I PURITANI Vincenzo Bellini
INHALT
Die Handlung
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Synopsis in English
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Über dieses Programmbuch
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Puritanische Leidenschaften → John Dew
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Notizen zur Geschichte Englands »rund um« die Cromwell-Ära → Kurt Kluxen
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Remember → Alexandre Dumas d.Ä.
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Versuch über das Romantische → Peter Rummenhöller
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Paris zur Zeit Bellinis → Werner Oehlmann
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Zur Entstehungsgeschichte
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Quellen zur literarischen Vorlage → Margrit Poremba
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Klingt wie Bellini → Elisabeth Eleonore Bauer
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Bemerkung zur Arienform → Friedrich Lippmann
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Wahrheit über Tonkunst und Tonkünstler – Bellini → Johann Christian Lobe
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Einige romantische Motive und Symbole in den Puritanern → Margrit Poremba
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Die ungeschriebenen Opern von Bellini und Dumas → Sergio Morabito
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O rendetemi la speme o lasciate, lasciatemi morir! Gebt mir die Hoffnung zurück oder lasst mich sterben! Elvira, zweiter Teil
I PURITANI → Opera seria in drei Teilen Musik Vincenzo Bellini Text Carlo Pepoli nach Jacques Arsène Polycarpe Ancelots und Saintines Drama Têtes rondes et cavaliers
Orchesterbesetzung 2 Flöten (2. auch Piccolo), 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Pauken, Schlagwerk, Harfe, Violine I, Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass Bühnenmusik 4 Hörner, Harfe, Orgel, Schlagwerk Spieldauer 3 Stunden (inkl. einer Pause) Autograf Bibl. Comunale Palermo Uraufführung 24. Jänner 1835, Théâtre-Italien, Salle Favart, Paris Erstaufführung an der Wiener Staatsoper 2. Mai 1994
DIE HANDLUNG In England, um 1650, zur Zeit der Machtkämpfe zwischen Oliver Cromwells Puritanern und den königlichen Kavalieren. Unter den mitleidlosen Blicken der Puritaner schreitet König Karl I. zur Hinrichtung.
I. Teil In Valtons Schloss Lord Valton hatte einem seiner Offiziere, Sir Riccardo, die Hand seiner Tochter versprochen. Nun hat Riccardo erfahren, dass Elvira einen anderen liebt: Lord Arturo Talbo. Verzweifelt klagt er seinem Freund, Sir Bruno Roberton, sein Leid. Bruno versucht, Riccardo zu trösten und abzulenken. Elvira erfährt von ihrem Onkel Giorgio, dass er ihren Vater überreden konnte, ihrem Herzen freie Wahl zu lassen; noch am selben Tag kann ihre Vermählung mit Arturo stattfinden. Alle Anwesenden feiern die Ankunft des Lords und jubeln dem jungen Paar Elvira-Arturo zu. Lord Valton erklärt, dass er an dem Hochzeitsfest nicht teilnehmen kann, da er eine geheimnisvolle Staatsgefangene, man hält diese Frau für eine Spionin der Stuarts, von der Festung zum Parlament führen müsse. Keiner dürfe die Festung ohne Passierschein verlassen, verkündet er und händigt Arturo einen solchen aus. Während Elvira sich zurückzieht, um für die Hochzeit gekleidet zu werden, und die Übrigen ihr folgen, bleiben die Gefangene und Arturo alleine zurück. Arturo erkennt in der Gefangenen Enrichetta, Witwe des hingerichteten Karls I. Da ihr das gleiche Schicksal droht, ist Arturo, als heimlicher Anhänger der Stuarts, sofort bereit, alles zu tun, um sie vor dem Tod zu bewahren. Als Elvira zurückkommt, bittet sie Enrichetta, sich den Schleier aufzusetzen, damit sie sehen könne, wie er sich ausnehme. Enrichetta tut ihr den Gefallen. Elvira muss noch einmal in ihr Zimmer zurück. Wieder allein mit der Unglücklichen, überredet Arturo Enrichetta – unter dem schützenden Hochzeitsschleier, der ihre Identität verbirgt – zur Flucht. Beim Verlassen des Saales stoßen sie auf Riccardo, der Elvira, seine Angebetete, Arturo nicht kampflos überlassen will. Er fordert ihn zum Zweikampf. Enrichetta wirft sich dazwischen, der Schleier fällt, und Riccardo erkennt DIE H A N DLU NG
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sein Missverständnis. Er entschließt sich, froh darüber, dass sich nicht Elvira unter dem Brautschleier befand, die beiden fliehen zu lassen. Die Hochzeitsgesellschaft kehrt in den Saal zurück, entsetzt über die Flucht Arturos und der Gefangenen. Elvira ist wegen der Treulosigkeit, die sie Arturo fälschlicherweise anlastet, fassungslos und verfällt in Wahnsinn.
II. Teil In Valtons Schloss Die Kastellbewohner beklagen das Los Elviras. Riccardo berichtet, dass das Parlament Arturo zum Tod verurteilt habe. Elvira zeigt vor Giorgio und Riccardo ihre geistige Zerrüttung. Giorgio vermeint zu wissen, dass eine plötzliche Freude ihr den Verstand zurückgeben kann. Er beschwört Riccardo, Arturo zu retten. Riccardo willigt nach langem Widerstand ein: Nur wenn Arturo mit dem Feind paktiere, solle er sterben.
III. Teil In einem Wald Arturos Liebe zu Elvira hat ihn aus der Verbannung zurückgetrieben. Von Elvira gesungen, ertönt eine Romanze, in die Arturo einstimmt. Als Elvira kommt, erklärt ihr Arturo, um Verzeihung bittend, die Gründe seiner Flucht. Für Momente scheint Elvira ihren Verstand wieder zu besitzen. Als aber Arturos Verfolger sich nähern, verwirren sich ihre Sinne erneut; sie hält das Trommeln der Puritaner für Hochzeitsmusik und glaubt, Arturo wolle sie wiederum verlassen. Die Puritaner bedrohen Arturo. Durch die Todesgefahr für ihren Geliebten erhält Elvira den Verstand zurück. Ein Bote bringt die Nachricht von der Niederlage der Stuarts und der Amnestie für alle Schuldigen. Elvira fällt Arturo in die Arme; in diesem Augenblick stürzt sich Riccardo auf das Paar und erdolcht Arturo.
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DIE H A N DLU NG
SYNOPSIS England in about 1650, at the time of the power struggle between Oliver Cromwellʼs Puritans and the royal Cavaliers. King Charles I. goes to his execution, followed by the pitiless looks of the Puritans.
Part I Waltonʼs castle Lord Walton has promised the hand of his daughter to one of his officers, Sir Richard Forth. However, Sir Richard has found out that Elvira is in love with another: Lord Arthur Talbot. Distraught, he relates his woes to his friend, Sir Bruno Roberton. Bruno tries to comfort Sir Richard and take his mind off his troubles. Elvira learns from her uncle, George, that he has been able to persuade her father to allow her to follow her heart; her nuptials with Arthur can take place that very day. The assembled crowd celebrates the arrival of Lord Arthur and cheers the young couple. Lord Walton declares that he cannot attend the wedding because he must accompany a mysterious state prisoner from the fortress to parliament. This woman prisoner is suspected of being a spy for the Stuarts. He declares that no one shall leave the fortress without a pass. He gives a pass to Arthur. Elvira withdraws to dress for the wedding, and the others follow her. The prisoner and Arthur are left alone. Arthur recognizes the prisoner as Henrietta, widow of the executed Charles I. Since she faces the same fate as her husband, Arthur, a secret adherent of the Stuarts, is prepared to do all he can to save her from death. When Elvira returns, she asks Henrietta to put on the bridal veil so that she can see how it looks. Henrietta obliges. Elvira has to go back to her room. Left alone once more with the unfortunate woman, Arthur persuades Henrietta to escape – under the protection of the bridal veil to conceal her identity. As they depart, they meet Sir Richard, who is determined not to let Arthur have his beloved Elvira without a fight. He challenges Arthur to a duel. Henrietta throws herself between the two men, the veil becomes disarranged, and Sir Richard realizes he has misjudged the situation. He decides to allow the couple to escape, delighted that it was not SY NOPSIS
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Elvira under the veil. The wedding party returns to the room and is outraged at the flight of Arthur and the prisoner. Elvira is completely stunned by the faithlessness she wrongly supposes Arthur to be guilty of and loses her reason.
Part II Waltonʼs castle The occupants of the fortress bemoan Elvira’s lot. Sir Richard reports that parliament has condemned Arthur to die. Elviraʼs behaviour in front of Sir George and Sir Richard leaves no doubt of her wretched mental state. Sir George believes that a welcome surprise could restore her sanity. He implores Sir Richard to save Arthur. At length, Sir Richard agrees: only if Arthur is in league with the enemy shall he die.
Part III In a forest Arthurʼs love for Elvira drives him to leave his exile to see her. The strains of a romance issue from the house, sung by Elvira, and Arthur joins in. When Elvira enters, Arthur explains the reasons for his flight and begs her forgiveness. At times Elvira seems to be in possession of all her senses. But as Arthurʼs pursuers approach, she loses her reason again. She takes the Puritansʼ drums for wedding music and believes Arthur will leave her again. The Puritans enter bearing torches and threaten to kill Arthur. The shock of seeing her lover in danger of his life restores Elvira to her senses. The situation seems hopeless, Elvira and Arthur wish each other farewell for ever. A herald arrives with the news of the defeat of the Stuarts and a pardon for all prisoners. Elvira falls into the arms of Arthur; in this moment, Richard flings himself at the couple and stabs Arthur.
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SY NOPSIS
ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH
»Geschichte wird bei Bellini benutzt, um Seelenzustände deutlich zu machen, nicht aber um historische Fakten musikalisch oder szenisch zu bebildern«. So erläutert der Regisseur der aktuellen Produktion, John Dew, ab Seite 10 den Zugang des Komponisten zu historischen Vorlagen und Gegebenheiten. Damit spricht er den Foliencharakter an, den historische Fakten für den künstlerischen Zugriff der Romantik hatten: es ging um keine wasserdichte und korrekte Dokumentation von Ereignissen, sondern um eine ausreichend dramatische Spielfläche, die angepasst werden konnte. Über die tatsächlichen geschichtlichen Hintergründe berichtet in diesem Programmbuch Kurt Kluxen, der ab Seite 14 die englische historische Lage umreißt. Die Geschichte und Weltsicht der Puritaner ist auf Seite 12 nachzulesen, und wie Alexandre Dumas d.Ä. die historischen Ereignisse rund um die Hinrichtung Karls I. in seinem Roman Zwanzig Jahre danach (der Nachfolgeband von Die drei Musketiere) beschrieb, findet sich auf Seite 20. Über nicht vertonte Opern von Bellini und Dumas erzählt Sergio Morabito ab Seite 72. Auf einige charakteristische romantische Motive, die in der Oper vorkommen, weist Margrit Poremba ab Seite 66 hin, über das Wesen des Romantischen an sich schreibt Peter Rummenhöller ab Seite 26. Auf den Komponisten Bellini und seine Zeit werden in diesem Programmbuch zahlreiche, sehr unterschiedliche Schlaglichter geworfen: Das politische, geistige und künstlerische Leben im Paris Bellinis skizziert Werner Oehlmann ab Seite 32, Anmerkungen von Heinrich Heine, Richard Wagner und Johann Christian Lobe zeigen den historischen Blick auf den Komponisten. Die Entstehungsgeschichte (ab Seite 36) wird ebenso beleuchtet, wie auch die literarische Quellenlage (ab Seite 42) thematisiert wird. Anmerkungen zur Musik Bellinis, ein Brief des Komponisten an seinen Librettisten wie auch Aufführungsfotos aus der Geschichte dieser Inszenierung runden das Themenangebot dieses Heftes ab.
Ü BER DIE SE S PROGR A M MBUCH
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» Wir alten eingefleischten Wagnerianer sind doch die dankbarsten Bellini- und Rossini-Hörer. « Friedrich Nietzsche 9
PURITANISCHE LEIDENSCHAFTEN Regisseur John Dew über I puritani
Bellinis Puritaner sind ein Meisterwerk der Opera seria und natürlich ein Höhepunkt des Belcanto. Kennzeichnend für diese Opernform ist eine einfache, leicht fassliche Form und melodischer, brillanter Gesang. Dazu gehört jedoch selbstverständlich auch ein lebhafter, ein wahrer Ausdruck der jeweiligen Gefühle und Situationen. Ich würde also niemals von einem bloßen vokalen Schaustück sprechen, nur weil die tiefere Charakteristik, die Individualisierung jeder Person, wie wir sie bei Mozart kennen, fehlt. Ich suche keinen Realismus, wo er nicht intendiert ist, sondern akzeptiere eine stilisierte Handlung, deren geschichtlicher Aufhänger für mich sekundär ist, um primär die Seelenzustände der einzelnen Personen zu beleuchten. Und diese unterschiedlichen Befindlichkeiten des Puritaner-Personals sind sehr genau und intensiv ausgedrückt. Die Qualität des Ausgedrückten ist bei Bellini ersten Ranges, und sie gilt es, szenisch deutlich zu machen. Maria Callas hat uns nicht zuletzt gezeigt, wie man Virtuosität mit dramatischem Ausdruck verbindet. Bellini wollte mit seinen Opern zu Tränen rühren, und zwar durch die Schilderung einfacher Gefühle, wie: Freude, Leid, Liebe, Hass, Rache, Gnade... Seine Opern sind für mich absolut zu Unrecht degradiert worden. Die geschichtlichen Tatsachen des 17. Jahrhunderts sind eine Folie, sie bilden den für die Romantik typischen fremden, irrationalen Hintergrund, um vordergründig von menschlichen Leidenschaften zu erzählen. Geschichte wird bei Bellini benutzt, um Seelenzustände deutlich zu machen, nicht aber um historische Fakten musikalisch oder szenisch zu bebildern. Ein Beispiel JOHN DEW
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dazu: Historische Tatsache ist, dass die Puritaner alle Orgeln aus den Kirchen verbannten. Bellini lässt jedoch ungeniert – weil ihn geschichtliche Genauigkeit einfach nicht interessiert hat – Orgelmusik im Puritaner-Ambiente erklingen. Das sittenstrenge, liebes- und lebensfeindliche Credo der Puritaner steht bei Bellini also repräsentativ für eine Welt, die die liebesuchende Elvira in den Wahnsinn treiben muss. Im Vor-Freud-Zeitalter gelingt Bellini hier eine anschauliche Darstellung von Depression. Heinz Balthes und ich haben eine Bühnenbildlösung gesucht, die das eben Gesagte unterstreicht: ein strenger, Repression ausdrückender Raum öffnet sich durch entsprechende Beleuchtungseffekte und wird so zum »seelischen Innenraum« der Personen. Die Kostüme von José Manuel Vazquez sind eine Mischung aus Puritaner- und Kabuki-Mode. Sie verbinden also das Emotionslos-Strenge mit dem Fremden und betonen damit das Irrationale der Geschichte.
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PU R ITA N ISCHE LEIDENSCH A F T EN
BEGRIFFSBESTIMMUNG: PURITANER Puritaner (von lateinisch: »purus« = »rein«) Zunächst polemisch gebrauchte Bezeichnung für Vertreter einer Reformbewegung in England seit etwa 1570, die die Reinigung der Kirche von England von katholisierenden Elementen in Verfassung, Kultus und Lehre betrieben. Mit ihrer Verbindung von kontinentalen reformatorischen Einflüssen (H. Bullinger, M. Bucer, Calvin) mit mittelalterlich-ethischem Denken und unter Aufnahme von Elementen französischer und spanischer katholischer Andachtsliteratur brachten die Puritaner eine ausgedehnte Erbauungs- und Predigtliteratur hervor. Erst unter dem aus dem presbyterianischen Schottland stammenden Jakob I. konnten die Puritaner auf Verwirklichung ihrer Ideen hoffen, wurden jedoch schon 1604 durch die Ablehnung ihrer »Millenary Petition« auf der Konferenz von Hampton Court bitter enttäuscht, wandten sich der politischen Opposition zu oder emigrierten in großer Zahl nach Nordamerika. Mit dem Sieg Oliver Cromwells zur Herrschaft gelangt, vertrieben die Puritaner Tausende anglikanischer Pfarrer aus ihren Gemeinden, entfernten die Orgeln aus den Kirchen und setzten – folgenreich – 1642 vorübergehend die Schließung der Theater durch. Nach der Restauration der Stuarts wurden die Puritaner Dissenters (oder später Nonconformists) genannt und nun ihrerseits rigoros aus dem öffentlichen Leben zurückgedrängt. Endgültig gesichert wurde die Existenz der Puritaner in England durch die Toleranzakte von 1689. Die geschichtliche Bedeutung des Puritanismus geht über den Rahmen der kirchlichen Kämpfe hinaus. Die sittlichen Ideale der Puritaner, strenge Selbstzucht und verstandesmäßige Beherrschung des Trieblebens, schufen das Ideal der gefühlsbeherrschten, unabhängigen Persönlichkeit im Angelsachsentum. Die Heiligung der Berufsarbeit und die Zügelung des Genusses wirkten wirtschaftlich sehr stark als Spar- und Erwerbstrieb. BEGR IFFSBE ST IM MU NG: PU R ITA N ER
→ KS Edita Gruberova als Elvira, 1994
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Kurt Kluxen
NOTIZEN ZUR GESCHICHTE ENGLANDS »RUND UM« DIE CROMWELL-ÄRA Der Weg in die Revolution – Karl I. Karl I. übernahm eine zwiespältige Erbschaft voller ungelöster Probleme. Der populäre Krieg mit Spanien (1624-1629) war nicht wie erhofft ein gewinnbringender Beutekrieg, sondern erweiterte sich noch durch den Krieg mit Frankreich (1626-1629) und brachte keine überzeugenden Erfolge. Der König stand in den ersten Jahren unter dem Einfluss Buckinghams, jenes Günstlings seines Vaters, der die Leidenschaft des Machtmenschen hatte, dem aber der höhere Kalkül des weiterblickenden Staatsmannes abging. Nun arrangierte Buckingham eine französische Heirat für Karl mit dem Hintergedanken, durch ein französisch-englisches Vorgehen am Rhein doch noch die Pfalz für den Schwager des Königs, den Kurfürsten und »Winterkönig« Friedrich V. von der Pfalz, zurückzugewinnen. Zwei Monate noch Karls Thronbesteigung kam die Heirat mit der fünfzehnjährigen Henrietta Maria, der Schwester Ludwigs XIII., zustande. Der Papst hatte sich nach geheimen Konzessionen an den englischen Katholizismus mit dieser Ehe einer katholischen Prinzessin mit einem protestantischen König einverstanden erklärt. Karls Heirat und seine Begünstigung bischofskirchlicher Bestrebungen, die von den Puritanern als »papistisch verseucht« angesehen wurden, erregten den Verdacht kryptokatholischer Neigungen des Königs. Die opponierende, in ihren Geschäftsinteressen sich beengt fühlende Kaufmannschaft neigte aus Protest dem Puritanismus zu. K U RT K LU X EN
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Oliver Cromwell Oliver Cromwell (1599-1658) war ein Gentleman aus Huntingdonshire und entstammte dem niederen Landadel. Er hatte 1631 seinen Besitz verkauft und stattdessen fruchtbare Uferweiden gepachtet, sodass er als Gentleman-Farmer oder Unternehmer-Landwirt bezeichnet werden kann. Er saß im Parlament von 1629 und dann im »Kurzen« und »Langen Parlament« von 1640. Er stand in den Reihen der Opposition, hatte aber kein besonderes Aufsehen erregt. Er war kein Gegner der Monarchie, hasste jedoch das leichtfertige Hofleben. Er ging betont einfach gekleidet und hielt aus puritanischer Gesinnung offenbar wenig von äußeren Formen. Bei Beginn des ersten Bürgerkriegs (1642-1646) war er nichts als ein Kriegsfreiwilliger, der als Gentleman mit der Führung einer kleinen Reitertruppe von 60 Mann betraut wurde. Er hatte noch keinen Krieg gesehen, erwies sich aber in kurzer Zeit als ein Genius der Organisation der Truppen, getragen von einem Kampfeswillen, hinter dem ein starker religiöser Impetus stand. Er war überzeugt, dass die Leute, die lebendig an das Evangelium glaubten, die besten Kämpfer sein würden. Für ihn war es der Geist, der lebendig macht; das Fleisch sei nichts. Er flößte seinen Soldaten diesen Enthusiasmus für die religiöse Sache ein. Dazu suchte er Leute von Charakter und Selbstbewusstsein aus und vermied es, Arbeitslose, Ungesellige oder Vagabunden wie oft üblich zum Dienst zu pressen. Er duldete keine Marketenderweiber im Troß, sorgte für geregelte Soldzahlung und hatte Soldaten hinter sich, die »Ehre und Mut im Herzen« hatten und die mit Gebet und Psalmengesang in die Schlacht zogen. Diese »lovely company« Cromwells bestand bei Marston Moor die Feuerprobe; hier schlugen seine kurzhaarigen »Roundheads« die langhaarigen Kavaliere.
Das Ende der Monarchie 1649 Cromwell hatte über Royalisten, Schotten und Parlament den Sieg errungen und alle Macht in Händen. Als Rechtsgrundlage seiner Macht genügte aber auf die Dauer nicht, sich als Werkzeug Gottes gefühlt zu haben. Cromwell suchte nach einer geeigneten Rechtsgrundlage und verhandelte deswegen mit Juristen und Richtern um eine endgültige Beilegung des Konflikts. Er plädierte sogar für das Leben des Königs, wenn dieser nur die Bedingungen der Armee annehmen wolle. Ohne ein Nachgeben des Königs war keine konstitutionelle Regelung möglich. Hier aber zeigte sich Karl von großer Entschiedenheit. Er lehnte jeden Kompromiss ab und wollte sich lieber von seinem Leben als von seiner Krone trennen. Jedenfalls wollte er nicht in freier Entscheidung auf seine Macht verzichten. Das hätte in der Tat die Monarchie zu einer Scheinmonarchie gemacht und gänzlich der Anschauung der Zeit von fürstlicher Würde und göttlichem Königsrecht widersprochen. In 15
NOT IZEN Z U R GE SCHICH T E ENGLA N DS »RU N D UM« DIE CROMW ELL-Ä R A
Verhandlungen konnten die Independenten nicht zum Ziele kommen. Nach diesem Zwischenspiel schritt die Armee zum Sturz der Monarchie. Aber ihre Revolution hüllte sich in den Mantel eines Rechtsverfahrens. Am 6. Dezember 1648, dem Tag von »Prideʼs Purge«, wurde ein Gerichtshof zur Aburteilung des Königs gebildet; am 23. Dezember brachte man den König nach Windsor. Das gefügige Rumpfparlament stimmte dem Prozess gegen den König zu; aber das Oberhaus, welches nur noch aus 13 Lords bestand, lehnte das Vorhaben ab. Darauf beschloss das Unterhaus am 4. Jänner 1649, das Oberhaus abzuschaffen mit der Begründung, dass alle politische Macht vom Volke stamme und von ihm an die gewählten Vertreter im Parlament delegiert sei. Die Auflösung erfolgte erst im Februar. Cromwell beorderte in den Sondergerichtshof 135 leitende Persönlichkeiten, darunter Abgeordnete, Offiziere und Juristen. Nur die Hälfte von ihnen nahm allerdings an den Sitzungen teil. Einige fürchteten sich vor einer weitgehenden Entscheidung, wie Cromwell sie erwartete; andere zweifelten an der Zuständigkeit des Gerichtshofs. Aber Cromwell wischte alle Bedenken beiseite und erklärte unverblümt: »I tell you we will cut off his head with the crown upon it.« In welchem Namen dieses Gericht tagen sollte, war Cromwell freilich bis kurz vor Beginn des Prozesses unklar, bis man es mit der Formel autorisierte, das Urteil werde gefällt »in the name of the Commons in Parliament assembled and all the good people of England«. Die Anklage lautete, Karl habe geplant, »the ancient and fundamental laws« der Nation zu verkehren und stattdessen ein willkürliches Tyrannenregiment zu errichten. Am 6. Jänner 1649 trat das Gericht zusammen; es waren 70 Richter, die in ihren gewöhnlichen Kleidern als Offiziere oder Gentlemen amtierten. Karl behielt diesem merkwürdigen Gericht gegenüber den Hut auf dem Kopf, zeigte seine Missachtung und lehnte ostentativ dessen Rechtsprechungskompetenz ab. Bei den Worten der Anklage »Charles Stuart to be a tyrant« lachte er offen und weigerte sich danach, ein Wort zu seiner Verteidigung zu sagen. Er bestritt dem Gericht jegliche Befugnis und erklärte, kein erblicher König könne von seinen Untertanen gerichtet werden. Wenn das Gesetz des Landes durch nackte Gewalt beiseite gesetzt werde, würden Gerechtigkeit, Verfassung und Freiheit, und damit alles, was für ein Volk lebenswert sei, verlorengehen. Er identifizierte seine eigenen alten Rechte mit den alten Rechten seiner Untertanen; die eine Seite bedingt erst die andere. Mit dieser grundsätzlichen Ablehnung begnügte er sich. Argumente zu seiner persönlichen Rechtfertigung hielt er für unnötig. Er meldete sich nicht mehr zu Wort. Erst als das Urteil gesprochen war, wollte er sprechen, was ihm nun verweigert wurde. Diese Selbstsicherheit erschütterte die Richter und machte es Cromwell schwer, jene 58 Unterschriften zusammen zu bekommen, die schließlich unter das Todesurteil gesetzt wurden. Nur Cromwell selbst blieb unerschütterlich und soll sogar einem unschlüssigen Richter persönlich die Hand bei der Unterschrift geführt haben. K U RT K LU X EN
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Die Hinrichtung Am frühen Morgen des 19. Jänner 1649 wurde Karl durch den St. James Park zur Richtstätte geführt. Er schritt so schnell, dass die Wachen ihm kaum folgen konnten. Die Zuschauer äußerten Mitgefühl; viele weinten oder beteten. Aber es gab kein Zurück mehr; die Armee hätte es nicht zugelassen. Unter ihrem Druck hatten die Richter gehandelt, wie sich später viele von ihnen entschuldigen wollten. Die Kommissare des schottischen Parlaments hatten sich schon früher ausdrücklich vom Gericht und seinem Urteil abgesetzt. Sie hatten an die militärischen Führer appelliert und an jenen feierlichen Bund von 1643 erinnert, der den Sieg im ersten Bürgerkrieg ermöglicht habe und beide Nationen verpflichte, die Person des Königs zu schützen; ja, sein Tod würde den Bruch zwischen Schottland und England bedeuten. Aber alles war vergeblich; nur durch den Tod des Königs konnte sich die Armee behaupten. Auf dem Schafott erklärte Karl, dass er niemals die alten Freiheiten Englands habe beschneiden wollen; aber doch sei Gottes Urteil gerecht. Das ungerechte Urteil, das er selbst entgegen seinem Gewissen zugelassen hätte, jenes Urteil über Strafford 1641, sei nun durch ein neues ungerechtes Urteil gesühnt. Dann vergab er seinen Feinden und versicherte, er habe »liberty and freedom«, also die Freiheiten und Rechte des Volkes, unter einer Regierung bewahren wollen, die diese keineswegs angetastet hätte. Hätte er nur Gewalt gebraucht, wäre er nicht hier! »Darum sage ich euch«, fuhr er fort, »und ich bitte Gott, dass es euch nicht zur Schuld angerechnet wird – dass ich der Märtyrer des Volkes bin«. Während seiner letzten Worte wurde die Volksmenge von den Soldaten weit weggehalten. Als das königliche Haupt fiel, machte sich die allgemeine Bedrückung in einem dumpfen Grollen und Entsetzen bemerkbar. England trauerte, aber die Armee jubelte. Karl starb mit Würde und in der Überzeugung, ein Märtyrer für die Idee des Königtums und des Rechts zu sein, die allein die Menschen vor Chaos und Unglück schützen könnte. Es fiel ihm offenbar leichter, zu sterben wie ein Edelmann als weise zu regieren wie ein Staatsmann. Der Märtyrerkönig wurde zum Symbol der royalistischen Tradition; sein Tod stärkte das Königtum. Aber diejenigen, die Karl hinrichten ließen, waren nicht weniger von ihrem Recht überzeugt. Sie hatten einen Weg beschritten, dessen Ende niemand absehen konnte.
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NOT IZEN Z U R GE SCHICH T E ENGLA N DS »RU N D UM« DIE CROMW ELL-Ä R A
Alexandre Dumas d. Ä.
REMEMBER
Der König faltete die Hände, schlug die Augen zum Himmel auf und verrichtete ein kurzes, inbrünstiges Gebet. Dann verließ er sein Bett und ging auf das Fenster zu, dessen Vorhänge er auf die Seite schob. Die Wachen des Balkons waren immer noch da; jenseits des Balkons aber breitete sich eine düstere Plattform aus, auf welcher Schatten umhergingen. Karl vermochte nichts zu unterscheiden, aber er fühlte unter seinen Füßen die Erschütterung infolge der Schläge seiner Freunde. Und jeder dieser Schläge hallte in seinem Herzen wider. Parry hatte sich nicht getäuscht, er hatte Athos erkannt. Er war es wirklich, der, unterstützt von Porthos, ein Loch aushöhlte, in dem einer der Querbalken ruhen sollte. Dieses Loch lief in eine unter dem Boden des königlichen Zimmers angebrachte Öffnung. War man einmal in dieser Öffnung, die einem sehr niedrigen Zwischenstock glich, so konnte man mittelst einer Brechstange und guter Schultern eine Platte des Bodens sprengen. Der König schlüpfte sodann durch die Öffnung, erreichte mit seinen Rettern eine der Abteilungen des ganz mit schwarzem Tuch bedeckten Schafotts, zog ebenfalls ein Arbeitergewand an, das man für ihn bereit hielt, und ging ganz furchtlos mit den vier Freunden hinab. Die Schildwachen, die, ohne irgendeinen Verdacht zu haben, die Arbeiter vom Schafott kommen sahen, ließen sie vorübergehen. Die Feluke war, wie gesagt, bereit. Dieser Plan war umfassend und zugleich einfach und leicht auszuführen. Plötzlich aber erscholl ein unerwartetes Geräusch in der Galerie. Aramis ergriff das Schüreisen und gab das Signal zur Unterbrechung. Das Geräusch von regelmäßigen Schritten näherte sich. Aller Augen waren auf die Tür geheftet, die sich langsam und mit einer Art von Feierlichkeit öffnete. Wachen A LEX A N DR E DUM AS D. Ä.
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waren in Reih und Glied im Vorzimmer des Königs aufgestellt. Schwarz gekleidet und mit einem Ernst von schlimmer Vorbedeutung trat ein Kommissar des Parlaments ein, grüßte den König, entrollte ein Pergament und las ihm seinen Spruch vor, wie man dies gewöhnlich bei den Verurteilten tut, die das Blutgerüst besteigen sollen. »Also heute?« sagte der König. »Wart Ihr nicht davon in Kenntnis gesetzt, Sire, dass es heute geschehen sollte?« fragte der Mann in dem schwarzen Gewande. Als sich der König unter der Menge der Wachen und Neugierigen, die das Zimmer zu füllen begannen, allein sah, erinnerte er sich, dass Athos dicht unter dem Boden des Gemaches war. Er zitterte, das geringste Geräusch könnte Athos als Signal erscheinen, und dieser möchte sich durch Wiederaufnahme seiner Arbeit selbst verraten. Er hielt sich deshalb geflissentlich völlig ruhig und unbeweglich und nötigte dadurch alle Anwesenden zur Ruhe. Der König täuschte sich nicht, Athos war wirklich in gespannter Erwartung; er horchte, er verzweifelte, da er kein Signal hörte; er fing mehrmals möglichst geräuschlos seine Arbeit wieder an; da er aber gehört zu werden fürchtete, hielt er bald wieder inne. Diese furchtbare Untätigkeit dauerte zwei Stunden. Eine Todesstille herrschte im Zimmer des Königs. Nun entschloss sich Athos, die Ursache dieser düstern, stummen, nur von dem ungeheuren Lärm des Volkes gestörten Ruhe zu erforschen. Er öffnete die Tapete, die das Loch des Spaltes verbarg, ein wenig und stieg auf den ersten Stock des Schafotts hinab. Kaum vier Zoll über seinem Kopfe war der Boden, der sich in einer Höhe mit der Plattform ausdehnte und das Schafott bildete. Das Geräusch, das er bis jetzt nur dumpf gehört hatte und das nun düster und bedrohlich an sein Ohr drang, ließ ihn vor Schrecken beben. Er ging bis an den Rand des Schafotts, öffnete das schwarze Tuch in der Höhe seines Auges ein wenig und sah Reiter, die an der furchtbaren Maschine aufgestellt waren, weiterhin eine Reihe Partisanenträger, sodann Musketiere, endlich die ersten Reihen des Volkes, das einem erregten Ozean ähnlich brauste und tobte. »Was ist denn vorgefallen?« fragte sich Athos, heftiger zitternd als das Tuch, dessen Falten er zerknitterte; »das Volk drängt sich, die Soldaten stehen unter den Waffen, und unter den Zuschauern, die insgesamt die Augen nach dem Fenster gerichtet haben, erblicke ich d’Artagnan! Was erwartet er? Was betrachtet er? Großer Gott, sollte er den Henker haben entwischen lassen!« Plötzlich erscholl die Trommel dumpf und düster auf dem Platze; ein Geräusch schwerer, langsamer Tritte machte sich über seinem Kopfe hörbar. Es kam ihm vor, als ob eine ungeheure Prozession das Parkett über ihm beträte; bald hörte er sogar die Bretter des Blutgerüstes krachen. Er warf einen letzten Blick nach dem Platz, und die Haltung der Zuschauer lehrte ihn, was eine im Grunde seines Herzens zurückgebliebene Hoffnung zu erraten bis jetzt verhindert hatte. Das Geräusch auf dem Platz hatte gänzlich aufgehört. Aller Augen waren nach dem Fenster von Whitehall gerichtet; die aufgesperrten Mäuler und der zurückgehaltene Atem der Menge verrieten, dass sie einem furcht 21
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baren Schauspiel entgegensah. Das Getöse der Tritte, das Athos auf dem Platz, den er unter dem Boden des königlichen Zimmers einnahm, über seinem Kopfe gehört hatte, wiederholte sich auf dem Schafott, das sich dergestalt unter dem Gewicht bog, dass die Bretter beinahe den Kopf des unglücklichen Edelmanns berührten. Offenbar waren es zwei Reihen Soldaten, die den ihnen zugewiesenen Platz besetzten. In demselben Augenblicke sprach eine Athos wohlbekannte Stimme, eine edle Stimme, über seinem Kopfe: »Herr Oberst, ich wünsche zu dem Volk zu reden.« Athos bebte vom Scheitel bis zu den Zehen: Es war der König, der auf dem Blutgerüst sprach. Nachdem Karl ein paar Tropfen Wein getrunken und etwas Brot gebrochen, hatte er sich wirklich, um den Tod nicht allzu lange erwarten zu müssen, plötzlich entschlossen, ihm entgegenzugehen, und das Zeichen zum Aufbruch gegeben. Dann hatte man die beiden Flügel des nach dem Platze gehenden Fensters geöffnet, und das Volk sah schweigend aus dem Hintergrund des Zimmers einen verlarvten Mann hervortreten, in dem man an dem Beil, das er in der Hand hielt, den Scharfrichter erkannte. Dieser Mann näherte sich dem Block und legte sein Beil darauf. Nach diesem Menschen erblickte man Karl Stuart, der ruhig und festen Schrittes zwischen zwei Priestern ging, gefolgt von einigen Oberoffizieren, die der Hinrichtung beizuwohnen hatten, und von zwei Gliedern Partisanenträgern, die sich auf beiden Seiten des Schafotts aufstellten. Beim Anblick des so ruhigen, so edlen, so würdigen Königs stellte sich die Ruhe wieder her, und jedermann konnte es hören, als er sein Verlangen aussprach, mit dem Volk zu reden. Dieses Verlangen hatte der, an den es gerichtet war, ohne Zweifel mit einem bejahenden Zeichen beantwortet, denn der König fing an, mit fester, wohlklingender, unserem Athos bis in die Tiefe seines Herzens dringender Stimme zu sprechen. Er rechtfertigte vor dem Volke, was er getan hatte, und gab ihm Ratschläge zur Wohlfahrt Englands. »Oh!« sprach Athos zu sich selbst, »ist es denn möglich, dass ich höre, was ich höre? Ist es möglich, dass Gott seinen Stellvertreter auf Erden so sehr verlassen hat, dass er so elendiglich sterben muss?… Und ich habe ihn nicht gesehen… habe ihm kein Lebewohl gesagt!« Man vernahm ein Geräusch, als würde das Todeswerkzeug auf dem Blocke bewegt. Der König unterbrach sich und sprach: »Berührt das Beil nicht.« Und er setzte seine Rede fort; als sie zu Ende war, trat eine furchtbare Stille über dem Kopfe des Grafen ein. Er hielt seine Hand vor die Stirn, aber zwischen seiner Hand und seiner Stirn rieselten Schweißtropfen durch, obgleich die Luft eiskalt war. Diese Stille deutete die letzten Vorbereitungen an. Nachdem der König seine Rede geschlossen, ließ er einen Blick voll Mitleids über die Menge hin schweifen. Dann machte er den Orden, den er trug, eben jenen Diamantstern, den die Königin ihm geschickt hatte, los und übergab ihn dem Priester, der Juxon begleitete. Hierauf zog er aus seiner Brust ein kleines Kreuz, ebenfalls von Diamanten. Dieses kam, wie der Stern, ebenfalls von Frau Henriette. »Mein Herr«, sagte er, sich an den Priester wendend, der Juxon begleitete, »ich A LEX A N DR E DUM AS D. Ä.
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werde dieses Kreuz bis zu meinem letzten Augenblick in der Hand behalten; aber nehmt es von mir, wenn ich tot bin.« »Ja, Sire«, sprach eine Stimme, in der Athos die von Aramis erkannte. Karl, der bis dahin seinen Kopf bedeckt gehabt hatte, nahm nun seinen Hut ab und warf ihn von sich. Dann löste er die Knöpfe seines Wamses, zog es aus und warf es neben seinen Hut. Da es aber sehr kalt war, forderte er seinen Schlafrock, den man ihm reichte. Alle diese Vorbereitungen waren mit furchtbarer Ruhe vor sich gegangen. Man hätte glauben sollen, der König sei im Begriff, sich zu Bett und nicht in seinen Sarg zu legen. Endlich hob er seine Haare mit der Hand in die Höhe und sagte zu dem Henker: »Werden sie Euch hinderlich sein? In diesem Fall könnte man sie mit einer Schnur aufbinden.« Karl begleitete diese Worte mit einem Blick, der unter die Larve des Unbekannten dringen zu wollen schien. Der so edle, so ruhige, so sichere Blick nötigte diesen Menschen, den Kopf abzuwenden. Aber hinter dem tiefen Blicke des Königs begegnete er dem glühenden Blicke Aramis’. Als der König sah, dass er nicht antwortete, wiederholte er seine Frage. »Es wird genügen, wenn Ihr sie vom Halse entfernt«, antwortete der Mann mit dumpfer Stimme. Der König sagte hierauf, den Block anschauend: »Dieser Block ist sehr niedrig; sollte sich kein höherer finden?« »Es ist der gewöhnliche Block«, antwortete der Verlarvte. »Glaubt Ihr mir den Kopf mit einem Streiche abzuhauen?« fragte der König. »Ich hoffe es«, antwortete der Scharfrichter. In den Worten: Ich hoffe es, lag eine so seltsame Betonung, dass alle Anwesenden, den König ausgenommen, bebten. »Es ist gut«, sprach der König, »und nun, Henker, höre.« Der Verlarvte machte einen Schritt gegen den König und stützte sich auf sein Beil. »Du sollst mich nicht überraschen«, sprach Karl zu ihm. »Ich werde niederknien, um zu beten; dann schlage noch nicht.« »Wann soll ich schlagen?« fragte der Verlarvte. »Sobald ich den Hals auf den Block gelegt habe, die Arme ausstrecke und Remember (Gedenke) rufe.« Der Mann mit der Larve machte eine leichte Verbeugung. »Der Augenblick, von der Welt zu scheiden, ist gekommen«, sprach der König zu seiner Umgebung. »Meine Herren, ich lasse Euch mitten im Sturme und gehe Euch in jenes Vaterland voran, das kein Ungewitter kennt. Gott befohlen.« Er schaute Aramis an und nickte ihm noch besonders zu. »Nun entfernt Euch«, fuhr er fort, »und lasst mich leise mein Gebet verrichten. Entferne du dich auch«, sagte er zu dem Verlarvten; »ich weiß, dass ich dir gehöre; aber erinnere dich, dass du erst bei meinem Signal schlagen sollst.« Karl kniete nieder, machte das Zeichen des Kreuzes und näherte seinen Mund den Brettern, als wollte er die Plattform küssen. Dann stützte er sich mit der einen Hand auf den Boden, mit der andern auf den Block, und sagte in französischer Sprache: »Graf de la Fère, seid Ihr da, und kann ich sprechen?« Diese Stimme schlug gerade in Athos’ Herz und durchdrang es, wie ein kaltes Eisen. »Ja, Majestät«, erwiderte er zitternd. »Treuer Freund, edles Herz«, sprach der König, »ich konnte nicht von dir gerettet werden, ich sollte es nicht werden. Nun aber, und sollte ich eine Entheiligung 23
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begehen, sage ich: Ja, ich habe zu den Menschen, ich habe zu Gott gesprochen, ich spreche zuletzt zu dir. Um eine Sache aufrechtzuhalten, die ich für heilig hielt, habe ich den Thron meiner Väter verloren und das Erbe meiner Kinder verschleudert. Eine Million in Gold bleibt mir. Ich habe sie in den Kellern des Schlosses von Newcastle in dem Augenblick vergraben, wo ich diese Stadt verließ. Du allein weißt, dass dieses Geld vorhanden ist. Mache Gebrauch davon, wenn du es zum Wohle meines ältesten Sohnes für zeitgemäß hältst. Und nun, Graf de la Fère, nimm Abschied von mir.«»Gott befohlen, heilige Majestät, Märtyrer-Majestät!« stammelte Athos, vor Schrecken zu Eis geworden. Es trat nun ein Stillschweigen ein, währenddessen es Athos vorkam, als stände der König auf und wechselte seine Stellung. Dann rief der König mit voller, klingender Stimme, so dass man es nicht nur auf dem Schafott, sondern auch auf dem ganzen Platze hörte: »Remember!« Kaum war dieses Wort aus seinem Munde, als ein furchtbarer Schlag den Boden des Blutgerüstes erschütterte. Der Staub drang aus dem Tuche hervor und blendete den unglücklichen Edelmann. Plötzlich hob er mechanisch die Augen und den Kopf empor, und ein warmer Tropfen fiel auf seine Stirn. Athos wich mit einem Schauer des Schreckens zurück, und in demselben Augenblick verwandelten sich die Tropfen in einen dunklen Erguss, der auf dem Boden aufprallte. Athos fiel auf die Knie und blieb einige Augenblicke wie vom Wahnsinn erfasst. An dem abnehmenden Gemurmel bemerkte er bald, dass das Volk sich entfernte. Er verharrte noch einen Moment unbeweglich, stumm und bestürzt. Dann tauchte er, sich umwendend, das Ende seines Taschentuches in das Blut des Märtyrer-Königs, und als das Volk immer mehr den Platz verließ, stieg er hinab, schlitzte das Tuch, drängte sich zwischen zwei Pferde, mischte sich unter das Volk und gelangte in die Taverne. Als er in sein Zimmer trat, beschaute er sich im Spiegel, sah auf seiner Stirn einen breiten roten Fleck, fuhr mit der Hand danach, zog sie voll vom Blute des Königs zurück und fiel in eine Ohnmacht. Aus: Zwanzig Jahre danach (1845), übersetzt von Georg Carl Lehmann (1927)
→ KS Carlos Álvarez als Sir Riccardo, 2015
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Peter Rummenhöller
VERSUCH ÜBER DAS ROMANTISCHE
Vor Zeiten, wohl unendlich fern, muss die Welt einmal eine universale harmonische Einheit gewesen sein, ein goldenes Zeitalter, in dem es keine Trennung, keine Grenzen gab, weder zwischen Menschen, noch zwischen Mensch und Natur, noch zwischen den Künsten. Eine zutiefst romantische Vorstellung, bewusster oder unbewusster Ausgangspunkt jeglicher Spielart romantischer Weltanschauung und Schöpferkraft – romantisch schon deshalb, weil sie alle Merkmale des Irrationalen, Unrealistischen hat: sie ist bar jeder Nachprüfbarkeit, Wahrscheinlichkeit und Erfahrbarkeit. Und ebenso romantisch ist die Vorstellung, durch eine sündenfallähnliche Spaltung sei diese universale Weltenharmonie nun dahin, und die Menschheit müsse ihrer Sehnsucht nach diesem goldenen Zeitalter Ausdruck geben, ihr Leiden an der Spaltung gestalten, und die Utopie, die Erlösung davon für möglich halten. Das sind die drei Säulen romantischen Denkens, Fühlens und künstlerischen Gestaltens: die Sehnsucht, die sich nach rückwärts in die Vergangenheit richtet, als Eingedenken; das Leiden, das dem Ungenügen an der ungeliebten Gegenwart Ausdruck verleiht, als negative Vergegenwärtigung; und die Utopie als die Hoffnung, in ferner Zukunft das goldene Zeitalter wieder zu erreichen, Erlösung zu erlangen, als Verheißung. Romantische Kunst hat denn auch eine Fülle von Symbolen und Motiven entwickelt, um diesen drei romantischen Dimensionen zum Ausdruck zu verhelfen, wobei die Musik als eine dem Irrationalismus romantischer Weltanschauung am nächsten stehende Kunst eine große Rolle spielt. Musik selber ist ein romantisches Symbol. Sie ist eine Kunst, die nur flüchPET ER RUM MEN HÖLLER
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tig mit der Wirklichkeit verbunden ist (sie ist auf materielle Tonerzeugung angewiesen, auf Musikinstrumente, Apparaturen, schriftliche Aufzeichnung, Tonträger usw.), die ihrem Wesen nach sich gänzlich immateriell in Raum und Zeit entfaltet und eine begriffslose Sprache spricht, die sie zur Kunst der Romantik par excellence machen. Musik ist fähig, im romantischen Sinne Vergangenheit heraufzurufen, die Sehnsucht danach auszudrücken, das Ungenügen an der Gegenwart zu mildern und für die Zukunft die Utopie einer besseren Welt zu beschwören. Obwohl Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) nach eigenem Eingeständnis in der Musik »wenig bewandert« war, gibt seine Interpretation der Musik als einer romantischen Kunst die ästhetisch-philosophische Basis. In seinen Vorlesungen über die Ästhetik, die er seit 1818 an den Universitäten Heidelberg und Berlin hielt (Heinrich Gustav Hotho, der Hegel noch selbst als Student hörte, gab diese Vorlesungen nach Mitschriften von Studenten und Hegels eigenen, zum Teil skizzenhaften Aufzeichnungen posthum heraus), teilt Hegel die Künste in drei Stufen ein: die symbolischen, die klassischen und die romantischen. Zur symbolischen Kunst gehört für ihn die Architektur, zur klassischen die Skulptur und zur romantischen die Malerei, die Musik und die Poesie. In der symbolischen Kunst wird das Ideal der wahren Idee des Schönen nur angestrebt, aber nicht erreicht, die Architektur ist damit eine nur unvollkommene Kunst in Bezug auf dieses Ideal. In der klassischen Kunst hingegen ist das Ideal erreicht, in der Skulptur, vor allem in der griechischen des damals sogenannten »klassischen« Altertums, Form und Inhalt in ein ausgewogen harmonisches Verhältnis gebracht. Erst die romantischen Künste überschreiten dieses Ideal. Im »schönen Schein der Farben« bei der Malerei und in der Immaterialität des Tones in der Musik ist eine »subjektive Innerlichkeit« erreicht, die das Romantische dieser Künste ausmacht, wobei die Musik »der Mittelpunkt der romantischen Künste« ist. Musik und Romantik, heute mehr denn je im schlechten Sinne als Synonyme gebraucht, gilt es wieder zu entflechten; auf der einen Seite Musik als Symbol der Unendlichkeit und auf der anderen Musik, die als Pseudonym die Romantik als Deckmantel für Sentimentalität, Trivialität und Verkäuflichkeit benutzt. Dagegen ist keine Kunst heute gefeit.
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V ERSUCH Ü BER DAS ROM A N T ISCHE
ZEITTAFEL
3. November 1801 Vincenzo Bellini wird im sizilianischen Catania als Enkel eines Kirchenmusikers und als Sohn eines »maestro di musica« geboren. Bellini soll bereits mit sechs Jahren eine im Dom zu Catania uraufgeführte und begeistert gefeierte Sopranmotette komponiert haben.
1813-1818 Bellini kommt mit der Kammermusik Haydns und Mozarts in Berührung und beweist die Frühreife seines Genies durch zahlreiche geistliche und weltliche Kompositionen.
1819 Aufnahme in das Konservatorium San Sebastiano in Neapel. Neben Giovanni Furno (Harmonielehre), Giacomo Tritto (Kontrapunkt) und Carlo Conti (Cembalo) wird er von dem berühmten Nicola Zingarelli, Direktor des Konservatoriums, unterrichtet. Intensives Studium der Werke Jommellis, Paisiellos und Pergolesis.
1825 Zum Abschluss der erfolgreichen Konservatoriumslaufbahn komponiert der junge Meister seine erste Oper Adelson e Salvini; Donizetti lobt das Werk, das über ein Jahr lang jeden Sonntagnachmittag im Theater des Konservatoriums gegeben wird.
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1826 Der Impresario Barbaja erteilt Bellini den Auftrag, für das Teatro San Carlo in Neapel eine Oper zu schreiben; der Erfolg von Bianca e Fernando öffnet Bellini die Bühne der Mailänder Scala.
1827 Der jugendliche Maestro begibt sich nach Mailand und wird rasch zum Liebling der mondänen Gesellschaft. II pirata verdankt der Komponist seiner Begegnung mit dem Librettisten Felice Romani, einem Dichter von feinem klassizistischen Empfinden.
1828 Eine überarbeitete Fassung von Bianca e Fernando eröffnet das neu erbaute Genueser Opernhaus. Die in der Bellini-Literatur viel zitierte Liebesgeschichte mit Giuditta Cantù, der unglücklichen Gattin Fernando Turinas, nimmt ihren Anfang. Einige Jahre hindurch gewinnt die vornehme Mailänderin Einfluss auf Bellini; sie veranlasst ihn zur Wahl eines neuen Opernlibrettos, der Straniera.
1829 In La straniera bemerkt die Kritik erstmals die Begabung Bellinis, »parola« und »musica« gleichberechtigt zu behandeln und sich nicht einfachen musikalischen Effekten hinzugeben. Im gleichen Jahr erleidet das Gespann Bellini-Romani allerdings auch einen Misserfolg mit der für Parma geschriebenen Zaira, nach der Tragödie Voltaires.
1830 In Venedig wird die Shakespeare-Oper I Capuleti e i Montecchi erfolgreich uraufgeführt.
1831 Bellini erwägt eine Ernani-Vertonung, die Libretto-Grundlage hat Romani den Schriften Victor Hugos entnommen. Die habsburgische Zensur vereitelt jedoch dieses Unternehmen, und Bellini wendet sich einem weit harmloseren Stoff zu: La sonnambula. Nach der Uraufführung schreibt ein Kritiker: »Je länger man diese Musik hören wird, desto besser wird sie gefallen.« Dies wird sich dann vor allem bei der Norma bewahrheiten, die bei ihrem Erscheinen an der Scala kalt aufgenommen, aber bereits nach der sechsten Aufführung mit enthusiastischem Beifall überschüttet wurde.
1832 Kurzes Wiedersehen seiner Heimat Sizilien, in der Vincenzo Bellini wie ein »Triumphator« begrüßt wird. 29
ZEIT TA FEL
1833 In Venedig wird seine Beatrice di Tenda uraufgeführt. Intrigen aller Art und der vorübergehende Bruch mit Romani mögen dazu beigetragen haben, dass die Oper durchfiel.
1835 Bellini verlässt Italien und folgt einer Einladung nach London, wo seine Opern inzwischen mit größtem Erfolg aufgeführt werden und die Sängerin Malibran als »Sonnambula« brilliert. Auf dem Rückweg nach Italien bleibt der Meister in Paris, er schreibt an die Zurückgebliebenen: »Die Direktion des Théâtre-Italien machte mir Angebote, die es anzunehmen galt. Erstens sind die Honorare höher, dann sind die Sänger herrlich, und schließlich in Paris zu bleiben, auf die Kosten anderer...« Bellini lebt sich rasch in den Pariser Künstlerkreisen ein; er begegnet Heinrich Heine, Frédéric Chopin, und wird von Rossini väterlich-freundschaftlich protegiert. In Zusammenarbeit mit dem Grafen Pepoli entsteht sein letztes Meisterwerk: I puritani.
24. September 1835 Der Komponist stirbt ziemlich unerwartet und in gewollter Abgeschiedenheit im Pariser Vorort Puteaux, was zu wildesten Gerüchten Anlass gibt; man spricht sogar von einem zweiten »Fall Mozart«. Ursache des Todes war jedoch ein nicht rechtzeitig diagnostiziertes Leber- und Darmleiden. Ganz Paris und mit ihm viele Städte Europas beklagen den vorzeitigen Verlust. Rossini lässt Bellinis Körper einbalsamieren, die Messa da Requiem von Cherubini wird im Invalidendom aufgeführt, und Donizetti widmet dem Freund zum Gedenken eine Totenmesse.
→ Dmitry Korchak als Lord Arturo, 2018
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Werner Oehlmann
PARIS ZUR ZEIT BELLINIS Paris war in den dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts ein Kampfplatz politischer und sozialer Mächte, die sich unter der verhüllenden Decke der monarchischen Staatsform mit materiellen und geistigen Mitteln unentwegt und erbittert befehdeten und das öffentliche Leben in einer vibrierenden Spannung hielten, die allen seinen Äußerungen etwas Exaltiertes, Übersteigertes und Gefährlich-Großartiges gab. Der ungeheure Impuls der Revolution von 1789 war noch keineswegs erlahmt, die Kräfte, die er entfesselt hatte, waren weder durch die ruhm- und opferreiche Ära des napoleonischen Kaiserreichs verbraucht noch durch die nachfolgende Restauration, die Wiederkehr des Bourbonischen Königs, besänftigt; die Julirevolution von 1830 hatte als jähes Aufflammen von ihrer Gegenwart gezeugt. Die Epoche des Bürgerkönigs Louis-Philippe, der den bequemen Filzhut der lästigen Krone vorzog und in gutem Einvernehmen mit der Geldaristokratie ein joviales Regime führte, war nur scheinbar eine Zeit der Ruhe; in Wahrheit glich sie, die zur Revolution von 1848 führte, eher der unheimlichen Pause zwischen zwei Ausbrüchen desselben unentwegt grollenden Vulkans. Viele Parteien und Überzeugungen wirkten in unterirdischen Kämpfen und Intrigen gegeneinander; von den Karlisten, den Anhängern der BourbonenDynastie, den Bonapartisten, deren Hoffnungen durch den frühen Tod des Herzogs von Reichstadt enttäuscht wurden, bis zu den sozialistischen Ideologen aus der Schule Saint-Simons drängte alles in Unruhe und Unzufriedenheit einem neuen Umsturz entgegen. W ER N ER OEHLM A N N
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Das geistige Leben, das sich in dieser hochgespannten, erregenden Atmosphäre entwickelte, ließ an schöpferischer Vitalität und ideeller Schwungkraft nichts zu wünschen. Der Romancier Honoré de Balzac war der scharfsichtige, zugleich verherrlichende und demaskierende Schilderer dieser Zeit, in der sich der Nachglanz des versunkenen Kaiserreichs mit dem neuen Prunk der aufsteigenden Bourgeoisie mischte, ihrer Paläste und Assembleen, ihrer Verbrechen und Gefängnisse; er machte Paris zum Schauplatz der Comédie humaine, in der Bankiers und Kaufleute, Aristokraten und Emporkömmlinge, Künstler und Idealisten, Damen und Dirnen die Spiele des Ehrgeizes, der Liebe und des Lasters spielten. Alphonse de Lamartine läuterte das erregte Zeitgefühl zu mystischer Meditation; Victor Hugo erfüllte die Bühne mit dem Pathos romantischer Begeisterung; Alfred de Musset bestrickte durch lyrische Eleganz, Théophile Gautier wurde der schönheitsdurstige, fantasievolle Chronist der theatralischen und musikalischen Ereignisse. Die romantische Malerei, von Ingres und Horace Vernet vorbereitet, gipfelte in den leidenschaftlichen, von orientalischer Farbenglut leuchtenden Visionen des großen Eugène Delacroix. Im Musikleben triumphierte der Fortschritt. Das Jahr 1831 brachte den Geiger Niccolò Paganini nach Paris, den Meister einer neuen, von dämonischen Impulsen inspirierten Virtuosität, der dem jungen Franz Liszt den Weg zur bravourösen Entfaltung und zu den berauschenden Gefühlsekstasen romantischen Klavierspiels wies, während Frédéric Chopin mehr die intime, schwärmerische Seite romantischer Empfindung kultivierte. Der hitzigste Neuerer war Hector Berlioz, der die Musik zum Medium literarischer Goethe- und Shakespearebegeisterung machte und die Hörer ebenso durch das Grauen romantischer Satanismen wie durch den Klangfarbenzauber programmatischer Tonmalereien faszinierte. – Die Oper präsentierte sich in Paris in dreierlei Gestalt. Die Académie royale war der Schauplatz der Sensationen, welche die anspruchsvollen und voluminösen Meisterwerke der Großen Oper, Aubers Stumme von Portici, Rossinis Wilhelm Tell, Meyerbeers Robert der Teufel, dem Publikum boten. Revolutionäre Leidenschaft, Freiheitspathos, romantische Dämonie verbanden sich mit südlich glühendem Kolorit, idyllischem Schweizer Hirtenreigen, Teufelsspuk und mittelalterlicher Ritterherrlichkeit, mit sängerischer Bravour, blendendem instrumentalen Effekt und luxuriöser Ausstattung zu glänzenden, von der Gesellschaft bereitwillig besuchten Festen des musikalischen Theaters. Hier hatte sich ein eigentümlich französischer, dramatisch-leidenschaftlicher Sängertypus ausgebildet, wie er durch den ausdrucksmächtigen Tenor Nourrit, seinen Nachfolger Duprez und den dämonischen Bass Levasseur vertreten wurde. Die andere, heitere Seite des französischen Temperaments bezeugte sich in der Opéra comique, wo Komponisten wie Boieldieu, Hérold, Adam ohne großen Aufwand an Sängerprominenz ihr Publikum mit witzigen, leicht romantisch kolorierten Spielopern unterhielten, wo die Weiße Dame, der Räu 33
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berhauptmann Zampa und der peitschenknallende Postillon von Lonjumeau als Repräsentanten einer volkstümlichen Musikkomödie beklatscht wurden. Den reinsten musikalischen Genuss aber fand man im Théâtre-Italien, wo die alten und neuen Schöpfungen der italienischen Meister Paër, Rossini, Mercadante, Donizetti im Repertoire und die Sängergrößen von San Carlo, Fenice und der Scala auf der Bühne standen. Hier triumphierte die italienische Oper mit der Fülle ihrer sinnenschönen Melodie, hier erfuhr sie ihre europäische Bestätigung. Denn das Publikum war nicht, wie in Italien, das Volk, das in der Musik sein eigenes Wesen wiedererkannte; im Parkett und in den Logen traf sich eine internationale Gesellschaft von Aristokraten und Abenteurern, Kaufleuten und Spekulanten, Diplomaten und politischen Emigranten, welche die musikalische Schönheit des Südens als einen kostbaren Import, fast als ein exotisches Wunder verehrte. Gioachino Rossini hatte im Jahre 1824 die Leitung der italienischen Oper in Paris übernommen, hatte sie aber bald wieder aufgegeben und seine Position in eine Sinekure mit dem Titel eines Generalinspektors des Gesanges in allen königlichen Instituten verwandelt. Obgleich er sich als Komponist angesichts der wachsenden Erfolge Meyerbeers aus der Öffentlichkeit zurückzog, war sein Einfluss im Musikleben noch immer unvermindert groß, die Lauterkeit seines Charakters sicherte ihm das Vertrauen und die Hochachtung der jungen Musikergeneration.
→ Szenenbild
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ZUR ENTSTEHUNGSGESCHICHTE
Vincenzo Bellinis letzte Oper I puritani, uraufgeführt im Pariser ThéâtreItalien am 24. Jänner 1835, weist eine komplexe Entstehungsgeschichte auf. Man kann diese Oper von vielen verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachten: Der Text wurde von einem gänzlich unerfahrenen Librettisten verfasst; geschrieben wurden die Puritaner für zwei verschiedene Opernhäuser (Paris und Neapel) und für zwei verschiedene Primadonnen (Giulia Grisi und Maria Malibran); ihre Entstehung wurde von unterschiedlichsten MusikerMeinungen beeinflusst, insbesondere von Gioachino Rossini, der führenden Kraft des Théâtre-Italien. Es existiert eine Materialfülle zur Entstehungsgeschichte: Entwurfskizzen, ein wortreicher Briefwechsel zwischen Bellini und seinen Künstlerkollegen in Paris und Neapel, außerdem Musikhandschriften, die variantenreiche Legenden der Entstehungsgeschichte beinhalten... Bellini verbrachte eineinhalb Jahre in Paris mit der sorgfältigsten Vorarbeit und wartete hoffnungsfroh auf einen großen persönlichen Triumph. Er verwand mehr Zeit auf die Komposition der Puritaner als auf irgendeine seiner früheren Opern. Die Proben begannen Monate vor der Premiere. Die Solisten seiner Wahl – seitdem als das »Puritaner-Quartett« bekannt – Giulia Grisi (Sopran), Giovanni Battista Rubini (Tenor), Antonio Tamburini (Bariton) und Luigi Lablache (Bass), waren zu ihrer Zeit bereits eine Legende. Der Komponist schrieb nach der Opernpremiere an seinen besten Freund, Francesco Florimo, zu der Zeit Bibliothekar am Neapolitanischen Konservatorium, folgende Worte: »Oh, mein lieber Florimo, wie zufrieden bin ich... Was für einen Moment Z U R EN TST EH U NGSGE SCHICH T E
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haben wir durchlebt und mit welchem Ergebnis? Ich zittere immer noch bei dem Gedanken, welchen Eindruck ein solcher Erfolg auf meine Seele und meinen Körper gemacht hat. Ich fühle mich nahezu wie jemand, der zu Boden geschlagen wurde, so kraftvoll war dieser Augenblick.« Diesen Triumph hatte Bellini bitter nötig. Zwei Jahre zuvor hatte er Italien verlassen, nach der am 16. März 1833 durchgefallenen Premiere von Beatrice di Tenda; er sollte seine Heimat nie wiedersehen. Im September 1835, acht Monate nach der Puritaner-Premiere, starb Bellini in Paris. Nicht nur das Scheitern der Beatrice hatte ihm Kummer bereitet, sondern vielmehr die mit Bitterkeit überschattete Trennung von seinem Librettisten Felice Romani. Ihre Zusammenarbeit war nie einfach gewesen, trotzdem war Romani der beste Librettist Italiens, ein guter Dichter, ein Theatermann, der es verstand, theatralische Situationen in kongeniale Verse zu übertragen, die wiederum Bellinis Vertonungen inspirierten. Es steht allerdings unzweifelhaft fest, dass Romanis Hang zu Verzögerungen während der Arbeit an Beatrice di Tenda unerträgliche Ausmaße annahm. Als die Beatrice dann durchfiel, brach ein Zeitungskrieg zwischen den Anhängern von Romani und den Bellini-Sympathisanten aus. Nachdem sich Romani höchstpersönlich in die Zeitungsschlachten einmischte, wurde der Bruch zwischen beiden irreparabel. Sie kommunizierten erst nach einem Jahr wieder miteinander, aber zu einer Zusammenarbeit kam es nicht mehr. Bellinis einziges definitives Projekt nach der Beatrice war – in der Zeit von Mai bis zum frühen August 1833 – eine Reise nach England, um dort einige seiner Opern zu dirigieren. Bei dieser Gelegenheit traf er die berühmte MezzoSopranistin Maria Malibran; er sah in ihr eine außergewöhnlich intelligente Künstlerin. Obwohl die Malibran ausgeprägt »launenhaftig« war (eine ihrer größten Sünden war, die Grabszene aus Bellinis I Capuleti e i Montecchi durch die im höchsten Grade minderwertige Musik eines Nicola Vaccai zu ersetzen), wollte Bellini nichts anderes, als speziell für sie eine Oper schreiben. Unterwegs von England, hatte Bellini in Paris Halt gemacht, um sich die dortigen Gegebenheiten etwas näher anzuschauen. Ende Jänner 1834 unterschrieb er einen Vertrag mit dem Théâtre-Italien. Die dort neu bestellte Oper sollte im Dezember 1834 oder Jänner 1835 zur Aufführung kommen. Das Zerwürfnis mit Romani lastete nun schwer auf ihm. Bellini benötigte dringend einen Opernstoff und einen Librettisten. Der letztere wurde zuerst gefunden, Carlo Graf Pepoli (1801-1860), ein Bologneser Edelmann, mit entschieden liberaler politischer Einstellung. Pepoli war – um 1830 – aktives Mitglied revolutionärer Kreise und musste einige Monate in einem österreichischen Gefängnis verbringen, bevor er zu der »Gemeinde« italienischer Exilanten in Paris stieß. Graf Pepoli besaß einen recht guten Ruf als Lyriker, hatte jedoch überhaupt keine Theatererfahrungen aufzuweisen. Bellinis Briefe der folgenden 37
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Monate haben die Suche nach einem geeigneten Sujet zum Inhalt und enthalten gelegentliche Befürchtungen über Pepoli, wie zum Beispiel folgende Notiz an Florimo vom 11. Mai 1834 zeigt: »Ich bin sehr gespannt, ob Graf Pepoli mit dem Libretto für Paris zurechtkommt. Ich hoffe, er hat Erfolg, denn er schreibt sehr schöne Verse und besitzt viel Gewandtheit.« In der ersten Aprilhälfte einigten sich Bellini und Pepoli auf einen Stoff, und zwar auf das Theaterstück Rundköpfe und Kavaliere (Têtes rondes et cavaliers) von Jacques-Arsène Ancelot und Joseph-Xavier-Boniface Saintine; ein Drama mit eingefügten Liedern, uraufgeführt am 25. September 1833 im Pariser Théâtre National de Vaudeville. Die Situationen und Charaktere gefielen Bellini und er konnte sich jedes Mitglied des später sogenannten »Puritaner-Quartetts« in den jeweiligen Rollen sehr gut vorstellen. Bellini schrieb am 11. April an Vincenzo Santocanole: »Verwicklungen, die den Zuschauer in Spannung halten und ihn Mitleid für die unschuldig Leidenden fühlen lassen, ohne irgendeinen bösen Charakter, der das Unheil verursacht, sondern das Schicksal schafft es allein; und daher sind die Erregungen umso stärker, weil es keine menschliche Hilfe gibt, die das Unheil vorübergehen ließe. Von dieser Art ist mein Sujet und ich setze große Hoffnungen darauf; einmal, dass es mich inspiriere, sodann, dass es tiefen Eindruck mache im Verein mit meiner melancholischen Muse.« In den folgenden Monaten, in denen die Oper ihre endgültige Form annahm, war Bellinis Enthusiasmus ungebrochen. Das Libretto weist enorme logische und organisatorische Schwächen auf, denn Pepoli hatte nicht selten mehr seine »Poeten-Eitelkeit« im Sinn, als für Bellini ein sauberes Handlungsgerüst zu schaffen. Trotz alledem war der Komponist von dem Libretto sehr angetan. Für ihn lag der Reiz des Stückes darin, dass es nicht ausschließlich im tragischen Bereich angesiedelt war, sondern einen sogenannten »halb-ernsten«, melodramatischen Stil aufwies. Bellini verglich es mit seiner Oper La sonnambula und Giovanni Paisiellos Nina, eine weitere Geschichte einer Frau, die aus Liebe wahnsinnig wird. Die individuellen Situationen empfand er als außergewöhnlich gut, als bewegend-dramatisch. In gewissem Sinn betrachtete Bellini die Puritaner eher als eine Aneinanderreihung von Bildern denn als ein geschlossenes Drama. Auch Kritiker des Librettos können nicht umhin zuzugeben, dass es äußerst theaterwirksame Situationen enthält: Elvira bedeckt Enrichetta mit ihrem Brautschleier; Elviras Wahnsinn, das patriotische Duett von Giorgio und Riccardo, die Gewitterszene, das sind Stoffe, aus denen gute Melodramen gemacht sind. Dennoch erkannte Bellini, dass in einem Romani-Libretto die Motivationen glaubwürdiger und die Gesamtgestaltung dichter gewesen wäre. Einer von Bellinis interessantesten Kommentaren entstand nach der Opern-Premiere; er schrieb am 25. März 1835 an seinen Mailänder Verleger Z U R EN TST EH U NGSGE SCHICH T E
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Giovanni Ricordi: »Sie haben Recht mit Ihrer Meinung über das Libretto, aber, was hätte ich tun sollen… Mein ›lieber‹ Romani ist der beste Mensch auf der Welt, aber er macht mir zu viel Kompromisse, und ich schwöre Ihnen, dass selbst bei einem so interessanten Libretto wie Norma Romani mir solchen Ärger gemacht hat, dass es zu einem Fiasko gekommen wäre, wenn ich nicht in der Lage gewesen wäre, vorsichtig mit der Partitur umzugehen, das heißt, mich gänzlich in sie zu versenken. Auf diese Art eroberte ich mir die Wertschätzung von Rossini und vielen anderen Künstlern in Paris, überdies kann ich mit meinen Melodien auch das ›verrückteste‹ Publikum zufriedenstellen. In Paris ist vor allem die Musik wichtig, denn das Publikum ist der italienischen Sprache unkundig und sie wissen daher nicht, ob die Worte schön oder hässlich sind. Es wäre sicherlich besser, schöne zu haben, aber wenn der Preis dafür ist, sich um die damit verbundenen Verzögerungen eines Textautoren zu kümmern, und deswegen in Zeitbedrängnis zu geraten, dann ist es besser, man wählt das geringere der beiden Übel: ziemlich schlechte Worte mit einer gut gemachten, effektvollen Musik.« Bellini fährt fort, ständig zu wiederholen, dass die in der Oper vorkommenden Situationen »innig und empfindsam« sind, »... Sie bewegen das Herz der Franzosen und das ist etwas besonders Gutes: Tränen im Italienischen Theater in Paris zu sehen…« Es steht außer Frage, dass Bellini seine inspirierteste und komplexeste Musik in diese, von ihm so oft angesprochenen außergewöhnlichen Situationen gegossen hat, und das wiederum macht die Größe der Puritaner-Partitur aus. Aus: Analecta Musicologica
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» Ich zeigte mich, fast stolpernd, dem Publikum, das schrie wie verrückt geworden. Alle Damen winkten mit ihren Taschentüchern, die Männer schwenkten ihre Hüte in der Luft […]
Danach fiel der Vorhang (natürlich musste das Duett wiederholt werden), und ich schwöre Dir, dass eine halbe Stunde Ruhe nicht genügte: als der Vorhang sich zum dritten Akt hob, sahen wir, dass das Publikum noch immer erregt war. « Vincenzo Bellini an Francesco Florimo, 1835
Margrit Poremba
QUELLEN ZUR LITERARISCHEN VORLAGE
Widersprüchliches über die Abhängigkeit der Ancelotʼschen literarischen Vorlage von Walter Scott Jacques Arsène Ancelot (1794-1854), Verfasser von Dramen, schrieb zusammen mit Joseph-Xavier-Boniface Saintine das Drama Têtes rondes et cavaliers (Rundköpfe und Kavaliere), das Graf Pepoli zur Vorlage seines Puritaner-Librettos diente. Rundköpfe wurden Cromwells Soldaten genannt, da sie, im Unterschied zu den langhaarigen Königstreuen, kurzgeschnittene Frisuren hatten. – Friedrich Lippmann bemerkt nun in seiner Studie Vincenzo Bellini und die italienische Opera seria seiner Zeit: »… Die in der Literatur des Öfteren behauptete Abhängigkeit des Librettos von einem Roman Walter Scotts besteht nicht – aus dem einfachen Grunde, weil Scott keinen Roman mit dieser oder ähnlicher Handlung geschrieben hat, wie mir die Scott-Kennerin Jean Mary Allen, Edinburgh, liebenswürdigerweise bestätigte.« Die 1981 im Drei Lilien Verlag herausgegebene Illustrierte Darstellung der Oper von 1597 bis zur Gegenwart spricht jedoch in ihrem Kapitel über Bellinis Puritaner davon, dass Ancelots Stück nach Walter Scotts Roman The Puritans in Scotland abgefasst worden ist. Ebenso erwähnt Werner Oehlmann in seiner 1974 erschienenen Bellini-Biografie die Abhängigkeit des Ancelot-Stückes von einem (er nennt keinen Titel!) Roman Walter Scotts (1771-1832). M A RGR IT POR EMBA
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Klaus Massmann weist schließlich in seiner Studie Die Rezeption der historischen Romane Sir Walter Scotts in Frankreich (1816-1832) nach, dass mit der Publikation von Les Puritains dʼEcosse (Old Mortality) 1817 der große Siegeszug für Scott in Frankreich begann; damit wird die Abhängigkeit der Ancelotʼschen Vorlage von Walter Scott evident. »Über den Roman hinaus machte sich der Einfluss des schottischen Romanciers auch in der dramatischen Literatur, in der Musik, der Bildhauerei und der Malerei deutlich bemerkbar. Adaptionen von Werken Scotts für Oper und Theater waren früh an der Tagesordnung und verbuchten große Kassenerfolge. Nachhaltig beeinflusst wurde von der Mode schließlich und vor allem noch die Historiografie, die dank Scott zum ersten Mal zu einer modischen Wissenschaft avancierte... Aus heutiger Sicht scheint unter den verschiedenen Faktoren, die Scotts Erfolg bedingten und begründeten, in der Tat dieser populäre Historismus am wichtigsten, nämlich das in der Romantik erwachende Interesse am Vergangenen, an der Betrachtung der Geschichte in ihrer Andersartigkeit und in ihrer Monumentalität. Dieses wurde offenbar durch Scotts Romane befriedigt.« (Klaus Massmann)
Walter Scotts Roman-Absichten – Wiederauffindbares im Libretto der Puritaner Scotts historische Romane variieren das Thema »Menschlichkeit«, beschreiben Versuche, Menschen vor der vernichtenden Zwangsläufigkeit eines geschichtlichen Ablaufs zu retten. Die Menschen werden schuldig im Gang der Geschichte, weil sie sich weder geistig noch materiell aus den Traditionen, Parteiungen, politischen und sozialen Abhängigkeiten lösen können. Die großen Akteure der Geschichte gehen zugrunde, die eigentlichen »Helden« Scotts, auf deren Mittelmaß man so oft verwiesen hat, vermögen es, sich in einem schmerzhaften, gelegentlich tragischen Prozess aus dem Kampf der geschichtsgestaltenden Kräfte zu lösen, ihr privates Glück aus den Ruinen der Kämpfe zu retten. Sie müssen durch die Kraft ihrer Menschlichkeit, die ethische Überzeugung ihres Tuns und die Integrität ihres Wollens über den ideologischen Streit ihrer Gruppen herausragen, um weder Henker noch Opfer der Geschichte zu werden, sondern deren humane Träger. - Im Puritaner-Libretto wird Enrichetta, Witwe des hingerichteten Karls I., von Arturo vor der Zwangsläufigkeit eines ihrem Manne gleichenden Schicksals gerettet, obwohl Arturo mit dieser Handlung zunächst sein persönliches Glück aufs Spiel setzt. – Im Mittelpunkt von Scotts Romanen steht vorzüglich die Geschichte eines Liebespaares, das, von den Parteiungen und dem politischen und sozialen 43
QU ELLEN Z U R LIT ER A R ISCHEN VOR LAGE
Gruppenantagonismus bedroht, sich in seiner Unschuld, Liebe und Menschlichkeit zu bewähren hat. Die aktive Rolle dieses Paares oder eines Partners mag dabei vergleichsweise bescheiden sein, sie ist es nicht im Vergleich mit den historischen Kräften, denen die Liebenden ausgesetzt sind. Ihre Rolle bestätigt die Möglichkeit eines Heldentums, einer Humanität, sodass gehaltlich wie strukturell der Roman Scotts zugleich an die ältere Tradition des heldischen Epos anzuschließen vermag. - Die eben formulierte Scottʼsche Romanabsicht wird in Bellinis Puritanern erzählt: Elvira, Tochter eines Oberbefehlshabers der Puritaner, liebt Arturo, einen heimlichen Anhänger der Stuarts. Der mitleidlose Gang der Geschichte muss Arturo, nachdem er die Stuart-Witwe vor dem auch ihr drohenden politischen Mord errettet hat, zum Tode verurteilen. Der politische Antagonismus wird jedoch durch einen »glücklichen Zufall« überwunden, es kommt zu einem guten Ende. – Die menschlichen Gesten der »Kleinen« sind ebenso notwendig wie die von Einsicht und Großherzigkeit motivierten Entscheidungen der »Großen«, und nur in diesem Zusammenhang gelingt es, das Romanzenhaft-Wunderbare der Aktion innerhalb der fiktiven Wirklichkeit des Romans zu gestalten, das durch die Gnade gegen das Gesetz Recht werden lässt. Scotts Erzähltechnik ist in erster Linie vom äußeren Gegenstand her bedingt, durch das Agieren des Menschen vor dem größeren Hintergrund der Darstellung bedeutender gesellschaftlicher und politischer Ereignisse im Rahmen großer historischer Entwicklungen. Eine solche epische Weite und Distanz verträgt nur eine beschränkte Personalisierung und keinen psychologischen Solipsismus. Die Handlung des Einzelnen ist Teil eines epischen Ganzen.
Victor Hugos Drama Cromwell beeinflusst Zeitgenossen Fragen des literarischen Geschmacks sind in Frankreich von jeher meist auf der Bühne entschieden worden. Und so wurde auch der Kampf um die Daseinsberechtigung der romantischen Dichtung im Theater ausgetragen. Victor Hugo (1802-1885) wies sowohl als Theoretiker wie auch durch seine Tätigkeit als Dramatiker der neuen Formen- und Ideenwelt die Wege. Für ihn selbst war die Schaffensperiode als Bühnenschriftsteller (18271843) insofern bedeutsam, als er in diesem Teil seines Werkes ausschließlich Romantiker geblieben ist. Sein erstes Drama Cromwell ist weniger als solches bekannt geworden, als vielmehr durch die Vorrede (Préface de Cromwell, 1827), die als Manifest der romantischen Schule weithin Berühmtheit erlangt hat. In der Préface de Cromwell fasste er die Forderungen des modernen Theaters programmatisch zusammen. Er unterscheidet drei Zeitalter der Literatur: M A RGR IT POR EMBA
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das lyrische, epische und moderne. Das »moderne« ist das Zeitalter des Dramas und beginnt mit dem Christentum, auf dessen Lehre von der doppelten – fleischlichen und geistigen – Natur des Menschen der Begriff des Bösen und Guten zurückgeht. Das Drama hat den Konflikt zwischen den beiden menschlichen Naturen darzustellen. Daher muss das Erhabene mit dem Grotesken, das Tragische mit dem Komischen, das Ernste mit dem Heiteren sich mischen (Mélange des Genres). Von den drei Einheiten lässt Hugo nur die der Handlung gelten. Die Handlung selbst soll nicht mehr der Antike, sondern der mittelalterlichen oder modernen Geschichte entnommen werden. Entgegen der klassischen Tradition, die keine gewaltsamen Akte auf der Bühne duldete, soll das moderne Drama die Gewalttaten – wie Duell, Mord, Vergiftung – den Zuschauerinnen und Zuschauern vor Augen führen. Diese und andere Forderungen wollte er mit Cromwell, einem Drama, das sich aber als unspielbar erwies, praktisch verwirklichen. Warum Hugo das Drama Cromwell nannte, erläutert Hans Robert Jauß: »... Das Wirkliche, das in der klassischen Scheidung von Tragödie und Komödie verloren blieb und nun vom Drama, der poesie complète der Zukunft, gestaltet werden soll, wird in geschichtlichen Momenten fassbar, die durch scharfe Kontraste aus dem gewöhnlichen Lauf der Dinge herausragen. Solche Momente können in der Spannung zwischen dem Erhabenen und dem Alltäglichen entstehen, wie etwa in den Anekdoten vom Richter, der sein Urteil mit dem Satz beschließt: ›A la mort, et allons dîner‹ (Voltaires Socrate entnommen), von Sokrates, der den Todesbecher trinkend, das Gespräch über die Unsterblichkeit der Seele unterbrach, damit dem Äskulap ein Hahn geopfert werde, oder von Cromwell, der mit der gleichen Hand, die das Todesurteil Karls I. unterschrieb, das Gesicht dessen mit Tinte besudelte, der ihm das königliche Haupt lachend überbrachte...« Sowohl Ancelot als auch Pepoli werden sich mit dem zu ihrer Zeit die Bühnendichtung revolutionierenden Hugoʼschen Vorwort befasst haben.
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QU ELLEN Z U R LIT ER A R ISCHEN VOR LAGE
» Walter Scott hat hiermit nichts zu tun; die Puritaner des Grafen Pepoli sind nicht diejenigen des illustren Baronets; sie haben eine weniger berühmte und weniger hohe Abstammung. Ihre Wiege war das Théâtre du Vaudeville in der Rue de Chartres, und ihr Stammvater ist Monsieur Ancelot. Unter den unzähligen, mit Couplets und Ritornellen angereicherten Meisterwerken, mit denen der Autor des Louis IX seit drei oder vier Jahren sein Tragikergewissen belastet hat, findet sich eines, das den Titel trägt: Têtes rondes et cavaliers (Ritter und Rundköpfe). Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie die geringste Erinnerung daran bewahrt haben. Es handelte sich um ein höchst langweiliges Kauderwelsch, gewürzt mit Gesängen und kleinen legitimistischen Boshaftigkeiten. Man hatte es auf einen Erfolg in Saint-Germain abgesehen. Doch sei es, dass die heilige Glut dieses adligen Vororts sich bereits abgekühlt hatte, oder dass seine Loyalität zur älteren Linie des
Königshauses nicht bis zur Bereitschaft reichte, das Martyrium eines monarchistischen Vaudevilles von Monsieur Ancelot über sich ergehen zu lassen: Die Ritter blieben zu Hause und Monsieur Ancelot hatte nur mit Rundköpfen zu tun, die sein Werk gnadenlos auspfiffen. Anderen, nicht weniger glaubhaften Berichten zufolge soll sich damals bei dieser Gelegenheit ein spontaner Zusammenschluss beider Parteiungen ergeben haben, und Monsieur Ancelot wurde von Rittern und Rundköpfen brüderlich ausgepfiffen. Es ist ein schöner Moment in der dramatischen Laufbahn des Monsieur Ancelot, die widerstreitenden Interessen solcherart ausgeglichen und im Meinungsstreit Einmütigkeit hergestellt zu haben. «
Hippolyte Rolle im Constitutionnel vom 26. Jänner 1835
Elisabeth Eleonore Bauer
KLINGT WIE BELLINI
Die Entrüstung der deutschen Kritiker über Bellinis »Dutzendware« bezog sich auf die Wiederverwertung eigner musikalischer Einfälle. Dabei schlugen sie den Sack und meinten den Esel, bei näherer Betrachtung allerdings erweist sich auch der geschlagene Sack als leer: in all den Fällen, wo der Verdacht auf Selbstparodie von den Kritikern an Beispielen konkretisiert wurde, ist er tatsächlich unbegründet. Weder stammt die Cabaletta der Beatrice aus Norma, noch finden sich in Norma faustdicke Reminiszenzen aus Il pirata oder I Capuleti bzw. in letztgenannter Oper Parodien aus La straniera. Gemeint war mit dem Parodievorwurf offenbar etwas ganz anderes. Er zielt ab auf die Wahrung von musikästhetischen Grundwerten, die längst auch die Bemühungen um eine deutsche Nationaloper miterfasst hatten: die Unverwechselbarkeit und Charakteristik der musikdramatischen Situation sowie die Einmaligkeit und Originalität des musikalischen Einfalls. Für eine solche in Deutschland heiß diskutierte Opernästhetik waren ausgerechnet die Werke Bellinis eine äußerste Provokation. Sie weisen, anders und mehr noch als die ELISA BET H ELEONOR E BAU ER
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→ KS Dmitri Hvorostovsky als Sir Riccardo, 1994
ohnehin von »italianità« und formelhafter Typik geprägten italienischen Opern zu Beginn des 19. Jahrhunderts, eine Stereotypie in der Melodik auf, die Bellinis eigentlichen Personalstil ausmacht. Lässt sich die Musik Rossinis, Mercadantes oder Donizettis nicht gleich nach wenigen Takten oder einer Nummer eindeutig identifizieren, war zum Beispiel Donizettis Opernproduktion verschiedenen Einflüssen und extremen Schwankungen unterworfen, so blieb sich Bellini – trotz einer gewissen Entwicklung hin zu Standardisierung und Konvention – von der ersten bis zur letzten Oper treu: es klingt wie Bellini, unverwechselbar. Die ständig wiederkehrenden rhythmischen Modelle und typischen Intervallsprünge, die weit geschwungenen Perioden und molleingetrübten harmonischen Wendungen lassen seine Melodien als unendliche Varianten ein und desselben Grundmusters erscheinen. Mag man das, wie Lippmann, »unbewusste Selbstwiederholung« nennen und darin einen »gewissen Mangel an Schöpferkraft« diagnostizieren, so macht doch gerade diese stereotype Melodik, in der das Prinzip der Formelhaftigkeit auf die Spitze getrieben und bis in den Mikrokosmos musikalischer Erfindung hinein perfektioniert erscheint, die besondere Manier bzw. den spezifischen Personalstil Bellinis aus.
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K LINGT W IE BELLIN I
Vincenzo Bellini
BRIEF AN CARLO PEPOLI Mein lieber Carluccio, die Herrschaften meines Hauses erwarten Dich morgen zum Essen. Ich bitte Dich, es nicht zu versäumen: sie würden es verübeln, da sie mich schon dreimal aufforderten, Dich einzuladen. Vergiss nicht, das bereits skizzierte Stück mitzubringen, damit wir endgültig über den ersten Akt sprechen können. Dieser wird, sofern Du genügend Geduld haben wirst, eine interessante, herrliche und der Musik würdige Dichtung haben, trotz Dir und all Deiner absurden Regeln, die zwar alle gut sind, um Geschwätz zu machen, doch niemals einen Menschen überzeugen werden können, der vertraut ist mit der schwierigen Kunst, wie man mit Gesang zum Weinen bringt [nella difficile arte di dover far piangere cantando]. Wenn meine Musik schön sein und die Oper gefallen wird, kannst Du unzählige Briefe gegen den Missbrauch der Dichtung durch die Komponisten schreiben, doch wirst Du damit nichts bewiesen haben. Wir brauchen Tatsachen und kein leeres, oberflächliches Gerede, denn sobald es darauf ankommt, wird dies alles zu einer dünnen Suppe. Du magst meine Überlegungen abtun, wie immer Du willst, doch wirst Du damit überhaupt nichts bewiesen haben. V INCENZO BELLIN I
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Grab Dir in Deinen Kopf mit ehernen Lettern ein: das musikalische Drama muss durch den Gesang zum Weinen, Schaudern, ja zum Sterben bringen [il dramma per musica deve far piangere, inorridire, morire cantando]. Wohl wäre es ein Fehler, für alle Stücke den gleichen Charakter zu fordern, doch ist es notwendig, dass alle Stücke auf eine bestimmte Art von einer Ausdrucksklarheit und einer frappierenden Schlüssigkeit durchdrungen sind, damit die Musik verständlich wird. Musikalische Künstlichkeit bringt die dramatische Situation um ihre Wirkung, aber schlimmer noch ist die Künstlichkeit der Dichtung in einem musikalischen Drama. Dichtung und Musik haben, um zur Wirkung zu kommen, Natürlichkeit nötig und nichts anderes. Wer diese aufgibt, ist verloren und wird schließlich ein schwerfälliges und dummes Werk hervorbringen, das nur den Pedanten gefällt, nicht aber dem Herzen, das wie ein Dichter zunächst einmal Leidenschaften aufnimmt; und wenn das Herz erst erregt ist, dann wird es immer Recht behalten gegenüber noch so vielen Worten, die überhaupt nichts beweisen können. Willst Du dies wohl begreifen? Ich bitte Dich darum, bevor Du mit dem Libretto beginnst. Und weißt Du auch, warum ich Dir sagte, dass das gute Drama jenes ist, das nicht der Logik folgt? Weil ich zur Genüge weiß, was für ein widerspenstiges Wesen der Literat ist und wie absurd er mit seinen Regeln der Logik verfährt. Was ich sage, wird in der Kunst durch die Tatsache bewiesen, dass die Mehrzahl Eurer Berühmtheiten sich in der Wirkung getäuscht hat. In diesem Sinne sprach Mamiani vorgestern von Alfieri. So ist es also. Carluccio und Vincenzillo haben die Aufgabe, sich gemeinsam Ehre zu machen, und auch wenn Du das nicht glaubst, möchte ich es mit aller Kraft; und sofern mich weder die Inspiration, noch Deine Gefügigkeit verlassen, bin ich sicher, es Dir zu beweisen. Addio, es umarmt Dich Dein unverbesserlicher Vincenzillo. (Mai 1834)
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BR IEF A N CA R LO PEPOLI
Richard Wagner
BELLINI – EIN WORT ZU SEINER ZEIT (1837) Die Belliniʼsche Musik, d.i. der Belliniʼsche Gesang, hat in dieser Zeit selbst im hochgelehrten Deutschland ein solches Aufsehen erregt und einen solchen Enthusiasmus entflammt, dass schon diese Erscheinung an und für sich wohl einer näheren Untersuchung wert wäre. Dass der Belliniʼsche Gesang in Italien und Frankreich entzückt, ist einfach und natürlich, – denn in Italien und Frankreich hört man mit den Ohren, daher denn auch unsre Phrasen vom »Ohrenkitzel« u. dgl. – (vermutlich im Gegensatz zu dem »Augenjucken«, das uns z.B. die Lektüre so mancher Partitur von neueren deutschen Opern verursacht); – dass aber selbst der deutsche Musikkenner die Brille von den strapazierten Augen wegnahm und sich einmal so ganz rücksichtslos der Freude eines schönen Gesanges hingab, das lässt uns zugleich tiefer in sein eigentliches Herz blicken, – und da gewahrt man denn eine so tiefe und inbrünstige Sehnsucht nach einem vollen und kräftigen Aufatmen, um sichʼs mit einem Male leicht zu machen und all den Schwulst von Vorurteilen und üblen Gelehrtheiten von sich zu werfen, der ihn so lange zwang, ein deutscher Musikkenner zu sein, und statt dessen endlich einmal ein Mensch zu werden, froh, frei und begabt mit all den herrlichen Empfängnisorganen für R ICH A R D WAGN ER
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jedes Schöne, möge es sich zeigen, in welcher Form es wolle. – Wie wenig sind wir doch eigentlich von all dem närrischen Krame von Vorurteilen und Einbildungen wirklich überzeugt; wie oft mag es uns wohl passiert sein, dass wir bei der Anhörung einer italienischen oder französischen Oper entzückt wurden, und als wir das Theater verließen, mit einem mitleidigen Witz unsre Aufregung hinweg spotteten, und dann, in unsrem Hause angelangt, mit uns übereinkamen, dass man sich eigentlich vor Entzücken hüten müsse. Machen wir nun einmal diesen Witz nicht und treffen wir einmal diese Übereinkunft mit uns nicht, sondern halten wir das fest, was uns eben entzückt hatte, so werden wir inne werden, dass es zumal bei Bellini die klare Melodie, der einfach edle und schöne Gesang war, der uns entzückte; dies zu bewahren und daran zu glauben, ist doch wahrlich keine Sünde; es ist vielleicht selbst keine Sünde, wenn man vorm Schlafengehen noch ein Gebet zum Himmel schickte, dass den deutschen Komponisten doch endlich einmal solche Melodien und eine solche Art, den Gesang zu behandeln, einfallen möchten. – Gesang, Gesang und abermals Gesang, ihr Deutschen! Gesang ist nun einmal die Sprache, in der sich der Mensch musikalisch mitteilen soll, und wenn diese nicht ebenso selbständig gebildet und gehalten wird, wie jede andere kultivierte Sprache es sein soll, so wird man euch nicht verstehen. Das übrige, was an diesem Bellini schlecht ist, kann ja jeder eurer Dorfschulmeister besser machen, das ist bekannt; es liegt demnach ganz außer der eigentlichen Sache, sich über diese Mängel lustig zu machen; wäre Bellini bei einem deutschen Dorfschulmeister in die Lehre gegangen, er hätte es wahrscheinlich besser machen lernen, ob er aber dabei nicht vielleicht seinen Gesang verlernt hätte, steht allerdings sehr zu befürchten. – Lassen wir also diesem glücklichen Bellini den, allen Italienern einmal gebräuchlichen Zuschnitt seiner Musikstücke, seine regelmäßig dem Thema folgenden Crescendos, Tutti, Kadenzen und dergleichen stehende Manieren, über die wir uns so grimmig ärgern; es sind die stabilen Formen, die der Italiener einmal nicht anders kennt, und die in manchem Betracht gar nicht so verwerflich sind. Betrachten wir die grenzenlose Unordnung, den Wirrwarr der Formen, des Periodenbaues und der Modulationen so mancher neuer deutscher Opernkomponisten, durch die sie uns oft den Genuss vieler einzelner Schönheiten verkümmern, so möchten wir wohl oft wünschen, durch jene stabile italienische Form diesen krausen Knäuel in Ordnung gebracht zu sehen; und in der Tat wird die augenblickliche klare Erfassung einer ganzen Leidenschaft auf der Bühne bei weitem erleichtert werden, wenn sie eben ganz mit allen Nebengefühlen und Nebenempfindungen mit einem festen Striche in eine klare, fassliche Melodie gebracht wird, als wenn sie durch hundert kleine Kommentationen, durch diese und jene harmonische Nuance, durch das Hineinreden dieses und jenes Instrumentes verbaut und endlich ganz hinweggeklügelt wird.
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BELLIN I – EIN WORT Z U SEIN ER ZEIT
» Er war nie vom Theater so ergriffen worden wie damals; er empfand die Leidenschaften der Melodien wie Flügelschläge großer dunkler Vögel, als ob er die Linien fühlen könnte, die ihr Flug in seiner Seele zog.
Es waren keine menschlichen Leidenschaften mehr, die er hörte, nein, es waren Leidenschaften, die aus den Menschen entflohen, wie aus zu engen und zu alltäglichen Käfigen. «
Robert Musil, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
Heinrich Heine
... SIE HABEN IHN ALSO PERSÖNLICH GEKANNT... WAR ER HÜBSCH? Wie oft habe ich den armen Bellini geneckt und ihm aus Scherz prophezeit, dass er, in seiner Eigenschaft als Genie, bald sterben müsse, indem er das gefährliche Alter erreiche. Sonderbar! Trotz des scherzenden Tones, ängstigte er sich doch ob dieser Prophezeiung, er nannte mich seinen Jettatore und machte immer das Jettatorezeichen... Er wollte so gern leben bleiben, er hatte eine fast leidenschaftliche Abneigung gegen den Tod, er wollte nichts vom Sterben hören, er fürchtete sich davor wie ein Kind, das sich fürchtet im Dunkeln zu schlafen... Es war ein gutes, liebes Kind, manchmal etwas unartig, aber dann brauchte man ihm nur mit seinem baldigen Tode zu drohen, und er ward dann gleich kleinlaut und bittend und machte mit den zwei erhobenen Fingern das Jettatorezeichen... Armer Bellini! Sie haben ihn also persönlich gekannt? War er hübsch? Er war nicht hässlich. Sie sehen, auch wir Männer können nicht bejahend antworten, wenn man uns über jemand von unserem Geschlechte eine solche Frage vorlegt. Es war eine hoch aufgeschossene, schlanke Gestalt, die sich zierlich, ich möchte sagen kokett bewegte; immer à quatre épingles; ein regelmäßiges Gesicht, länglich, blassrosig; hellblondes, fast goldiges Haar, in dünnen Löckchen frisiert; hohe, sehr hohe, edle Stirne; grade Nase; bleiche, blaue Augen; schöngemessener Mund; rundes Kinn. Seine Züge hatten etwas Vages, Charakterloses, etwas wie Milch, und in diesem Milchgesichte quirlte manchmal süßsäuerlich ein Ausdruck von Schmerz. Dieser Ausdruck von Schmerz ersetzte in Bellinis Gesichte den mangelnHEIN R ICH HEIN E
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den Geist; aber es war ein Schmerz ohne Tiefe; er flimmerte poesielos in den Augen, er zuckte leidenschaftslos um die Lippen des Mannes. Diesen flachen, matten Schmerz schien der junge Maestro in seiner ganzen Gestalt veranschaulichen zu wollen. So schwärmerisch wehmütig waren seine Haare frisiert, die Kleider saßen ihm so schmachtend an dem zarten Leibe, er trug sein spanisches Röhrchen so idyllisch, daß er mich, immer an die jungen Schäfer erinnerte, die wir in unseren Schäferspielen mit bebänderten Stäben, und hellfarbigen Jäckchen und Höschen, minaudieren sehen. Und sein Gang war so jungfräulich, so elegisch, so ätherisch. Der ganze Mensch sah aus wie ein Seufzer en escarpins. Er hat bei den Frauen viel Beifall gefunden, aber ich zweifle ob er irgendwo eine starke Leidenschaft geweckt hat. Erst späterhin, als ich Bellini schon lange kannte, empfand ich für ihn einige Neigung. Dieses entstand namentlich, als ich bemerkte, dass sein Charakter durchaus edel und gut war. Seine Seele ist gewiss rein und unbefleckt geblieben von allen hässlichen Berührungen. Auch fehlte ihm nicht die harmlose Gutmütigkeit, das Kindliche, das wir bei genialen Menschen nie vermissen, wenn sie auch dergleichen nicht für jedermann zur Schau tragen. Aus: Florentinische Nächte, Erste Nacht
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... SIE H A BEN IHN A LSO PERSÖN LICH GEK A N N T... WA R ER H Ü BSCH?
Friedrich Lippmann
BEMERKUNG ZUR ARIENFORM An I puritani ist vor allem die verstärkte Überbrückung des Abstands von Arie und Ensemble bemerkenswert. Zwischen Ensemble und Arie stehen in I puritani: Arturos Auftrittsgesang »A te, o cara« (»Cavatina« von Bellini genannt), Elviras Polacca im 1. Finale (in demselben Brief »Quartettino« genannt), erstes Tempo von Elviras Wahnsinnsszene (vom Komponisten mehrmals als »Terzetto« bezeichnet). Die Bezeichnungen wirken sehr willkürlich und kennzeichnen die Verlegenheit, jene Mischbildungen zu benennen. Die Schematik der Arienformung im Kleinen, die nach I Capuleti in Beatrice di Tenda sich noch einmal empfindlich bemerkbar machte, ist in I puritani überwunden. Sogar die beiden Romanzen der Oper weichen vom gängigen Schema ab. Die erste, Giorgios Bericht vom scheinbar hoffnungslosen Zustand Elviras (im Beginn des 2. Akts), wird – ungewöhnlich für eine Romanze – mit Chor gesungen, und die zweite, die des 3. Akts, ist so stark ins dramatische Geschehen verwoben wie kaum eine andere in zeitgenössischen italienischen Opern: Der heimlich zurückgekehrte Arturo hört Elvira di dentro »una canzon dʼamor« singen, mit der er sie einst beglückt hatte. Er erinnert sich wehmütig: »A te così io cantava / Di queste selve tra le dense fronde, / E tu allor eco facevi al canto mio!« Heute nun lässt er das Echo ertönen: eine stark erweiterte zweite Strophe mit dem gleichen Textbeginn »A una fonte afflitto«. Das Echospiel der Liebenden wird unterbrochen durch den Chor der Verfolger Arturos. Danach singt Arturo, um Elvira herbeizuziehen, eine dritte, nochmals stark erweiterte Strophe (»Corre a valle«); Elvira erscheint. Bellini befindet sich in I puritani hinsichtlich der Formung der Szenen auf dem Wege, den dann Verdi zu Ende ging. Hätte Bellini den Puritani andere Opern folgen lassen dürfen, wären Szenenverklammerung und wechselseitige Durchdringung von Dialog (auskomponiert oder rezitativisch), Solo und Ensemble gewiss noch weiter vorangeschritten. Aber solche Erörterungen sind müßig. FR IEDR ICH LIPPM A N N
→ Desirée Rancatore als Elvira, 2010
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Henri de Saussine
BELLINIS HARMONIK
Die Italiener stehen anscheinend im Begriffe, Bellini neu zu erfinden. Es ist auch an der Zeit. Zumindest in der Kunst gehört es ja zu den Seltenheiten, dass nach dem Glanz eines ersten Erfolges der Ruhm nicht für ungefähr ein halbes Jahrhundert in relative Vergessenheit getaucht wird. Es ist jetzt gut fünfzig Jahre her, dass Norma, I puritani und selbst La sonnambula aus dem Rampenlicht verschwanden. Doch sieht es so aus, als ob sie im übertragenen und selbst im wörtlichen Sinne bald in dieses zurückkehren würden, und für die – nicht unbeträchtliche – Menge eines Publikums, das von Tosca, Cavalleria und anderen »Pagliaccerien« bis zum Erbrechen gekitzelt wurde, wird es zweifellos ein paar Überraschungen geben. Unter diesen verspricht die Kenntnisnahme des harmonischen Rangs des »Schwans von Catania« nicht die geringste zu werden. Genau: des harmonischen. Wer das paradox findet, sei aufgefordert, sich in jene Passagen der Partituren von Norma, La sonnambula und I puritani zu vertiefen, deren Charakter durch die Intensität eines dramatischen Effekts bestimmt wird, der sich ausschließlich einem Verfahren – richtiger wäre: einer Eingebung – rein harmonischen Schlages verdankt. Es geht dabei um etwas höchst Besonderes und ganz Unerwartetes. Als Bellini in den Halbschatten zurücktrat, war ihm die Reputation eines exquisiten Melodikers geblieben, der sich auf Kontur und Empfindungswiedergabe verstand, aber keine orchestralen, rhythmischen oder harmonischen HEN R I DE SAUS SIN E
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Verdienste hatte. Bei seinem Wiederauftauchen wird es besonders spannend sein, zu beobachten, ob nicht der Wert seiner Harmonik mehr als alles andere zur Neuentfachung seines Lichts beitragen wird. Jedenfalls hatte sich in der Zwischenzeit ein Meister gefunden, der Bellini heiß liebte, abwechselnd ein wenig Schlechtes und viel Gutes über ihn verbreitete, vor allem aber – und daraus machte er kein Hehl – sich sehr viel dieses Guten bei ihm auslieh. Vor Frau Wesendonck – die freilich längst von selbst darauf gekommen war – gestand Wagner die Abkunft Isoldes von Norma ein. Zu Normas wie zu Isoldes Tod ist die melodische Kontur über alle Begriffe gelungen, doch weder hier noch dort bringt sie den »coup«. Diesen leistet vielmehr ein harmonischer Effekt: die Bassfortschreitung mündet in einen Akkord mit Vorhalt, und alles – Fortschreitung, Vorhalt und Akkord – sind in den beiden chefs-dʼœuvre identisch, nur dass das Belliniʼsche um vierzig Jahre älter ist. Die Qualität dessen, was Bellini ausdrückte, war sehr oft ersten Ranges – das wird allmählich sogar erkannt –, aber erst beim nächsten oder übernächsten Mal wird man wohl endlich bemerken, dass der intensivste und originellste Ausdrucksmodus des »Schwans von Catania« ein harmonisches Mittel war. Nachbemerkung – Welches Minimum an Mitteln für ein Maximum an Wirkung ist nicht der einfache Oktavsprung, wenn Siegfried in der Götterdämmerung sein Schwert Nothung in den Boden zwischen Brünnhilde, die ihn nicht mehr erkennt, und sich selbst pflanzt? Und das Paukensolo im Scherzo der Neunten? Genau treffen ist alles.
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BELLIN IS H A R MON IK
Johann Christian Lobe
WAHRHEIT ÜBER TONKUNST UND TONKÜNSTLER – BELLINI
Wo ich große Wirkungen sehe, pflege ich auch große Ursachen vorauszusetzen. GOETHE
Was zwanzig Jahre sich erhält und die Neigung des Volkes hat, das muss schon etwas sein. DERSELBE
Von den deutschen Kritikern und Komponisten wird er mit äußerster Geringschätzung behandelt. Einer ausführlichen Betrachtung ist er niemals für würdig erachtet worden. Kommt die Rede auf ihn, so wird er mit einigen verächtlichen Allgemeinplätzen, wie »italienische Dudelei« u. dergl., kurz abgethan. In der gänzlichen Nichtberücksichtigung aber solcher Talente, wie Vincenzo Bellini, liegt eine Ursache, mit der Täuschungen, der theils beschränkten, theils ganz irrthümlichen, einseitigen Kunstanschauungen manches deutschen dramatischen Komponisten, dessen Opern gar nicht auf eine Bühne, oder wenn, doch auf keine zweite kommen, und noch einem kurzen, durch lügenhafte Journalberichte ausgerufenen Scheinleben, zum ewigen Schlaf eingehen. Werfen wir einen Blick auf die italienischen Operntexte. Auf zwei oder drei Hauptsänger muss der italienische Dichter sein Stück berechnen. In verschiedenen möglichst von einander verschiedenen Situationen, die zu verschiedenen Gefühls- und Leidenschaftsausbrüchen Gelegenheit bieten, müssen diese Sänger erscheinen. In die Formen der Arie, des Duetts, Terzetts, Ensembles, Finale müssen diese verschiedenen Situationen gebracht und vertheilt werden. Dazwischen müssen durch die Nebenpersonen und Chöre Nebenscenen gebracht werden, um auf die Hauptpersonen zu spannen. Nach diesen Forderungen zu allernächst sucht der italienische LibrettoDichter in der Geschichte oder erfindet in der Phantasie seine Fabel, und zwar, da die Musik Gefühle zu schildern hat, eine Fabel, aus der verschiedene leidenschaftliche Situationen möglichst natürlich entspringen. Da diese Prinzipien bei den Italienern keinem Wechsel unterliegen, es keinem einfällt, das Glück seines Werkes in neuen Formen zu suchen, sondern die vorhandenen bestimmten nur möglichst vorteilhaft und wirkungsvoll herzustellen, so kann jede gelungene italienische Oper als ein Beispiel der Ausführung jener feststehenden Maximen gelten. Untersuche man welches von Bellini komponierte Libretto man will, man wird sehen, daß Fabel und Plan nach den oben angegebenen Bedingungen von dem Dichter behandelt worden sind. Die Hauptsänger haben Rollen, in denen sie sich auf die vortheilhafteste Weise in mannichfaltig kontrastirten Gemüthslagen zeigen können. Vom ersten Auftritt an bis zum letzten bietet jeder einen andern und jeder einen bedeutenden Moment zu einer Arie oder einem Duett u.s.w., worin die Sänger einzeln oder mitsammen ihr Spiel und ihren Gesang in glänzender Weise entfalten können. Daß es dabei hauptsächlich auf Schilderung der Leidenschaft ankommt, auf Charakteristik aber nur soweit gesehen wird, als nothwendig, um die Situationen der Personen und ihre Gefühlsäußerungen als natürlich erscheinen zu lassen, versteht sich bei den italienischen Opern von selbst. 63
JOH A N N CHR IST I A N LOBE
Betrachten wir nun den Komponisten. Seine beiden Hauptgesetze, die er nirgends aus den Augen verlieren darf, heißen: überall die allereinfachste, leichtfaßlichste Form, und überall darin melodischer, brillanter Gesang. Dazu gehört natürlich lebhafter Ausdruck der Gefühle und der Situation. Auf tiefere Charakteristik, auf jene Individualisirung jeder Person, wie wir sie bei Mozart, Weber und einigen andern deutschen Opernkomponisten finden, richten die Italiener ihr Streben nicht, weil das Verlangen danach bei dem italienischen Publikum in der Oper nicht vorhanden ist. Wir gründlichen, tiefen Deutschen schreiben alles, was uns in der italienischen Musik als liederlich, leichtsinnig und oberflächlich erscheint, gewöhnlich den oberflächlichen musikalischen Studien und Kenntnissen der italienischen Komponisten zu. Sie haben nichts Ordentliches gelernt, heißt es; sie haben die strenge Schule nicht durchgemacht; ihre musikalische Bildung ist, technisch und ästhetisch betrachtet, nicht weit her. Es mag bei einigen der Fall sein; andern und namentlich Bellini sagt man es mit Unrecht nach. Ich weiß von einem Musiker, der ihn persönlich gekannt und sich öfter über die Kunst mit ihm unterhalten hat, daß er sehr fleißige und recht gründliche musikalische Studien getrieben, und vielleicht eine bessere Fuge nach allen Regeln hat machen können, als mancher deutsche Komponist. Aber wie wohl zuweilen ein Deutscher sich abmüht, durch ein Fugensätzchen seine musikalische Gelehrsamkeit zu zeigen, so gab sich Bellini seiner eigenen Versicherung nach alle Mühe, das gelehrte Wesen zu verbergen. Daß er die Werke der besten deutschen Meister sehr wohl gekannt, geliebt und studirt hat, weiß man. Und daß dieses Studium nicht ohne Einfluß auf ihn gewesen, ist wohl bemerkt worden. »Aber« – äußerte er einmal zu jenem Musiker – »was ihr eurem Publikum gegenüber vielleicht thun dürft, – denn manches davon«, fügte er ein, »sollte man keinem Opernpublikum zumuthen, – das dürfen wir nicht, und wollen es deshalb nicht. Daß unsere Werke keine Unsterblichkeit haben, wissen wir sehr wohl, und bescheiden uns leicht dieser erhabenen Hoffnung. Gefallen wir unsern Zeitgenossen nicht, so werden wir von ihnen bemitleidet, ignorirt, bleiben arme Teufel und müssen hungern. Was hilft es mir, wenn meine Opern erst nach meinem Tode gefallen und den Nachkommen Geld einbringen? Solche Märtyrer unserer Kunst wollen wir nicht werden. Genießen wir, so lange wir leben. Was nach uns kommt, geht Andern was an, nicht uns. Und überhaupt, denke ich«, – fügte er etwas ironisch lächelnd hinzu – »es ist mit euren Grundsätzen für die Nachwelt auch nicht gar so ernstlich gemeint. Im Grunde möchtet ihr Alle euer Publikum um eure Werke versammeln. Nur wennʼs nicht geht, holt ihr jenen hocherhabenen Trost hervor! Eure größten Meister haben ihr Publikum nicht verachtet. Euer großer unsterblicher Mozart, den ich glühend liebe, hat zuweilen wenigstens recht emsig um die Gunst seiner Sänger und seines Publikums gebuhlt.« Ein anderer Grundsatz Belliniʼs heißt: Entschiedenheit der Gedanken. Es wird kein Hörer einer Belliniʼschen Oper zweifelhaft über das sein, was jedes Stück JOH A N N CHR IST I A N LOBE
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im Ganzen und jeder Gedanke davon im Einzelnen aussprechen soll. Diese Arie malt Zärtlichkeit, und zärtlich sind alle einzelnen Gedanken; eine andere ist schwermütig im Ganzen und im Einzelnen; in diesem Duett ist der Liebende eifersüchtig, die Liebende sanft begütigend in ihrer Unschuld; in einem andern sprechen zwei Gegner ihre Rachegefühle gegeneinander aus u.s.w. Diese Entschiedenheit des Ausdruckes ist nicht im deutschstrengen Sinn zu nehmen. Die dramatische Wahrheit, die Mozart, Beethoven, C. M. v. Weber geben, die nicht blos das Gefühl, sondern auch die Besonderheit der Aeußerungsweise desselben aus einem bestimmten Charakter und einer bestimmten Situation heraus malt, finden wir bei Bellini nicht, oder höchst selten. Er schildert die Gefühle seiner Personen im Grundcharakter seiner Nation. Ein Rachedurstiger ist ein italienischer Rachedurstiger, ein liebendes Mädchen ist ein italienisches liebendes Mädchen. Ob Römer, Scythe, Landmädchen, Fürstin, Bauernbursch oder Feldherr, das macht ihm keine Sorge. Aber im Allgemeinausdruck der Gefühle ist er wahrer und entschiedener, als die übrigen Neuitaliener. Können wir bei ihm nicht sicher bestimmen, welchen besonderen Charakter jede seiner Personen hat, was sie fühlt ist nicht zu verkennen. Bellini wird es nie einfallen, nebulös zu schreiben, einen Gedanken hin zu setzen, der zweifelhaft wäre, verschiedene Auslegungen zuließe, und überhaupt in einer komplizirten, unfaßlichen Form aufträte. Gleich deutlich, gleich leicht verständlich fließen alle Gedanken inʼs Ohr. Was man ihm auch vorwerfen mag, der Vorwurf der Unklarheit und Unverständlichkeit ist gewiß noch keinem dabei in den Sinn gekommen. Niemals wird irgendein Laie auch nur nach der ersten Vorstellung einer Belliniʼschen Oper geäußert haben: ich bin noch nicht klug in der Musik geworden, man muß sie öfter hören, um sie verstehen zu lernen.
Erschienen 1855 in den Fliegenden Blättern für Musik. Wahrheit über Tonkunst und Tonkünstler (Leipzig). – Dieser Text taucht merkwürdigerweise in keiner Bibliographie auch der besten Bellini-Kenner auf. Er zeichnet sich – bedenkt man seine Entstehungszeit – dadurch aus, dass er in nüchterner Sprache die Vorzüge des Belliniʼschen Komponierens analysiert wie auch die selbst heute noch gegen Bellini erhobenen Vorwürfe benennt und entkräftet.
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WA HR HEIT Ü BER TON K U NST U N D TON K Ü NST LER – BELLIN I
Margrit Poremba
EINIGE ROMANTISCHE MOTIVE UND SYMBOLE IN DEN PURITANERN
1. Teil, Rezitativ und Arie Riccardo: Im Text heißt es: »... Seine Hoffnung ist der Tod…« Der Tod als romantisches Sehnsuchtsmotiv, hervorgerufen durch das Gefühl von Weltschmerz. Bei dem Philosophen Arthur Schopenhauer (1788-1860) findet der berühmteste Aspekt der Romantik, der Weltschmerz, einen systematischen philosophischen Ausdruck. Schopenhauer ist gewiss nicht der synthetischste Geist der Romantik, doch ist er zweifellos der repräsentativste Denker des Maßlosen an der Romantik. Nietzsche und Wagner täuschten sich nicht darüber; sie erblickten in ihm die tragische Sackgasse, in die diese Gesinnung führen konnte. M A RGR IT POR EMBA
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In seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung weist Schopenhauer schon im Titel darauf hin, dass die Welt ein Gehirnphänomen ist; diese Haltung stimmt ganz mit der Tendenz der Zeit überein: die Welt wird unser Produkt, wenn ihre Vorstellung a priori durch unseren Geist konstituiert wird. Und doch muss dieser Geist einen Träger erhalten; dieser ist nicht das Denken, sondern der unwandelbare Grund des Seins: der Wille. Das Bewusstsein, das Denken sind keine Grundrealitäten, sondern Erscheinungen, die auf dem Wollen, dem einzigen authentischen Absoluten beruhen. Der Mensch stellt seinen Verstand in den Dienst des Willens, um seine bedrohte Existenz besser gegen die Vernichtung zu schützen. Der Tod ist nur eine Illusion der Erscheinungswelt; das Individuum stirbt, doch die Gattung überlebt. Wenn wir über Ort, Zeit, Ursache oder Zweck der Dinge nicht mehr nachdenken, so können wir uns zur Anschauung der Form des reinen Wesens erheben. Zur Befreiung strebt auch die Moral des Philosophen, denn das Leben ist Mühe und Schmerz. Das wirkliche Übel besteht darin, am individuellen Leben zu hängen. Das Lebenwollen ist ein tiefer Egoismus. Nur der Tod, das Mitleid oder die Revolte sind konsequente und nutzbringende Haltungen.
1. Teil, Szene und Duett Elvira/Giorgio: Im Klavierauszug steht: »Zimmer Elviras. Gotische Fenster...« Die mittelalterliche Gotik als romantisches Requisit, als »Kult der Frühe« Anmerkung im Klavierauszug: »Man hört außerhalb der Festung den Ton von Hörnern... « »Das Horn ist das Lieblingsinstrument der Romantik, als Jagdhorn akustisches Symbol für Wald und Natur, als Posthorn für das Fernweh, zugleich auch als Symbol des gebundenen Elements, des Metalls, aus dem das Lied erlöst wird, das nach Eichendorff in allen Dingen schläft...« (Rummenhöller)
2. Teil, Duett Riccardo/Giorgio und Finale II: Es heißt dort: »... Dem Vaterland ergeben, fühlt Mitleid unser Herz« und »... Jede Gefahr bestehen für Freiheit, Ehr und Pflicht. Furchtlose Lieb zum Vaterland lenkt uns zu guten Werken... Wir siegen...« Der Nationalismus wird im 19. Jahrhundert zu einem internationalen Phänomen. Die ganze erste Hälfte des 19. Jahrhunderts ist von der Verknüpfung zweier Revolutionen beherrscht: der Französischen und der industriellen Revolution. Das politische Leben scheint in dem Zusammenstoß der Macht 67
EIN IGE ROM A N T ISCHE MOT I V E U N D SYMBOLE IN DEN PU R ITA N ER N
befugnisse des Staates und der Rechte der Bürger zu bestehen. Das gilt auch für die Regierungsform: die verschiedenen Völker erhalten nach und nach Verfassungen, die Anerkennung ihrer Nationalität oder sogar ihre Unabhängigkeit. Der Begriff der Nation steht im Mittelpunkt der Diskussionen, ein romantischer und revolutionärer Begriff.
3. Teil, Sturm – Romanze und Duett Elvira/ Arturo: Der »wütende Gewittersturm« ist ebenfalls ein typisches romantisches Motiv; das Gefühl für die Natur und für die Vergänglichkeit wird damit beschworen. Naturelemente werden wegen ihres Gefühlswertes gewählt. Die Wahl einer Moll-Atmosphäre, einer unbestimmten Stunde der Dämmerung, eines Gewittersturmes bestärken das Gefühl eines sterbenden Lebens; sie laden zur Meditation über das Schicksal des Menschen ein, der nur ein Strohhalm im Spiel der Elemente ist. Regieanmerkung im Klavierauszug: »Säulenhalle in einem mit Büschen bepflanzten Garten nahe bei Elviras Haus. Tür und Fenster sind aus durchsichtigem Glas...« »Die romantische Gegenwartsbetrachtung unter dem Blickwinkel der Unendlichkeit bedingt ein subjektives Bewusstsein der ›Zerrissenheit‹ und des ›Weltschmerzes‹, ein Gefühl der Spaltung der Welt. Das Symbol des Spiegels als der identischen Verdoppelung, Symbole der Verstellung und Täuschung der Wirklichkeit werden zu den gängigen Requisiten des romantischen Bewusstseins. Das Indirekte des Spiegels war zugleich – seit alters her – ein ehrwürdiges Symbol für die Flüchtigkeit der Erscheinungen dieser Welt.« (Rummenhöller) Arturo übernimmt die Melodie der Romanze, die, von Elvira zur Harfe gesungen, aus dem Haus ertönt. Das Echo, als akustisches Gegenstück des Spiegels, die Musik, die die entgrenzte Landschaft erfüllt und zugleich beseelt. In der Romanze von Arturo heißt es: »An der Quelle ruhte einsam und verlassen ein Troubadour, sang ein Liebeslied.« Der Troubadour ist ebenfalls unter dem Aspekt »Kult der Frühe« zu sehen, Umschreibung für die romantische Sehnsucht nach immer fernerer Vergangenheit. Zwei weitere romantische Motive: a) das »Königskindermotiv«, die Geschichte von den Liebenden, die »zueinander nicht kommen konnten« – ein uraltes Menschheitsmotiv, das die M A RGR IT POR EMBA
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Romantik wegen ihres weltschmerzlichen Symbolgehalts der Trennung sehr liebte. Und b) Elviras Wahnsinn, ein Zustand der Entgrenzung... Ein wesentlicher Zug der Romantik ist die Suche nach ständiger Entgrenzung. »Als ›Entgrenzung‹ ist auch der verständnisvolle Anteil an dunklen, gespaltenen, melancholischen und exaltierten Seelenzuständen interpretierbar, der zu den auffälligsten Merkmalen eines Zeitalters gehört, in dem das Gesunde geradezu unter Trivialitätsverdacht geriet.« (Dahlhaus)
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EIN IGE ROM A N T ISCHE MOT I V E U N D SYMBOLE IN DEN PU R ITA N ER N
Sergio Morabito
DIE UNGESCHRIEBENEN OPERN VON BELLINI UND DUMAS »1835 war ich mit Briefen des armen Bellini nach Catania unterwegs. Nach meiner Rückkehr sollten wir zusammen eine Oper schreiben. Ich verließ ihn in der Blüte seiner Jugend, im Augenblick der vollen Entfaltung seines Talents. Wie hätte er nicht Pläne schmieden sollen? Was hätte ihn davon abhalten sollen, zu sagen »im nächsten Jahr«? Doch, ach! Als ich Catania erreichte, als ich die Briefe jenen Freunden übergab, an die sie adressiert waren, als ich seinen alten Vater umarmte, den die Triumphe seines Sohnes überglücklich machten, war Bellini bereits tot.« So gedenkt Alexandre Dumas der Ältere in dem Erlebnisbericht Eine Odyssee im Jahre 1860 seines ersten Süditalienaufenthaltes 25 Jahre zuvor. Wie ihn die Nachricht vom plötzlichen Tod des noch nicht 35-jährigen Bellini damals erreichte, hat er in der Revue et Gazette musicale de Paris vom 10. Jänner 1836 erstmals geschildert: »Ich befand mich in einem halbschlafähnlichen Zustand, in dem kein klarer und folgerichtiger Gedanke möglich und Realität vom Traum kaum zu unterscheiden ist; als jemand den Namen Bellini aussprach, führten mich meine Gedanken nach Palermo zurück, wo ich seine Norma gehört hatte, die vielleicht sein Meisterwerk ist. Ich erinnerte mich an das Terzett des ersten Aktes; sanft gewiegt von seiner Melodie bewegte ich mich einen weiteren Schritt auf den Schlummer zu; dann glaubte ich zu vernehmen: Er ist gestorben. Bellini ist gestorben! … Ja, wiederholte ich mechanisch, Bellini gestorben … und schlief ein. SERGIO MOR A BITO
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Fünf Minuten später öffnete sich die Tür meines Zimmers und ich fuhr aus dem Schlaf auf; mein Reisebegleiter trat ein. »Bei Gott,« sagte ich ihm, »Sie taten gut daran mich zu wecken, ich hatte einen bösen Traum.« »Was für einen?« »Ich träumte, der arme Bellini sei gestorben.« »Sie haben nicht geträumt, es ist wahr.« Ich richtete mich völlig auf: »Was sagen Sie?« »Ich gebe das wieder, was mir soeben ein Reisender versichert hat, der es in den französischen Zeitungen gelesen hat; Bellini ist tot.« »Unmöglich! Ich trage einen Brief von ihm an den Herzog von Noja bei mir!« Ich stürzte zu meinem Gehrock, zog meine Brieftasche heraus und entnahm ihr den Brief. »Bitte schön!« »Ist er datiert?« »Vom 6. März.« »Und heute ist der 15. Oktober. In der Zwischenzeit ist er verstorben, das ist alles.« Mein Reisebegleiter nahm an sich, was er in meinem Zimmer gesucht hatte, und ging. Ich blieb mit dem Brief in der Hand zurück. Diesen Brief hatte er in meiner Gegenwart geschrieben, auf dem Sims meines Kamins; ich sah sein schönes blondes Haar vor mir, sein melancholisches Gesicht; ich hörte, wie er auf Französisch mit mir sprach, in jener Sprache also, die er so schlecht und mit einem so reizenden Akzent sprach. Ich sah seine Hand auf diesem Papier ruhen. Dieses Blatt bewahrte seine Schrift, seinen Namen. Dieses Blatt war lebendig und er war tot. Keine acht Tage war es her, dass ich in seiner Heimatstadt Catania seinen alten Vater getroffen hatte. Der Greis hatte mich umarmt, glücklich und stolz, wie man an Vorabenden eines Unglücks ist, als ich ihm gesagt hatte, dass ich seinen Sohn kannte; und dieser Sohn war tot. Das war unmöglich. Ich glaubte, durch eine Wallung meines Blutes getäuscht worden zu sein; dass das, was ich gesehen hatte, eine Einbildung des Fiebers gewesen war. Und nicht zuletzt sein Brief. Oh! Wäre Bellini gestorben, hätten diese Zeilen sich verfärben, sein Namenszug verblassen müssen. Was weiß ich? Ich hatte geträumt, war närrisch gewesen. Bellini war nicht tot, und ich schlief wieder ein. Am nächsten Tag wiederholte man mir dasselbe, aber ich war ebenso wenig bereit, es zu glauben; erst bei meiner Ankunft in Neapel ließ ich mich überzeugen. Der Herzog von Noja hatte erfahren, dass ich einen Brief an ihn mitführte vom Autor der Nachtwandlerin und der Puritaner, und er ließ danach fragen. Ich suchte ihn auf, zeigte ihm den Brief, aber überließ ihn ihm nicht: Dieser Brief war für mich zu einem heiligen Gegenstand geworden. Er bewies nicht nur, dass ich Bellini gekannt hatte, sondern dass ich sein Freund gewesen war.« Dass Dumas in dieser seiner ersten Veröffentlichung zum Tod Bellinis kein gemeinsames Opernprojekt erwähnt, weckt Zweifel an der Glaubwürdigkeit der späteren Behauptung. Doch der Wortlaut von Bellinis Empfehlungsschreiben, dessen Faksimile Dumas seinem Bericht in der Revue et Gazette musicale de Paris beigab, enthält einen Hinweis, der uns gestattet, einen möglichen Realitätskern dieser Spur zu bestimmen. 73
DIE U NGE SCHR IEBEN EN OPER N VON BELLIN I U N D DUM AS
An Ihre Exzellenz den Herzog von Noja Träger des Skt. Januarius-Ordens usw. usw. Hochgeschätzter Herr Herzog, da sich der berühmte Alessandro Dumas, Autor der Christine von Schweden usw. usw., nach Neapel begibt, hielt ich es für richtig, ihm einen Brief an den Mäzen der schönen Künste, den Herzog von Noja mitzugeben, seiner Anteilnahme an einer so ausgezeichneten Persönlichkeit gewiss. Ich sage nicht mehr — zu gut ist mir Ihre und der Herzogin Liebenswürdigkeit bekannt. Empfangen Sie meine Hochachtung und glauben Sie der Zuneigung Ihres V. Bellini Paris, 14. März 1835 In der Tat hatte sich Bellini zweieinhalb Jahre zuvor mit seinen Mitstreitern, dem Dichter Felice Romani und der Primadonna Giuditta Pasta, für eine Vertonung eben jener Christine von Schweden entschieden, die er in seinem Empfehlungsschreiben als einziges Werk ihres Autors namhaft macht. Nach den von der Trias gemeinsam in Mailand realisierten Opern Die Nachtwandlerin und Norma (beide 1831) sollte die Cristina regina di Svezia im Karneval 1833 in Venedig herauskommen. Dieser schon recht weit gediehene Plan wurde dann allerdings in letzter Minute gegen den Beatrice di Tenda-Stoff ausgetauscht. Die Annahme kann kaum fehlgehen, dass Bellini bei seinem persönlichen Bekanntwerden mit Dumas (vermutlich im Pariser Salon der Prinzessin Belgiojoso) auf sein uneingelöstes kreatives Interesse an diesem Drama zu sprechen kam, zumal sich die Beatrice als Fehlschlag erwiesen hatte. Ende März 1830 war die Verstragödie Christine ou Stockholm, Fontainebleau et Rome im Odéon präsentiert worden, nur einen Monat nach der als ›bataille d’Hernani‹ (Hernani-Schlacht) in die Theatergeschichte eingegangenen Uraufführung von Victor Hugos Hernani ou L’Honneur castillan an der Comédie Française. Die Premiere der Christine dauerte aufgrund von Fraktionskämpfen zwischen den Klassizisten und den Anhängern der romantischen Schule über fünf Stunden, ihr Ausgang war umstritten. Den Erfolg sicherten erst die Folgeaufführungen, in denen das Stück in einer noch in der Premierennacht von Dumas’ Freunden und Parteigängern, unter ihnen Alfred de Vigny und Hugo, gekürzten und retuschierten Fassung reüssierte. Das Stück bearbeitet eine Episode, die sich um den blutigen Mord an Monaldeschi in der Hirschgalerie von Schloss Fontainebleau rankt. Monaldeschi ist der Stallmeister und Günstling der Königin Christine von Schweden. In seinen Hoffnungen auf die Hand einer Monarchin sieht er sich durch deren Abdankung betrogen. Dennoch muss er dem kleinen reisenden Hofstaat der abgedankten Königin ins Exil folgen. Christine, die ihren Rücktritt bald bereut, schmiedet ein Komplott, das den Sturz ihres von ihr selbst inthronisierten Nachfolgers SERGIO MOR A BITO
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Karl-Gustav zum Ziel hat. Monaldeschi, der seinen Einfluss auf Christine schwinden sieht, will Karl-Gustav warnen, um durch diesen Schachzug seine einstige Machtstellung am schwedischen Hof zurückzugewinnen. Zugleich plant er, seinen Rivalen Sentinelli ins Verderben zu reißen, indem er ihn bei Christine als den Verräter, der er selber ist, denunziert. Doch Monaldeschi fängt sich in der eigenen Schlinge. Sein Kontaktmann am schwedischen Hof hält es nach einem schweren Reitunfall Karl-Gustavs und in der Annahme, der verwaiste Thron werde an Christine zurückfallen, für opportuner, die den wahren Verräter belastenden Briefe der alten und möglicherweise auch neuen Herrscherin zuzuspielen. Dem überführten Monaldeschi gelingt es gleichwohl, bei der Königin die Erinnerung an ihre frühere und bei Christine wohl noch nicht ganz erloschene Liebe wachzurufen. Sie wandelt sein Todesurteil in Verbannung, nicht ohne ihm die Hoffnung auf eine vielleicht noch mögliche gemeinsame Zukunft in Aussicht zu stellen. Doch nach Aufdeckung seines Verhältnisses mit einer anderen Frau, Paula, die sich – als Page verkleidet – in ihre Entourage eingeschmuggelt hat, und Monaldeschis infamen Giftmord an dieser ehemaligen Geliebten und Mitwisserin lässt Christine den bereits entlassenen Monaldeschi von Sentinelli, als dem Hauptmann ihrer Leibgarde, und zwei gedungenen Mördern einholen. Monaldeschi flieht – bereits verwundet – zu Christine zurück und bettelt zu ihren Füßen um Gnade. Doch selbst die Gegenwart eines Geistlichen kann nicht verhindern, dass Christine ihrem ehemaligen Favoriten den Gnadenstoß versetzen lässt. Bei der Lektüre des Theaterstücks kann man sich die Tendenz der geplanten Bearbeitung Romanis recht gut vorstellen. Die dramaturgische Konstellation erinnert stark an die Elisabeth-Dramen Rossinis und Donizettis, vor allem an Roberto Devereux. Auch Letzterer führt eine vor Elisabeth geheim gehaltene Beziehung, die ihm schließlich das Leben kostet. Von der Uraufführung des Dramas wird berichtet, dass Monaldeschis Übersendung des Giftringes an Paula das Publikum zu Äußerungen der Empörung hinriss, das blutüberströmte Wiedererscheinen des Flüchtigen hingegen mit Bravorufen begrüßt wurde. »Man bewundert allgemein die Kühnheit, einen Anti-Helden gewählt zu haben: den nichtswürdigen Monaldeschi.«1 In der Tat sind in Monaldeschi die negativen Züge eines Pollione ins Unerträgliche gesteigert. Von der Realisierung dieses Opernplans wurde Abstand genommen, möglicherweise auch aus der Befürchtung heraus, das Verhör aus dem 2. Akt der Norma zu wiederholen, die Situation der verratenen und betrogenen Frau, die mit dem ehemals Geliebten um die Bedingungen feilscht, unter denen sie bereit wäre, ihm eine letzte Chance zu geben (Nr. 13, »In mia man alfin tu sei«). In Bellinis Korrespondenz taucht noch ein weiteres Theaterstück von Alexandre Dumas auf: Charles VII chez ses grands vassaux (Karl VII. bei seinen Vasallen), das 1831 ebenfalls am Odéon herausgekommen war. Bellini erwähnt es in einem Brief vom 4. September 1834 als kommende Pflichtlektüre bei der Stoffsuche für seinen nächsten Opernplan. Die Grundidee dieses Dramas ist 75
DIE U NGE SCHR IEBEN EN OPER N VON BELLIN I U N D DUM AS
Jean Racines’ Verstragödie Andromaque (1667) entnommen: eine Frau (Hermione), die von einem geliebten Mann (Pyrrhus) zurückgewiesen wird und sich eines in sie selbst unglücklich Verliebten (Orest) bedient, um sich blutig zu rächen. Dumas kleidet diese Grundidee in ein mittelalterlich-exotisches Gewand: Bérangère ist die verstoßene Ehefrau das Herzogs von Savoisy; zum Werkzeug ihrer mörderischen Rache wird Yaqoub der Sarazene, ein türkischer Sklave, den der Herzog von einem Kreuzzug mitgebracht hat. Spätestens mit Donizettis höchst erfolgreicher Bearbeitung dieses Textes, die unter dem Titel Gemma di Vergy am 26. Dezember 1834 an der Mailänder Scala ihre triumphale Uraufführung erlebte, muss Bellinis Interesse an dem Stoff erloschen sein. Dumas selbst hat noch einen dritten »gemeinsamen« Opernplan angeführt. In seinem historischen Roman Pascal Bruno berichtet er 1838, den ersten Hinweis auf diesen legendären sizilianischen Volkshelden von Bellini erhalten zu haben. Der Komponist habe ihm am Vorabend seiner Süditalienreise die Vita dieses großherzigen Banditen aus verlorener Ehre unter der Bedingung erzählt, von ihm nach seiner Rückkehr ein Libretto auf diesen Stoff zu erhalten. Trotz des Nichtzustandekommens ihrer Kollaboration will mir scheinen, dass sich die beiden Freunde in den Puritanern auch künstlerisch nahe gekommen sind. Sowohl die Oper als auch Dumas’ Drei Musketiere, der wohl meistgelesene und meistverfilmte Abenteuerroman der Weltliteratur, arbeiten mit der auf Walter Scott zurückgehenden Technik, fiktive Helden in den Mittelpunkt zu stellen, aus deren Perspektive die genau kalkulierten und zeitlich begrenzten Auftritte historischer Protagonisten einer Epoche geschildert sind. Gewiss hat sich Dumas bei der Gestaltung der Henriette von Frankreich in Zwanzig Jahre danach, dem zweiten Teil der Romantrilogie der Drei Musketiere, an Bellinis Enrichetta erinnert. Sein Roman verlässt die Königin, nachdem Aramis und Athos ihr das Scheitern ihrer Rettungsmission erklärt und den Ehering des hingerichteten Karl I. an sie überbracht haben. In der Oper taucht sie wieder auf, nachdem ein Sturm ihr Schiff, auf dem sie mit Parteigängern ihres Sohnes, des Prinzen von Wales, unterwegs war, an die englische Küste geworfen hat und sie unerkannt in puritanische Gefangenschaft geraten ist. Ihr episodischer Auftritt im ersten Akt hat die dramatisch bewegtesten Sequenzen der Partitur entstehen lassen: die Lüftung ihres Inkognitos gegenüber dem königstreuen Kavalier; das Ringen Arturos um ihre Rettung; Elviras Spiel mit dem Brautschleier, das vor diesem Hintergrund zu einem Tanz auf dem Vulkan wird; die von Riccardo zunächst aufgehaltene und dann ermöglichte Flucht; der Abschied Arturos von Elvira und Enrichettas ersehnte Umarmung ihres Sohnes.
1 Fernande Bassan in ihrem Vorwort zur Ausgabe des Stückes in: Alexandre Dumas père: Théâtre complet, t. II, Paris 1975, S. 26. Die Übersetzung dieses sowie aller weiteren in diesem Artikel zitierten Texte stammt von Sergio Morabito.
DIE U NGE SCHR IEBEN EN OPER N VON BELLIN I U N D DUM AS
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» Die bis zum Exzess getriebene Erhitzung der Affekte stellt das gemeinsame Merkmal der Komponisten dar, von denen die Opera seria getragen wurde: Bellini und Donizetti, Pacini und Mercadante und schließlich Verdi. « Carl Dahlhaus
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NORMVERBRAUCH KOMBINIERT: 275G/KM EMISSIONEN KOMBINIERT: 11,7L/100KM. SYMBOLFOTO.
Impressum Vincenzo Bellini I PURITANI Spielzeit 2021/22 (Premiere der Produktion 2. Mai 1994) HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Sergio Morabito, Andreas Láng, Oliver Láng Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Julia Pötsch Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH, Bad Vöslau TEXTNACHWEISE Oliver Láng: Über dieses Programmbuch Übernahmen aus dem Programmheft der Premiere, 1994 - Konzept und Redaktion: Margrit Poremba, Gesamtredaktion: Christoph Wagner-Trenkwitz: Inhaltsangabe (Übersetzung: Andrew Smith) – John Dew: Puritanische Leidenschaften – Johann Christian Lobe: Wahrheit über Tonkunst und Tonkünstler, Elisabeth Eleonore Bauer: Klingt wie Bellini, Henri de Saussine: Bellinis Harmonik, aus: Musik-Konzepte 46, Vincenzo Bellini, hrsg. v. Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, edition text + kritik, München 1985 – Werner Oehlmann: Paris zur Zeit Bellinis, aus: Vincenzo Bellini, Zürich und Freiburg im Breisgau 1974 – Entstehungsgeschichte, aus: Analecta Musicologica, Band 6, Köln-Wien 1969 – Friedrich Lippmann: Bemerkung zur Arienform, aus: Vincenzo Bellini und die italienische Opera seria seiner Zeit = Analecta Musicologica, Band 6, Köln-Wien 1969 – Kurt Kluxen: Notizen zur Geschichte Englands »rund um« die Cromwell-Ära, aus: Geschichte Englands, Stuttgart 1968 – Peter Rummenhöller: Versuch über das Romantische, aus: Romantik in der Musik, München-Kassel-Basel-London-New York 1989 – Margrit Poremba: Einige romantische Motive und Symbole in den Puritanern – Quellen zur literarischen Vorlage – Der Text von Hippolyte Rolle (Übersetzung: Sergio Morabito) entstammt dem Puritani-Premierenprogrammheft der Oper Stuttgart (Spielzeit 2015/2016) – Sergio Morabito: Die ungeschriebenen Opern von Bellini und Dumas, aus: Puritani-Premierenprogrammheft der Oper Stuttgart (Spielzeit 2015/2016) – Alexandre Dumas: Remember, aus: Puritani-Premierenprogrammheft der Oper Stuttgart (Spielzeit 2015/2016) – Zitat Seite 40: Übersetzung Sergio Morabito, aus: Puritani-Premierenprogrammheft der Oper Stuttgart (Spielzeit 2015/2016) BILDNACHWEISE: Coverbild: Anders Krisár: Half Torso 2, 2019 Szenenbilder: Seite 3-4, 18-19, 25, 31, 35, 70-71, 78: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH Seite 13, 49, 59: Axel Zeininger / Wiener Staatsoper GmbH
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