sein, wenn der glückliche Zeitpunkt, den die Griechen kairos genannt haben, einmal versäumt ist. Die gleichfalls aufgeworfene Frage nach dem Lebensglück Tatjanas in ihrer Ehe beantwortet uns wieder deutlicher die musikalische Form als der nackte Wortlaut. Wenn man von dem Geständnis unverminderter Liebe zu Onegin absieht, lassen ihre Aussagen verschiedene Schlüsse zu. Aber wenn wir das Prinzip formaler Korrespondenz nunmehr auf die Beziehung von Anfang und Schluss der Oper anwenden, also eine zyklische Entsprechung (»Ringkomposition«) voraussetzen, dann wiederholt sich in Tatjanas Lebenslinie das Geschick ihrer Mutter: Im Duett des ersten Bildes hatte die Amme zu Larina gesagt: »Doch Sie träumten damals von einem anderen, der mit seinem Herz und seinem Geist Ihnen viel besser gefiel«, und gemeinsam singen sie alsdann mehrmals »Gewöhnung gab der Himmel uns, sie ist Ersatz für alles Glück.« Und im nachfolgenden Bauernchor heißt es beziehungsvoll: »Was krampft sich mein feuriges Herz vor lauter Kummer: Weiß nicht, was tun, wie die Geliebte / den Geliebten vergessen.« Aus der Fülle analytischer und kommentierender Literatur zu TschaiOSWA LD PA NAGL

44


kowskis Eugen Onegin haben mich die Äußerungen von zwei bedeutenden Regisseuren bei der Erläuterung ihres Konzepts nachhaltig beeindruckt. Adolf Dresen schreibt im Programmheft zu seiner Berliner Inszenierung: Aber Onegin muss bemerken, dass solche Freiheit die Leere ist, dass er mit Tatjana das Leben selbst weggestoßen hat, dass es kein Glück gibt, wenn man sich dem Leid verschließt, wenn man sich selber nur festhält, nicht ausliefert, dass das Visier offen sein muss, auch wenn dann jeder Hieb verwundet. Und Götz Friedrich schließt seinen Essay im Gefolge seiner Züricher Regiearbeit (1976) mit einer Betrachtung über das merkwürdige Ende der Oper: Nicht zuletzt dieser offene Schluss kann dem Werk über die historische Entstehungsperiode hinaus eine nachhaltige, freilich stille menschliche Wirksamkeit sichern. Eugen Onegin wirft Fragen auf, die nicht selbstsicher beantwortet, gelöst werden, sondern vielmehr die Geschichte offenhalten. Offen für weitere Einsichten und Verhaltensweisen. Dazu – von Tschaikowski komponiert – die Bereitschaft gehört, Wahrheit in der aufgehobenen Spannung zwischen Schmerz und Schönheit zu erfahren. In dem von Peter Härtling herausgegebenen Sammelband Leporello fällt aus der Rolle (2. Aufl. Frankfurt 1988) erzählen schreibgewandte moderne Autoren das Leben von Figuren der Weltliteratur weiter, wobei sie bisweilen auch bizarre Wendungen wählen. Paradoxes nicht scheuen. Dass Eugen Onegin unter diesen Gestalten fehlt, erscheint mir nicht als Zufall, sondern als ästhetische Notwendigkeit. Schon für Puschkin war der Schlusssatz: »Glücklich, wer des Lebens Roman nicht zu Ende las und sich plötzlich von ihm trennen konnte wie ich von meinem Onegin« keine willkürliche Koketterie, sondern ein literarisches Programm. Wir wissen, dass Tschaikowski in einem frühen Schaffensplan Onegin durch Selbstmord enden lassen wollte – wohl eine Konzession an die Erwartung eines dezidiert tragischen Finales. Wir dürfen ihm dankbar sein, dass er schließlich einen weniger dramatischen, aber umso menschlicheren Ausgang gewählt hat, der die Phantasie des Zuschauers beflügelt und nicht fesselt. Sobald der Vorhang gefallen ist, kann jeder das Thema für sich zu Ende denken.

45

W IE WA R EINST DAS GLÜCK SO NA HE!


Unmerklich wuchs der Neigung Keim; Bis endlich, was den Blick noch trübte, Der klaren Sonne wich: sie liebte … So aus dem Schoß der Erde sprießt Die Saat, sobald der Frühling grüßt. Längst trieb ein scheues Glücksverlangen Sie ruhelos durch Qual und Lust, Längst sehnte sich die junge Brust Aus tiefem Wirrsal, stetem Bangen In keuschen Wonnen aufzugehn: Das Seelchen suchte – irgendwen Und harrte … Endlich kam der Rechte.


»Der ist es!« rief ihr Herz befreit. Ach, nun ist alles, Tag und Nächte, Der stille Traum der Einsamkeit Von ihm erfüllt, und all ihr Denken, Ihr Hoffen, Fühlen, Sichversenken Gilt einzig ihm! Sie weicht im Haus Dem heitren Wort der Ihren aus, Entzieht sich treubesorgten Fragen. Sie wandelt wie verstört umher Und kann nun kaum die Gäste mehr Mit ihrem Alltagsklatsch ertragen, Die stets im Kommen so geschwind Und zum Verzweifeln sesshaft sind. → 3. Kapitel, 6–8



Slowakischer Philharmonischer Chor, Kinderstatisterie, Tamuna Gochashvili als Tatjana und Bogdan Volkov als Lenski


Vadim Gajewski

CODE-ÄNDERUNG »Die Oper Onegin wird niemals Erfolg haben, das weiß ich schon jetzt. Ich werde niemals Künstler finden, die auch nur annähernd meinen Anforderungen entsprechen. Der Papierkrieg und die Routine unserer Theater, die Gedankenlosigkeit unserer Inszenierungen, das System, im Ensemble die Invaliden zu halten statt die Jungen machen zu lassen – all das macht es praktisch unmöglich, meine Oper zu inszenieren … Ja, es ist eine Oper ohne Zukunft!« Diese bitteren Worte (und wir zitieren nur einen Teil von ihnen) schrieb Piotr ​​Iljitsch Tschaikowski in einem Brief vom 2. Jänner 1878 an seinen Lieblingsschüler Sergej Tanejew. Die Bitterkeit Tschaikowskis wurde durch die Tatsache verstärkt, dass die neue Oper sogar vom eigenen Lieblingsschüler nicht anerkannt und wertgeschätzt wurde (die, muss man freilich hinzufügen, auch noch nicht vollendet war: Der Schlussstrich wurde erst am 20. Jänner gezogen). Tanejew tadelte Tschaikowski für die »mangelnde dramatische Wirkung« seines Eugen Onegin. Dies sollte später zu einem Gemeinplatz der Kritik werden, insbesondere nachdem Onegin zuerst in Moskau und dann in Petersburg produziert worden war. Das Unverständnis aufgeklärter Kenner ist geradezu verblüffend. Der Petersburger Komponist und Dogmatiker César Cui, der keine Gelegenheit ausließ, Tschaikowski zu kritisieren, veröffentlichte eine Rezension, die in der Grobheit ihres Tons und der Absurdität ihrer Argumente beleidigend war. Das weniger sachkundige Publikum erwies sich als aufgeschlossener und großmütiger, obwohl die eigentümlichen Vorlieben der Moskauer Öffentlichkeit dem angegriffenen Verfasser weiter zusetzen mussten: Denn laut Bericht von Modest Tschaikowski, dem Bruder und Biographen von Piotr Iljitsch, ​​ riefen bei der OneginPremiere am Moskauer Bolschoi am 11. Jänner 1881 »Triquets Couplets stürmischen Applaus« hervor. Da dies der einzige Moment begeisterten, lautstarken Applauses war, führte er zu Witzeleien, wie etwa, dass die Oper eigentlich Monsieur Triquet hätte heißen müssen und nicht Eugen Onegin. Die besten Momente der Oper erreichten die breitere Öffentlichkeit zunächst nicht. Dies bedeutet natürlich nicht, dass der erste Abend ein Fiasko war, zumal das Publikum in Moskau dem Zauber von Tschaikowskis Musik bereits VA DIM GAJ EWSK I

50


erlegen war; doch war der Erfolg so uneindeutig, dass man unweigerlich an die Uraufführung von Tschechows Die Möwe am Alexandrinski-Theater in Petersburg fünfzehn Jahre später denkt, anlässlich der Benefizaufführung der Schauspielerin Jelisaweta Lewkejewa am 17. Oktober 1896. Wie Tschechow in einem Brief an seinen Verleger Alexei Suworin selbst voraussagte, »wird die Öffentlichkeit etwas Lustiges erwarten und enttäuscht sein«. Und so kam es auch, Tschechow verließ das Theater bereits nach dem zweiten Akt. Obwohl die Folgeaufführungen ganz anders aufgenommen wurden, ist diese Premiere als »das Fiasko der Möwe« in die Geschichte eingegangen. Heute begreifen wir, dass diese beiden Ereignisse – der halbe Erfolg von Onegin und das halbe Fiasko der Möwe – tatsächlich miteinander in Verbindung standen und einen historischen Wendepunkt anzeigten: die Geburt einer neuen Opernform und einer neuen Dramenform. Im ersten Fall im­ plizierte dies einen radikalen Bruch mit den Traditionen der sogenannten »großen Oper«, die Ablehnung von bombastischen Effekten und abgekarteten Handlungsmustern (Rivalität zwischen männlichen oder weiblichen Hauptfiguren, mysteriöse Entführungen, wundersame Rettungen usw.); im zweiten Fall einen analogen Bruch mit den Konventionen des sogenannten Well-Made-Play; in beiden Fällen eine von Grund auf erneuerte Ausdruckskraft und Freiheit der szenischen Handlung und ihrer Dramaturgie, die aus den poetischen Potenzialen des Alltagslebens und der menschlichen Psyche und ihrer Rätsel schöpft. Ein solcher thematischer und stilistischer Wendepunkt ist im Fachjargon der modernen Geisteswissenschaften als Code-­ Änderung bekannt. Traditionelle Opern- und Theater-Ensembles waren auf solche innovativen Ideen natürlich nicht vorbereitet. Es musste sich eine echte, an die Grundlagen rührende Revolution in den darstellenden Künsten ereignen, und es musste eine neue Gestalt im Theater in Erscheinung treten: der Regisseur. Es ist erstaunlich, dass ein und derselbe Mann zu jenem Regisseur wurde, der die Modernität von Die Möwe und von Eugen Onegin erkannte und für beide Werke eine neue szenische Sprache fand: Konstantin Sergejewitsch Stanislawski. Zunächst realisierte er 1898 in der allerersten Spielzeit des Moskauer Tschechow-Künstlertheaters sein berühmtes Regiekonzept für Die Möwe, um dann im Mai mit Eugen Onegin im von ihm gegründeten Opernstudio eine Aufführung zu inszenieren, die in der Geschichte des Musiktheaters ebenfalls zu einem Meilenstein wurde. Darüber, dass Tschechows Dramaturgie hohe Ansprüche an die Regie stellt, herrscht Einigkeit. Dies bestätigen alle späteren Produktionen der Möwe und anderer Tschechow-Stücke, sowohl jene, die zum Erfolg wurden, als auch jene, die floppten. Aber dass auch Tschaikowskis berühmte Opern einen bedeutenden Regisseur verlangen, war eine Entdeckung Stanislawskis, die durch die Arbeit eines weiteren Theaterreformers, des Stanislawski-Schülers Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold, untermauert wurde, als dieser 1935 51

CODE-Ä N DERU NG


am Leningrader Maly Operntheater (»kleinen Opernhaus«) seine legendäre Pique Dame inszenierte. Bei Eugen Onegin besteht die Aufgabe des Regisseurs vor allem darin, die dramatische Handlung zu organisieren und dabei deren symbolische Bedeutung zu definieren. Man bedenke, dass Eugen Onegin hinsichtlich seines ­inneren Aufbaus ein ziemlich komplexes Werk ist. Obwohl Tschaikowski seine Oper als »Lyrische Szenen« bezeichnete, was auf ein eher loses Reihungsprinzip hindeutet, weist sie gleichwohl eine außergewöhnlich klare und symmetrische Struktur auf. Grundlage der Oper ist ein Konflikt zweier Wesensformen, zweier Essenzen, eigentlich zweier Welten: zwischen der des Landguts und der der Hauptstadt. In die ländliche Welt der Larins, eine patriarchale und volkstümlich-sangesfreudige Welt (ein Faktor, der für eine Oper von Bedeutung ist), kommt ein Dandy aus der Hauptstadt, Onegin, ein relativ junger und recht anständiger Mann, der aber emotional leer ist. Die lyrische Seele der Gutshaus-Träumerin Tatjana öffnet sich ihm, stößt jedoch auf eine kalte, im Grunde antimusikalische Antwort (ein hinsichtlich seiner künstlerischen Kühnheit bemerkenswerter dramaturgischer Schachzug des Komponisten). Für den Onegin-Monolog und andere Szenen verwendet Tschaikowski den Puschkin-Text, zieht jedoch eigene Subtexte ein, die nicht von jedem Sänger erfasst werden. Hinter der verletzenden Höflichkeit der Onegin-Sätze spürt man die verborgene Angst eines abgestumpften Herzens, das sich älter fühlt, als es ist, und das sich einem jungen Wesen gegenübersieht, das voll spiritueller Stärke, Gefühl und der Sehnsucht nach Selbstaufopferung ist. Dieser Konflikt, der subtil psychologischer Natur ist und nicht durch Klassen- oder Nationalitätsunterschiede etc. motiviert ist, war für die Oper ebenso ungewöhnlich wie die Geschichte von Nina Zarechnaya und Trigorin aus ­Tschechows Die Möwe für das Schauspiel. Dies ist die neue Form, die Tschaikowski und Tschechow, die sich großen wechselseitigen Respekt entgegenbrachten, in Oper und Drama einführten, der Durchbruch, den sie im Welttheater erzielten. Die direkte Gegenüberstellung von Landgut und Hauptstadt behandelt Tschaikowski konsequent und sehr umfassend, indem er diesen dramatischen Konflikt auf die gesamte Oper ausdehnt. Im 1. Akt findet die Begegnung von Tatjana und Onegin statt, in 2. Akt der Ball bei Larins, im 3. Akt der Petersburger Ball. Bevor sich Lenski und Onegin überwerfen, ist das bescheidene Tanzvergnügen der Larins zunächst herzlicher und eher unbedarfter Stimmung. Genau hier sind Triquets humorvolle Couplets zu hören, deren Text von einem Bekannten Tschaikowskis, Konstantin Schilowski, verfasst wurde. Der Petersburger Ball ist eine brillante und teilweise zeremonielle Angelegenheit, das, was man in der Porträtmalerei als repräsentativ bezeichnet. Hier trägt Gremin seine Liebeserklärung vor, aufrichtig, aber mit bestimmten Obertönen, die an den General erinnern (wobei Puschkin-Kenner behaupten, dass Puschkins General, jener »Fürst I.«, nicht älter als Onegin ist und also nicht VA DIM GAJ EWSK I

52


unbedingt ein alter Mann sein muss. Was der Komponist als Autor von ­Mazeppa, eine Oper, die eine Amour fou einer jungen Frau zu einem deutlich älteren Mann schildert, über diese Rechnung dachte, wissen wir nicht). Hier auf dem Petersburger Ball wird anders getanzt als auf dem Land. In den kontrastierenden Bildern seiner Oper von Landgut und Hauptstadt kommt Tschaikowski den kulturhistorischen Panoramen von Lew Tolstoi näher als irgendwo sonst. Mit diesem hat er sich übrigens während der Arbeit an Libretto und Musik von Onegin mehrmals getroffen und unterhalten. Doch hauptsächlich konzentrierten sich seine Gedanken auf Puschkin, den Puschkin-Roman und die Puschkin-Heldin. Und deshalb musste das 2. Bild seiner Oper zum Höhepunkt der Szenenfolge auf dem Lande werden, Tatjanas Briefszene. Dies war die Szene, die Tschaikowski am meisten liebte. In einem Brief vom 28. September 1883 an Nadeschda Filaretowna von Meck (der er auch das Konzept seiner Oper erklären musste) schreibt Tschaikowski: »… schon in sehr frühen Jahren war ich stets aufs Neue erschüttert durch die tiefe Poesie der Tatjana nach dem Erscheinen von Onegin. Und falls in mir beim Komponieren der Briefszene das Feuer der Inspiration brannte, dann hat Puschkin es in mir entzündet.« Es muss kaum darauf hingewiesen werden, dass die briefliche Liebeserklärung eines sehr jungen Mädchens an einen ihr kaum bekannten Junggesellen nach den sozialen Regeln des 19. Jahrhunderts eine sowohl wagemutige als auch inspirierte Handlung war. Unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung der Gattung Opern markiert ­diese Szene zugleich die Geburt einer völlig neuen Form. Es bleibt zu ergänzen, dass die Komposition der Briefszene unter Umständen in Tschaikowskis Privatleben stattfand, die durchaus als fatal bezeichnet werden können. Als die Arbeit am 1. Akt ihrem Höhepunkt zustrebte, erhielt Tschaikowski, wie er selbst erzählt, »einen Brief von einem Mädchen, das ich früher einmal kannte. Aus diesem Brief erfuhr ich, dass sie schon lange in mich verliebt war. Es war ein so aufrichtiger, herzlicher Brief, dass ich mich entschied, darauf zu antworten, was ich vorher unter ähnlichen Umständen immer sorgfältig vermieden hatte … « Was folgte, ist bekannt: eine Ehe ohne Liebe, aber aus Mitgefühl für das arme Mädchen, rasche Ernüchterung, völlige Verzweiflung und Trennung. Doch dies sollte erst später, im Herbst geschehen, zunächst wurde der Brief von Antonina Miljukowa, der den Komponisten bei der Vertonung des Briefes von Tatjana Larina erreichte, offenbar als gutes Omen aufgefasst, als ein ermutigendes Zeichen des Schicksals, durch das Tschaikowski in seiner Moskauer Bekanntschaft die Züge von Puschkins Heldin zu erkennen glaubte. Der andere Höhepunkt der Oper – die Duellszene und Lenskis Arie, in der er Abschied vom Leben nimmt – erwuchs ebenfalls aus seinen Reflexionen zu Puschkin. Da er über Puschkins Genialität und sein Schicksal nachdachte (der Dichter war selbst im Duell gefallen), wich Tschaikowski bei seiner Darstellung Lenskis bewusst vom Original ab. Im Roman wird Lens 53

CODE-Ä N DERU NG


ki aus zwei Blickwinkeln gezeigt, indem Puschkin zwei mögliche Varianten seiner Zukunft entwirft: Er war vielleicht zu großen Dingen Zum Heil der Menschheit ausersehn oder Ihm konnte freilich auch im Leben Ein Alltagslos beschieden sein: Er hätte Frische, Lust und Streben Bald schon verloren, hinterdrein Enttäuscht die Musen satt bekommen, Im Dorf gehockt, ein Weib genommen Und sich im Schlafrock stillvergnügt Als Hahnrei in die Welt gefügt; (6. Kapitel, 37.–39. Strophe, deutsch von Theodor Commichau)

Diskret, aber entschieden lehnt Tschaikowski die zweite prosaische Version ab. In der Oper ist Lenski zu einem Dichter berufen, zu einem genialen Dichter. Dies ist ein ideales Bild des Dichters aus der schon fernen Puschkin-Zeit und im herannahenden Zeitalter des Lyrikers Alexander Blok. Vor dem Hintergrund von Tschaikowskis Oper oder durch eine vielleicht unbewusste Assoziation nannte Anna Achmatowa Blok »den tragischen Tenor der Epoche«. Dies ist aber auch Lenski mit der prophetischen Botschaft seiner TenorArie. Tschaikowski trauert um jene Dichter, die im 19. und im 20. Jahrhundert zu Tode kamen und noch kommen sollten. Es ist die reinste, traurigste und nüchternste lyrische Aussage in der gesamten Opernliteratur zweier Jahrhunderte. Diese unsterbliche Arie, die in vielen Opernhäusern in russischer Sprache gesungen wird, hat die historischen Bedeutung dieser vermeintlichen Kammeroper unendlich gesteigert. Die manifeste Präsenz von Puschkins goldenem Zeitalter und die latente Präsenz von Bloks silbernem Zeitalter verleihen der Oper ihre verborgene Schönheit, ihren unwiderstehlichen Charme. Und diese verborgene Schönheit muss der Regisseur enthüllen und greifbar machen – ohne dabei den tschechow’schen Stil und die tschechow’schen Motive der Oper zu vernachlässigen. Mit großem Nationalgefühl hat die Opernversion von Eugen Onegin nur das Beste aus der russischen Kultur geschöpft, dabei aber dieser Pracht ein ganz eigenes Kolorit verliehen, nämlich das von Tschaikowski. Der Komponist selbst hat darüber wie folgt geschrieben: »All dies ist, wenn Sie so wollen, sehr einfach, sogar alltäglich, aber Einfachheit und Alltäglichkeit schließen weder Poesie noch Drama aus.« CODE-Ä N DERU NG

Mitglieder des ­Slowakischen Philharmonischen Chors, Andrè Schuen als Eugen Onegin →

54



Hier leg’ ich denn mein Kleinod nieder: Tatjanens lieben, holden Brief. Ich les’ ihn oft – und immer wieder Bewegt er mich so seltsam tief. Wer lehrte sie die süßen Worte, So frei, und doch am rechten Orte, Wer dieser Sprache schlichte Kraft, Den Herzenston der Leidenschaft, So kühn, so rührend überschwänglich?


»Ich bin so kühn, an Sie zu schreiben – Ach, braucht es mehr als dies allein? Nun wird gewiss – was soll mir bleiben? – Verachtung meine Strafe sein! Doch wenn, wo Angst und Qual mich treiben, Ein Fünkchen Mitleid für mich spricht – O dann verwerfen Sie mich nicht! Erst wollt’ ich schweigen, hätte nimmer, Was nun zu Schmach und Schande ward, Dem strengen Auge offenbart, Ach, bliebe nur ein winz’ger Schimmer Von Hoffnung, Sie von Zeit zu Zeit In unsrer Abgeschiedenheit Zu sehn, zu grüßen, im geheimen Mich ihres klugen Worts zu freun, Um selig-froh für mich allein Vom nächsten Wiedersehn zu träumen … Doch heißt’s, Ihr Stolz vertrüge nicht, In niedren Hütten einzukehren; Und wir – sind klein, gering und schlicht, Nur dankbar, einen Gast zu ehren. ↘


Ach, warum kamen Sie aufs Land, Wo wir so still verborgen waren? Ich hätte nimmer Sie gekannt Und nie solch Herzeleid erfahren. Ich hätte, klüger mit den Jahren, Vielleicht ein ander Ziel erstrebt Und, einem andern treu verbunden, Ein friedlich Glück bei ihm gefunden Und frommer Mutterpflicht gelebt. Ein andrer … Nein! Es kann auf Erden Mein Herz sich keinem andern weihn! So ließ des Schöpfers Hand mich werden, So will’s der Himmel: ich bin Dein. Dich zu gewinnen, war mein Leben Ein einzig’ Pfand nur, fort und fort; Gott selber hat Dich mir gegeben, Bis an das Grab bist Du mein Hort … Du warst’s, der mich im Traum beglückte, Längst liebt’ ich Dich, eh’ ich Dich sah;


Dein Antlitz strahlte mir so nah, Und Deiner Stimme Klang entzückte Mich längst … Das war kein Traum, o nein! Sowie Du eintratst, gleich erkannte Mein Herz Dich wieder, jauchzte, brannte Und rief: er ist’s, er muss es sein! War’s nicht Dein Hauch, der mich u ­ mwehte, Mir zusprach, wenn ich einsam stand, Wenn ich der bittren Armut Nöte Zu lindern ging, wenn im Gebete Die bange Seele Tröstung fand? War’s nicht Dein Bildnis, glanzumwoben, Das nächtlich dann vom Himmel droben Herabglitt in mein Schlafgemach, Sich flüsternd an mein Kissen schmiegte Und mich mit süßen Worten wiegte, Aus denen sel’ge Hoffnung sprach? O komm und löse meine Zweifel: Wer bist Du, Engel oder Teufel, Versucher oder Schutz und Freund? ↘


Ach, wenn nun Träume nur mich narren, Mein töricht’ Herz vergeblich weint, Und andre Lose meiner harren …? Gleichviel! Es ruht ja mein Geschick Von nun an doch in Deinen Händen, Dich sucht mein tränenfeuchter Blick, Nur Du vermagst mir Trost zu spenden … O sieh: hier steh’ ich ganz allein, Niemand versteht mich, unbeachtet Verwelkt mein Herz, mein Geist v ­ erschmachtet, Ich muss vergehn in stummer Pein. O komm: der Seele banges Hoffen Belebt ein einz’ger Blick von Dir; Wenn anders – dann zernichte mir Dies Wahngebilde hart und offen! Ich schließe! Wie mich Wort um Wort Schon reut – ich fühle Scham und Grauen … Doch Ihre Ehre sei mein Hort: Ihr will ich frei mich anvertrauen …« → 3. Kapitel, 31


Tamuna Gochashvili als Tatjana


Gerd Rienäcker

LA MELANCHOLIA

Nachdenken über »Eugen Onegin«


Fallende Gebärden eingangs: Zweimal setzt die Musik an, zweimal bricht sie ab; der absinkenden Kantilene antwortet Schweigen, hernach die schmucklose Kadenz; das Geschehen ist zu Ende, kaum dass es begonnen hat – wird ihm das Wort entzogen? Ein dritter Anlauf erst sucht die Zwänge des Schweigens und Schließens zu überbrücken; hierzu bedarf es der Anstrengung — sie teilt sich dem plötzlichen Aufsprung nach oben mit und der Emphase des Tones. Übertönt ist das Schweigen, potenziert jedoch die fallende Bewegung; buchstäblich sinkt Musik in sich zusammen, jenen Menschen vergleichbar, denen die Kraft zu wirklichem Leben abgeht. Solch beredter Einleitung soll widersprochen sein: Emsig ist die Gutsherrin mit Hausarbeit beschäftigt, ihr zur Seite die Gesellschafterin, mit der sie ihr bisheriges Leben bespricht, oder die Dorfbewohner, die ihr huldigen. Olga, die eine Tochter, begehrt fröhlich zu sein vom Morgen bis zum Abend — was soll ihr die Schwermut ihrer Schwester? Bauern kommen heim; sie tanzen und singen. Und es kommen Gäste — ein Dichter und ein weitgereister Lebemann; sie bringen die Welt ins abgelegene Haus. Dass Tatjana, die andere Tochter, an all dem Frohsinn nicht teilhaben will, lässt als faux pas, möglicherweise als kindliche Unerfahrenheit sich abtun: Das Leben wird sie schon anders lehren! Was aber ist das Leben? Verzicht, davon eingangs die Gutsherrin redet, Selbstbescheidung aufs arbeitsame Einerlei zuhause? Der unentwegt inszenierte Frohsinn, dem Olga das Wort spricht – dass Lenski, der Dichter, sie anbetet, wird hingenommen als Selbstverständliches? Eugen Onegins unersättlicher Streifzug durch die Welt, daraus Ironie, gar Verachtung erwächst, die als Erfahrenheit sich drapiert? Das Ballfest, auf dem gutsherrliche Nachbarn sich ergehen, bis es zum Störfall kommt? Oder die fürstliche Haute Volée zu Petersburg, in Gremins Palast? Tatjana, die, ach, so Weltferne, ist es, die nach wirklichem Leben fragt, mehr noch, die es herausfordert: Liebt sie Onegin, so wird sie bekennen, und wenn’s ihr Untergang wäre. Freilich, es bedarf geradezu übermenschlicher Kraft, dies zu tun: Nicht sie diktiert sich den Brief, es ist der Brief, der sie zum Schreiben zwingt, Wort für Wort, überspringend alle Grenzen, die ihr auferlegt sind – Orchestermusik denn auch, die sie zum Stammeln, zum Singen, Aussingen ihrer Empfindungen nötigt. Und wenn es ihr Untergang wäre! Der lässt, wie es scheint, nicht auf sich warten: Schmähliche, beleidigende Zurückweisung durch Onegin, der Weg ins ungeliebt Geborgene des Petersburger Fürstenhauses, in den Verzicht, schließlich und endlich die erneute Begegnung mit Onegin, der ihr als Gescheiterter liebeflehend zu Füßen fällt, den sie immer noch liebt und zurückweisen muss! Wahrlich, es gibt nur die eine Nacht des Briefes, die sie zu sich finden lässt, aber es gibt sie immerhin, und sie wird Tatjana aufrecht halten durch ihr gefangenes Leben hindurch. Und zwingt der Brief sie zu bekennen, so ist musikalisch die fallende Gebärde aufgehoben, umgekehrt zum mühseligen, aufhaltsam-beharrlichen Steigen, zum Ausbruch, der sich nicht mehr in die Schranken weisen lässt. 63

GER D R IENÄCK ER


Aufgehoben ist – oder scheint? – jene seufzende Melancholie, die den Auftakt gab zum Geschehen, gewandelt in heftig zufahrende, ja, zuschlagende Gebärden, denen Blechbläser und Pauken das Geleit geben: Zeichen der Befreiung oder des kommenden Unheils? Der Abschluss des Werkes wird es offenbaren: Orchesterschläge, diesmal und endgültig in fallender Bewegung, einstürzend über die Gescheiterten – nicht nur über Onegin –, um sie zu begraben im trost- und hoffnungslosen Weiterleben. Als ob der Anfang im Schluss sich entziffere! Es ist Melancholie, die des gewaltsamen Zusammenbruchs sich ebenso überführt wie des emphatischen Aufbruchs zwischendurch, Melancholie, die, in Tschaikowskis Lesart, des Äußersten sich vergewissert, die Mitte verschmäht, um sie unentwegt herbei zu sehnen, Melancholie als Chiffre des verweigerten Glückes. Dass Menschen ohne Hafen sind, dass sie lebenslang suchend zu stranden drohen, dass sie nur leben können, wenn sie in Volksfesten das Eigene vergessen (nicht überwinden!), hat der Komponist als Programm seiner vierten Sinfonie einbekannt; daraus Kriterien für heilsame Volksverbundenheit des Komponisten zu destillieren, blieb Lesebüchern vorbehalten, sie unterstellen, dass der Künstler sein Leid in den Volksfesten überwindet, also wirklich zu sich kommt. Das Gelärm am Schluss der vierten Sinfonie führt dies ad absurdum — es hat den Einzelnen nur zum Schweigen gebracht. Und wer, im zweiten Aufzuge des lyrischen Dramas Eugen Onegin auf dem gutsfraulichen Ball sich ergeht, wird zu erschrecken haben, wenn die Not enttäuschter Liebe sich Bahn bricht als Störfall, wenn Lenski seinen Freund-Feind öffentlich zum Duell fordert: Dann auch ist es um den rauschenden Walzer mitsamt dem traulichen Hause getan. (Das für Lenski tödliche Duell findet draußen statt im Zeichen der weltabschiednehmenden Romanze, des kanonhaften Aneinander-Vorbeiredens, der musikalisierten Katastrophe!) Getan ist es auch um die Petersburger Ballmusik, ja, um die Geborgenheit des fürstlichen Palastes! Onegin, gescheitert und zur Einsicht gekommen, durchbricht die schützende Mauer, Tatjana von der anderen Seite, auf dass sie im jäh aufblitzenden Bekenntnis voneinander- und zugrunde gehen, um weiter zu leben als Schatten. Was immer die Welt aufbietet als Gehäuse des ständischen Beisammen, als Maskerade, darin Einzelne sich verbergen, als eherne Regelwerke des Status quo, der die Menschen gefangenhält und schützt im gleichen Atemzuge, fällt zusammen im Augenblick der Frage nach Menschenwürdigem. Und wird die Frage zurückgewiesen, so bleibt sie im Raume, selbst und gerade wenn die Fragenden scheitern. Melancholie aber ist geboren in und aus der Not der Frage und des Scheiterns; dass sie für beides einsteht, macht sie unaufhaltsam wie jene, die nicht aufhören zu suchen. In der Verhaltenheit des Anfangs kommt sie zu sich, in der lyrischen Oboen-Kantilene, die der Liebenden den Brief aufdiktiert, im Auf- und Ausbruch der Entscheidung, den Zusammenbruch wird sie überdauern. LA MELA NCHOLI A

Mitglieder des Slowakischen Philharmonischen Chors, Dimitry ­Ivashchenko als Fürst Gremin →

64



In erster Überraschung blieben Sie beide stumm; dann nahm Eugen Das Wort: »Sie haben mir geschrieben, Kein Leugnen macht es ungeschehn. Ich las der Neigung hold Bekenntnis, Der reinen Seele zart Geständnis; Ihr edles Zutraun rührt mich tief. Was lang vergessen in mir schlief, Ward aufgeweckt zu neuem Leben. Doch leeres Schmeicheln liegt mir fern: Dem offnen Herzen will ich gern Mit gleichem Freimut Antwort geben. O hören Sie die Beichte an, Ihr eigner Spruch entscheide dann.


Wär’ es mein höchster Wunsch auf Erden, Geborgen sein im Eheglück, Und hätte Gatte, Vater werden Mir vorbestimmt ein hold Geschick; Wenn der Familie süße Bürde Mich auch nur flüchtig locken würde – Ich hätte einzig in der Welt Nur Sie als Braut mir zugesellt. Ja, ich bekenn’ es unumwunden: In Ihnen hätte meine Wahl Das einst erträumte Ideal, Den Halt, den Trost im Leid gefunden; Der größte Schatz, er wäre mein, Und ich – ich könnte glücklich sein! ↘


Doch bin ich nicht dafür geboren, Nie hat mein Sinn danach begehrt; Ihr Liebreiz ist für mich verloren, Der holden Gunst bin ich nicht wert. O glauben Sie (mein Wort zum Pfande): Wir trügen schwer am Ehestande. Wie warm ich auch für Sie gefühlt, Ich wäre bald doch abgekühlt; Sie weinen dann – allein durch Tränen Wird nimmermehr mein Herz erweicht, Nein, nur verbittert, fortgescheucht. Dies sind die Rosen dann, die schönen, Die uns, vielleicht für Lebenszeit, Gott Hymen auf die Pfade streut


Die Jugend flieht, ihr Wahn entschwindet; Mein Busen wurde hoffnungsleer … Nur wie des Bruders Herz empfindet, So lieb’ ich Sie – vielleicht auch mehr. Sie dürfen ohne Groll mir glauben: Wie sich mit neuem Grün belauben In jedem Lenze Busch und Baum, So löst im Mädchenherz ein Traum Den andern ab mit bunten Flügeln. So war’s von je. Auch Ihr Gefühl Entdeckt sich bald ein neues Ziel … Nur lernen Sie Ihr Herz zu zügeln: Nicht jeder achtet es wie ich – Wer Schaden fürchtet, hüte sich.« → 4. Kapitel, 12–16


Andreas Láng

VON LEGENDEN, SCHNEEFALL UND LANGEN PAUSEN

»Eugen Onegin« an der Wiener Staatsoper


Genau genommen begann die Wiener Aufführungsgeschichte von Eugen Onegin in Hamburg. Tschaikowski selbst hätte die dortige Erstaufführung im Jänner 1892 persönlich dirigieren sollen (die schon im Voraus gedruckten Theaterzettel machten stolz auf diesen Umstand aufmerksam), trat aber kurzfristig von dieser Aufgabe zurück. Die Sprachbarriere – gesungen wurde der damaligen Praxis entsprechend auf Deutsch – verunsicherte den Komponisten nach der ihm zugestandenen einzigen Probe derartig, dass er sich für unpässlich erklärte und die musikalische Leitung an den von ihm als »einfach genial« apostrophierten 1. Kapellmeister des Hauses übergab: an Gustav Mahler. Und dieser fand Gefallen am Werk. So sehr, dass er Eugen Onegin rund 15 Jahre später, genauer am 19. November 1897, als frischgebackener Direktor der Wiener Hofoper zur ersten Premiere seiner offiziellen Amtszeit erkor und dem Publikum dadurch gleich zu Beginn eine wichtige Novität präsentierte. Ein Umstand, den der gefürchtete Kritikerpapst Eduard Hanslick in seiner Rezension überaus lobend hervorhob und demgemäß vom »größten Dank« schrieb »den wir der Hofoperndirektion für die Aufführung des Eugen Onegin schulden«. Dieses »wir« war offenbar nicht als Majestätsplural gemeint, sondern bezog die Gesamtheit aller Anwesenden mit ein, deren stürmischen Ovationen den Zuschauerraum zu sprengen schienen. Immer wieder unterbrachen minutenlange Beifallskundgebungen den Fluss der Aufführung – nicht zuletzt nach der Duellszene. Manches ging natürlich auch auf das Konto der Ausführenden: Mahlers Dirigat wurde ebenso gefeiert, wie die damals populäre Marie Renard als Tatjana, Wilhelm Hesch als Gremin, Josef Ritter in der Titelrolle und Fritz Schrödter als Lenski. Aber dennoch stand das Werk selbst im Mittelpunkt des Interesses und des Jubels. Entsprechend dicht war zunächst die Zahl der Aufführungen. (Aus Wertschätzung für Tschaikowski brachte Mahler übrigens in den folgenden Jahren auch dessen Pique Dame und Jolantha zur Wiener Erstaufführung.) Die szenische Realisation und Ausstattung dieses ersten Wiener Eugen Onegin in den bewusst prunkvollen Dekorationen Anton Brioschis entsprach hingegen im Prinzip dem damaligen Usus des reinen Arrangements. Nur der fast schon inflationäre Einsatz des choreographischen Elements (sowohl die Sängerin der Tatjana als auch jene der Olga hatten sich unentwegt auch tänzerisch zu beweisen) fiel aus dem üblichen Rahmen – wie auch die penetrant unvorteilhaft gestaltete Perücke des Lenski, die das Publikum ebenso erboste wie den Träger derselben. Mahlers fortschrittliche Inszenierungsvorstöße im Verein mit Alfred Roller harrten an diesem Punkt also noch ihrer Verwirklichung. Nach der ersten Euphorie wurde es aber an der Hofoper recht still um Eugen Onegin. Der Versuch, das Werk 1911 durch eine Wiederaufnahme der Produktion erneut in den Fokus zu rücken, misslang. Da nutzten auch Namen wie Richard Mayr (Gremin), Selma Kurz (Tatjana) oder Dirigenten wie Bruno Walter und Hugo Reichenberger wenig: Nach vier Vorstellungen innerhalb von fünf Wochen war es schon wieder vorbei, Bühnenbilder und Kostüme 71

A N DR EAS LÁ NG


wurden entsorgt oder anderweitig verwertet, die Noten verstaubten im Archiv des Hauses. Erst Direktor Clemens Krauss entriss im April 1934 die Oper dem Vergessen. Freilich ohne selbst ans Pult zu treten – dies überließ er Bruno Walter, der sich mit tiefster Überzeugung in die Schlacht warf und gemeinsam mit Lotte Lehmann als Tatjana einen ähnlichen musikalischen Triumph errang wie Mahler bei der Erstaufführung knapp 40 Jahre zuvor. Und das trotz des eher schwachen Onegin-Interpreten Karl Hammes, der kaum vermitteln konnte, warum sich Tatjana so schwärmerisch in ihn verliebt. Eher im »liebenswürdig-Papagenohaften« Fach zu Hause, wie die Neue Freie Presse konstatierte, konnte Hammes mit der Titelfigur wenig anfangen. Der Ansatz, ihn als eine Art russischen Hoffmann anzulegen, wirkte ebenso unglaubwürdig, wie seine stimmlichen Grenzen in der Partie offenbar wurden. Ein ganz anderes Problem hatten hingegen Regisseur Otto Erhardt und sein Ausstatter Robert Kautsky: Die wirtschaftlich angespannte Situation zwang sie zu Lösungen, die praktisch nichts kosten durften. Allzuviel Kreativität dürfte A N DR EAS LÁ NG

↑ Bühnenbildentwurf zur Wiener Erst­aufführung ­Eugen Onegin von Anton ­Brioschi (1897)

72


↑ Dmitri ­Hvorostovsky und Anna Netrebko 2013 in der ­Inszenierung von Falk Richter, Bühne: Katrin Hoffmann, Kostüme: Martin Kraemer

man auf der Bühne jedenfalls diesbezüglich nicht erlebt haben. Aus der wohlmeinenden Kritikerfeder Josef Reitlers heißt es dazu euphemistisch: »Herr Dr. Erhardt wahrt den Gesellschaftsszenen bunte Bewegtheit, den realistischen Vorgängen ungezwungene, die Darsteller möglichst wenig einengende Natürlichkeit. Er besitzt demnach eine wichtige Tugend des Regisseurs: er ist immer da, aber man bemerkt ihn nicht.« Für die gelungene Choreographie zeichnete Margarethe Wallmann, die spätere erfolgreiche Tosca-­ Regisseurin verantwortlich. Immerhin kam diese Produktion (bis 1940) schon auf 32 Vorstellungen – die Vorgängerinszenierung hatte es nur auf 24 Aufführungen gebracht. Auch die Pausen zwischen den Neuinszenierungen wurden kürzer. Bereits 1950 folgte im Theater an der Wien, dem Ausweichquartier der im Krieg ­zerstörten Staatsoper, die nächste Eugen Onegin-Premiere. Der Satz in der Wiener Zeitung »die Inszenierung Erich Wymetals war geschmackvoll, sauber, wenngleich nicht besonders einfallsreich«, zeigt, dass im Vergleich zu 1934 auf szenischem Gebiet keine große Weiterentwicklung stattgefunden hatte

73

VON LEGEN DEN, SCHN ELLFA LL U N D LA NGEN PAUSEN


– zumal der Bühnenbildner abermals Robert Kautsky hieß. Aber das Interesse des Publikums zielte ohnehin auf die musikalische Seite und diese war über jeden Zweifel erhaben: Ein George London in der Titelpartie, eine Ljuba Welitsch als Tatjana, ein Anton Dermota als Lenski und das alles unter der umsichtigen Leitung Meinhard Zallingers – was konnte sich ein Opernliebhaber damals Besseres wünschen? Und was konnte sich Direktor Franz Salmhofer Besseres wünschen als jene ausverkauften Vorstellungen, die ihm dieser Eugen Onegin bescherte? Eben. Und somit wurde das Ganze als Erfolg abgehakt. Was man von der 1961-Produktion eher nicht behaupten konnte: Die Inszenierung Paul Hagers schien genauso schlecht zu sein wie die davor gehende, vielleicht sogar noch schlechter, und dem Geschehen gegenüber völlig gleichgültig. Jeder Sänger versuchte, vom Regisseur allein gelassen, auf seine Weise wenigstens zu einer gewissen Form der Rollengestaltung zu finden. Das gelang manchen besser, wie Sena Jurinac als Tatjana, anderen weniger gut, wie Dietrich Fischer-Dieskau, der eine Art Mischung aus Mandryka und Graf Almaviva vorstellte und wieder anderen überhaupt nicht, etwa Biserka Cvejić, die als Olga in hässlichen Kostümen hilflos auf der­Bühne »herumflatterte«, wie der scharfzüngige Kritiker Franz Endler in der Kronenzeitung anmerkte. Leider wies diesmal auch die musikalische Seite so manche Schwachstelle auf: Chor und Orchester schienen sich den ganzen Premierenabend über in Tempodifferenzen verstrickt zu haben und Oskar Czerwenka als Gremin hatte, laut Endler, »anscheinend das Einsingen vergessen«. Das Resultat: Ein enttäuschtes Publikum und lediglich sieben Vorstellungen. 1973 hätte es beinahe eine interessante szenische Lösung gegeben. Doch das ambitionierte Inszenierungskonzept Rudolf Noeltes mundete Teilen des selbstbewussten Sängerensembles nicht und so wurde Noelte ­kurzer­hand gegen Werner Kelch ausgetauscht, der in einem Bühnenbild »nach Entwürfen von Jürgen Rose« eine biedere Abbildung der Handlung auf die Bühne stellte. Soviel zum damaligen Kräfteverhältnis hinter den Kulissen! Aber auch der Dirigent Peter Schrottner und Éva Marton als Tatjana stießen nur kurz vor respektive erst während der Probenzeit dazu. Sie konnten aber wenigstens musikalisch ebenso reüssieren, wie Bernd Weikl als Onegin und Peter Schreier als Lenski. Trotz dieser Anlaufschwierigkeiten und obwohl kaum jemand mit der Produktion je glücklich wurde, blieb sie mehr als ein Vierteljahrhundert lang auf dem Spielplan und bot zahlreichen bedeutenden Interpretinnen und Interpreten – am Dirigentenpult wie auf der Bühne – ­Gelegenheit für unvergessliche künstlerische Leistungen. So debütierte ­beispielsweise der spätere Musikdirektor Seiji Ozawa bei der von Grischa Asagaroff einstudierten (erstmals russischsprachigen) Wiederaufnahme im Jahr 1988 mit fulminantem Erfolg, später folgten ihm Asher Fisch oder ­Simone Young; und die Besetzung von 1988 mit Mirella Freni (Tatjana), Peter Dvorský (Lenski), Nicolai Ghiaurov (Gremin) und Wolfgang Brendel (Eugen Onegin) ist mittlerweile ebenso legendär wie spätere Auftritte von A N DR EAS LÁ NG

74


Thomas Hampson (Wiederaufnahme 1997) und Bo Skovhus als Onegin, ­Ileana Cotrubaş, Anna Tomowa-Sintow, Gabriele Beňačková und Adrianne Pieczonka als Tatjana und Neil Shicoff als Lenski. Mit Falk Richter versuchte 2009 ein erfolgreicher Dramatiker und mittlerweile mehrfach ausgezeichneter Regisseur sein Eugen Onegin-Glück an der Wiener Staatsoper. Er versetzte den größten Teil der Handlung in eine zeitlos gehaltene Landschaft mit stetigem Schneefall und einem aus Eiswürfeln zusammengesetzten Mobiliar. Diese Bühnenraumgestaltung stand einerseits für Russland, andererseits für die emotionale Vereisung der Gesellschaft – und konnte nur wenige überzeugen. Gleichwohl diente sie die nächsten zehn Jahre als Kulisse in der sich einige der namhaftesten Sängerinnen und Sänger­ dieser Zeit präsentieren konnten: unter anderem Anna Netrebko, Maija ­Kovalevska und Marina Rebeka als Tatjana, Dmitri Hvorostovsky, Simon Keenlyside, Peter Mattei und Christopher Maltman in der Titelrolle, Ramón Vargas, Pavol Breslik, Rolando Villazón und Dmitry Korchak als Lenski sowie Ferruccio Furlanetto als Gremin. Und nach den von Seiji Ozawa dirigierten ersten Serien standen neben weniger prominenten Vertretern auch Dirigenten wie Kirill Petrenko oder Andris Nelsons am Pult. Im Zuge der Erneuerung zentraler Werke des Repertoires durch exemplarische Produktionen kam es schließlich unter der musikalischen Leitung von Tomáš Hanus zur Premiere der aktuellen Inszenierung. Ursprünglich am Bolschoi Theater Moskau realisiert, wurde sie vom gefeierten russischen Regisseur Dmitri Tcherniakov an der Wiener Staatsoper mit wichtigen Vertreterinnen und Vertretern der jungen Sängergeneration am 25. Oktober 2020 neu erarbeitet und die Wiener Eugen Onegin-Aufführungsgeschichte um ein wesentliches Kapitel erweitert.

75

VON LEGEN DEN, SCHN EEFA LL U N D LA NGEN PAUSEN


Onegins Augen aber hingen Nur an Tatjana wie gebannt, Nicht jenem einstmals so geringen, Verliebten, scheuen Kind vom Land, Das er so kalt zurückgestoßen – Nein, an der Fürstin, an der großen, Vollkommnen Frau, dem nun so fern Entrückten, strahlend hellen Stern Der schönen, kaiserstolzen Newa. Wie hatte Tanja sich entfaltet! Wie schnell den sichren Ton erfasst, Der im Salon der Großen waltet, Dem hohen Rang sich angepasst! Wer hätte hier, im goldnen Rahmen, In dieser Königin der Damen Die Schüchternheit vom Dorf erkannt? Und einst war er der Gegenstand All ihrer Wünsche, all ihr Sehnen! → 8. Kapitel, 28–29


Tamuna Gochashvili als Tatjana, Andrè Schuen als Onegin und Dimitry Ivashchenko als Fürst Gremin


Alexei Parin

LEISE LYRISCHE SZENEN

Zugänge zu Tschaikowskis einzigartiger Oper


Tschaikowskis Oper Eugen Onegin ist die populärste aller russischen Opern, sowohl in Russland als auch international. In Moskau gibt es fünf Operntheater – vier von ihnen zeigen regelmäßig »ihren« Eugen Onegin im Repertoire. Auch in jedem europäischen Opernhaus wird diese intime lyrische Oper regelmäßig aufgeführt. Was mögen die Gründe für ihre besondere Beliebtheit sein? Wenn wir die Paradigmen verschiedener Nationalopern vergleichen, ergibt sich folgendes Bild: In Deutschland steht Mozarts Zauberflöte nach wie vor auf Platz Eins der Beliebtheitsskala, mit all den Eigentümlichkeiten ihres Librettos (man kann lange darüber streiten, wo das Positive und wo das Negative zu finden sind). Wichtigstes Resultat der Handlung ist die Hochzeit von Pamina und Tamino und die Machtübernahme durch das jugendliche Paar. Der Gedanke der Aufklärung wird als wichtigstes nationales Paradigma verstanden, auf dessen Grundlage sich die Ordnung der ganzen Welt gestalten lässt. In Frankreich wurde natürlich Bizets Carmen zur wichtigsten Oper. Hier geht es um das Prinzip der Freiheit und um die persönliche Unabhängigkeit, für die man bereit ist, auch mit dem Leben zu bezahlen – als hätte die Französische Revolution auf der Bühne ihre Barrikaden und sogar ihre Guillotine aufgebaut. In Italien nimmt Verdis La traviata den Spitzenplatz ein. Die christologische Idee der Opferbereitschaft, der Verzicht auf persönliches Glück zugunsten einer »Weltordnung« stehen im Mittelpunkt. Hier offenbart sich die katholische Frömmigkeit des Landes, in dessen Hauptstadt sich die Hochburg dieser Religion befindet. Was ist im Gewebe von Tschaikowskis Eugen Onegin zu entdecken? Die Oper entstand nach einem 1833 publizierten »Roman in Versen« von Puschkin, über den man in der russischen Intelligenz geteilter Meinung ist. Die einen finden, dass er die Frucht einer jugendlichen Sturm- und Drangperiode ist und viele Ideen, die darin wichtig sind, nur oberflächlich, quasi im Vorübergehen und wie zufällig angesprochen werden. Die anderen meinen, und zu ihnen zählen große Geister wie die Dichterin Marina Zwetajewa, dass in Eugen Onegin Paradigmen des menschlichen Umgangs in der russischen Gesellschaft aufgezeigt werden. Sie seien nur skizzenhaft umrissen, aber tief durchdacht, insbesondere die Verhaltensweise der Tatjana, die am Ende in die »innere Emigration« geht, was für viele Menschen in Russland auch heute charakteristisch ist. Puschkins Onegin vereint in sich zahlreiche charakterliche Defizite. Der Dichter stellt sein unerwartetes emotionales Erwachen in Petersburg als deutliches Zeichen für eine Umkehr des Schicksals dar, als einen unerbittlichen Wendepunkt auf dem Weg zur Selbstvervollkommnung. Während der Komposition seiner Oper wollte sich Tschaikowski den allgemein gültigen Verhaltensnormen in der Gesellschaft anpassen, und nahm das Wagnis einer Ehe auf sich, obwohl er zur Welt der Heterosexualität keinen Zugang hatte. Sein Werk entfernt sich in der Sprache weit von dem Versroman Puschkins, 79

A LEX EI PA R IN


seine Helden stehen eher der Welt von Turgenjews Roman Frühlingsfluten oder seines Theaterstücks Ein Monat auf dem Lande nahe, auch Stimmungen wie in Dostojewskis Weiße Nächte sind spürbar. Bei Tschaikowski schreibt Tatjana ihren Brief an Onegin auf Russisch, wohingegen sie ihn bei Puschkin im damals üblichen Französisch abfasst, »weil sie offenbar | Des Heimatslauts kaum mächtig war.« (3. Kapitel, 26) Puschkin erklärte, dass ihm seine Übersetzung ins Russische »matt und unzulänglich« vorkäme »wie ein von den Fingern schüchterner Schülerinnen gespielter Freischütz«: Webers Oper hatte 1821 das Licht der Welt erblickt und wurde in der Entstehungszeit des Romans (1823–31) überall gespielt und gesungen. Zur Erinnerung: In dieser deutschen Oper gibt es zwei Arien der Agathe. Eine von ihnen, »Und ob die Wolke sie verhülle«, die einen geheim­ nisvollen, symbolbeladenen Traum zum Inhalt hat, könnte ein Vorbild für Tatjanas Brief gewesen sein, zumal Tschaikowski wie wenige andere russische Komponisten seiner Zeit in der europäischen Musik zuhause war. In Puschkins Roman ist Lenski eher die Karikatur eines romantischen Poeten, eine Verspottung des affektierten Gehabes in sich selbst verliebter Dichterlinge. Bei Tschaikowski ist Lenski zärtlich und hilflos und ihm gehört die lyrischste Arie der Oper »Wohin, wohin seid ihr entschwunden«. Tschaikowskis Oper trägt den Untertitel »Lyrische Szenen«. Der Komponist bevorzugte ein jugendliches Ambiente, und so fand die Uraufführung am Moskauer Konservatorium statt. Hier wurde die Oper von jungen Sängern aufgeführt, die natürlich mit großem Eifer bei der Sache waren und sich mit Herzblut dieser ungewöhnlichen, zurückhaltenden und oft leisen Musik widmeten. Eigentlich wollte Tschaikowski gar nicht, dass seine Lyrischen Szenen auf den Bühnen großer Häuser aufwendig in Szene gesetzt werden, doch nachdem Zar Alexander III. den ausdrücklichen Wunsch äußerte, sie zu ­sehen, musste er sein Einverständnis zu einer Aufführung im MariinskiTheater geben und führte die notwendigen Anpassungen durch. Alle Interpretationen von Eugen Onegin an russischen Bühnen (die Oper steht hier in allen Städten des Landes auf dem Spielplan) sind bemüht, die Üppigkeit der »großen Oper« zu vermeiden, und die leise Innigkeit und Verträumtheit der Lyrischen Szenen zu beschwören. Der große Theaterreformer Konstantin Stanislawski hatte ein neues Regiemodell entwickelt, und entschloss sich, diese Methodik auch in der Oper zu erproben. Sein erstes »Versuchsobjekt« war Eugen Onegin (1922). Er begann bei sich zuhause mit ganz jungen Sängern zu proben und benutzte dafür die ursprüngliche, kammerspielnahe Fassung des Werks. Es entstand eine interessante Arbeit, bei der die empfindsamen und berührenden Melodien nicht bürgerlich vergröbert wurden, sondern die Feinheiten zwischenmenschlicher Beziehungen intelligent zum Ausdruck kamen. Diese Inszenierung wurde sehr lange gezeigt, bis sie 2001 als veraltet aus dem Repertoire genommen wurde. In einem anderen bedeutenden Theater versuchte man in den ZehnerA LEX EI PA R IN

80


jahren des 21. Jahrhunderts diese Inszenierung wieder zu beleben, aber die Optik der Aufführung hinterließ bei der Generalprobe einen fast lächerlichen Eindruck, und man ließ die Sache fallen. In der Moskauer Helikon-Oper wurde die Inszenierung Stanislawskis unlängst in neuerdachten Kostümen gezeigt, man setzte auf ästhetische Eleganz und die Idee Stanislawskis bewährte sich aufs Neue. 1982 inszenierte Juri Temirkanow, der musikalische Leiter des Kirow(heute Mariinski-)Theaters, das Stück. Die Aufführung zeigte insgesamt eine sorgfältige Beachtung der Bühnenanweisungen des Autors, aber wichtig war etwas Anderes: Temirkanow war von der Musik mit gleichsam heiligem Schauer durchdrungen und führte alle Nuancen mit kammermusikalischer Vollkommenheit aus, so dass die in der Musik enthaltene Lyrik unverstellt zum Tragen kam. Was die Personenführung anbelangte, war Temirkanow pedantisch anspruchsvoll: Allein so, nur vier Schritte und nicht anders! Und es geschah ein Wunder: Es gab nur eine einzige Besetzung für diese Inszenierung, jeder Mitwirkende kannte auch den kleinsten Halbschritt und die feinste mimische Regung auswendig, und jedes Mal gerieten die Zuschauer in Ekstase. Diese Inszenierung steht bis heute auf dem Spielplan des Mariinski, aber mit den Umbesetzungen ist ihr erregender Zauber für immer verloren. Noch ein anderer Versuch, einen »vollwertigen« Onegin zu schaffen, gab es in der Moskauer Neuen Oper unter Leitung des Dirigenten Jewgeni Kolo­ bow im Jahr 1996. Das Theater befand sich damals in einem provisorisch hergerichteten alten Kino, und der Bühnenausstatter Sergej Barchin setzte das Orchester um die Bühne herum, zum Teil auch in seitliche und obere Anbauten. Die Handlung war dadurch räumlich so konzentriert, fast wie zusammengeballt, dass man den Eindruck hatte, man schaue durch eine Lupe. Das Bühnenbild in Blau zeigte ein adliges Interieur, das während der gesamten Aufführung beibehalten wurde, es gab keine Pause. Kolobow verfügte über einen eigenwilligen musikalischen Ausdruckswillen im Geiste der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts: Er strich vieles aus der Partitur (darunter alle Bauernszenen im ersten Bild), veränderte einiges (die Arie des Gremin im 6. Bild ließ er nicht als Bass-Solo, sondern von allen Bassisten des Chores singen) und gestaltete die Aufführung wie eine griechische Tragödie, die mit den erschreckenden Schlussworten Onegins aus der Urfassung endete: »O Tod, o Tod, ich gehe dich zu suchen«. Kolobow war der Meinung, dass die ganze Oper »ein Duell in Großbuchstaben« sei – »Onegin gegen Lenski, Lenski gegen Olga, Onegin gegen Tatjana, Tatjana gegen Gremin«. Dem handwerklichen Können des Regisseurs Sergej Arzybaschew gelang es, die Ideen Kolobows ohne Verluste umsetzen. Zum ersten Mal wurde Onegin aus der häuslich-gemütvollen Atmosphäre in einen halbabstrakten Raum versetzt. Danach kam an der Helikon-Oper eine Neuinszenierung von Dmitri Bertman heraus, der ausgerechnet das Marmeladekochen im ersten Bild – welches ein Kolobow ungehalten als Schmähung einer großen Seelentragödie emp 81

LEISE LY R ISCHE SZEN EN


funden hatte –, zum szenischen Hauptmotiv machte. Dieses Marmelade-­ Kochen erstreckte sich in der Bertman’schen Inszenierung sogar bis ins Schlussbild, als sich Onegins und Tatjanas Gedanken zur ländlichen Vergangenheit zurückwenden. Die Inszenierung Dmitri Tcherniakovs 2006 auf der Neuen Bühne des Bolschoi Theaters gab Onegin die zarte Lyrik zurück, die Tschaikowski seiner Musik zugedacht hatte, und die, wie Anna Achmatowa sagte, »aus jedem beliebigen Kehricht« entstehen kann. Auch hier kochen Frau Larina und die Njanja im ersten Bild keine Früchte mehr ein. Und anstelle der Bauern sind es die Gäste am Tisch der Larins, die aus vollem Herzen alte Bauernlieder anstimmen. Hier entsteht jene Atmosphäre der Zusammengehörigkeit, die jedem russischen Intellektuellen so teuer ist. Tcherniakov beließ die Zimmerwände bei Familie Larin ohne Bilder oder sonstige Dekoration, die auf die Zeit der Handlung hinweisen könnten – um die Handlung ins »Jetzt und Immer« zu versetzen. Alle Ereignisse, alles Erlebte drückt sich derart minuziös in jeder Figur aus, sogar in jedem einzelnen Gast von Tatjanas Namenstags-Feier, dass der Zuschauer vom ersten Moment an in das Geschehen hineingezogen wird und bis zum letzten Akkord gebannt bleibt. Ein Meisterwerk der Regie ist die Arie des Lenski: Statt einer tränenvollen solistischen Elegie wird uns ein dreidimensionales Ensemble geboten, alle Lyrik des Poeten geht auf groteske Weise in die Gesten einer namenlosen, nicht mehr jungen Dame ein, während Olga ärgerliche Kommentare abgibt – sie sucht in allen Ecken des großen Zimmers nach einem verlorenen Ohrring. So ist das ganze Stück zu sehen: seine Lyrik gerät unausweichlich in den Sog des träge dahin­ fließenden Alltags und bleibt doch in jedem Takt der Musik spürbar. Die Inszenierung von Andrij Zholdak siedelte Onegin wieder im sym­ bolischen Raum an. In der Nachfolge Kolobows benutzte der ukrainische Regisseur auf der Bühne des Petersburger Michailowski-Theaters die S ­ prache der großen Tragödie, diesmal mit mystischen Anklängen. Dabei erspürt er die Poesie und Lyrik in ihrer reinsten Form. Während Tcherniakov sie in der Hektik des realen Lebens auflöst, ertränkt sie Zholdak in einem Meer von Symbolen, von denen jedes bis ins letzte ausgetüftelt ist. Ein schwarz-weißer Raum, schwarz-weiße Kostüme – alles wird zu Bildern verknüpft, die mit klarer und lebendiger Sprache sprechen. Wir durchleben einen ganzen ­Lebenszyklus – und nach dem letzten Bild, in dem Tatjana sich von Onegin verabschiedet hat, erklingt noch einmal die Eingangsmusik. Wir sehen ein Gutshaus, wo Tatjana und Gremin eine glückliche Tochter aufziehen. Tatjana ist dieselbe wie im ersten Bild, sie verstreut Glasperlen auf der Bühne – früher waren es weiße, jetzt sind es schwarze. Alle Figuren der Oper haben sich verändert, nur Onegin nicht – er ist nach wie vor der finstere Held, immer schwarz gekleidet, und immer und überall bringt er Unglück. Auch außerhalb Russlands gibt es neue Interpretationen von Onegin. In Riga zeigte Andrejs Žagars sogar den Traum Tatjanas mit dem Bären (aus A LEX EI PA R IN

82


dem 5. Kapitel des Romans) und stellte die innere Welt der Heldin dar. Stefan Herheim in Amsterdam reicherte den Ball bei Gremin mit Reminiszenzen an die russische und sowjetische Geschichte an; Andrea Breth wandte sich in Salzburg der dunklen Seite des unfreien Lebens der Leibeigenen in Russland zu, ließ die Njanja auf der Bühne sterben und vom Enkel in das ausgeschaufelte Grab legen. Viele Momente in diesen Inszenierungen waren treffend und klar formuliert und basierten auf der Musik – und dem realen Leben. Aber die russischste Inszenierung – in den verschiedensten Bedeutungen dieses Wortes – bleibt die von Dmitri Tcherniakov. In Russland wird derzeit heftig darüber gestritten, worin die »inneren Klammern« für die ganze Nation bestehen. Bei Tcherniakov erleben wir eine sich selbst differenziert begreifende Gesellschaft, die in einem Meer von Ironie zu ertrinken droht. Wir verstehen, dass es Menschen gibt, die ein Gefühl für die eigene Würde besitzen und sich selbstkritisch betrachten können. Indem wir diese Aufführung erleben und ihr lauschen, können wir hoffen, dass das weitere Schicksal Russlands, bei all seiner augenblicklichen Ausweglosigkeit, nicht in einer Sackgasse, in keiner Katastrophe endet. Und dass die denkenden Menschen endlich aus ihrer inneren Emigration zurückkehren.

83

LEISE LY R ISCHE SZEN EN



Tamuna Gochashvili als Tatjana


KLANGVOLLE EMOTIONEN

LEXUS LC CABRIOLET Dank des schallabsorbierenden Interieurs und optimierter Aerodynamik, die den Luftstrom bei geöffnetem Verdeck am Fahrzeug vorbei leitet, genießen Sie das sinnliche Klangbild des perfekt abgestimmten V8-Motors gänzlich ohne unerwünschte Nebengeräusche. Das Lexus LC Cabriolet zu hören, heißt es zu fühlen.

Visit lexus.eu to find out more.

NORMVERBRAUCH KOMBINIERT: 275G/KM EMISSIONEN KOMBINIERT: 11,7L/100KM. SYMBOLFOTO.


Die OMV unterstützt die Wiener Staatsoper schon seit langem als Generalsponsor und wir sind stolz, diese herausragende österreichische Kulturinstitution in eine neue Ära begleiten zu dürfen. Wir freuen uns mit Ihnen auf bewegende Inszenierungen. Alle Sponsoringprojekte finden Sie auf www.omv.com/sponsoring


Impressum Piotr I. Tschaikowski EUGEN ONEGIN Saison 2020/2021 HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Sergio Morabito, Dr. Ann-Christine Mecke Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Gabi Adébisi-Schuster & Annette Sonnewend (WerkstattWienBerlin) Hersteller: Druckerei Walla GmbH TEXTNACHWEISE – ORIGINALBEITRÄGE Über dieses Programmbuch: Ann-Christine Mecke – ­Tomáš Hanus: Tschaikowski, der ewige Moderne – Natalija Jakubova: Was er wohl heut’ für eine Rolle spielt? (übersetzt von Sergio Morabito) – Andreas Láng: Von Legenden, Schneefall und langen Pausen – Alexei Parin, Leise lyrische Szenen (übersetzt von Christiane Stachau und Sergio Morabito) ÜBERNAHMEN UND ÜBERSETZUNGEN Dmitri Tcherniakov: Synopsis, aus: Programmheft des Bolshoi-Theaters 2006 (deutsche Übersetzung von Ann-Christine Mecke und Sergio Morabito) – Alexander Puschkin: Eugen Onegin, in: Gedichte, Poeme, Eugen Onegin (übersetzt von Theodor Commichau, Arthur Luther und Maximilian Schick) Leipzig/ Berlin 1947 – Polina Vaidman: Vom Familienleben zur Kunst, in: Programmheft des Bolshoi-Theaters 2006 (deutsche Übersetzung von Steven Scheschareg, Marie-Luise ­Reinhard und Sergio Morabito) – Oswald Panagl: Wie war einst das Glück so nahe!, in: Ursula und Ulrich Müller (Hrsg.), Opern und Opernfiguren. Festschrift für Joachim Herz, Anif/Salzburg 1989, S. S. 269–275 – Vadim Gajewski: Code-Änderung, in: Programmheft des Bolshoi-Theaters 2006 (deutsche Übersetzung von Steven Scheschareg, Marie-Luise ­Reinhard und Sergio Morabito) – Gerd Rienäcker: La Melancholia, in: Programmheft der Oper Leipzig 1994/95.

BILDNACHWEISE Alle Szenenbilder: Michael Pöhn /  Wiener Staatsoper GmbH. Coverbild: Detroit Publishing Co., Publisher. Ice fountain, Washington Boulevard, Detroit, Mich. [Between 1910 and 1920] Photograph. Retrieved from the Library of Congress, www.loc.gov/item/2016814213 Für die nach der Orchesterhauptprobe erkrankte Tamuna Gochashvili übernahm ab der Generalprobe Nicole Car die Rolle der Tatjana. Aus drucktechnischen Gründen konnten nur die ersten beiden Aufführungs­ fotos ausgetauscht werden. WEITERE ABBILDUNGEN Familienfotos Tschaikowski: AKG-Images – Bühnenbildentwurf zu Eugen Onegin von Anton Brioschi: Österreichisches Theatermuseum. Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie Kürzungen sind nicht gekennzeichnet. Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.


Generalsponsoren der Wiener Staatsoper


→ wiener-staatsoper.at


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.