JENŮFA (JEJÍ PASTORKYŇA) → Oper in drei Akten aus dem mährischen Bauernleben Musik Leoš Janáček Text Leoš Janáček nach Gabriela Preissová
Orchesterbesetzung 2 Flöten, Piccoloflöte, 2 Oboen, 1 Englischhorn, 2 Klarinetten, 1 Bassklarinette, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, 1 Tuba, Pauken, Schlagwerk, Harfe, Violine I, Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass Bühnenmusik 2 Hörner, Kindertrompete, Glöckchen, kleines Streichorchester Spieldauer 3 Stunden (inkl. 1 Pause) Autograph Verbleib unbekannt; Abschriften: Janáček Sammlungen, Mährisches Museum Brünn Uraufführung 21. Jänner 1904, Brünner Nationaltheater Erstaufführung an der Wiener Hofoper 16. Februar 1918 (auf Deutsch)
DIE HANDLUNG
1. Akt In der Mühle der alten Buryja leben ihr Enkel Števa und dessen Cousine Jenůfa, die von Števa ein Kind erwartet, was sie aber bisher verheimlichen konnte. Auch Števas Stiefbruder, der Knecht Laca, liebt Jenůfa, wird von ihr aber zurückgewiesen. In einer Aufwallung eifersüchtiger Wut zerschneidet er ihr Gesicht. Jenůfas Schönheit, mit der sie Števa für sich einnehmen konnte, ist dahin.
2. Akt
Einige Monate später hat Jenůfa heimlich im Haus ihrer Stiefmutter, der Küsterin, das Kind zur Welt gebracht. Vergeblich fleht die Küsterin Števa an, sich zu seinem Sohn zu bekennen. Als einzige Hoffnung bleibt ihr nur noch Laca, der längst sein Vergehen bereut hat und Jenůfa auch nehmen würde, aber zurückschreckt, als er erfährt, dass sie von Števa ein Kind hat. Dieses sei gestorben, sagt ihm die Küsterin und schickt ihn fort, alles für die Hochzeit vorzubereiten. Während Jenůfa schläft, nimmt die Küsterin den Säugling an sich und ertränkt ihn im eisigen Bach. Ihrer Stieftochter redet sie ein, ihr Kind sei gestorben, als sie, Jenůfa, im Fieber krank darniederlag.
3. Akt Am Tag der Hochzeit Jenůfas mit Laca, zu der auch Števa und seine Verlobte Karolka geladen sind, wird die Kindesleiche entdeckt. Die Küsterin, von Gewissensqualen gepeinigt, gesteht ihr Verbrechen. Jenůfa vergibt der Küsterin und gibt Laca frei, doch er bekennt sich zu ihr und seiner Liebe.
DIE H A N DLU NG
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SYNOPSIS
Act 1 The old Burya lives in her mill together with her grandson Števa and his cousin Jenůfa. Jenůfa is expecting Števa’s child, but has so far managed to keep it a secret. Števa’s stepbrother, the farmhand Laca, also loves Jenůfa. In a fit of jealous rage, Laca slashes Jenůfa’s face, ruining the beauty that enabled her to win Števa.
Act 2 Jenůfa has given birth to her child in secret at the house of her stepmother Kostelnička. Števa ignores Kostelnička’s pleas to acknowledge the child as his son. Laca is now her only hope: he has long since asked forgiveness for his misdeed, and would be prepared in take Jenůfa. However, he is appalled in learn that she has had a child by Števa. Kostelnička tells him that the child is dead, and sends him away to prepare everything from the wedding. Whilst Jenůfa is asleep, Kostelnička takes the baby and drowns him in the icy stream. She then convinces her stepdaughter that the child has died whilst Jenůfa was ill with a fever.
Act 3 The body of a baby is discovered on the day of Jenůfa and Laca’s wedding, to which Števa and his fiancée Karolka are also invited. Plagued by qualms of conscience, Kostelnička confesses her crime. Jenůfa forgives Kostelnička and gives Laca his freedom, but he stands by her, confessing his love for her. 5
SY NOPSIS
ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH
Mit seiner auf Gabriela Preissovás Drama Její pastorkyňa basierenden Oper Jenůfa gelang dem aus Mähren stammenden Leoš Janáček der Durchbruch als Musiktheaterkomponist. Zwar fand die Uraufführung 1904 nur in Brünn und nicht wie Janáček ursprünglich gehofft hatte in Prag statt, doch trat das Werk dennoch bald den Siegeszug rund um die Welt an. Vor allem die Neuproduktion an der Wiener Hofoper, die 1918, wenige Monate vor dem Ende der Österreichisch-Ungarischen Monarchie in der deutschen Übersetzung von Max Brod über die Bühne ging, verhalf Jenůfa zu ungeheurer Popularität. Der Historiker Clemens Höslinger präsentiert in Bezug auf die Wiener Erstaufführung Dokumente aus dem Österreichischen Staatsarchiv (Seite 68), Teresa Hrdlicka beleuchtet die spannende Korrespondenz zwischen dem Komponisten und dem Wiener Erstaufführungsdirigenten Hugo Reichenberger (Seite 80). Der Komponist steht in diesem Programmbuch naturgemäß mehrfach im Fokus: Als Schöpfer vielschichtiger Opernwerke (Andreas Láng, Seite 54), als ein seiner Wahrheit verpflichteter Künstler (Oliver Láng, Seite 46), als Komponist, der eine ganz persönliche, in der Sprache seiner Heimat grundierte Klangwelt erschuf (Christoph Schwandt, Seite 38). Auch der Dirigent der Wiederaufnahme 2022, Tomáš Hanus, widmet sich ab Seite 8 in seinem Essay dem Künstler Leoš Janáček, dessen Jenůfa er als »Lehre des Lebens« betrachtet. Pia Janke beleuchtet die Frauenfiguren der Oper im gesellschaftlichen Kontext (Seite 26) und Regisseur David Pountney beschreibt in einem Gespräch ab Seite 12, warum es sich bei Jenůfa, trotz aller Düsternis, um eine Erlösungsoper handelt. Ü BER DIE SE S PROGR A M MBUCH
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VERWANDTSCHAFTSBEZIEHUNGEN IN » JENŮFA « Alte Buryja
Witwe Klemeň ∞ Sohn A
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1. Frau ∞ Sohn B ∞
Zie hto
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bringt in die Ehe ihren Sohn
Küsterin
Laca Klemeň mit
Števa
Jenůfa
Števa von Küsterin getötet
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V ERWA N DTSCH A F TSBEZIEH U NGEN IN »J EN Ů FA«
Tomáš Hanus
OPER ALS LEHRE DES LEBENS Ohne Zweifel ist Jenůfa die international bekannteste und meistgespielte Oper von Leoš Janáček. Diese Popularität ist in mehreren Ursachen begründet, unter anderem wahrscheinlich auch auf der Tatsache, dass Janáček bei diesem Werk – im Vergleich zu späteren Opern – noch am ehesten traditionelle Wege beschritten hat. Zum Beispiel gibt es im ersten Akt der Jenůfa klare Strukturen wie Arie oder Duett, die man in dieser Form in nachfolgenden Werken nicht mehr findet. Wichtig erscheint mir aber, dass man Janáčeks Musiksprache in der Jenůfa ganz klar erkennt und sein Gefühl für Drama bereits bei dieser Oper – seiner dritten und ersten wirklich erfolgreichen – spürt. Als Komponist hat er einen neuen Weg beschritten, indem er aus der Sprachmelodie seiner Heimat einzelne Phrasen destillierte und zur Grundlage seiner Arbeitstechnik machte. Dabei ist es natürlich – wie stets – ein Vorteil, wenn man als Zuhörerin oder Zuhörer die Sprache der Oper versteht, man kann das Werk vielleicht noch mehr, noch intensiver genießen. Auf der anderen Seite ist Janáčeks Musiksprache aber so klar, dass die sprachliche Ebene, wenn sie von den Sängerinnen und Sängern als integraler Bestandteil des Singens verstanden wird, kein Hindernis darstellt: das bestätigen mir immer wieder nicht nur die Ausführenden, sondern auch Stimmen aus dem Publikum. TOM ÁŠ H A N US
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In einem gewissen Maße – ganz anders als Wagner – suchte Janáček nach einem »Gesamtkunstwerk«, wenn auch der Zugang bei ihm intuitiv war und in seiner Begrifflichkeit vollkommen unterschiedlich von jener Wagners. Diese Suche zeigt sich etwa, wenn man die Orchesterbehandlung in Jenůfa betrachtet. Bei Janáček gibt es keine Trennung in Orchester und Gesang. Für ihn handelt es sich um eine Einheit. Das Orchester steht also nicht am Rand, sondern befindet sich in der Mitte des Feuers, ja, ist oftmals sogar die Flamme, die alles entzündet. Das ist übrigens ein Aspekt, den er von Tschaikowski, von dessen Pique Dame er fasziniert war, übernommen hat: das Orchester trägt das Drama. Ich sprach von Intuition: Will man Janáčeks Musik beschreiben, ganz ohne kompositionstechnische Methodiken zu analysieren beziehungsweise zu erläutern, wenn man also ganz ohne Umwege über Inhalte sprechen will, kommt man schnell auf den Befund, dass Janáček eine fantastische Intuition hatte, die innere Melodie und die emotionale Spannung der menschlichen Sprache genau zu erkennen und sie in idealer Weise in Musik zu fassen. Es gibt in Jenůfa Phrasen, die einem so wahrhaftig, so ohne jegliche Künstlichkeit erscheinen, als ob sie ganz aus menschlichem Fleisch und Blut wären. Hier wirkt nichts gebaut oder konstruiert, alles zutiefst lebensnah! Darüber hinaus ist Janáček ein Meister der musikalischen Charakterisierung: man merkt das etwa bei Števa, dessen Figur er sehr schnell umreißt und ihn genau definiert, dasselbe gilt für die Küsterin. Bei Laca hingegen dauert es ein bisschen länger mit den präzisen Umrissen. Warum? Weil Laca selber nicht genau weiß, wer er ist. Im Falle von Jenůfa ist es so, dass man am Anfang der Oper eine gänzlich andere Figur erlebt – und hört – als am Ende: durch ihr Leid wird sie zu einer reifen Frau, die in der Lage ist, zu verzeihen und mit Laca weiterzumachen. Diese Wandlung wird auch in der Musik gezeigt. Wie klug und vielschichtig diese Oper sich vor den Zuhörern entfaltet, möchte ich an einem Beispiel zeigen: Gleich zu Beginn der Oper erklingt sehr charakteristisch ein Xylophon. Das lässt zunächst einmal die Klangdeutung zu, dass Janáček auf die Handlungsörtlichkeit der Mühle und das entsprechend drehende Rad hinweisen wollte. Natürlich hören wir die Mühle, aber wir spüren in den Xylophonklängen auch das Drängen der Zeit: Jenůfa ist schwanger, und in ihrer Welt bleibt nicht viel Zeit, um ihre und Števas Reputation zu »retten«. Und wenn man sich länger in die Musik einhört, merkt man, dass alle äußerlichen Beschreibungen wie »Mühle« immer mehr an Bedeutung verlieren und es um die unglaublich gezeichnete Atmosphäre geht, in der man von Anfang an spürt, dass das heute kein EntertainmentAbend wird. Und wie eng war dieses Werk auf tragische Weise mit Janáčeks eigenem Leben verknüpft, starb doch während der Arbeit an der Oper seine Tochter Olga. Für mich steht außer Frage, dass dieser Tod seine Spuren in der Komposition hinterlassen hat. Es gibt eine Beschreibung der Szene, in der Olga 9
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ihren Vater bittet, ihr am Klavier Jenůfa vorzuspielen – weil sie wusste, dass sie die Uraufführung nicht mehr erleben würde. In diesem Zusammenhang würde ich fast sagen, dass ihm in der Verarbeitung des persönlichen Leides die Kälte der Küsterin auf eine gewisse Art und Weise geholfen hat: natürlich nicht in einem Verständnis ihrer grausamen Tat, sondern in der Härte, die sie an den Tag legt. Dass Leoš Janáček uns nicht wissen lässt, wer die eigentliche zentrale Figur der Oper ist, gehört zu den außergewöhnlichen Aspekten dieses Werks. International wird die Oper ja, entgegen ihres Originaltitels Její pastorkyňa (Ihre Ziehtochter), zumeist Jenůfa genannt. Damit wird der Fokus verstärkt auf die junge Frau und nicht die Küsterin gelenkt. Es haben aber beide ihre starken Momente. Etwa: Im zweiten Akt, bei der Jenůfa-Szene mit dem Violinsolo, denkt man: es kann nichts Besseres geben! Und wenn die Küsterin am Ende um Verzeihung bittet, denkt man wiederum: das ist die eigentliche Hauptdarstellerin! Daher würde ich fast sagen, dass Janáček gar keine einzelne Hauptfigur, sondern die Geschichte an sich ins Zentrum rücken wollte. Er gibt uns übrigens auch keine abschließende »Deutung« des Werks. Vielmehr zeigt er uns in Jenůfa ein Stück des menschlichen Lebens, ohne dieses zu »polieren« oder schöner darzustellen, als es ist. Das war nie seine Sache, das Übertünchen und Glätten – auch nicht in der Instrumentation, übrigens. Natürlich kann man sagen, dass es Aspekte eines halbwegs guten Endes gibt – aber auch der Verzweiflung. Wir haben keine Ahnung, wie es mit Jenůfa und Laca weitergehen wird. Und mit der Küsterin? Janáčeks Musik zeigt uns den Menschen in all seiner Farbigkeit und nicht nur in einem Schwarz-Weiß-Denken. Ihm gelingt es, Mitgefühl zu erzeugen, allerdings nicht auf die süßliche Art, sondern im Sinne einer Identifikation. Ich würde daher sagen, dass diese Oper eine tiefe Lehre des Lebens sein kann – zumindest mein Leben hat der Kontakt mit seiner Musik absolut verändert.
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» Der Schönheit und der Anmut, aber auch der Lebenswahrheit dient der Gesang. «
Leoš Janáček
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» JENŮFA« PUR Der Regisseur David Pountney im Gespräch
Obwohl die Liste der Werke lang ist, die Sie inszeniert haben, gelten Sie als Janáček-Spezialist. Wie kam es zu dieser Gewichtung? Ich habe sehr viel Janáček inszeniert. Es war eigentlich der Ursprung meiner Karriere. Schon in meiner Studentenzeit habe ich überall in England gesagt: »Los, machen wir endlich Janáček!« Ich habe alle genervt mit meiner ausdauernden Janáček-Beharrlichkeit. Es gab zwar damals schon einige wenige Janáček-Produktionen wie Jenůfa an der Covent Garden Opera unter Rafael KubelÍk, aber außerhalb von London ist praktisch nichts in dieser Richtung geschehen. Meine erste Möglichkeit war dann die Kátja Kabanová für das Wexford Festival im Jahr 1972. Das Ergebnis war, dass ich daraufhin eine Jenůfa in Wales machen durfte. In der Folge konnte ich die Intendanten von der Welsh National Opera in Cardiff und der Scottish Opera von Glasgow überzeugen, einen ganzen JanáčekZyklus herauszubringen. Später kam es noch zu Die Ausflüge des Herrn Brouček an der English National Opera und an der Bayerischen Staatsoper in München. Šárka hab ich noch nie gemacht, ich hoffe, dass es auch dazu noch irgendwann einmal kommt. Wäre schön. DAVID POUNTNEY
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Jenůfa haben Sie mehrmals inszeniert. Hat sich im Laufe der Jahre Ihr Regiekonzept grundlegend geändert? Ja, auf jeden Fall! Allerdings würde ich nicht von einem Regiekonzept sprechen. Jenůfa ist von allen Janáček-Opern die einfachste, einfach im positiven Sinn, sowohl von der Handlung als auch vom Aufbau her. Man sollte bei dieser Oper überhaupt keine symbolischen Ideen zwischen das Werk und das Publikum stellen, keine unnötigen intellektuellen Gedanken in das Werk hineininterpretieren. POUNTNEY
Das heißt, auch die Mühle hat keinerlei symbolischen Charakter? Die Mühle hat insofern einen besonderen Stellenwert, als Janáček sie im ersten Akt dramaturgisch wie musikalisch gestalterisch einbindet. Das Xylophonmotiv des sich drehenden Mühlrades müsste ja eigentlich ununterbrochen weiterlaufen, da sich auch das Mühlrad weiterdreht. Janáček hat aber dieses Motiv ganz bewusst immer nur dann eingesetzt, wenn es auf der Bühne zu entscheidenden dramatischen Situationen kommt. Er hat instinktiv verstanden, dass diese Mühle als ein theatralisches Mittel zu verwenden ist. Aber sie auf eine rein symbolische Ebene zu ziehen, also das drehende Mühlrad beispielsweise mit dem Schicksal gleichzusetzen, wäre mir zu theoretisch. Janáček hätte niemals »theoretisch« gedacht, sein Kompositionsstil spricht schon dagegen. POUNTNEY
Die Arbeit an einer Oper beginnt ja nicht am ersten Probentag... Normalerweise lasse ich vorerst die Musik ständig im Hintergrund laufen, sogar, wenn ich koche. Irgendwann ist sie dann bis ins Unterbewusstsein vorgedrungen. Als Nächstes beschäftige ich mich mit der Partitur und betreibe, falls notwendig, wissenschaftliche Forschungen. Ich hüte mich jedoch davor, dies zu übertreiben: Die Oper taugt nicht für Belehrungen. Man sollte nur genügend informiert sein, um entscheiden zu können, was man gegebenenfalls ignorieren darf. Ich gehe auch nicht mit einem fertig ausgearbeiteten Regiebuch hin, sondern versuche, auf die Persönlichkeiten der einzelnen Sänger einzugehen. POUNTNEY
Die Handlung von Jenůfa wirkt auf den ersten Blick nicht wirklich aufsehenerregend: Ein junges Mädchen liebt einen Burschen und erwartet ein Kind von ihm. Dieser heiratet aber eine andere. Um sie vor der Schande zu bewahren, ermordet ihre Stiefmutter das Neugeborene. Schließlich heiratet das Mädchen den Halbbruder des untreuen Liebhabers. Was ist für den Regisseur Pountney das Interessante an dieser Geschichte? R EGIS SEU R DAV ID POU N T N EY IM GE SPR ÄCH
→ Marian Talaba als Števa und KS Ricarda Merbeth als Jenůfa, Wiener Staatsoper, 2009
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Eigentlich hat jeder Mensch eine ganz banale Geschichte. Man wird geboren, geht in die Schule, heiratet, stirbt... Es ist eine Frage des Blickwinkels: Wenn wir einander als Tiere sehen wollen, dann sind wir eben nur Tiere. Die Aufgabe der Kunst ist es, das auszugraben, worauf unsere Zivilisation fußt. Die Kunst hilft, den anderen Menschen nicht als Tier, sondern als Person mit Würde zu sehen, auch wenn er kriminell ist, zum gesellschaftlichen Abschaum gehört. Und da sind wir nun bei dieser Oper: Es liegt eine banale Dorfgeschichte vor, trotzdem wird im Grunde eine Erlösungsgeschichte erzählt. Jenůfa ist am Beginn ein fröhliches, unkompliziertes Mädchen, das ein Verhältnis mit einem Burschen hat. Im dritten Akt ist sie dann eine Art Heroine. Es wird aber auch gezeigt, dass ein ekelhaftes Verbrechen wie die Ermordung des neugeborenen Kindes durchaus das Resultat menschlicher Gefühle sein kann. Sichtbar, oder besser hörbar, gemacht wird der Erlösungsgedanke durch die Musik, die vom ersten bis zum dritten Akt immer mächtiger wird, sich stets zu steigern scheint. Das Schöne an dieser Oper ist, dass sie eine positive Grundaussage hat. Natürlich hat der Mensch auch negative Qualitäten. Auf diese hat sich die Kunst in den letzten Jahrhunderten bevorzugt konzentriert. Janáček geht an diesen negativen Qualitäten nicht vorbei. Ganz im Gegenteil, er zeigt sie unheimlich klar auf, es gibt ja keine Spur von Sentimentalität in dieser Oper. Trotzdem schafft er es, das Würdevolle überwiegen zu lassen. POUNTNEY
Auch das Bühnenbild unterstreicht die Entwicklung, den Reifungsprozess der handelnden Personen. Richtig, wir wollten ein realistisches, aber kein folkloristisches Bühnenbild schaffen. Die nicht gerade kleinen Ausmaße der Bühne machen es zudem unmöglich, eine typische Bauernmühle darzustellen, ohne kitschig zu werden. Die Mühle im ersten Akt ähnelt eher einer Fabrik, wirkt nüchtern, kühl. Und dann wird das Bühnenbild von Akt zu Akt abstrakter. Zum Schluss bleibt nur ein leerer Raum übrig. Dieser Abstraktionsprozess ist ein Spiegel der Handlung: Der erste Akt ist ziemlich realistisch – es wird getanzt, gearbeitet; im zweiten Akt muss ein glaubwürdiger Raum existieren, in dem Jenůfa leben kann; der dritte Akt spielt dann in einem nicht näher definierten »Erlösungsraum«. POUNTNEY
Handelt es sich bei diesem Werk um eine veristische Oper, vergleichbar mit Cavalleria rusticana oder Pagliacci? Ja, man kann an den Verismo denken. Ich würde aber dem Verwandtschaftsverhältnis zu den italienischen Komponisten keine zu große Bedeutung beimessen. Viel eher sollte man von einer Brücke zwischen Smetana, Dvořák und der modernen Oper sprechen. Diese ständigen POUNTNEY
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kleinen, refrainartigen Wiederholungen bringen geradezu volksmusikhafte Qualitäten. Janáček kennt natürlich die Werke der damals lebenden Komponisten, dennoch hat er einen eigenen Weg eingeschlagen. Einen spürbaren Einfluss dürfte, neben der tschechischen Tradition, vielleicht noch Mussorgski gehabt haben. Man darf nicht vergessen, dass Janáček ein überzeugter Slawe war und daher die Musik dieses Raumes eine größere Bedeutung für ihn hatte als andere Entwicklungen, etwa jene in Italien. An der Wiener Staatsoper haben Sie unter anderem Rienzi und Guillaume Tell inszeniert. Glauben Sie, dass man in Ihren Produktionen eine typische Pountney-Handschrift erkennen kann? Ich richte meinen Stil immer nach dem Stück. Jenůfa mache ich also absolut anders als Rienzi; schon Tell hat sich klar von Rienzi unterschieden. Manchmal wird das nicht verstanden. Man erwartet von einem Regisseur, dass er sich stets gleich bleibt: wenn er einmal ironisch inszeniert, muss er immer ironisch inszenieren. Das finde ich ganz falsch, da die Professionalität eines Regisseurs daran ersichtlich ist, in welchem Maße er sich in den Dienst des Stückes zu stellen vermag. POUNTNEY
Das Gespräch führte Andreas Láng im Jahr 2002
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Max Brod
LEOŠ JANÁČEK Es ist das Große an Janáček, dass er nicht nur die Tiefe des Schmerzes, sondern auch die des Trostes kennt. Nie lässt er einen Untergehenden die Menschenwürde einbüßen. Und manch einen geleitet er ins Leben zurück, selbst freudestrahlend, da die bösen Mächte ihr Spiel verloren haben. Aber dabei wird er nie oberflächlich, nie unterschätzt er die dämonische Gewalt der bösen Mächte. Aus seinem Werke mag man die Fallenden, die Unterliegenden, die von Liebe und Leidenschaft Betörten, die Verschmachtenden und Betäubten verstehen und nicht geringschätzen lernen. Mit dieser milden Botschaft tritt er neben die großen Mitleidslehrer Dostojewski und Tolstoi, denen er im Innersten verwandt ist, und beantwortet Nietzsches Frage: »Was ist vornehm?« (die dieser selbst mit dem Hinweis beantwortet, dass Vornehmheit darin besteht, ohne Gewissensbisse auf Kosten der Minderedlen zu leben) mit der besseren Antwort, dass die Kraft des Starken sich darin äußert, ohne Gewissensbisse von ihr abgeben und die Schwachen trösten und stärken zu können. Geben ist von höherer Art als Nehmen. Diese Kraft aber, die ihn befähigt zu kräftigen und die doch Kraft rings um eine zarte, selbst hilfsbedürftige Seele ist, bleibt sein ureigentliches Geheimnis, das Geheimnis seiner Volksverbundenheit, seines Naturwesens, dem kein Schrecken des Lebens fremd ist und das dennoch zuzeiten sehr herzhaft zu lachen weiß. Janáček glaubt in seiner Kraft und im Vertrauen, das ihm die eigene Kraft gibt, über allen Graus hinweg an die Unzerstörbarkeit des Lebens, an das, was Schopenhauer den »Genius der Gattung« genannt hat. M A X BROD
→ Leoš Janáček
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Andreas Láng
KEINE SCHWARZWEISSMALEREI
Die wesentlichen Charaktere in Jenůfa
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Dass die Oper Jenůfa positiv schließt, ist lediglich der immensen Vergebungsbereitschaft der Titelfigur zu verdanken. Wäre die schwer geprüfte junge Frau mit einer weniger mitleidvollen und gütigen Seele ausgestattet, könnte das Werk durchaus zu den trostlosesten der gesamten Musiktheaterliteratur gezählt werden. Schon die Ausgangssituation der Handlung ist nicht gerade rosig: Die von schwerer körperlicher Arbeit und innerfamiliären Spannungen bestimmte enge Welt der ländlichen Mühle scheint schlechthin eine ideale Brutstätte privater, zwischenmenschlicher Katastrophen zu sein. Und auch das persönliche Schicksal Jenůfas, deren Kindheit offenbar durch den frühen Tod der Mutter und die Brutalität eines ebenfalls bald aus dem Leben geschiedenen, trunksüchtigen sowie prügelfreudigen Vaters verdunkelt war, steht jeder Form einer verkitschten Dorfromantik diametral entgegen. Dass selbst aus diesem tristen Alltag noch ein Abwärts möglich ist, wird im Laufe der knapp dreistündigen Oper konsequent und ohne jede Beschönigung vor Augen geführt. Der Liebschaft mit dem verzogenen, oberflächlich veranlagten Frauenschwarm folgt bald die Ernüchterung: ungeplante Schwangerschaft, Verunstaltung durch einen nicht erhörten Verehrer, Untreue des Geliebten, Tod des Neugeborenen und schließlich – als tragischer Gipfelpunkt – die Erkenntnis, dass es sich bei der letzten verbliebenen Bezugsperson, der Stiefmutter, um eine Mörderin handelt. Nichtsdestotrotz betreibt Leoš Janáček bei der Darstellung seiner Charaktere – mit Ausnahme von Jenůfa, die gleichsam als Lichtgestalt erscheint – keinerlei Schwarz-Weiß-Malerei. Zwar laden die wesentlichen Akteure in größerem oder kleinerem Ausmaß Schuld auf sich, doch kann das jeweilige Fehlverhalten zumeist als Reaktion, als ein den Umständen geschuldetes Irren interpretiert werden, das Sühne findet. Denn eines ist allen handlungsrelevanten Beteiligten gemeinsam: Jeder und jede ist am Ende ein Opfer. Die Küsterin, Števa und Laca, die Familie des Dorfrichters, die alte Buryja und natürlich Jenůfa.
Die Küsterin Sie gilt als strenge moralische Instanz des Dorfes, in ihrer Unnahbarkeit fast schon angsteinflößend. Nicht umsonst wirft ihr Števa vor, dass sie ihm »seltsam, furchtbar, fast wie eine Hexe vorkommt«. In Wahrheit ist diese asketische Frau eine vom Leben gezeichnete, seelisch verletzte, verlassene und einsame Person. Nach einer durch Armut und zahllosen körperlichen Misshandlungen geprägten Ehe mit einem gewalttätigen Säufer konzentriert sich ihr Mühen auf das Wohl der Stieftochter Jenůfa. Wobei sich dieses Mühen als ein kompliziertes Gemisch aus innigster mütterlicher Liebe auf der einen und Geltungsbewusstsein auf der anderen Seite zeigt. Nicht einmal sie selbst weiß, ob sie aus Zuneigung das Beste für Jenůfa will oder ob sie A N DR EAS LÁ NG
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» Ihre Jenůfa hat auf mich einen gewaltigen Eindruck gemacht. Selten ging ich aus dem Theater so von einem Werk hingerissen, wie bei der Premiere am Freitag. Sie verstehen es, den Hörer den ganzen Abend wie mit Zangen festzuhalten. « Otakar Ostrčil an Leoš Janáček 23
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nur als beispielhafte, erfolgreiche Erzieherin Anerkennung ernten möchte. Der brutale Mord an Jenůfas neugeborenem Sohn ist jedenfalls das Ergebnis dieses ambivalenten Zustandes. Die Küsterin ist mit Sicherheit keine hinterhältig-grausige Gestalt à la Großmutter in Horváths Geschichten aus dem Wienerwald. Vielmehr ist sie eine Getriebene, die ihrer Stieftochter eine bessere Zukunft, ein besseres Schicksal ermöglichen will – dem ihrer Meinung nach das Neugeborene im Weg stünde. Daher bleibt sie, trotz des Verbrechens, für das Publikum Sympathieträgerin, zumal sie am Schluss, von Reue erfüllt, willig der Strafe entgegengeht.
Števa Dieser flatterhafte Liebhaber Jenůfas, gewissermaßen ein Schnösel vom Land, ist die wohl am wenigsten positive Gestalt der Oper. Bereits sein erster Auftritt lässt ihn in schlechtem Licht erscheinen: Als reicher Besitzer der Mühle kann Števa sich, im Gegensatz zu vielen anderen weniger Glücklichen, vom Militärdienst freikaufen, was er auch entsprechend aufreizend zur Schau stellt. Seine Großspurigkeit und Trunksucht, die ihn nicht eben als einen idealen Schwiegersohn in spe erscheinen lassen, machen ihn für das Publikum ebenso wenig anziehend wie seine Oberflächlichkeit in der Beziehung zu Jenůfa: Nur ihre Schönheit, nicht ihr eigentliches Wesen, sind für ihn von Interesse. Feigheit gepaart mit Opportunismus sind weitere Charaktereigenschaften dieses reichen Mühlenbesitzers. Zu Števas Verteidigung wäre anzubringen, dass er als verzärtelter Liebling der Älteren kaum Möglichkeiten hatte, seine besseren Charaktereigenschaften entsprechend zu pflegen. Auf jeden Fall dürften die Zuschauer auch für ihn noch Mitleid empfinden, wenn er am Ende der Oper von seiner wahren Liebe, der Richterstochter, schmählich sitzen gelassen wird und zu einem Außenseiter innerhalb der Dorfgemeinschaft mutiert. Wahrscheinlich sind es aber die verzeihenden Worte Jenůfas, die Števa in den Augen des Publikums ideell ein wenig rehabilitieren.
Laca Das wirklich Große an der komplexen Persönlichkeit des zunächst unerhörten Liebhabers wird erst ganz zum Schluss sichtbar, bis dahin wirkt dieser in der Müllerfamilie mehr geduldete als gewollte Halbbruder Števas eher wie ein unreifer Trotzkopf. Wobei seine aus verschmähter Liebe bedingten aggressiv-zerstörerischen Aktionen, allen voran die Messerattacke auf Jenůfa, auch ihn nicht gerade zu einem Mustergatten zu prädestinieren scheinen. Für ihn spricht, dass er Jenůfa tatsächlich liebt, obgleich sein Zögern sie gemeinsam mit dem Neugeborenen anzunehmen, als Sympathiedämpfer wirkt. Immerhin A N DR EAS LÁ NG
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steht er als Einziger auch dann zu ihr, als sie gesellschaftlich zu einer Persona non grata wird, wodurch er auch sich selbst, möglicherweise dauerhaft, an den Rand der Gemeinschaft stellt.
Familie des Dorfrichters und die alte Buryja Bei dieser Gruppe von Personen handelt es sich zwar um Randfiguren, die aber nichtsdestotrotz direkt oder indirekt handlungsbestimmend sind. Zunächst die alte Buryja: Sie ist eine alte, hart gewordene Frau im Ausgedinge, die sich nach wie vor an der Arbeit in der Mühle beteiligt und je nach privater Sympathie oder Antipathie die Jüngeren mit Wohlwollen oder Reserviertheit belohnt beziehungsweise bestraft. Da sie Števa zusätzlich den Rücken stärkt und Laca noch mehr in die Rolle des Verlierers drängt, verstärkt sie die emotionale Grundsituation in der Mühle und trägt auf ihre Weise zum Verlauf der Geschichte bei. Die eintretenden Turbulenzen in ihrem nächsten Umfeld lassen sie schließlich erschüttert und gebrochen zurück. Der Dorfrichter und seine Frau geraten ihrerseits durch deren Tochter Karolka mit hinein in den Strudel rund um die Müllerfamilie. Als Verlobte Števas muss der unerwartete Wechsel seines Ansehens von einer reichen, guten Partie zum Gemiedenen, moralisch Verworfenen für Karolka und ihre eher elitären Eltern einer unerträglichen Schande gleichkommen – gerade in einer ländlichen Umgebung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, deren Schubladisierungen und Ächtungen das soziale Gefüge durchaus erschüttern konnten. Kein Wunder daher, dass Karolka eine peinliche, augenblickliche Lösung der Verlobung lieber in Kauf nimmt als länger mit Števa verbunden zu bleiben. Wer ist nun Schuld an den tragischen Ereignissen? Ein Einzelner wohl kaum, viel zu sehr haben die jeweiligen Charaktereigenschaften der Betroffenen in Aktion und Reaktion die Geschehnisse ebenso in eine bestimmte Richtung gedrängt wie die engen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des unmittelbaren Umfeldes. Die Einzige, die sich durch ihr Handeln nicht in ein Schema einfügen lässt, die sich weder den vorgefundenen soziostrukturellen Vorgaben unterordnet noch diese bedient, ist Jenůfa. Sie liebt und verzeiht und schafft es auf diese Weise, die düstere Dorfgeschichte in eine Erlösungsgeschichte umzuwandeln.
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K EIN E SCH WA R Z-W EIS S-M A LER EI
Pia Janke
WEIBLICHE SELBSTAUSLÖSCHUNG
Anmerkungen zu den Frauenfiguren in Preissovás und Janáčeks Jenůfa 26
Die Frau klagt, der Mann schafft ihr Grund zum Klagen. Daher schafft der Mann der Frau auch noch die Sujets für ihre literarischen Arbeiten. Entweder die Frauen platzen eruptiv wie Vulkane auf und speien ihre explosive Körperlichkeit aus, oder sie seufzen dunkel und dumpf über ihre Unterdrückung, die sie ja eben sprachlos macht. ELFR IEDE J ELIN EK
Janáčeks Oper Jenůfa basiert auf einem Theaterstück von Gabriela Preissová, das 1890 am Prager Nationaltheater uraufgeführt worden war – zu einer Zeit also, als Frauen sich in den mitteleuropäischen Ländern zusammenschlossen, um ihre Rechte zu behaupten. Die Frau als Subjekt, das nicht nur das Recht auf Selbstverwirklichung, sondern auch den Willen dazu hat, war das erklärte Ziel. Nicht länger sollte die Frau – bislang erzogen zum passiven, unselbstständigen Geschöpf, das unfähig war, eigene Ansprüche zu artikulieren – den Gesetzen des Patriarchats folgen, sondern autonom und selbstbewusst auftreten. Die Literatur der Zeit spiegelt diese Emanzipationsbestrebungen, wenn auch mit unterschiedlicher Tendenz. Der männliche Blick inszenierte das Weibliche nun verstärkt als Bedrohung, die die männliche Souveränität infrage stellte, oder aber stilisierte es durch (scheinbare) Erhöhung bzw. entschärfte es durch Entsexualisierung. Von Angst war dieser männliche Blick bestimmt, als naturhaftes, ungeschichtliches Wesen sollte die Frau von der Kunst weiter festgeschrieben werden. Doch wie war der dezidiert weibliche Blick auf die Frau in der Kunst, in der Literatur dieser Zeit? Gab es ihn, der von der Frauenbewegung bis heute eingefordert wird, überhaupt schon? In literarischen Salons und Zirkeln hatten die intellektuellen Frauen bis zu dieser Zeit ihren Ort gehabt, literarische Kleinformen waren ihnen als Betätigungsfeld zugestanden worden. Nun aber ging es darum, endlich auch den öffentlichen Raum zu besetzen und sich literarische Großformen anzueignen. Gabriela Preissovás Schreiben fällt also in eine Zeit, in der die Frau nicht nur als Sujet der Literatur neu virulent wurde, sondern auch als Künstlerin kreative Potenz für sich beanspruchte. Frauenbilder waren angesagt, die nicht länger männliche Imaginationen sein sollten. Anspruch war es nun, die Frau in ihren konkreten gesellschaftlichen Kontexten darzustellen und ihre soziale Unterdrückung, die immer auch Sprachlosigkeit bedeutete, zu thematisieren. In der Literaturgeschichtsschreibung ist Gabriela Preissovás Position innerhalb dieses Prozesses allmählicher weiblicher Selbstbehauptung bzw. allmählicher Infragestellung gesellschaftlich geprägter Rollenbilder umstritten. Gilt sie den einen als Autorin, die in der Darstellung von Frauenschicksalen eine »Vorkämpferin für Gleichberechtigung« gewesen wäre, so hat sie für andere in ihrem Optimismus, das gesellschaftlich bedingte Elend durch »humanistische Philanthropie« heilen zu können, nicht wirklich PI A JA N K E
Wesentliches zur Lösung der Frauenfrage beigetragen: Leiden und Opfermut, das wären die Verhaltensweisen, die Preissová den Frauen, insbesondere den jungen Mädchen, mit ihren Werken nahegelegt hätte, und somit wäre sie als Schriftstellerin auf der Stufe »bürgerlicher Beschränktheit« stehen geblieben. Als Argument für diese These dient vor allem die Information, dass Preissová primär Idyllen gestaltet hätte. Doch eine genauere Betrachtung von Preissovás Schaffen offenbart ein komplexeres Bild.
Lakonische Betrachtung Geboren 1862 in Böhmen, zog Gabriela Preissová 1880 mit ihrem Mann ins slowakische Mähren und verfasste dort zunächst vor allem Kurzgeschichten, in denen sie ihre Eindrücke vom ländlichen Leben verarbeitete. Gemäß der zeitgenössischen ethnographischen Bewegung, die – aus nationalistischen Bestrebungen – die Bräuche und Traditionen der heimischen Regionen erforschen wollte, widmete sich Preissová dem lokalen Raum und beschrieb in ihren Erzählungen, die sie 1886-89 als dreibändige Sammlung mit dem Titel Bilder aus dem Slovacko herausgab, den Alltag in den mährischen Dörfern. Literarische epische Kleinformen wie Skizzen, Betrachtungen und Novellen waren es, die Preissová zunächst bevorzugte – typische Formen also, die der schreibenden Frau zugestanden wurden. Doch nicht subjektiv-empfindsam war Preissovás Stil, sondern nüchtern und sachlich. War es den mährischen Schriftstellern um die Mitte des 19. Jahrhunderts noch um eine Idealisierung des Dorfes, das der verderbten Stadt entgegengesetzt wurde, gegangen, so wurde in Preissovás Erzählungen nun das Dorf selbst ohne bürgerliche Verklärung zum Gegenstand einer lakonischen Betrachtung. Dieser Anspruch wurde von Preissová in ihrem Drama Její pastorkyňa (Ihre Ziehtochter, 1890), der Vorlage von Janáček Jenůfa, weiterverfolgt. Die knappe und sachliche Form des Erzählens schien nun neu auf in einem Theaterstück, das somit eine epische Grundstruktur aufweist. Die in Její pastorkyňa mit ethnographischer Genauigkeit geschilderten bäuerlichen Sitten und Bräuche geben nicht länger einen farbigen Hintergrund für die Handlung ab, sondern sind Merkmale eines überkommenen patriarchalischen gesellschaftlichen Gefüges. Der Destabilisierung der Habsburgermonarchie im späten 19. Jahrhundert durch aufkommende Industrialisierung, Landflucht und städtische Proletarisierung wurde auf diese Weise kein Bild heimatlicher Geordnetheit entgegengesetzt, sondern gerade diese Geordnetheit als überlebt gezeigt. Schon in ihrem Theaterstück Gazdina roba (Die Magd als Bäuerin), der Vorlage von Josef Foersters Oper Eva, hatte Preissová kein Dorfidyll gestaltet, sondern die sozialen und religiösen Gegensätze innerhalb eines geschlossenen ländlichen Kosmos thematisiert. Wie danach in Její pastorkyňa wird auch hier bereits der Leidensweg einer jungen Frau, der kein Recht auf SelbstverwirkPI A JA N K E
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lichung zugestanden wird, ins Zentrum gerückt. Auch eine starke Mutterfigur gibt es hier bereits, auch das Motiv des Kindestodes hat dramaturgische Bedeutung, und auch ein Fluchtversuch aus den vorgegebenen Verhältnissen wird beschrieben. Das kleinbürgerlich-bäuerliche Leben mit seinen strikten Moralvorstellungen wird von Preissová bereits hier keineswegs mythologisiert, sondern nüchtern zur Diskussion gestellt. Wie Die Magd als Bäuerin zeigt auch Její pastorkyňa keine vergangenen Zeiten, die idealisiert werden, sondern gegenwärtige Ereignisse ohne jegliche Verklärung. Auf zwei im Lokalblatt berichteten Vorfällen basiert dieses Stück. Ein Kriminalfall aus der Lokalgeschichte, der Mord an einem kleinen Kind, wird aufgegriffen und psychologisch ausgedeutet. Dabei setzt das Theaterstück zugleich auch eine lange Tradition dramatischer Texte fort: die Gattung des bürgerlichen Dramas, das das Leid missbrauchter junger Mädchen gestaltete, wird in Preissovás Její pastorkyňa fortgeschrieben, wenn auch jetzt in kleinbürgerlich-bäuerlichem Milieu angesiedelt. Der Kindsmord, ein zentrales Motiv dieser Gattung, ist jedoch nicht länger die Verzweiflungstat der jungen, unverheirateten Mutter, sondern wird von der Stiefmutter der eigentlichen Mutter ausgeführt. Das unselbstständige junge Mädchen des bürgerlichen Dramas, das keinen Ausweg mehr sah und das Liebste umbrachte, was es hatte, wird bei Preissová zum entmündigten Kind, dem alles, sogar der Mord, abgenommen wird. Die zeitgenössische Kritik konstatierte aber noch weitere literarische Bezüge und Traditionslinien, ja, warf Preissová vor, sich kräftig bei anderen Autoren bedient zu haben. Nicht nur Ostrowskis Werke wären von ihr geplündert worden, sondern auch Tolstois Drama Macht der Finsternis, das 1887/88 in tschechischer Sprache veröffentlicht worden war. Zudem beanstandete man bei der Uraufführung in Prag, dass der Stoff dem Nationaltheater nicht angemessen wäre. Und die geschilderten Zustände wären »unplausibel«, auf dem Land gäbe es keine solchen Zustände, war zu lesen. Weder die Spätromantiker, die an Pathos und Idealisierung gewöhnt waren, noch die Realisten, die die Wendung ins Positive am Schluss stören musste, schätzten Preissovás Stück. Vernichtend war ihr Urteil – und Preissová verlor jeden Mut, weiter in dieser Richtung zu schreiben. Die Werke, die nun folgten, zeigten geschönte, unproblematische Bilder der heimatlichen Welt.
Matriarchale Strukturen? In Preissovás Její pastorkyňa wird das mährische Dorfleben nicht als Enklave, zu der zurückgefunden werden soll, sondern als genau definierter gesellschaftlicher Raum mit all seinen Konventionen und Beschränkungen beschrieben. Volksbräuche und ländliche Gepflogenheit sind nicht länger Mittel, Geborgenheit zu suggerieren, sondern werden als rituelle Handlungen einer Gemeinschaft vorgeführt, aus der es kein Entkommen gibt. Sie sind Ausdruck 29
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eines moralischen Kodex, der jede freie Entfaltung des Individuums unterbindet. Preissovás dörfliche Gemeinschaft wird dabei von Familienstrukturen bestimmt. Die Figuren des Stücks sind, in welcher Form auch immer, miteinander verwandt. Die Autorin entwirft das (schwer zu durchschauende) Netz verwandtschaftlicher Beziehungen als ein hierarchisch strukturiertes System von Dominanz- und Abhängigkeitsverhältnissen. Geld und Macht bestimmen dieses System, der Kapitalismus hat auch das dörfliche Leben erfasst. Viel stärker, als es in Janáčeks Adaption des Stückes der Fall ist (der Komponist vereinfachte hier), zeigt Preissovás Theaterstück die Verwandtschafts- und Besitzverhältnisse – und macht damit die hierarchischen Strukturen, die auch der dörflichen Familie immanent sind, transparent. Es ist auffällig, dass in diesen Strukturen die Frauen zu dominieren scheinen. Eine vaterlose Gesellschaft scheint dem Betrachter präsentiert zu werden, eine Welt, in der immer nur die Mütter überleben. So existiert nur noch die alte Buryja, während ihr Mann längst verstarb, so lebt nur noch die Küsterin, während auch ihr Mann längst tot ist. In der mährischen Großfamilie scheint das Matriarchat zu herrschen, die echte und unechte (so ist die Küsterin nur Jenůfas Stiefmutter) Mutterschaft der Garant der Erbfolge, und damit des Machterhalts, zu sein. Auch in Janáčeks Fassung sind es die Frauenfiguren, die im Zentrum stehen. Auch hier werden drei Generationen von Frauen, von Müttern, gezeigt: die alte Buryja, die Küsterin und Jenůfa. Doch wie stark, wie selbstbewusst, wie selbstbestimmt sind diese Frauen? Haben sie, insbesondere die Küsterin und Jenůfa, eine neue, eine andere Form des Zusammenlebens installiert? Folgen sie eigenen, nämlich weiblichen Prinzipien, behaupten sie ihre Rechte als Frauen? »Kennst ja mein Elend! Bange, ja bang schlägt das Herz mir im Leibe. Wenn die Leut, oder gar die Mutter mir was anmerken täten! Ach, wie mich Angst und Verzweiflung quälen!«, so klagt Jenůfa, die von Števa ein Kind erwartet und ihre Mutterschaft vor allen verborgen hält, in Janáčeks Fassung. »Elend«, »Angst«, »Verzweiflung«, »Leiden« und »Qual« sind die Wörter, mit denen Jenůfa immer neu ihre seelische Not artikuliert. Die Form der Oper unterstreicht das Leiden und die Isoliertheit der Figuren. Die Gespräche, die stattfinden, sind keine wirklichen Dialoge mehr. Ein Austausch von Gedanken und Empfindungen findet kaum noch statt. Die Sätze laufen parallel, das dialogische Moment wird vom monologischen überlagert, jeder bleibt für sich allein. Das Kollektiv bietet keinen Halt mehr, sondern wird als dominantes Über-Ich verinnerlicht, dem der Einzelne ausgeliefert ist. Janáčeks Fassung unterstreicht diese Vereinzelung, die Musik übernimmt dabei die Funktion, die psychischen Verkrampfungen, die nicht artikulierbaren Aggressionen und Depressionen zum Ausdruck zu bringen. »Niemand hat besser als Janáček den ratlosen Menschen gezeichnet. ›Ratlosigkeit‹ ist der seelische Grundakkord seines Hauptwerkes, der Jenůfa.« So charakterisiert Max Brod die Grundstimmung des Werkes, um PI A JA N K E
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gleich darauf diese Charakterisierung zu spezifizieren: »Von Anfang an sehen wir ins Herz eines Mädchens, dem der Sinn der Welt verloren gegangen ist, wir erleben ihr Tasten nach Hilfe, ihre Bitte um Liebe, ihr Anklammern an alles Starke, Lebensspendende, Schützende der Natur.« Nicht die Küsterin ist für Brod die Hauptfigur – so nannte er das Werk in seiner lange auch an der Wiener Staatsoper gespielten Übersetzung Jenůfa und nicht länger Ihre Ziehtochter –, sondern deren Stieftochter Jenůfa. Und diese Frau wird von ihm als hilfloses Mädchen beschrieben, das Schutz sucht, das um Zuneigung bittet. Brod betont in seinen Ausführungen vor allem die »Hilfsbedürftigkeit« seiner Protagonistin, die um »Mitleid« – nach dem der anderen und nach dem unseren – fleht, und beschreibt damit auch das zentrale Frauenbild, das das Werk transportiert: die Frau als Mädchen, ja, als Kind, das nicht fähig ist, für sich zu entscheiden und selbstbewusst zu handeln. Jenůfa ist zwar gebildet – so lehrt sie den Schäferjungen Jano das Lesen –, doch ihr »Mannsverstand« ist ihr »längst ins Wasser« gefallen, wie sie seufzt. Denn sie erwartet ein Kind und hat keinen Mann. Und das ist die Katastrophe, die alles bestimmt.
Weiblicher Masochismus Preissovás und Janáčeks Jenůfa zeigt eine patriarchalische Welt, in der sich die Frauen als Mütter auch selbst kein Leben ohne Mann vorstellen können, ja, es als »Schande« empfinden, das in »Sünde« empfangene Kind ohne Ehemann zur Welt zu bringen und aufzuziehen. Die verlogene Moral des Patriarchats wird von den Frauen verinnerlicht, willenlos nehmen sie ihr Leid hin – ein Leid, das ihnen jedoch von den Männern zugefügt wurde. Weibliches Idealbild dieser Gesellschaft, in der die Frauen klagen, jedoch nicht begreifen, dass es die Männer sind, die ihnen den Grund zum Klagen schaffen, ist die Jungfrau Maria, die reine Magd, die ihren Sohn frei von jeder Sünde gebar. Die Mutter Jenůfa betet so auch in ihrer höchsten Not zu ihr, der »Mutter aller Schmerzen«, der »teuren Mutter der Gnaden«. Als schwach und von höheren Instanzen völlig abhängig wird Jenůfa gezeigt, wie ein Kleinkind verhält sie sich gegenüber ihrer Stiefmutter, die ihr droht, sie bestraft und ihr befiehlt, was sie zu tun hat. Jenůfas Infantilität ergibt sich aus der Verinnerlichung des patriarchalischen Gesellschaftskodex. Sie, die ihrer Stiefmutter ausgeliefert ist und sich von ihr nicht zu lösen vermag, hat keinen eigenen Willen. Nicht mit Protest, sondern auf die Knie sinkend, »gesenkten Hauptes«, »schluchzend« reagiert sie auf die Grausamkeiten ihrer Umgebung. Preissová und Janáček zeigen mit Jenůfa eine junge Frau, die es nicht vermag, gegen das Leid, das ihr von den anderen zugefügt wird, aufzubegehren. Als typisch weiblichen Masochismus kann man Jenůfas Verhalten beschreiben: Die Aggressionen werden gegen 31
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die eigene Person gerichtet, die aufgestauten (negativen) Emotionen in der Selbstanklage und Selbsterniedrigung ausgelebt. Resignation und Depression sind die Folgen, das Leiden-Müssen wird als unausweichliches Los akzeptiert. Im Sich-Dreinfügen in die als schicksalhaft empfundenen Verhältnisse wird das Leben selbst als Qual empfunden, die unabänderlich erscheint. Nach den Hintergründen wird nicht gefragt. So nimmt auch Jenůfa den Tod ihres kleinen Kindes hin, ohne die Küsterin, von der sie die Nachricht erfährt, nach den Umständen des Todes wie auch nach dem Verbleib des toten Knaben zu fragen. »So ist er gestorben, ist schon ein Englein im Himmel, und ich bin ganz allein hier, ohne ihn«, kann sie nur klagen und damit auch noch die Phrase von der Entsühnung des in Sünde empfangenen Kindes durch sein Sterben nachplappern. Jenůfa muss so auch als dezidiert katholisches Stück gelesen werden, zeigt es doch den Weg zur Erlösung von den Sünden durch Buße. Den Frauen kommt dabei die Rolle der Büßenden und Verzeihenden zu. Jenůfa ist darin unermesslich: Sie verzeiht nicht nur Laca, der ihr ihre Schönheit zerstörte, sie verzeiht auch Števa, der sie als Vater ihres Kindes im Stich ließ, und sie bittet darüber hinaus auch die verfeindeten Brüder, einander wieder die Hände zu reichen. Und zuletzt verzeiht sie auch noch ihrer Stiefmutter, der Küsterin, die ihr Kind ermordete. Mit der Figur der Jenůfa gestalten Preissová und Janáček somit alles andere als eine emanzipierte Frau, die ihre Rechte behauptet. Ein junges, hilfsbedürftiges Mädchen wird gezeigt, das permanent Opfer ist und seine Größe aus dem Vergessen und Verzeihen des ihm zugefügten Leides gewinnt.
Affirmation des Patriarchats Doch wird nicht in Jenůfa auch ein anderes Frauenbild gezeigt? Ist nicht die Küsterin – öffentliche wie private Instanz, der sich alle beugen – eine »starke« Frau, die selbst die Gesetze gibt und alle anderen zwingt, danach zu leben? Sie ist es doch, die als Autorität über das Dorfleben gebietet, die die jungen Männer zur Rede stellt, die das Jahr der Prüfung einfordert und die Jenůfa dominiert. Und sie scheint, im Sinne der klassischen Dramaturgie, auch die eigentliche »Heldin« des Stücks zu sein, denn sie ist es, die die zentrale Tat, den Mord am Kind, der den Höhepunkt des Stücks bildet, ausführt und auch für diese Tat zur Rechenschaft gezogen wird. Als streng und böse wird sie von den anderen beschrieben. Als unweibliche Frau, als Frau, die sich männliche Positionen angeeignet hat, erscheint sie, die so auch vom Macho Števa als »Hexe« bezeichnet wird: die gebildete Frau wird von der Dorfgemeinschaft zwar als Autorität gefürchtet, jedoch als Frau diffamiert. Nicht Jenůfas wirkliche Mutter kann sie so auch sein, sondern nur ihre Stiefmutter – die Mutterschaft, der Ausdruck »natürlicher Weiblichkeit«, ist ihr verwehrt. Janáček hat aus Preissovás Drama viele Passagen eliminiert, PI A JA N K E
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die die Persönlichkeit der Küsterin psychologisch ausdeuten und ihre auch karitativen dörflichen Tätigkeiten beschreiben. In seiner Fassung wird die Küsterin zur monolithischen Figur, die starr und streng ihrem rigiden Ehrenkodex zu folgen scheint und ihre Handlungen nicht wirklich begründet. Eine zentrale Passage, die er beibehalten hatte, hat er ein paar Jahre nach der Uraufführung wieder gestrichen. Das Vorhandensein oder aber Fehlen dieser Passage ist für die Interpretation der Küsterin von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Es handelt sich um einen kurzen Monolog, in dem die Küsterin ihre Strenge gegenüber dem betrunkenen Števa damit begründet, dass Jenůfa nicht ihr eigenes Schicksal erleiden möge. Denn ihr verstorbener Mann wäre auch ein Trinker gewesen, hätte wie Števa mit dem Geld um sich geworfen und Schulden angehäuft, erzählt sie. Und sie, die unzählige Nächte auf dem freien Feld zubringen habe müssen, sei von ihm verprügelt worden. Dieser Monolog der Küsterin offenbart ihre psychische Verfasstheit. Nicht primär stark und »männlich« ist die Küsterin, sondern ihre Strenge und Unnachgiebigkeit resultieren aus einer Demütigung. Wird dieser Monolog in einer Aufführung gespielt, so entpuppt sich der »Stolz« der Stiefmutter gegenüber Jenůfa als Angst des (weiblichen) Opfers männlicher Gewalt vor der Wiederholung des eigenen Loses als unterdrückte, erniedrigte Frau. Bei einer solchen Fassung kann auch von einem autonomen, selbstbewussten Handeln der Küsterin nicht mehr die Rede sein. Nicht Täterin, sondern Opfer ist sie, kennt man ihre Vorgeschichte. Und es wird offenbar, dass auch sie sich aus den Strukturen des Patriarchats nicht befreien kann. Denn ihre (moralische) Autorität ist letztlich eine, die das männliche System bestätigt. Als Küsterin Repräsentantin der (männlich geprägten) Kirche, fungiert Jenůfas Stiefmutter als Wächterin einer Ordnung, die die freie Entfaltung der Frau verhindert. Hat Jenůfa die Moralvorstellungen der patriarchalischen Gesellschaft verinnerlicht, so ist es die Küsterin, die ihr diese Moralvorstellungen einflößt bzw. diesen auch selbst folgt. Der Mord an Jenůfas kleinem Sohn resultiert primär aus der Angst vor einer gesellschaftlichen Ächtung aufgrund des Faktums, ein uneheliches Kind in der Familie zu haben. Fieberhaft fahndet die Küsterin nach einem Mann für Jenůfa, um diese »Schande« aufzuheben. Und als Laca nur kurz zögert, Jenůfa samt unehelichem Kind zur Frau zu nehmen, ist auch schon der Entschluss gefasst: das Kind muss beseitigt werden. So handelt die Küsterin – aus Angst, dass sie und Jenůfa aus dem gesellschaftlichen Kollektiv ausgeschlossen werden könnten – als die Instanz eines katholisch geprägten Patriarchats, das die (eigenen) weiblichen Ansprüche unterbindet. Doch die Tat, die das Eingebundensein in das gesellschaftliche Kollektiv weiter garantieren sollte, wird entdeckt, und, um ihre Stieftochter zu retten, bekennt sich die Küsterin zu ihrem Verbrechen. Vor allen demütigt sie sich und bittet um Bestrafung. Die »stolze« Küsterin verliert nun auch in aller Öffentlichkeit ihre Autorität und nimmt sich Jenůfas 33
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Einstellung zum Vorbild: »Du hast meinen Hochmut, meine Störrigkeit nicht geerbt: und dich will ich zum Beispiel nehmen... will leiden, leiden!«, sagt sie zu ihrer Stieftochter, die ihr verzeiht. Auch die Küsterin wird am Ende zu einer Frau, die das weibliche Los akzeptiert: Leiden müssen und Buße tun. Denn wenn die Frau büßt, so erbarmt sich auch der Himmel: »Der Erlöser blickt auch auf mich herab!«, weiß die Küsterin am Ende. Der Schluss von Jenůfa behauptet die Aufhebung aller Katastrophen durch das katholische Ethos von Reue und Verzeihen. Dass es die Frauen sind, die dieses Ethos zu (er)tragen haben, weist Preissovás und Janáčeks Stück als ein Werk aus, das sich auf den ersten Blick nicht unbedingt durch einen emanzipatorischen Anspruch auszeichnet. Doch das Verdienst des Stückes ist es, die gesellschaftliche Determiniertheit weiblichen Verhaltens transparent zu machen und darauf hinzuweisen, wohin es führt, wenn die patriarchalischen Muster unhinterfragt verinnerlicht und die Aggressionen gegen die Männerwelt nicht ausgelebt werden können: in die Selbsterniedrigung, in die Selbstauslöschung.
→ Dorothea Röschmann als Jenůfa und KS Angela Denoke als Küsterin, 2016 Nächste Seiten: Szenenbild, 2011
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Christoph Schwandt
AM ANFANG WAR DIE SPRACHE
Noch vor Alban Bergs Wozzeck (entstanden 1915-21) und der Salome des Richard Strauss (1903-05) war es Leoš Janáček gelungen, einen seinerzeit erfolgreichen Schauspieltext ohne Hilfe eines Librettisten, nur mit eigenhändigen Kürzungen, ansonsten wortwörtlich in eine Oper zu verwandeln, die über die Jahrzehnte bei Weitem erfolgreicher sein sollte als das gesprochene Drama. Büchners Vorlage zu Bergs Komposition gehört zwar zum Kanon deutschen Sprechtheaters, erst die Oper aber machte den Stoff auch im Ausland bekannt. Strauss’ international noch namhafteres Werk – nach dem französisch gedichteten Einakter des Iren Oscar Wilde – wurde jedoch nicht nach dem Originalwortlaut vertont, sondern auf eine deutsche Übersetzung, was den Sprachklang und -rhythmus des Textes zwangsläufig stark veränderte. Wildes Salome verschwand außerdem mit dem sich wandelnden Zeitgeschmack von den Spielplänen. Mit Janáčeks Její pastorkyňa (Ihre Ziehtochter) kam unter deren späterem Titel Jenůfa eine auf den ersten Blick eher triviale Begebenheit mit Sex, Crime und Kirche aus der ostmitteleuropäischen Provinz auf die Opernbühnen einer CHR ISTOPH SCH WA N DT
→ Leoš Janáčeks Skizze zu Jenůfa
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KOLUMN EN T IT EL
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← KS Angela Denoke als Jenůfa und Jorma Silvasti als Laca, Wiener Staatsoper, 2002
Welt, die sonst wohl kaum etwas von der mährischen Slowakei und den Weißen Karpaten erfahren hätte. Die gesamte gesangliche Faktur der Jenůfa, ganz ohne Zweifel Janáčeks zentrales Hauptwerk, verdankt sich zudem der tschechischen Sprache, zu der ihr Komponist aus klanglich-musikalischen Gründen eine ebenso existenzielle Beziehung hatte wie als k. k.-Untertan aus gesellschaftlich-nationalen. Und aus der Melodie der Sprache entwickelte Janáček dann auch die instrumentale. Sein mährischer Landsmann Milan Kundera, dessen Vater Ludvík als Pianist und Musikwissenschaftler in den 1920er Jahren mit Janáček zusammengearbeitet hatte, bedauert, dass dieser sich für eine »noch nie dagewesenen Aufwertung des gesungenen Wortes, konkret des tschechischen Wortes, das in neunundneunzig Prozent der Theater dieser Welt nicht verstanden wird«, eingesetzt und somit »seine universelle Musik einer praktisch unbekannten Sprache geopfert« habe. Dabei ist Tschechisch wie Italienisch eine sehr gesangliche und darüberhinaus dankbare Sprache, weil sie eindeutige, ausnahmenlose Ausspracheregeln hat und nicht wie Englisch, Französisch (und erst recht Deutsch!) Wort für Wort gelernt werden muss, will man keine Fehler machen. Setzte sich nicht allmählich bei Janáčeks Werken eine Aufführungspraxis in der Originalsprache durch, käme in Oslo, Mailand, San Francisco oder Lyon heutzutage wohl kaum jemand unmittelbar mit dem tschechischen Idiom in Berührung, sei es als Interpret oder im Publikum. So relativieren sich Milan Kunderas Bedenken doch ein wenig, und Leoš Janáček mag am Ende dazu beigetragen haben, dass sich ein paar mehr als die knapp elf Millionen Muttersprachler für seine Sprache interessieren. Wird tschechisch gesungen, versteht das Opernpublikum außerhalb Böhmens und Mährens natürlich noch weniger als sonst. Wird aber ein Werk Janáčeks übersetzt gesungen, dann klingt die Musik ganz anders. Lässt sich nämlich ein italienischer oder englischer Text noch einigermaßen in sangbares Deutsch übertragen, denn in beiden Fremdsprachen gibt es Artikel und wechselnde Betonungen, ist dies beim Französischen schon schwieriger, weil die Betonung dort stets auf das Wortende fällt; Übersetzungen aus dem Tschechischen sind noch viel heikler, weil hier immer die erste Silbe betont ist und es keine Artikel gibt! Auch als er schon längst Brünner Stadtmensch war, beschäftigte Janáček seine ländliche Herkunft: Hukvaldy, der kleine geschichtsträchtige Heimatort des Komponisten, liegt in Ostmähren nördlich der mährisch-schlesischen Beskiden, nahe der polnischen und slowakischen Grenze. Seinen Namen hat Hukvaldy wohl von den Herren von Hückeswagen (einstmals »Hukinger«) im deutschen Bergischen Land, denen die dortige Burg einmal gehört hatte – und mit denen viele Deutsche in die Region gekommen waren. Dass die Deutsch-Österreicher den Ort später Hochwald nannten, war eher etymologische Bequemlichkeit. Zwischen dem tschechischen Teil Schlesiens mit
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Opava (Troppau) – sowie den schlesischen Teilen der Großstadt Ostrava – und der mährischen Walachei gelegen, der Gegend um Zlín und Rožnov, wo sich rumänische Walachen niedergelassen hatten, nennt sich die Region um Hukvaldy Lachei. Dass hier Orte Ungarisch Hradisch oder Ungarisch Brod heißen, kommt noch hinzu. Hier hatte sich ein ganz spezieller Dialekt bewahrt. Für sprachliche Nuancen hatte deshalb Leoš Janáček von klein auf ein feines Ohr. Man hörte, woher jemand kam, konnte auch soziale Zuordnung assoziieren. Und die Volksmusik dieser Region war ebenso ausdifferenziert. Als man in Brünn Anfang 1891 das Schauspiel Její pastorkyňa gab und Janáček es als potenziellen Opernstoff in Erwägung zu ziehen begann, war dessen Dichterin Gabriela Preissová für den Komponisten keine Unbekannte mehr: Vor einiger Zeit schon hatte er in einer Ausstellung das Gemälde mit dem Titel Počátek románu von Jaroslav Věšín gesehen. Es zeigte eine schöne junge Frau vom Lande beim Holzstapeln, während ein vornehmer Herr von seiner Kutsche aus den Blick begehrlich auf sie richtet; daher der Titel: Anfang eines Romans. Das Bild hatte die Preissová zu einer Erzählung inspiriert. Die im böhmischen Kuttenberg (Kutná Hora) geborene junge Schriftstellerin war bei einem Onkel in Hodonín (Göding) in der mährischen Slowakei aufgewachsen, und von diesem Landstrich und seinen Bewohnern handelten die meisten ihrer Prosa- und Theatertexte. Hodonín liegt sechzig Kilometer südwestlich von Brünn an der March (Morava), dem namensgebenden Fluss Mährens, der an dieser Stelle heute die Grenze zur Slowakei markiert und in Richtung des nahen österreichischen Weinviertels fließt. Schon im Februar 1888 hatte Janáček der Preissová nach Prag geschrieben und um ein Opernlibretto gebeten. Sie lehnte freundlich ab. Allerdings gab sie dann ihr Plazet zur Vertonung des Anfangs eines Romans, der als Erzählung allerdings der Libretto-Dramatisierung bedurfte. Janáček wandte sich deshalb erfolglos unter anderem an die ihm flüchtig bekannte Marie Červinková-Riegrová, die eine tschechische Übersetzung von Tschaikowskis Eugen Onegin geschaffen hatte. Von dem russischen Kollegen meinte er: »Der Rhythmus seiner Melodien entspricht auffallend dem der Umgangssprache... Er achtet und versteht die Volksmusik.« Janáček griff dann schließlich auf Jaroslav Tichý alias František Rypáček zurück, der die originäre Prosa der Preissová in Opernreime verwandelte – ein verhängnisvoller Fehler. Das Ergebnis war keine zeitgenössische Oper, sondern ein Singspiel mit Dialogen und volkstümlicher Attitüde: nach der pathetisch schäumenden Šárka, Janáčeks noch nicht aufgeführtem Bühnenerstling, ein Umschwung ins andere Extrem. Gabriela Preissová bemühte sich sogar, dem Počátek románu Janáčeks zu einer Prager Uraufführung zu verhelfen. Dass ihre Korrespondenz und Gespräche mit dem ehrgeizigen Musiker aus Brünn Auftakt zu einer größeren Geschichte waren, nämlich der von einem Schlüsselwerk der Oper des CHR ISTOPH SCH WA N DT
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kommenden 20. Jahrhunderts, mag sie kaum geahnt haben. Počátek románu wurde, nachdem Janáček die Partitur Ende des Jahres fertiggestellt und vorgelegt hatte, in Prag abgelehnt, aber auch in Brünn zeigte der Chefdirigent des tschechischen Theaters, František Jílek, kein Interesse, die Volkstanzoper des örtlichen Orgelschuldirektors herauszubringen. Dann ging Jílek aber nach Sarajewo, und das Brünner tschechische (immer noch Interims-)Theater nahm den Anfang eines Romans zur Uraufführung im Februar 1894 an. Janáček dirigierte selbst, ohne je zuvor am Pult des Opernkapellmeisters gestanden zu sein. Die immerhin vier Aufführungen dürften für den Komponisten eine unangenehme Erfahrung gewesen sein, erlebte er doch als Dirigent physisch mit, wie das Werk auf der Bühne, anstatt lebendig zu werden, kaum mehr als stockend voranging, vor allem wegen der altbackenen Opernvers-Rhetorik des Librettos und der Eins-zu-einsAdaption von Volksmusik. Die Partitur von Počátek románu landete dann auch nicht bei den anderen Werken, die er sich vielleicht noch einmal vornehmen wollte, in der »slowakischen Truhe«, wie auch eine im Zimmer der Jenůfa-Küsterin stand, sondern im Feuer. (Da Janáček das Stimmenmaterial nicht mitverbrannte, konnte die Oper aber postum rekonstruiert werden.) Seine inneren konzentrischen Kreise um Její pastorkyňa waren unterdessen allerdings so eng geworden, dass es nun geschehen musste. Im Frühjahr 1894 nahm er Preissovás Theatertext in die Hand und wagte den Anfang einer Oper, wie es sie noch nicht gab. Er suchte keinen Librettisten, sondern komponierte das, was die Preissová geschrieben hatte. Worte, wie sie wirkliche Menschen im richtigen Leben sprechen. »Už se večer chýlí a Števo se ještě nevrací!«, sagt Jenůfa, nachdem sich der Vorhang gehoben hat: »Es wird schon Abend, und Števa ist noch nicht zurück!« Janáček ließ lediglich das Wort »ještě« (noch) weg, um den melodischen Fluss und die wesentliche Wortfolge einander anzunähern, und setzte ansonsten Jenůfas erste Phrase genauso in Musik, wie er sie vorfand. Er wusste, dass er den Gesamttext kürzend verdichten musste, wenn er so verfuhr. Und ihm war klar, dass er Wiederholungen brauchte, damit der Text verstanden würde, wie man auch im Alltag Sätze oder Satzteile zwei- oder dreimal sagt, wenn sie wichtig sind. Also wiederholt Jenůfa: »a Števo se nevrací!« Diese häufigen Repetitionen irritierten zwar viele Zeitgenossen, wurden aber bald als wirkungsvolle Stilmittel identifiziert, die natürlich mit der Melodiebildung korrespondierten. Als er, immer noch ein Komponist von bloß regionalem Renommée, dann im Juli 1894 vierzig Jahre alt wurde und noch mitten in der Arbeit am ersten Akt der neuen Oper war, ahnte Janáček nicht, dass er 30 Jahre später vor allem durch dieses Werk als einer der Großen der Neuen Musik gelten sollte, zudem der bedeutendste lebende Komponist eines tschechisch-slowakischen Nationalstaats, ganz besonders wegen des Umgangs mit seiner Muttersprache. Aber bis der dritte Akt fertiggestellt war, dauerte es fast neun Jahre. 43
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Währenddessen machte auch der fünf Jahre jüngere Prager Komponist Josef Bohuslav Foerster mit einem mährisch-slowakischen Preissová-Stück seine Erfahrung. Es handelt vom Verhältnis einer verheirateten Protestantin zu einem verheirateten Katholiken; die Frau stürzt sich am Ende in die Donau. Foersters Oper Eva bekam 1899 am Prager Nationaltheater einigen Achtungserfolg und wurde auch dann und wann wieder einmal gespielt. Aber Foerster hatte den Fehler gemacht, aus der Preissová-Prosa ein konventionell gereimtes Libretto machen zu lassen. Eva verschwand dann im Schatten von Jenůfa, und Gabriela Preissová galt schon Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem als Dichterin von Janáčeks Erfolgsoper. Sie schrieb zwar 1930 noch ein »Buch zur Oper«, nämlich einen gleichnamigen Roman, der aber keine großen Kreise zog. Sechzig Jahre später erst publizierte die vielseitige tschechische Opernsängerin Soňa Červená davon eine deutsche Übersetzung. Das Theaterstück der Preissová wurde nie als Ganzes auf Deutsch gedruckt. Manchmal spielt man es aber in Tschechien, weil die Oper so bekannt ist, und Preissová nahm sogar in spätere Editionen ihrer Její pastorkyňa, wie man auch die Oper dortzulande nach wie vor nennt, den schmissigen Chor »Daleko široko do těch Nových Zámků« im ersten Akt auf, mit dem Janáček ihre ursprünglichen Verse ersetzt hatte. Das war ein originaler Volksliedtext, der hier aber mit der Melodie eines anderen Volkslieds daherkommt. Der doppelte Daktylus des Textes passte eben besser zu dem mährisch-slowakischen »Danaj«-Rhythmus. Was da den Anschein von Folklore hat, ist also ein dramaturgisch-vitales Konstrukt Janáčeks, der übrigens auch nur hier einen real existierenden Ort im Libretto ansprechen lässt: die Stadt Nové Zámky (auch Neuhäusel oder Érsekújvár) im von vielen Ungarn bewohnten Teil der Slowakischen Republik. Sonst wird nur die Stadt Wien erwähnt, wohin Jenůfa im zweiten Akt angeblich zum Arbeiten gegangen ist... Später riet Leoš Janáček jedem Opernkomponisten, »den Tonfall der Umgangssprache sorgfältig [zu] studieren [...] Das melodische Gefälle der Lieder ist nur ein Spiegel der Seele, die vor allem durch die Glut der Musik ins Schwingen gerät. Das melodische Gefälle der Umgangssprache ist dagegen der Abglanz des vollen Lebens.«
A M A N FA NG WA R DIE SPR ACHE
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» In der Zeit, als die Jenůfa komponiert wurde, berauschte ich mich an den Melodien der gesprochenen Worte – nicht nach dem Beispiel der werten Vorgänger. Verstohlen horchte ich auf die Sprache der Vorübergehenden, las ihren Gesichtsausdruck mit den Augen ab, gierig suchte ich jede Schwingung der Stimme zu erhaschen, beobachtete die Umgebung der Sprechenden, die Gesellschaft, die Tageszeit, Licht und Dämmerung, Kälte und Wärme. « Leoš Janáček 45
DIE ENKOLUMN TST EH U NG EN T DER IT EL J EN Ů FA
Oliver Láng
SEINER WAHRHEIT VER PFLICHTET
Prägende Aspekte aus Leoš Janáčeks Biografie
Um Wahrheit sollte es gehen, um die reine und ungeschminkte Wahrheit, unverstellt durch Traditionen und Schemata, durch Konventionen und Althergekommenes. Um die Wahrheit in seinem Werk, besonders im Musiktheaterwerk, aber auch in seinem Leben. Und es sollte diese Wahrheit werden, die dem Komponisten das Leben immer wieder auch erschweren sollte... Die Biografie Leoš Janáčeks lässt sich kaum in einem Schwung erzählen, sehr kleinteilig scheint vieles, aufgesplitterte Lebensstationen, zahllose Details gilt es zu berücksichtigen. Und auch die Konzeption und Ausfertigung zentraler Werke – wie besonders der Jenůfa – erfolgten kaum geradlinig, sondern waren Annäherungen, ja, tatsächliche Erarbeitungen, die einen deutlichen Entwicklungsprozess des Komponisten dokumentieren und aufzeigen, wie Janáček sich stückweise manches Werk erringen musste. War ihm auch die Musik, zumindest zum Teil, in die Wiege gelegt, so war er doch kein Wunderkind, das mit großem künstlerischen Gepränge blitzhaft heranreifte, in Erstaunen versetzte und förmlich zwingend die Laufbahn des Tonsetzers einschlagen musste. Das musikalische Wurzelwerk, wenn auch nicht sonderlich tief reichend, war zumindest vorhanden: Der Großvater Jiří war der erste der Familie, der vom Handwerkerberuf in den Lehrerstand, der jenen des öffentlichen Musikers einschloss, wechselte; dessen Sohn, Leoš Janáčeks Vater, folgte ihm nach, schlug denselben Berufsweg ein und kam, als eine Lehrerstelle frei wurde, in das Dörfchen Hukvaldy in Mähren. Das karge Leben eines solchen Dorflehrers, die Geldnot wie auch die Enge der Dorfwelt prägten den jungen Leoš, der in großen Abschnitten seines Lebens ebenso an Geldmangel litt. Und blättert man in seinen Briefen, so ist erstaunlich häufig von Abrechnungen die Rede, von Preisen und Ausgaben. Und doch: Von Geschwistern umgeben verlebte Janáček in Hukvaldy eine ungemein glückliche Zeit – war das Klassenzimmer auch unwirtlich, waren die Verhältnisse auch ärmlich. Das kleine Dorf sollte ihm bis zum Lebensende Heimat bleiben, auch sein Stolz sein, immer wieder kehrte er zurück. Voller Liebe, ja, verklärt, schwärmte Janáček, deutlich später, über die Gegend: »Hier habe ich auch Ruhe gefunden. Ich arbeite weilchenweise und abends setze ich mich unter meine Linde und blicke in die Wälder, bis sie die Nacht verhüllt.« Und es war die heimatliche Sprache, der Klang des Mährischen, der sich ja auch in seiner Musik so stark niederschlagen würde; der Ton des gesprochenen Wortes, aber auch die Volksmusik: »Das Volkslied – ich lebe in ihm von klein auf. Im Volkslied ist der ganze Mensch, Leib, Seele, Umgebung, alles, alles. Wer aus dem Volkslied hervorwächst, wächst zu einem ganzen Menschen heran«, führte er bei einer Reise nach London aus. Geprägt wurde Leoš Janáček auch durch die Bemühungen seines Vaters in Bezug auf die allgemeine Volksbildung: In einer Gegend, die wohl auch von Analphabetismus gezeichnet war, schuf dieser einen Lese- und Gesangsverein, dessen Aktivitäten zahlreich waren. Eine deutliche Parallele zu Leoš Janáček späteren Bemühungen. 47
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← KS Sena Jurinac als Jenůfa, Wiener Staatsoper, 1964
Gleichmäßig führte das Leben Leoš Janáček immer näher an die Musik heran: Er war elf Jahre alt, als er ins Internat des Augustinerstifts in Alt-Brünn eintrat, ein geschichtsträchtiger Ort übrigens, der damals große Geister beherbergte, unter ihnen Pater Johann Gregor Mendel, der im Garten des Stifts seine berühmten Experimente zur Vererbungslehre betrieb. Als »Blaukehlchen«, so nannte man die Sängerknaben des Stiftes, wirkte Janáček, und obgleich er musikalisch und menschlich von einem alten Freund der Familie, dem Pater Pavel Kovařovic, geleitet wurde, so war für ihn das Internat doch kein Ort des Glücks: Aus der engen Heimat war er in eine größere Welt gekommen, in die Fremde: »Fremde Menschen, unherzlich; fremd die Schule, hart das Lager, härter das Brot«, erinnerte er sich; und durch den Tod des Vaters verlor er auch noch seine wesentlichste Bezugsperson. Unermüdlichkeit zeichnet seine harten Ausbildungsjahre aus, in der Brünner Lehrerbildungsanstalt und auch an der Prager Orgelschule: großer Fleiß und größtes Engagement. Und Armut. »Janáček wohnte in einem bescheidenen Mietzimmer in der Stephansgasse Nr. 50, nahe dem Rossmarkt, dem heutigen Wenzelsplatz. Im Winter war es unbeheizbar und nur erträglich, weil sich sein Bewohner die Wärme durch einen Türspalt aus dem Nachbarzimmer stahl. Er lebte in bitterster Armut, ein paar Gulden aus Klavierstunden halfen weiter. ›Mit Kreide auf den Tisch geschmierte Klaviertasten. Auf denen lernten die Finger nach Bachs Präludien und Fugen laufen‹«, berichtet der Janáček-Biograf Kurt Honolka über diese Prager Zeit. Unermüdlich auch seine weiteren zahlreichen Aktivitäten, die ihm allerdings nicht immer nur Glück brachten. Als Kritiker für die Musikzeitschrift Cecilia etwa kritisierte er in einer Rezension die Kapellmeisterkünste des Direktors der Orgelschule František Zdeněk Skuherský scharf, was Janáček eine vorläufige Entlassung aus dem Institut einbrachte. Es war die Wahrheit, die ihm zum kurzfristigen Verhängnis werden sollte. Gekränkt notierte er: »Dieser Tag ist für mich denkwürdig, denn mir wurde wegen der Wahrheit Gewalt angetan.« Ein ähnlicher Fall sorgte später für weitaus größere Hürden, als nämlich Janáček, diesmal in der von ihm gegründeten Musikzeitschrift Hudební listy, dem Komponisten Karel Kovařovic kritisch nahetrat – die Folgen waren eine nachhaltige Ablehnung seiner Oper Jenůfa durch den gekränkten Kovařovic, der zwischenzeitlich Direktor des Prager Nationaltheaters geworden war. Die ebengleiche Wahrheit allerdings sollte es sein, die seinem musikdramatischen Werk zum besonderen Ausdruck verhelfen sollte: ein Realismus, der die Figuren wahrhaftig und unmittelbar, die Handlungen lebensnah werden ließ und Janáček in den »Verdacht« der Verismo-Nähe brachte. »Die Theaterrolle soll mit Aufrichtigkeit gespielt sein, das heißt, man muss sie auch auf den Brettern seelisch durchleben, nur dann ist das Spiel wahrhaftig. Wenn die Rolle lang ist, die Szenen aufregend, dann ist es genauso aufregend wie das Leben«, schrieb er an seine Tochter Olga. Doch auch Unruhe kennzeichnete seine Lebensführung, Janáček begab sich im Rahmen seiner Ausbildung
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etwa nach Leipzig, um seine Kompositionstechnik zu verbessern, doch das dortige Königliche Conservatorium der Musik konnte ihn nicht lange binden. Er reiste unmittelbar darauf nach Wien, wo er am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde weiterstudierte. (Nur als Detail sei erwähnt, dass er die Wiener Hofoper damals nur zweimal besuchte: Einmal erlebte er den Freischütz von Carl Maria von Weber mit, ein andermal den Wasserträger von Luigi Cherubini.) Doch weder der kompositorische Erfolg war für ihn zufriedenstellend, noch fühlte er sich gut aufgehoben. Vor allem auch die Ferne seiner geliebten Zdenka Schulz erwies sich damals als quälend. Bemerkenswert war die Beziehung zu dieser, deutlich jüngeren, Partnerin allemal: Nicht nur Jahre trennten die beiden, sondern auch gesellschaftliche Welten. Die Tochter des Direktors der Brünner Lehrerbildungsanstalt entstammte einem kleinadelig-bürgerlichen Haushalt, der durchaus im Kontrast zu der Geisteswelt Janáčeks stand. Schon allein aufgrund der politischen Einstellung – sprach man doch in der Familie Schulz deutsch miteinander und tschechisch nur mit den Dienstboten. Im Hinblick auf Janáčeks Leben ein fundamentaler Affront gegen seine heimatlichen Werte! Als Klavierschülerin hatte er Zdenka kennengelernt, im Alter von 27 Jahren heiratete er die kaum 16-Jährige. Doch die rasende Verliebtheit wandelte sich bald zu einer brüchigen Ehe, Ausbrüche »bald von Liebe, bald von Zorn und Härte, bis zum Hass«, so das langjährige Dienstmädchen der Familie, kennzeichneten diese Beziehung. Überschattet wurde die Verbindung auch durch den Tod der beiden Kinder, Vladimír und Olga, die letztlich den Zusammenhalt der Eltern noch irgendwie bilden konnten. Janáček ging bald wieder seiner eigenen Wege, auch was das Amouröse und Erotische anbelangte. Sei es die 29-jährige Kamila Urválková, die er als »eine der allerschönsten Frauen« bezeichnete und die den Ausschlag zu seiner Oper Osud gab, sei es die Sängerin Gabriela Horvátová oder Kamila Stösslová – auch hier galt für Janáček die Wahrheit des unmittelbaren Gefühls, des unmittelbaren Verlangens, das sich über die gesellschaftlichen Konventionen und bestehenden Bindungen hinwegsetzte. Ebenso ins Auge fällt Janáčeks besondere Verehrung und Freundschaft zu seinem Komponistenkollegen Antonín Dvořák, die im besonderen Kontrast zu der deutlich kühleren Beziehung zu Bedřich Smetana stand: »Was ihn an dem um dreizehn Jahre älteren Komponisten [Dvořák] fesselte, war, abgesehen von der typisch slawischen Färbung seiner Musik, das NaturhaftSinnliche und Volkshafte seines Genius, das Spontane und Unliterarische seiner Schöpfungen, Qualitäten, die er seinem eigenen Wesen als kongenial empfand, die sich ihm aber bei Dvořák menschlich und künstlerisch gereift darboten... ›Wissen Sie, wie das ist, wenn einem jemand das Wort vom Mund wegnimmt? So hat mir Dvořák meine Melodien vom Herzen weggenommen‹«, skizzierte der Janáček-Forscher Hans Hollander. Wohingegen »der nach dem Musikdrama, der Opéra comique und der symphonischen Dichtung orientierte Eklektiker Smetana, der Exponent der Neudeutschen Schule, für OLI V ER LÁ NG
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Janáček der Inbegriff der intellektuell unterbauten Urbanität, des städtischen Romantizismus und Modernismus Prags und der westlichen Kultur Böhmens überhaupt war«. Es gehört zum besonderen Faszinosum Janáčeks, welches gewaltige Arbeitsmaß er mitunter zu leisten imstande war. Gerade wenn es um die Förderung der (mährischen) Musik ging, um eine Unterstützung einer nachkommenden Generation, um das Etablieren und Erweitern von Institutionen – so zeichnete er für die Gründung der Brünner Orgelschule verantwortlich oder reformierte den Chor der Brünner Musikinstitution Beseda, deren Orchester er auch erweiterte –, war er ganz in seinem Element. Ebenso schuf er eine eigene Harmonielehre, der zwar ein durchschlagender Erfolg nicht gegeben war, die ihm aber als theoretische Untermauerung diente. All dies freilich eingebettet in eine politisch-nationalistische Lebenssicht, die auch in der Zeit begründet lag: Die Freiheitsbewegung seines Landes kulminierte nach dem Ersten Weltkrieg in einer Unabhängigkeit von der Habsburgermonarchie, zahlreich sind Janáčeks Aussagen zu diesem Thema. Sein Blick reichte jedoch über die Grenzen Mährens hinaus, reichte nach Polen (»Ein slawischer Staat voller Kraft!«) und besonders auch nach Russland, in dem er einen Ort des Glücks erblickte; beredtes Zeugnis gibt auch die Begeisterung für Tschaikowskis Oper Pique Dame, deren Erstaufführung in Brünn er in einer Rezension kommentierte: »Gereinigt ist wieder für einige Zeit die Brünner musikalische Atmosphäre; lange, lange schon war es hier zum Ersticken. Wieder erstrahlte eine reine, künstlerische Arbeit; ein Genius der Ursprünglichkeit, Originalität und Wahrhaftigkeit ist uns wieder erstanden. Halten wir uns in der Kunst nur an ihn, folgen wir ihm nach!« Auch die Suche nach einer »gesamtslawischen« Musik beziehungsweise Kultur war inbegriffen: »Ich bin überzeugt, dass sich mit der Zeit eine nur slawischklassische Musik an sich, und nicht eine tschechische oder russische usw., entwickeln wird. [...] Wenn der römische Choral durch Jahrhunderte einen so entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der westlichen Musik hatte, bin ich überzeugt, dass das slawische Lied in ähnlicher Weise die Schöpfungen der Musik in der Zukunft beherrschen wird«, meinte der Komponist. Damit verbunden war bei ihm letztendlich auch die Ablehnung alles Deutschen, so – es berichtet die Legende – war der Komponist etwa nicht bereit, die deutsche Straßenbahn in Brünn zu benützen. Der stetige Aufstieg des Komponisten zum – allerdings recht spät – geachteten Meister, dem es gelungen war, zu einer gänzlich eigenen Musiksprache zu finden, die gleichermaßen heimatverbunden und international ist, fand schließlich seinen musikdramatischen Angelpunkt in seiner Jenůfa, jenem Werk, das mährische Sprachmelodie, Bühnenrealismus und auch einen Stoff zutiefst allgemeinmenschlicher Aussage vereint.
PR ÄGEN DE ASPEKT E AUS LEOŠ JA NÁČEKS BIOGR A FIE
KOLUMN EN T IT EL
Andreas Láng
DER OPERNKOMPONIST LEOŠ JANÁČEK
Als Leoš Janáček seine allererste Oper zu komponieren begann, zählte er bereits 33 Jahre, zum Zeitpunkt der ersten Uraufführung einer Oper aus Janáčeks Feder befand sich der Komponist mit seinen 40 Jahren bereits in der zweiten Lebenshälfte, und der wirkliche Durchbruch auf dem Gebiet des Musik theaters und die damit verbundene Anerkennung gelang ihm frühestens erst weitere zehn Jahre später – mit der Weltpremiere von Jenůfa. Nichtsdestotrotz ist Leoš Janáček heute – wenn man von der populären Sinfonietta und der Glagolitischen Messe absieht – dem größten Teil des internationalen Publikums vor allem als Opernkomponist ein Begriff. Seine zentralen Musiktheaterwerke gehören weltweit seit mittlerweile Jahrzehnten zum Standardrepertoire der großen und mittleren Bühnen – allein an der Wiener Staatsoper nahm A N DR EAS LÁ NG
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die Zahl der aufgeführten Werke Janáčeks kontinuierlich zu. Jenůfa gehört überhaupt zu den meistaufgeführten Opern des 20. Jahrhunderts. Es hatte allerdings gedauert, ehe sich diese Stücke im allgemeinen Bewusstsein als Musiktheatermarksteine etablieren konnten: Wenn man von Jenůfa absieht, begann für die meisten Janáček-Opern erst 20, 30 Jahre nach dem Tod des Komponisten die dauerhafte Etablierung im internationalen Bühnengeschehen. Über das Wieso dieses verspäteten Publikumszuspruches wurde und wird oft diskutiert, eine eindeutige plausible Erklärung fand man bislang nicht. Wie dem auch sei: Einige seiner Opern sind, wie gesagt, aus dem Repertoire dauerhaft nicht mehr wegzudenken. Vom inhaltlichen wie vom Aufbau her unterscheiden sich die einzelnen Opern voneinander zum Teil gravierend. Wählte der glühende Nationalist Janáček für seine erste Oper Šárka noch eine Sage aus der tschechischen Mythologie, entschied er sich bei den beiden folgenden Stücken für Geschichten, die im damaligen zeitgenössischen ländlichen Bereich seiner ursprünglich nächsten Umgebung beheimatet waren (Anfang eines Romans, Jenůfa). In der im Künstlermilieu verorteten Kurzoper Osud hingegen verließ Janáček bewusst die lineare Erzählstruktur, um mehrere Handlungsebenen – Realität und Kunstwerk – miteinander zu vermischen, wodurch er letztendlich einer eindeutigen szenischen Deutung von Vornherein eine Absage erteilte. Die in filmschnittartiger Szenenmontage aufgebauten Ausflüge des Herrn Brouček wiederum thematisieren auf amüsante Weise die Welt eines gefräßigen Spießers. Ganz anders Kátja Kabanová. In diesem Dreiakter gelang Janáček die ergreifende Schilderung des Untergangs einer jungen Frau, die zum einen zwischen ihrer außerehelichen Liebe und der daraus resultierenden Angst vor der Höllenstrafe aufgerieben wird und zum anderen an der lieblosen Heuchelei der herrschenden gesellschaftlichen Ordnung zerbricht. Begab sich Janáček im oft symbolhaft gedeuteten Schlauen Füchslein mithilfe des Anthropomorphismus in die Tierwelt, untersuchte er in der unheimlich-mystischen Sache Makropulos die Sinnhaftigkeit der menschlichen Endlichkeit. In seiner letzten Oper Aus einem Totenhaus berichtete er in Episoden von der Gnadenlosigkeit gesellschaftlicher Mechanismen, dem Eingesperrtsein, von menschlichen Schicksalen in einem Straflager. Eines ist allen Werken gemeinsam: sie spielen entweder – wie die meisten der Opern – im böhmisch-mährischen oder zumindest im slawischen Raum, selbst das Schlaue Füchslein gehört aufgrund der Namensgebungen eindeutig dorthin. Nichtsdestotrotz entsteht auch beim nicht-tschechischen Publikum kein Gefühl der Fremdheit, zumal sich der Großteil der Werke problemlos inhaltlich internationalisieren lässt. So unterschiedlich die Inhalte, so unterschiedlich der dramaturgische Aufbau der einzelnen Libretti ist, im Zentrum stand für Leoš Janáček immer das Seelenleben seiner Handelnden, also die musikalische Ausdeutung der jeweiligen Gefühlswelt sowie der situationsbedingten Atmosphäre. Nicht 55
DER OPER N K OMPON IST LEOŠ JA NÁČEK
umsonst war der Komponist aus diesem Grund bei nahezu all seinen Bühnenwerken am Libretto mitbeteiligt, wenn nicht sogar der eigentliche Verfasser. Wo immer er es daher für seine Absichten als notwendig erachtete, griff Janáček konzeptuell in die literarischen Vorlagen ein, um entsprechend umzugestalten. Stand beispielsweise bei Alexander Ostrowskis Drama Das Gewitter das Sittenbild einer kleinbürgerlichen, heuchlerischen Gesellschaft an sich im Mittelpunkt, fokussierte Janáček in der auf diesem Schauspiel basierenden Oper Kátja Kabanová auf das private Schicksal der Titelheldin. Dieses seelische Erfassen gelang ihm in seinen Werken durch den in der Jenůfa gefundenen und von da an konsequent weitergeführten und entwickelten Personalstil: einer aus der tschechischen Sprachmelodie geformten, nie die Tonalität sprengenden expressiven und bewusst modulationsarmen Klangsprache. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass Janáček zwar atmosphärisch immer wieder böhmisch-mährische anmutende Melodik in seine Opern einbaute – er betrieb ja auch einige Jahre lang wissenschaftliche Volksliedsammlungen in seiner Heimat –, aber nur in ganz seltenen Fällen tatsächlich bereits diesbezüglich Bestehendes zitierte. Selbst die Hussiten gesänge in den Ausflügen des Herrn Brouček sind bis auf eine Ausnahme nur nachempfunden und nicht original. Durch die Authentizität seiner eigenen, energetischen Musiksprache, durch die Authentizität seines eigenständigen Weges in der Wahl der Opernsujets, die zu dramaturgisch außergewöhnlichen exemplarischen Bühnenwerken führten, durch sein Interesse am Erforschen und Darstellen komplexer Persönlichkeiten und durch seinen mit einem allumfassenden Naturbewusstsein gepaarten unbedingten Humanismus zählt Leoš Janáček nicht umsonst zu den großen Erneuerern des Musiktheaters.
→ Die einzig erhaltene musikalische Skizze zu Jenůfa
DER OPER N KOMPON IST LEOŠ JA NÁČEK
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BRIEFE RUND UM » JENŮFA«
Leoš Janáček an Kamila Urválek 9. OKTOBER 1903
Gnädige Frau! Der gestrige Tag war wenigstens einer der freudigen. Ich hatte ihrer wenige in meinem Leben. Vielleicht hat sich die »Allerhöchste Gerechtigkeit« mir doch mit lächelndem Antlitz zugewandt? Die Direktion des Nationaltheaters in Brünn hat um die Partituren meiner Oper Jenůfa zu mir geschickt. Als sie sie davontrugen, hatte der Diener auf den Schultern daran zu tragen, mir war es, als ob sie meine Seele nach so vielen traurigen Jahren dabei davontrügen... Gleichzeitig suche ich um Pensionierung als k. k. Musiklehrer an, um mich ganz der Komposition und der literarischen Arbeit widmen zu können. Dies sind die am Horizont aufscheinenden Zeiten, auf die ich mein ganzes Leben gewartet habe. Ob ich glücklichere erleben werde? Wird wohl mein Geist noch ausreichen, um noch bessere Arbeiten hervorbringen zu können? Ich glaube ja, – jedoch, wer weiß, wie es in meinem Gehirn aussieht. Es kribbelt mir im ganzen Körper so fieberhaft, dass es sich nur durch ein Rätsel oder Wunder erklären lässt. Gott und dem Schicksal befohlen! Das Schicksal machen wir uns selbst... BR IEFE
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Leoš Janáček an Kamila Urválek JÄNNER 1904
Gnädige Frau! Heute komme ich ganz verärgert von der Vollprobe des 1. Aktes. Es gab einen so unliebsamen Streit zwischen dem Direktor und dem Kapellmeister, dass mir davon ganz bange wurde... Der »Trompetist«, bei der Probe gerügt, hat sich dies so zu Herzen genommen, dass er sich in einem bedenklichen Grade betrank. Er kannte schon keine »Autorität« mehr. Jeden beschimpfte er wie ein Rohrspatz. Dies war ein ins Rollen gebrachtes Steinchen, welches eine Lawine mit sich riss – was meine Premiere übel zugerichtet hätte. Nur schwer gelang es, alles zu schlichten und auf Gleich zu bringen, um die Probe beenden zu können. Sie Ärmste, die sich nach der Bühne gesehnt hat! Seien Sie glücklich, dass Sie sich in dem gegenwärtigen Stande befinden. Ich bin todmüde. Abgemagert, gelb wie eine Karfreitagskerze. Die Augen sind mir verpickt – und dennoch bin ich in diesem Leben glücklicher! Ich lege Ihnen wieder etwas Gedrucktes bei und lade Sie zu dieser meiner Feier. Soviele Dinge sind in der letzten Zeit auf mich eingedrungen, dass ich gar nicht imstande bin, über sie zu erwägen. Ich erhielt den Antrag der Direktorstelle am Konservatorium in Warschau – habe sie ersucht zuzuwarten, ich könne jetzt nicht denken. In Prag war ich für einen Tag, wie Sie aus der Ansichtskarte ersehen haben. Gott gebe es, dass am Donnerstag alles gut ausfällt!
Leoš Janáček an seine Ehefrau Zdenka Janáček 13. MAI 1916
Heute dreht sich mir wieder der Kopf. Die Orchesterprobe [zur Prager Erstaufführung] war wunderbar. ›Draußen steht der Tod, grinst auf mich herein‹ – weißt Du, diese Stelle, wo es einem kalt über den Rücken läuft – sie haben so gespielt, dass es einen zittern macht. So wird alles stilmäßig rein und vollkommen.
Leoš Janáček an den Direktor der Universal Edition 28. JÄNNER 1917
Mitte Februar erscheint im Druck die II. böhm. Ausgabe der Její pastorkyňa. Es könnte somit der Druck des deutschen Klavierauszuges um diese Zeit auch beginnen. Dienstag sehen wir mit Dr. Brod seine Übersetzung des I. Aktes durch; gleich darnach überschickt er Ihnen seine Arbeit.
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BR IEFE
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DIE ENTSTEHUNG DER »JENŮFA« »Es war im Zimmer, in welchem Olga gestorben ist. Mein Mann saß am Schreibtisch. Er griff sich an den Kopf und brach in ein fürchterliches Weinen aus. In einem heftigen Anfall von Depression beschuldigte er sich, nichts zu können«, so erinnerte sich Zdenka, die unglückliche Ehefrau Janáčeks, an den Zusammenbruch ihres Gatten nach dem Tod der geliebten Tochter. Im Zuge seiner Arbeit an Jenůfa war Leos Janáček gleich von doppeltem Leid gepeinigt: Der Tod seiner Tochter Olga überschattete den Schaffensprozess, später, nach der Fertigstellung der Oper, sollte die Hoffnung auf eine Aufführung in Prag bitter enttäuscht werden. Im Privaten wie im Künstlerischen nachhaltig verletzt, war die Zeit für den damals etwa fünfzigjährigen Komponisten eine besonders dunkle: »Die Jenůfa möchte ich nur mit dem Trauerflor der langen Krankheit, der Schmerzen und des Jammers meiner Tochter Olga und meines Sohnes Vladimír umwinden.« So ist das Werk auch der Tochter, die, bereits todeskrank, ihren Vater beim Komponieren erlebte, gewidmet; die triumphale Uraufführung in Brünn zu hören, war ihr allerdings nicht mehr gegönnt. Jenůfa – eigentlich nach dem ursprünglichen Titel Její pastorkyňa (Ihre Ziehtochter) genannt – basiert auf einem Schauspiel Gabriela Preissovás, das im Jahr 1890 in Prag zur Uraufführung kam. Der genaue Zeitpunkt, an dem der Komponist das Stück kennenlernte, ist heute nicht mehr zu eruieren, Eintragungen in Janáčeks Exemplar des Schauspiels lassen jedenfalls einen Arbeitsbeginn im Jahr 1894 vermuten. Jahrzehnte später erinnerte sich Preissová, die zunächst von der Idee einer musikalischen Umsetzung ihres OLI V ER LÁ NG
→ Abendzettel der Uraufführung von Jenůfa ( Její pastorkyňa), 1904
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Schauspiels nicht überzeugt war: »Leoš Janáček sagte, er hätte sich in die Jenůfa verliebt, und bereits jetzt wären ganze Textpassagen durch seinen Kopf geschossen, die er sofort in Musik setzte.« Später, so Preissová, studierte Janáček »die Rufe der jungen Männer bei ihren Volkstänzen, er ging hinaus zur Mühle, wo er den Geräuschen des Drehens und des Rumpelns des Mühlrades zuhörte und es dann zu Papier brachte.« Ungewöhnlich war, dass er den Text als solchen nahm, ihn zwar bearbeitete (vor allem kürzte), ihn allerdings nicht in Verse fasste beziehungsweise fassen ließ. Als musikalischen Vorabend lässt sich das Orchesterwerk Žárlivost (Eifersucht) sehen, das eigentlich als Vorspiel zur Oper geplant war, 1894 vollendet, jedoch zuletzt nicht zusammen mit dem musikdramatischen Werk kombiniert wurde. Wohl auch, wie Christoph Schwandt in seiner Janáček-Monografie feststellt, weil das Thema Eifersucht dann doch nicht das allbestimmende Thema der Oper werden sollte. Schlecht dokumentiert ist die sehr lange Entstehungsgeschichte der Oper, zumal Janáček über einzelne Entwicklungsschritte und Wegmarken kaum Buch führte. Eine spätere Anfrage über Beginn und Ablauf des Kompositionsprozesses beantwortete er in geradezu mirakulösen Annäherungen, etwa: »Mein Kopist Josef Štross hat nur eingetragen, wann er mit dem I. Akt des Klavierauszugs fertig war; ich habe es aber ausradiert. Warum, weiß ich nicht. [...] Mein Dienstmädchen entsinnt sich, dass ich in ihrem zweiten Dienstjahr bei uns die Jenůfa zu komponieren begonnen habe; also 1896.« Diese deutlich späteren, nicht ganz korrekten Anmerkungen sind allerdings mit entsprechender Vorsicht zu genießen. Eine große Arbeitsunterbrechung trat ein, die Fortführung der Komposition erfolgte erst im Jahr 1901. Dabei muss der Aspekt beachtet werden, dass Janáček in diesen Jahren ein mehr als vielbeschäftigter Mann war. »Für das Komponieren musste ich mir die Zeit stehlen, denn als Chorleiter und Organist, Musikprofessor an der Lehrerbildungsanstalt, Direktor der Orgelschule, Dirigent der Konzerte des philharmonischen Vereins Beseda [...] Das hat alles das Komponieren erschwert, daher wurde nur wenig erzielt.« Und das Dienstmädchen erinnerte sich: »Manchmal schien es mir, als würde der Meister mit Jenůfa ringen, als würde er ins Studienzimmer gehen, nicht um zu komponieren, sondern um zu kämpfen. Er erhob sich vom Abendessen, stand da, dachte einen Moment nach und seufzte, mehr zu sich selbst: ›Gott, der Herr, und die Jungfrau Maria, helft mir!‹« Zügiger ging die Arbeit allerdings weiter, im Frühjahr 1903 war die Oper vollendet. Enttäuscht wurde, wie bereits angemerkt, die Hoffnung des Komponisten auf eine Uraufführung in Prag – bestimmte doch Karel Kovařovic, dessen Operneinakter Ženichové Janáček einst in der Musikzeitschrift Hudební listy verrissen hatte, den Kurs des Prager Nationaltheaters. Also blieb, als zweite Wahl, das kleine Brünner Theater, an dem das Werk am 21. Jänner 1904 uraufgeführt wurde. OLI V ER LÁ NG
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Mehrere Revisionen folgten, etwa zur Drucklegung des Klavierauszugs im Jahr 1908. Es dauerte bis 1916 und bedurfte einiger Intervention, bis Jenůfa endlich den Weg an das Prager Nationaltheater fand, allerdings nicht in originaler Form, sondern in einer Bearbeitung von Karel Kovařovic, der Janáček zustimmen musste. In dieser musikalischen Fassung kam die Oper 1918 auch an der Wiener Hofoper zur Erstaufführung. Und es sollte ein Rekonstruktionskrimi werden, der bis weit in das 20. Jahrhundert dauerte, bis das Werk – dank des Engagements des Dirigenten Charles Mackerras und des Wissenschaftlers John Tyrell – in seiner Brünner Form wiederentdeckt werden sollte.
Das Tschechische Nationaltheater in Brünn, an dem Jenůfa uraufgeführt wurde.
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DIE EN TST EH U NG DER »J EN Ů FA«
ERINNERUNGEN AN DIE URAUFFÜHRUNG VON » JENŮFA « Die Premiere der Jenůfa (21. Jänner 1904) war ein ruhmvoller Erfolg Janáčeks und ein glanzvoller Sieg seines Werkes. Das Theater in der Eichhorngasse (na Veveří) war bis aufs letzte Plätzchen voll. Als sich die erhobene Hand des Kapellmeisters Hrazdira in Bewegung setzte, erklangen im Raume die damals so neuen Töne des Xylophons und der Streicher. Gleich darauf hob sich der Vorhang und auf der Bühne sang Jenůfa (Frl. Marie Kabeláčová) ihr Leid: »Ach es wird schon Abend und Števa ist nicht zurück.« Es war dies alles so neu und anders als in anderen Opern. Kein symphonisches Strömen im Orchester, nur eine farbige Untermalung und darüber auf der Szene der prachtvolle und von Herzen kommende Gesang von so wahrem Ausdruck. Dann kommt die Großmutter (Frau Věra Pivoňková), Laca (Staněk Doubravský) mit giftigen Bemerkungen, Jano (Frl. Křížková) jauchzt: »Hei, hei, hei, lesen kann ich«, der Altgesell (Karel Benýško) rühmt Jenůfas Schönheit: »Trägt sich wie ’ne gold’ne Glocke«, und meldet zuletzt, dass Števa nicht assentiert wurde, und schon läuft es den Hörern kalt über den Rücken von der Erregung auf der Bühne: Jenůfas Freude stößt mit Lacas Wut zusammen, dass Števa nicht assentiert wurde. Dazwischen fällt noch die Küsterin (Frau Hanusová) mit ihrer Frage ein und schon hört man von weitem die Rekruten mit ihrem »’s will jeder Hochzeiten, keiner in Krieg reiten«... Und als diese auf die Bühne kamen, diese Pracht der slowakischen Trachten, Gesang und das Fiedeln der Geigen, der Tanz der Burschen, unter denen der um einen Kopf größere Števa hervorragt (Bohdan Procházka, der nachmalige Theodor Schütz vom Nationaltheater in Prag), und all das lebhafte Treiben überzeugt einen jeden, dass auf die Bühne ein Stück mährischen Lebens gelangt ist, mit all seiner ER IN N ERU NGEN A N DIE U R AU FF Ü HRU NG VON »J EN Ů FA«
→ Leopolda Hanusová als Küsterin in der Uraufführung, Brünn, 1904
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Natürlichkeit und Wahrhaftigkeit. Gleich nach dem ersten Akt war der Applaus groß und Janáček, der sich während der Aufführung hinter den Kulissen aufhielt, musste sich verneigen. Er war blass und erregt. Die tief gefühlte Musik des zweiten Aktes mit ihren Stimmungslyrismen rief gleichfalls einen großen Eindruck im Publikum hervor. Die Küsterin der Frau Hanusová war vorzüglich. Der Erfolg war noch größer als beim ersten Akt. Der auf die Szene hervorgerufene Janáček war schon heiterer, lächelte, ein Beweis dessen, dass er seinen Erfolg fühlte. Die dramatische Krise des dritten Aktes, der Hochzeitstag, welcher durch die Aufdeckung des Kindesmordes ein Ende findet, (den Dorfrichter sang Alois Pivoňka, seine Frau Emma Kučerová, die Karolka Frau Růžena Kasperová), dann das charakteristisch slawische Geständnis der Küsterin, sowie der Schluss, an welchem Laca seine Liebe zu Jenůfa gesteht, vollendeten den Erfolg. Der Applaus wollte kein Ende nehmen. Janáček musste sich immer wieder verneigen. Ebenso aus ihrer Loge die Librettistin Frau Preissová. Die Studentenschaft jubelte und geleitete Janáček zum Hause des Kasinos, wo dann ein freundschaftlicher Abend stattfand. Jan Kunc Wir Studentlein besetzten die Galerie des Alten Theaters na Veveří (Eichhorngasse) und verfolgten gespannt den Verlauf der Aufführung. Die Begeisterung war groß. Janáček, stürmisch akklamiert, wurde mit Lorbeerkränzen beschenkt und nach der Vorstellung auf den Schultern der Solisten (es scheint mir sogar, der kostümierten Solisten) aus dem Theater in das Kasinohaus getragen. Die dramatische Wirkung des Werkes war unbestreitbar groß. Musikalisch wirkte das Werk durch das völlig Neue und spaltete uns jugendliche Hörer in leidenschaftliche Anhänger und Gegner dieses neuen Ausdrucks. Wir dürfen nicht vergessen, dass der damalige Maßstab für den künstlerischen Wert eines Werkes Wagner war und dass der, welcher von diesem Gesichtspunkt urteilte, einem so entgegengesetzten musikalischen Ausdruck nicht auf den Geschmack kommen konnte. Uns Janáček-Anhänger riss einfach der elementare, wahrhafte Ausdruck mit, dagegen brüsteten sich die Wagnerianer mit der Erhabenheit der Musik Wagners, führten als konkretes Beispiel den Hochzeitsmarsch aus Lohengrin an, mit dem sich, wie sie sagten, die Hochzeitsszene am Schluss der Oper Janáčeks nicht vergleichen ließe. Wir ergaben uns nicht und bewiesen den Wagnerianern, dass die Situation bei Janáček völlig anders geartet sei als bei Wagner und daher die einzig richtige sei. Václav Kaprál
ER IN N ERU NGEN A N DIE U R AU FF Ü HRU NG VON »J EN Ů FA«
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» Janáček schuf hier einen neuen Operntyp, den Typ der kollektivistischen Oper, über welcher ständig ein einziger Ton klingt, der Janáček und Dostojewski gemeinsame Ton – das Mitleid mit dem elenden, leidenden Menschen. «
Leoš Firkušný 67
DIE ENKOLUMN TST EH U NG EN T DER IT EL J EN Ů FA
Clemens Höslinger
DIE ERSTE AUFFÜHRUNG VON » JENŮFA « AN DER WIENER HOFOPER UND IHRE VORGESCHICHTE Dokumente aus dem Österreichischen Staatsarchiv
Am 16. Februar 1918 erlebte die Oper Jenůfa von Leoš Janáček ihre erste Aufführung in der Wiener Hofoper. Dieses denkwürdige Ereignis der Wiener Operngeschichte, das sich zu einem glanzvollen Erfolg für das Werk und seinen Schöpfer gestaltete, hat den Namen des mährischen Komponisten schlagartig in der ganzen Musikwelt bekannt gemacht. CLEMENS HÖSLINGER
→ Abendzettel der Erstaufführung an der Wiener Hofoper, 1918
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KOLUMN EN T IT EL
Der Wiener Aufführung war eine erregte politische Debatte vorausgegangen, deren Auswirkungen sich in zahlreichen Dokumenten des Wiener Opernarchivs kundtut. In bürgerlichen Kreisen Wiens und namentlich im Lager der Deutschnationalen herrschte große Erbitterung über das »vaterlandsverräterische« Verhalten der Tschechen im Ersten Weltkrieg und man erkannte in der Ankündigung einer tschechischen Oper im Hofoperntheater eine Provokation der patriotisch gesinnten Österreicher. Kaum begreiflich erscheint es aus heutiger Sicht, dass sich auch in Prag deutschnationale Stimmen gegen die Aufführung der Jenůfa in Wien erhoben. All dies erwies sich am Tag der Aufführung als hinfällig, denn der künstlerische Geist des Werks trug eindeutig den Sieg davon. Janáček hatte seine Oper, deren originaler Titel Její pastorkyňa (Ihre Ziehtochter) lautete, am 18. Jänner 1903 beendet, ihre erste Aufführung erfolgte ein Jahr danach im Nationaltheater Brünn, am 21. Jänner 1904. Obwohl es sich zunächst nur um einen Erfolg von regionaler Bedeutung handelte, bildete sich nun eine treue und tätige Anhängerschaft des Komponisten heran. Einer der eifrigsten Fürsprecher Janáčeks war Baron Dr. Otakar Pražák, der tschechische »Landmannminister« im österreichischen Regierungskabinett, der am 5. Dezember 1904 ein Schreiben an den Wiener Operndirektor Gustav Mahler richtete, in welchem er den »Freund und Gönner böhmischer Musik« zu einer Aufführung von Jenůfa in Brünn einlud. Mit selbem Datum gezeichnet ist ein Brief Janáčeks an Mahler, der folgenden Wortlaut trägt: Euer Wohlgeboren! Beiliegende Prager Referate über die erste Aufführung meiner Oper am Brünner böhm. Nationaltheater sprechen deutlicher aus als ich es in Kürze fassen könnte über meine Person. Ich wollte schon früher mir die Freiheit nehmen und Euer Wohlgeboren zu einer Aufführung der Oper einladen, doch aufrichtig gesagt – getraute ich mich nicht. Aufgefordert von anderer Seite thue ich es jetzt in der einzigen Absicht Ihr werthes Urteil zu hören. Ich bitte deshalb Euer Wohlgeboren, falls es Ihnen möglich zur Aufführung der Oper die am Mittwoch den 7. Dezember stattfindet oder eventuell zu einer anderen Wiederholung einen Ausflug nach Brünn zu machen. Hoffentlich ist eine ähnliche Einladung von Seite des Dr. Baron Ott. Pražák an Euer Wohlgeboren ergangen. In aller Achtung Ergebenster Leoš Janáček Direktor der Brünner Orgelschule Brünn, am 5. Dezember 1904 CLEMENS HÖSLINGER
→ KS Maria Jeritza als erste Wiener Jenůfa, Wiener Hofoper, 1918
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Mahlers Antwort an Janáček (als Diktat) vom 6. Dezember 1904 lautete wie folgt: Euer Hochwohlgeboren, wie ich bereits Herrn Dr. Pražák mitgetheilt habe, ist es mir leider nicht möglich in der nächsten Zeit von hier abzukommen. Da es mich doch gewiß interessiren wird, Ihr Werk kennen zu lernen, so ersuche ich mir gelegentlich einen Clavierauszug mit deutschem Text einzusenden. Ergebenst (Paraphe) Mit gleichem Datum erging ein – ebenfalls als Diktatschrift erhaltenes – Schreiben Mahlers an Baron Pražák: Zu meinem lebhaften Bedauern ist es mir leider nicht möglich der morgigen in Brünn im böhmischen Theater stattfindenden Erstaufführung der Oper beizuwohnen, da ich hier durch wichtige Dienstgeschäfte zurückgehalten werde. Vielleicht kann mir ein Clavierauszug mit deutschem Texte, da ich der böhmischen Sprache nicht mächtig bin, behufs Einsicht zugeschickt werden. Mit besonderer Hochachtung ergebenst (Paraphe) Mahlers Ersuchen um einen deutschen Klavierauszug war begreiflicherweise nicht erfüllbar, da von solchen Hilfsmitteln vorläufig und noch lange danach keine Rede sein konnte. Die Kontakte mit der Wiener Hofoper waren damit fürs Erste erledigt. Für Janáček trat in den folgenden Jahren keine wesentliche Veränderung in seinem an äußeren Ereignissen ebenso an künstlerischer Anerkennung so ärmlichen Lebensweg ein. Erst während des Weltkrieges, im Zuge der großen nationalen Erhebung, gelangte der Komponist zu hohen Ehren. Das Prager Nationaltheater brachte die Oper am 26. Mai 1916 mit durchgreifendem Erfolg zur Aufführung. Janáček wurde nun als Verkünder des neuen Geistes der tschechischen Musik, Jenůfa als die neue tschechische Nationaloper gefeiert. Auch außerhalb Prags rief diese Aufführung starke Resonanz hervor. Wie ein flammendes Signal wirkte ein Aufsatz des Schriftstellers Max Brod, der unter dem Titel Tschechisches Opernglück in der Berliner Zeitschrift Die Schaubühne erschien. Solche und andere rühmende Urteile konnten nicht unbeachtet bleiben, und so war es geradezu unausbleiblich, dass das nahe Wien Interesse an dem Werk bekundete. Hans Gregor, Direktor der Wiener Hofoper seit 1911, entsandte den Kapellmeister Hugo Reichenberger nach Prag, um einer Aufführung der JanáčekOper beizuwohnen und darüber ein Gutachten zu verfassen. Zusammen mit Reichenberger reisten auch der Komponist Julius Bittner, die beiden Wiener CLEMENS HÖSLINGER
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»In Jenůfa besitzen wir die eindringlichste und konzentrierteste von Janáčeks Opern und mit ihr eine Musik, die das Publikum unnachgiebig gefangenhält, die fast ohne Humor, aber voll wilder Ironie ist. «
Michael Ewans 73
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Musikkritiker Richard Specht und Ernst Rychnowsky sowie der Leiter der Universal Edition, Emil Hertzka, nach Prag. Um den maßgeblichen Herren aus Wien auch den Besuch von Janáčeks Oper zu ermöglichen, wurde am selben Tag Jenůfa als Nachmittagsvorstellung im Národní divadlo, dem Tschechischen Nationaltheater, gegeben. Mittlerweile hatte sich Max Brod nach langem Zögern entschlossen, die deutsche Übersetzung (oder besser ausgedrückt: Nachdichtung) zu verfassen. Dem Gelingen des deutschen Textes wurde auch vonseiten des Verlags große Wichtigkeit beigemessen, da ja mit der Wiener Aufführung das Werk nicht nur erstmals in fremdem Idiom erklang, sondern auch dem gesamten deutschen Opernspielplan zugänglich gemacht werden sollte. Die Verlagsrechte für die Oper wurden im Jahr 1917 von der Universal Edition Wien übernommen, die sich von nun an große Verdienste um die Verbreitung der Kompositionen Janáčeks erwarb. Der Verlagsdirektor Emil Hertzka drückte seine Einschätzung der Oper am 7. März 1917 in einem Schreiben an den Direktionssekretär der Hofoper Karl Lion folgend aus: Es unterliegt keinem Zweifel, dass Janáčeks Oper das Bedeutendste ist, was die böhmische Bühne seit Smetanas Verkaufter Braut hervorgebracht hat. Das Werk gehört aber auch zu den eigenartigsten und wertvollsten Neu erscheinungen der Opernliteratur überhaupt. Wiewohl seitens drei hervorragender deutscher Bühnen Bewerbungen um die deutsche Uraufführung vorhanden sind, würde ich es mit Freude begrüßen, wenn das Werk zuallererst in Wien in deutscher Sprache erklingen würde. Ich habe die bestimmte Empfindung, dass eine derartige Aufführung – von dem künstlerischen und musikalischem Standpunkte ganz abgesehen – im Verlaufe der nächsten Zeit hier von ganz besonderer Bedeutung sein und mit beitragen würde, die sehr ersehnte nationale Annäherung zu fördern. Mit diesen Worten berührt Hertzka ein Thema, das zu dieser Zeit von höchster Aktualität war. Der junge Kaiser Karl, der 1916, in verhängnisvoller Zeit, sein Herrscheramt angetreten hatte, war bestrebt, die bestehenden nationalen Konflikte nach Möglichkeit zu besänftigen. Die Aufführung von Jenůfa im Hofoperntheater war ein deutliches Zeichen dieser Versöhnungsgeste auf kulturellem Gebiet. Im Juni und Juli des Jahres 1917 fiel in der Wiener Operndirektion die Entscheidung über die Annahme des Werks. Am 3. Juni wurde der Vertrag mit der Universal Edition unterzeichnet, mit selbem Datum erfolgte die Annahme des Werkes durch die Operndirektion und die Generalintendanz. Über Reichenbergers tatkräftige Unterstützung für Janáčeks Oper kann kein Zweifel bestehen, hingegen zeigte sich der Regisseur Wilhelm von Wymetal nach seiner ersten Bekanntschaft mit Max Brods Übersetzung alles andere als begeistert. Der Konflikt zwischen Max Brod und Reichenberger CLEMENS HÖSLINGER
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warf für längere Zeit einen bösen Schatten auf das künstlerische Vorhaben. Reichenberger warf der Textfassung Brods mangelnde Sangbarkeit vor und stellte im Auftrag Gregors während der Sommermonate 1917 eine tief eingreifende Neufassung der Brod’schen Textvorlage her. Der Dichter reagierte empört auf die Eingriffe in seine Arbeit und drohte damit, seinen Text zurückzuziehen, was wiederum zur Verhinderung der Aufführung geführt hätte. Schließlich kam es doch zu einer zwar nicht gütlichen, doch immerhin rechtlichen Einigung: Im Textbuch und Klavierauszug der Universal Edition, ebenso auf den Theaterzetteln der Wiener Jenůfa-Premiere wurde Max Brod als Übersetzer genannt, zusätzlich erschien der Vermerk: »Für die Wiener Hofoper textlich eingerichtet von Hugo Reichenberger.« Mit 6. Oktober 1917 setzte die Probenarbeit ein, die Sängerbesetzung stand bereits fest, allerdings gab es im Verlauf der Proben eine Umbesetzung: Der Tenor Béla von Környey ersuchte wenige Wochen vor der Premiere um Enthebung von der Rolle des Laca, an seiner Stelle übernahm Georg Maikl die Partie. Am Beginn des Jahres 1918 übermittelte die »Gesellschaft zur Fürsorge für Kriegsinvalide« ein Majestätsgesuch, worin gebeten wurde, dass die Erstaufführung der Oper Jenůfa im Hofoperntheater zu erhöhten Preisen stattfinden möge und ein Teil des Reinertrages der ansuchenden Gesellschaft zugewendet werde. Dem Ansuchen wurde Folge geleistet. Nach dieser Vorgeschichte soll nun auch zur ersten Aufführung an der Wiener Hofoper übergegangen werden, die, wie Direktor Gregor angekündigt hatte, am 16. Februar 1918 stattfand. Fast alle Wiener Tageszeitungen berichteten von dem großen, außerordentlichen Erfolg der Aufführung. Leoš Janáček, der sich durch sein bescheidenes Auftreten viele Sympathien erwarb, stand nach der Aufführung im Zentrum großer Ovationen und musste sich an die zwanzigmal vor dem Vorhang zeigen. Die Gattin des Komponisten hat in späteren Jahren über das Erlebnis der Wiener Aufführung berichtet: Wenn ich gefürchtet hatte, wie die Jenůfa in Prag aufgenommen würde, so schlotterte ich hier in Wien direkt vor Angst um sie. Der Hof, der österreichische Adel, das elegante Publikum, die auserlesene musikalische Intelligenz – all das blendete mich und machte mir Angst. Es ertönten die ersten Takte – mein Gott, wie das klang! Es sind auch im Orchester an die hundert Musiker gesessen. Der Vorhang ging auf und wir hörten um uns herum nur ein gedehntes »Ah«, so schön war es... Die Jeritza strahlte: mit ihrer silbernen Stimme, ihrem durchgefühltem Spiel, mit der schönen Erscheinung einer Blondhaarigen. Es war die beste Jenůfa, die ich je gesehen und gehört habe... Beifall war groß. Schon nach dem zweiten Akt wurde Leoš einige Male hervorgerufen und musste sich bedanken. 75
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Ebenso wie dieser Bericht beweisen auch viele überlieferte Äußerungen des Komponisten seine Zufriedenheit mit der Wiener Aufführung, wenngleich er auch manche von Reichenbergers Tempi als »verschleppt« empfand. Wie groß die Anteilnahme des Publikums an dem neuen Werk war, wird durch die in humorvoller Form gehaltene Zuschrift des Direktors der k. k. Hofgärten, Regierungsrat Anton Umlauft, bewiesen, der daran Anstoß nahm, dass statt des im Text verlangten Rosmarinstrauchs (in der Szene von Jenůfas erstem Auftreten) Margeriten verwendet wurden: »Aus allen anderen Gegenständen bekommen Sie die Note ›ausgezeichnet‹ – in Botanik jedoch muss ich Ihnen ein ›ungenügend‹ geben«, schrieb er an den Operndirektor, stellte aber der Hofoper von nun an einen echten Rosmarinstrauch zur Verfügung. Nach den zehn Wiedergaben im Jahr 1918 stellte sich eine lange Pause ein und erst 1926 folgten noch zwei weitere Aufführungen. Von da an währte es bis zur Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, bis das Werk wieder in den Spielplan der Staatsoper aufgenommen wurde (1948 im Theater an der Wien, mit Ljuba Welitsch in der Titelrolle). Die desolate Situation nach dem Zusammenbruch der Monarchie und dem verlorenen Weltkrieg, schließlich auch das Ende der Direktion Gregor im November 1918 – all das führte dazu, dass es für lange Zeit keine Weiterführung der so glücklich begonnenen künstlerischen Freundschaft mit dem Werk Leoš Janáčeks in Wien gab. Dennoch steht das ingeniöse, von völlig neuem Geist erfüllte Werk in seiner ersten Wiener Präsentation auf kulturgeschichtlich exponiertem Platz: an der Wende zweier Zeiten.
DIE ERSTE AU FF Ü HRU NG VON »JEN Ů FA« A N DER W IENER HOFOPER
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» In jener Zeit des intensiven Studiums der Sprechmotive entstand der 1. Akt meiner Jenůfa. Ich wusste, dass ich imstande bin, die Motive beliebiger – der allgemeinsten und erhabensten – Worte zu bewältigen, ich wusste, dass ich dem Alltag des Lebens ebenso gewachsen bin wie seiner tiefsten Tragik – auch der Prosa. Und vertonte Jenůfa in Prosa. « Leoš Janáček Leoš Janáček 77
DIE 1. AU FF Ü HRU NG VON »JEN Ů FA« A N DER W IENER HOFOPER U ND IHR E VORGESCHICHTE
DIE DEKORATIONEN DER » JENŮFA« 1918 Die Wiener Hofoper hat der Jenůfa eine echte, bodenständige Ausstattung gegeben. Trotz der Schwierigkeiten, die sich jetzt jeder Neuanschaffung hemmend in den Weg stellen, wurde davon Abstand genommen, sich mit einer beiläufigen Ausstattung zu behelfen. Maler Hans Pühringer wurde seitens der Direktion der Hofoper damit betraut, in der Gegend von Gaya und Ungarisch-Hradisch, wo sich die Kostüme bisher am reinsten erhalten haben und noch nicht stilfremden Einflüssen unterworfen sind, Studien zu machen. Dass sich Hans Pühringer seiner für ein richtiges Malerherz hochwillkommenen Aufgabe mit besonderem Erfolg entledigt hat, bewies die einmütig beifällige Aufnahme, die die Dekorationen und die Kostüme der Jenůfa fanden. Es war ein originelles Bild, das sich auf der Bühne entfaltete, ungewohnt an dieser Stätte, die zumeist nur von dem heroischen Prunk der großen Oper belebt wird. Frau Jeritza als Jenůfa trug ihr schönes Kostüm, auf dessen Zusammenstellung natürlich besondere Sorgfalt verwendet wurde, mit sichtlicher Freude, wie sie sich überhaupt in der ganzen Rolle sehr wohl zu fühlen schien. Und auch die übrigen Darsteller fanden sich mit anerkennenswertem Geschick auf das ihrer sonstigen Bühnengeste wohl recht fremde Gebiet eines kleinen Dorfes in der mährischen Slowakei. Das Politikum löste sich in Wohlgefallen auf. Man nahm an dem Schönen, das man zu sehen bekam, keinen Anstoß, man hatte es eben kennen gelernt. Es wäre vielleicht überhaupt das probateste Mittel, so manchen überflüssigen Zank aus der Welt zu schaffen, wenn man sich vorher der Mühe unterziehen wollte, sich zu überzeugen, ob man nicht mit großen plumpen Kanonen auf harmlose Spatzen zu schießen im Begriffe ist. Es wird doch noch eine Zeit kommen, dass wir uns auf dieser Welt recht gut vertragen werden. Aus: Sport und Salon, 8. März 1918
DIE DEKOR AT ION EN DER »J EN Ů FA« 1918
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Dekorationsentwürfe zur Erstaufführung an der Wiener Hofoper, 1918
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DIE DEKOR AT ION EN DER »J EN Ů FA« 1918
Teresa Hrdlicka
» SIE WERDEN FREUDE ERLEBEN «
Zur Korrespondenz Leoš Janáček – Hugo Reichenberger
Zwischen Hugo Reichenberger (1873-1938), dem Dirigenten der JenůfaErstaufführung an der Wiener Hofoper, und dem Komponisten Leoš Janáček entspann sich rund um die Premiere am 16. Februar 1918 ein reger Briefwechsel, von welchem leider nur mehr drei Briefe Janáčeks erhalten sind, jedoch 14 Gegenbriefe von Reichenbergers Hand. Der Beginn dieser Beziehung geht auf März 1917 zurück, als Hugo Reichenberger im Auftrag der Wiener Hofoper nach Prag reiste, um »fachmännische Gutachten« über drei neue Opern abzugeben. Hauptanlass der Dienstreise Reichenbergers, an der auch noch Verlagsdirektor Emil Hertzka (Universal Edition, Wien) und die beiden Wiener Musikkritiker Ernst Rychnowsky (Neues Wiener Tagblatt) und Richard Specht (Fremdenblatt) teilnahmen, war die Uraufführung der Oper Eine florentinische Tragödie von Alexander Zemlinsky (und im Anschluss daran die Prager Erstaufführung des Singspiels Das höllisch Gold von Julius Bittner) im Deutschen Landestheater am 4. März 1917 abends. Extra für die Herren aus Wien wurde am selben Tag nachmittags im Národní divadlo (Tschechischen Nationaltheater) die 23. (!) Aufführung der Oper in drei Akten Aus dem mährischen Bauernleben von Leoš Janáček, Její pastorkyňa in tschechischer Sprache, angesetzt. Dass die Oper zu jenem Zeitpunkt bereits 13 Jahre alt war und so lange gebraucht hatte, um sich ihren Weg von der provinziellen mährischen Landeshauptstadt Brünn in die böhmische Landeshauptstadt Prag zu bahnen, war für ihr weiteres Schicksal unwichtig. Die maßgeblichen Herren, nämlich Reichenberger und Hertzka, waren von dem Werk überwältigt. Reichenberger überreichte das folgende positive Gutachten am 6. März 1917 dem Wiener Operndirektor Hans Gregor, welches hier auszugsweise wiedergegeben sei: ... Nun aber Její pastorkyňa = Ihre Ziehtochter, Text von Gabriele [sic] Preissová, Musik von Leoš Janáček! Textlich, musikalisch und hinsichtlich Aufführung [...] ein künstlerisches Erlebnis! Die nur etwas brutale Handlung, im 3. Akte abflauend, wirkt ungeheuer packend, die Musik ist das Werk eines Naturtalentes allerersten Ranges. [...] Mit wenig Mitteln, die Stimmung der einzelnen Scenen immer auf einem bestimmten durch die ganze Scene festgehaltenen Rhythmus in der orchestralen Untermalung (statt der Leitmotive) aufgebaut (ein czechischer Debussy!), folgt die Musik so innig dem gesprochenen Wort und Tonfall, so dass sie wie eines erscheint; und trotzdem ist sie von prachtvoller Melodik, eigenartig und fesselnd, wenn gleich sich in manchem Fehler des künstlerischen Überganges der etwas ungeschliffene, zu wenig gelernt habende Naturalist offenbart. Ich hoffe, dass es dem Übersetzer Max Brod gelingen wird – 2 Akte sind bereits übersetzt – den von der musikalischen Wirkung unzertrennlichen, rhythmisch eigenartigen Tonfall der czechischen Sprache auch im Deutschen wiederzugeben. Unter diesem Vorbehalt empfehle ich dringendst die Annahme mit der wir hier meiner Überzeugung nach, einen guten Erfolg bei Musikern und beim Publikum haben werden. 81
T ER E SA HR DLICK A
Im selben Schreiben empfiehlt Reichenberger auch die Annahme von Zemlinskys Oper Eine florentinische Tragödie, die bereits sieben Wochen später, am 27. April 1917, unter Reichenbergers Leitung ihre Wiener Erstaufführung erlebte. Das Urteil der beiden in Prag anwesenden Musikkritiker über Janáčeks Oper fiel ebenfalls positiv aus. Richard Specht schloss sein Feuilleton über den Ausflug nach Prag lakonisch: »Um drei Opern von Österreichern zu hören, von denen jede einzelne mehr wert ist als alle Neuheiten dieses Spieljahres in unseren beiden Wiener Opernhäusern zusammengenommen (mit Ausnahme der Ariadne natürlich!), habe ich nach Prag fahren müssen.« Und dem in Wien gänzlich unbekannten Janáček streute er Blumen: »Die Böhmen haben wieder einen Nationalkomponisten.« (Fremdenblatt, 15. März 1917) Direktor Hertzka verhandelte schon seit Herbst 1916 mit Janáček wegen der Herausgabe eines Klavierauszugs der Její pastorkyňa. Er empfahl gleichzeitig mit Reichenberger das Werk dem Direktor Gregor zur Annahme, und so konnte Reichenberger bereits am 1. April 1917 ein offensichtlich vorangegangenes Schreiben Janáčeks zuversichtlich beantworten: Sehr geehrter Herr Janáček! Besten Dank für Ihren liebenswürdigen Brief, den ich in Folge überstarker dienstlicher Inanspruchnahme erst heute beantworten kann. Ich freue mich herzlichst, dass es mir möglich war Ihr schönes Werk der K.K. Hofoperndirektion wärmstens empfehlen zu können und hoffe, dass die Annahme-Verhandlungen bald vollendet sind, so dass ich im Herbst an die Einstudierung gehen kann. Hoffentlich kommen Sie dann zur Premiere hierher. Mit besten Grüßen Ihr ergebener Hugo Reichenberger Meine Frau erwidert herzlich Ihre w.[erten] Grüße. Nach einem im Juni 1917 stattgehabten ersten Arbeitsbesuch in Wien notierte Janáček in sein Notizbuch: »Vrelá mluva Reichenberger!!! Preklad opravit«, in deutsch: »Warme Sprache Reichenbergers!!! Übersetzung verbessern«. Noch im selben Monat fiel dann die endgültige Entscheidung über die Annahme des Werkes seitens der Wiener Hofoper und der Abschluss des Vertrages mit der Universal Edition, welche die Verlagsrechte besaß. Janáček hatte gehofft, dass Direktor Gregor bei einer Aufführung durch die Wiener Hofoper selbst Regie führen würde. Doch Gregor schrieb ihm: »Sie können unbesorgt sein: Ihre Oper befindet sich bei Herrn Kapellmeister Reichenberger und Herrn von Wymetal in ausgezeichneten, fürsorglichen Händen.« (Brief vom 23. Juli 1917) T ER E SA HR DLICK A
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Wilhelm von Wymetal war Oberregisseur der Wiener Hofoper. Hugo Reichenberger hielt eine Neubearbeitung der deutschen Übersetzung von Max Brod für unumgänglich und nahm diese im Sommer des Jahres 1917 eigenhändig vor. Er schrieb darüber in einem Brief vom 29. Juni 1917: Sehr geehrter Herr Janáček! Besten Dank für Ihren w.[erten] Brief! Ich freue mich ob der Annahme Ihres Werkes, für dessen möglichst gute Darstellung ich mein Bestes geben will. Besetzung kann ich Ihnen leider noch keine mitteilen, da dieselbe noch nicht feststeht. Sie dürfen aber überzeugt sein, dass die besten Kräfte der Wiener Hofoper ins Treffen geführt werden. Mit der Verbesserung des Textes betraut habe ich eben den 1. Akt fertig gestellt und hoffe viel für die Verdeutlichung erreicht zu haben. Mit besten Grüßen auch von meiner Frau Ihr stets ergebener Hugo Reichenberger Die Frage der neuen Sprachversion des Operntextes war für Janáčeks Werk von herausragender Bedeutung, ist seine Vokalmelodie doch auf die semantisch-syntaktische Einheit des Tones aus dem (tschechischen) Wort gegründet. Zur Zeit der Komposition der Její pastorkyňa jedenfalls konnte sich Janáček noch nicht vorstellen, das Libretto seiner Oper ohne Schaden in eine Fremdsprache zu übertragen. Die Lebensfähigkeit der Jenůfa in deutscher Sprache musste erst bewiesen werden! Der im September 1917 durch die Universal Edition fertiggestellte tschechisch-deutsche Klavierauszug sowie das deutsche Textbuch trugen am Titelblatt den Vermerk »Deutsche Übersetzung von Max Brod. Für die Wiener Hofoper textlich eingerichtet von Hugo Reichenberger«. Diese textlichen Retuschen des Wiener Hofkapellmeisters (von denen sich manche noch bis heute in Neueditionen gehalten haben) führten zu einer massiven Verstimmung des Prager Dichters und Janáček-Pioniers Brod. Im Herbst 1917 begannen die Vorbereitungen für die im Jänner 1918 geplante Premiere. Die Besetzung stand nun fest: Buryja – Kittel / Laca – Maikl / Števa – Leuer / Küsterin – Weidt / Jenůfa – Jeritza / Altgesell – Wiedemann. Ab Oktober – also vier Monate vor der Premiere – fanden fast täglich Einzelund Ensembleproben statt (zum Vergleich: für die Florentinische Tragödie hatte die Hofoper nur sechs Wochen Probenzeit!); die Proben standen von Anfang an unter Reichenbergers Leitung, sodass dieser am 5. Dezember 1917 an Janáček berichten konnte:
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» SIE W ER DEN FR EU DE ER LEBEN «
Sehr geehrter Herr Janáček! Leider bin ich Freitag dienstlich verhindert, meine Absicht, nach Prag zur Pastorkyňa zu fahren auszuführen. Vielleicht glückt es mir bei der nächsten Aufführung. Die Clavierproben sind hier in vollem Gange, Alle sind mit Liebe und Begeisterung bei Ihrem schönen Werke; Anfang Januar, denke ich, werden wir auf die Bühne gehen. Ich glaube, Sie werden hier Freude erleben. Mit herzlichsten Grüßen Ihr sehr ergebener Hugo Reichenberger Ein rührendes Detail am Rande: Auf der Rückseite des noch erhaltenen Kuverts hat Leoš Janáček folgende zwei Briefzitate nochmals notiert: »Alle sind aus Liebe und Begeisterung bei Ihrem schönen Werke« und »Sie werden Freude erleben«... Im Jänner-Heft der österreichischen Musik- und Theaterzeitschrift Der Merker kündigte ein ausführlicher, auf persönlichen Aussagen Janáčeks fußender, fundierter Artikel des Brünners Guido Glück die bevorstehende Erstaufführung in deutscher Sprache an der Wiener Hofoper an. Er schreibt einleitend: »In hohem Alter gelangt ein österreichischer Opernkomponist zur Ehre einer Wiener Hofopernaufführung und wird dadurch weitesten Kreisen bekannt.« Wegen einer Erkrankung der Hauptdarstellerin, Maria Jeritza, musste die Premiere von Jänner auf 16. Februar 1918 verschoben werden. Das Werk war sorgfältigst geprobt worden, allein 15 Proben mit Orchester hatten stattgefunden. Aus der Korrespondenz mit Reichenberger geht hervor, dass Janáček von Brünn aus um das Gedeihen der ersten fremdsprachigen Aufführung seiner Oper sehr besorgt war. Anscheinend mehrmals forderte er den Dirigenten, den Ballettmeister und den Regisseur auf, nach Prag zu reisen, um sich von der dortigen Aufführung Eindrücke zu holen (alle drei lehnten dies mehrmals höflich ab). Die Wiener Hofoperndirektion scheute dennoch weder Kosten noch Mühe bei der Vorbereitung dieser Oper: Dekorateur und Kostümbildner hatten eigens Städte und Museen Mährens aufgesucht, um die Ausstattung möglichst originalgetreu gestalten zu können. Es wurden wirklich die ersten Gesangskräfte der Hofoper als Besetzung herangezogen: die (aus Brünn stammende!) Primadonna Maria Jeritza in der Titelpartie, Lucie Weidt als Küsterin und die Tenöre Hubert Leuer und Georg Maikl als Stiefbrüder Števa und Laca. Es sollte eine der teuersten und aufwendigsten Produktionen der Direktionsära Gregor werden. Am 14. Jänner 1918, vier Wochen vor der Premiere, gibt Reichenberger einen letzten Bericht über den Stand der Proben: T ER E SA HR DLICK A
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Sehr verehrter Herr Professor! Im vollen Verständnis Ihrer Wünsche habe ich Ihren w. Brief Herrn Ballettmeister Haßreiter übergeben; es ist aber auch ihm z. Z ganz unmöglich, von Wien abzukommen, ebenso wie auch Oberregisseur Wymetal und ich durch die Proben hier festgehalten sind. Nun bittet mich Herr Haßreiter Ihnen vorzuschlagen, Sie möchten gütigst die Übersendung einiger choreographischen Skizzen von Prag an ihn veranlassen, aus welchem es ihm ein Leichtes sein wird, Ihren Wünschen gerecht zu werden. Ich bin jetzt mit den Streicherkorrekturproben fertig geworden, mit den Bläsern werde ich morgen fertig (rasend viele Fehler in den Stimmen!). Mittwoch und Donnerstag habe ich zwei Studienproben mit dem ganzen Orchester, Freitag erste Arrangierprobe. Für die noch erkrankte Frau Jeritza, die bis Ende Jänner wieder disponibel sein wird, probiert zunächst Frau Brügelmann. Sobald wir für Ihre Anwesenheit reif sind, werde ich mir erlauben Sie zu benachrichtigen und freue mich sehr, Sie dann hier begrüßen zu können. Mit herzlichsten Grüßen Ihr sehr ergebener Hugo Reichenberger Besonders ließ Janáček sich die Übersetzung des Titels Její pastorkyňa, zu deutsch Ihre Ziehtochter, angelegen sein. Als das Textbuch mit dem Titel Jenůfa schon gedruckt war, an welcher Titelgebung Hugo Reichenberger maßgeblich beteiligt war – versuchte Janáček wenigstens noch den Namen für die Aufführungen zu beeinflussen und schrieb am 21. Jänner 1918 an Gregor: Hochgeehrter Herr Direktor! Noch eine Bitte – in der letzten Stunde – betreffs des Titels meiner Arbeit. Bloß Jenůfa – ist doch nichtssagend. Jenůfa, Ihre Ziehtochter deutet auf die Hauptperson, die Küsterin, hin; deshalb ist dieser Titel besser. Das Kürzeste, und doch vollkommen ausreichend wäre die reine Übersetzung: Ihre Ziehtochter. Ich bitte Sie, Herr Direktor, nur nicht den leeren Namen Jenůfa! Von allen Seiten macht man mich darauf aufmerksam. […] Reichenberger machte einen handschriftlichen Vermerk auf dem Brief: »Über diese Angelegenheit haben wir ja eingehend gesprochen und halte ich die Beifügung des hässlichen Wortes ›Ziehtochter‹ für unmöglich.« Damit war ein Schlussstrich unter die Titeldiskussion gezogen und die Oper zog unter dem Namen Jenůfa in die Welt. Widerstände deutschnationaler Kreise in Wien, die die Aufführung eines lebenden tschechischen Komponisten an der k. k. Hofoper als skandalös 85
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empfanden, wurden durch die Anweisung der kaiserlichen Regierung, die Premiere habe »Auf Allerhöchste Anordnung: Zu erhöhten Preisen zu Gunsten der Gesellschaft zur Fürsorge für Kriegsinvalide« stattzufinden, entkräftet. Janáček war bereits am 12. Februar 1918 zu den letzten Proben nach Wien gereist, von wo er enthusiastisch über das Gesehene und Gehörte an Gabriela Horvátová, die Darstellerin der Prager Küsterin, berichtete. In einem Interview mit dem Neuen Wiener Tagblatt sagte er: »Die Aufführung in Wien betrachte ich, der ich heute im Alter von 63 Jahren stehe, als Krönung meines Schaffens.« Die mit Spannung erwartete Premiere fand schließlich am Samstag, dem 16. Februar 1918, im Beisein des Komponisten, des Textdichters, der Schriftstellerin Gabriela Preissová, der zahlreich erschienen in- und ausländischen Presse u. a. vor ausverkauftem Haus statt. Sie wurde ein Riesenerfolg für Janáček, der am Schluss 20mal vor dem Vorhang erschien. Die Oper wurde seit ihrer Prager Erstaufführung von 1916 in der stark veränderten Fassung von Karel Kovařovic aufgeführt. Die mit Janáčeks Einverständnis entstandene Bearbeitung durch den Dirigenten der Prager Erstaufführung betraf Kürzungen und Instrumentalretuschen. Auf jener Fassung fußte auch die Druckausgabe der Universal Edition von 1917. Sie entbehrte jeglichen Hinweises auf Kovařovics Mitarbeit und war die Grundlage nicht nur für die Wiener Aufführung von 1918, sondern aller weiteren Aufführungen der folgenden Jahrzehnte im In- und Ausland, wodurch das Werk bis in die achtziger Jahre ausschließlich in Kovařovics Fassung Verbreitung fand. Drei Tage nach der Premiere, bereits nach Brünn zurückgekehrt, fand der Komponist folgende warme Worte des Dankes an Hugo Reichenberger: Hochgeehrter Herr Hofkapellmeister! Mit dem Nörgeln von meiner Seite ist es abgetan. Mich rührte und freute am meisten Ihr, Herr Hofkapellmeister, und des Orchesters Gruß als ich vor der Rampe nach dem 2. Akte erschien. Nichts schätze ich so hoch, wie diese Kundgebung. Ihre Arbeit kann ich würdigen, nichts Starres lag in dem Dirigieren. Sie gaben Anmut und Wärme dem Werke und eine natürliche Liebenswürdigkeit verbreitete sich vom Dirigentenpult auf alle Seiten. Das Derbe musste weichen. Das fühlte ich jedes Mal, bei meiner jedesmaligen Ansprache – dass ein feinfühliger, herzensguter Mensch mir immer, in allem mir entgegenkommt. Nehmen Sie meinen aufrichtigen Dank entgegen. Vergessen können wir uns gewiss nicht! Ihnen in Hochachtung Ergebener Leoš Janáček Brünn, 19. Februar 1918 T ER E SA HR DLICK A
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Reichenberger antwortete auf diesen und noch einen zweiten, verlorengegangenen Brief wenige Tage später (22. Februar 1918): Sehr verehrter Herr Professor!
↑ Brief Janáčeks an Reichenberger vom 19. Februar 1918
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Herzlichen Dank für Ihre beiden l.[ieben) Briefe! Ihre Wünsche werden selbstredend nach Möglichkeit erfüllt; aber aus Clavierauszug S. 85 und »Gott zum Gruße« kann ich nicht klug werden; das müssen wir Sonntag Vormittag besprechen. (vielleicht 1/2 12 Uhr in der Oper.) Ihre herzlichen Worte haben in mir lebhaften Widerhall gefunden, dessen Grundton Ihr herrliches Meisterwerk, das wir Alle immer mehr lieben lernen, schon in meinem Inneren gefestigt hatte. Über Korngold und Batka brauchen wir uns die Köpfe nicht zu zerbrechen, die Herren und so manche Andere haben sich hier auch mir gegenüber so Vieles geleistet, dass man ihre jetzigen Elaborate ruhig zu dem Übrigen legen kann. »Halten Sie sich lieber an Kalbeck und Reichenberger; das ist eine zuverlässige Liebe!« Und dem Erfolge unseres – ich sage absichtlich »unseres« – Werkes hat das Aufeinanderplatzen der diametralen Meinungen (soweit es »Meinungen« und keine Politik waren) gerade gutgetan. » SIE W ER DEN FR EU DE ER LEBEN «
Denn die 2. Aufführung gestern, die so gut wie die Premiere ging war ausverkauft und hatte stürmischen Erfolg. Sonntag ist bereits seit Beginn der Woche wieder ausverkauft. Die Bühnenleute prophezeien lange Lebensdauer und das ist ein gutes Zeichen. Die 2. Besetzung ist bis auf Küsterin und Laca bereits mit Orchester probiert; wir bleiben aber bei der ersten, bis ein dringender Notfall eintritt. Also auf Wiedersehen am Sonntag und Alles Herzliche von Ihrem getreuen Hugo Reichenberger Aus diesem Brief geht hervor, dass Janáček zur dritten Aufführung der Jenůfa am Sonntag, dem 24. Februar 1918, wieder in Wien erwartet wurde. Offensichtlich hat Janáček auch Besorgnis geäußert über schlechte Pressekritiken, namentlich jene von Richard Batka im Wiener Fremdenblatt und von Julius Korngold, der in der Neuen Freien Presse von Jenůfa als einem »tschechischen Machwerk« sprach. Außer den wenigen vernichtenden Rezensionen in Zeitungen deutschnationaler Gesinnung überwogen jedoch die positiven. Der einflussreiche Musikkritiker und Brahms-Biograph Max Kalbeck widmete der »mährischen Volksoper Janáčeks« im Neuen Wiener Tagblatt am 19. Februar 1918 ein acht Spalten langes Feuilleton. Er hat das Talent des neuentdeckten tschechischen Komponisten zu würdigen gewusst und vor allem die Einzigartigkeit seines Kompositionsstils herausgestrichen. Janáček habe »das zweifelhafte trockene Theaterstück in eine erfolgreiche, bis zum Überströmen mit Musik gefüllte Oper umgeschaffen«, und Kalbeck attestierte Janáček »unnachahmliche Genialität«. Vom Tag der fünften Aufführung, dem 6. März 1918, datiert eine Ansichtskarte, die von den sechs wichtigsten Darstellern ( Jeritza, Weidt, Kittel, Wiedemann, Maikl, Leuer) sowie von Hugo Reichenberger und Wilhelm von Wymetal unterzeichnet sind. »Die herzlichsten Grüße aus der Jenůfa-Vorstellung senden Ihnen, sehr geehrter Herr Professor«, lautet der Text. Die Ansicht stellt passenderweise ein mährisch-slowakisches Paar in Originaltrachten dar! Nach sechs Aufführungen trat eine etwas größere Pause von vier Wochen in der Wiedergabe der Jenůfa ein, was anscheinend Janáček zu einem besorgten Brief Anlass gab (der verlorengegangen ist). Reichenberger antwortete ihm, dass die Pause nichts mit dem Werk selbst zu tun hätte, sondern durch einen 14tägigen Urlaub der Sängerin Lucie Weidt sowie die einwöchige Theatersperre in der Karwoche zustande kam. »Von einer ›Absetzung‹ kann keine Rede sein; denn Ihr von uns Allen, vom Direktor bis zum letzten Choristen geliebtes Werk, das sich, wie ich höre, im Publikum als glänzender nachhaltiger Erfolg herumspricht, ist bisher 6 mal bei ausverkauftem Hause gegeben worden und wird auch nach seiner Wiederaufnahme seine Zugkraft bewahren. Auf Ihr nächstes Wiederkommen freuen wir uns Alle. [...]« (Brief vom 22. März 1918) Vom 13. Mai 1918 datiert ein Brief Janáčeks an Reichenberger: T ER E SA HR DLICK A
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Hochgeehrter Herr Hofkapellmeister! Ich fürchte in verschiedenen Anzeichen – dass Sie mich Ihrem werten Versprechen nach nicht von der letzten Aufführung der J.[enůfa] avisierten – dass zwei Wochen ohne J.[enůfa] vergehen – den bösen Wind der politischen und nationalen Reibungen zu spüren! Ist es so? Breslau hat J.[enůfa] zur Aufführung angenommen. Aber verschiedene Hofopern in Deutschland verschieben ihren Entschluss. Warum die Hofopern? Also, ich bitte Sie, heben Sie mich mit einigen Worten aus der peinlichen Lage! In aller Achtung Ergebener Leoš Janáček Brünn, 13. Mai 1918 Reichenberger versicherte Janáček, dass die Politik auf die Programmgestaltung der Hofoper keinen Einfluss hätte (»Politik spielt in der Kunst nach wie vor bei uns keine Rolle«) und kündigte an, dass der Direktor des Nürnberger Stadttheaters zur nächsten Jenůfa-Aufführung anreisen würde. Er selbst, Reichenberger, würde im Juni anlässlich eines Aufenthaltes in seiner Geburtsstadt München Jenůfa der Generalintendanz der bayerischen Hoftheater empfehlen. Leoš Janáček war dann bei der letzten Jenůfa-Aufführung der Saison am 2. Juni 1918 wieder in Wien anwesend. Der letzte erhaltene, von ihm an Hugo Reichenberger geschriebene Brief wurde nur wenige Wochen vor der Proklamation des unabhängigen tschechoslowakischen Staates und dem Ende des 1. Weltkrieges geschrieben. Hochgeehrter Herr Hofkapellmeister! Ich dachte nicht mehr Jenůfa in der Hofoper zu hören. Die Weltverhältnisse ändern sich ja vom Grund aus! Doch – zu Folge einer Wiener Nachricht – eine Freude bleibt mir: mein Werk wieder in Ihrer entzückenden Aufführung zu hören. Der Freude gebe ich so gerne den Ausdruck. Aber – Fr. Hofopernsängerin Weidt wird nicht mehr die Szene »Schau nur drinnen« – (Klav.ausz. S. 122) sich kürzen? Nicht mehr das Motiv
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fallen lassen? Ich bitte sie innigst darum! Auf ein freudiges Wiedersehen – ohne Gewehrfeuerbegleitung! In aller Achtung Ergebener Leoš Janáček Der Brief drückt Janáčeks Hoffnung auf eine Wiederaufnahme der Jenůfa in den Spielplan der Wiener Hofoper im Herbst aus. Diese war auch von der Hofoperndirektion geplant gewesen. Die Oper stand auf Reichenbergers Dirigierplan für die eben begonnene Saison 1918/19. Mitte Oktober 1918 berichtete Reichenberger von Proben für Jenůfa und einer abgesagten Aufführung wegen Erkrankung der Küsterin Lucie Weidt. Im Dezember d. J. verhinderte eine Theatersperre aufgrund von Kohlennot weitere Aufführungen. Mittlerweile war aus der k. k. Hofoper die Wiener Staatsoper geworden und die Direktion Franz Schalk anstelle der Direktion Gregor getreten. Die junge österreichische Republik wurde von einer Finanzkrise heimgesucht, und in dieser Stimmung entstand der letzte erhaltene Brief Reichenbergers an Janáček: Wien, 18. 4. 19 Hochverehrter Meister! Verzeihen Sie, dass ich Ihren l.[ieben] Brief nicht sofort beantwortete! Aber ich konnte die ganze Zeit über nicht zum Schreiben kommen. Uns geht es hier Alles eher als gut! Verpflegung teuer und schlecht und der Fortbestand der Oper immer noch in der Schwebe! Ehe ich mit Frau Jeritza spreche, möchte ich gerne wissen, wann und für welche Rollen sie nach Brünn oder Prag kommen soll. Direktor Hertzka habe ich sofort telefoniert; er hat Ihnen unterdessen geschrieben. Für Ihre gütige Verwendung für Neumann meinen besten Dank! Hoffentlich kommen bald bessere Zeiten und können wir Sie dann zu Jenůfa wieder hier sehen. Mit herzlichsten Grüßen Ihr sehr ergebener Hugo Reichenberger Die »besseren Zeiten« ließen auf sich warten, jedenfalls was die Oper Jenůfa betraf. Denn sie erschien erst im Mai 1926 wieder am Spielplan der Staatsoper (in der Zwischenzeit hatte sie schon an vielen anderen Bühnen Premiere gehabt). Die Hauptrollen waren wie 1918 besetzt (nur Leuer war durch Hofer ersetzt worden). Maria Jeritza, die die Rolle der Jenůfa 1924 in New York kreiert hatte, stellte die Ziehtochter im Vergleich zu 1918 »mit stärkerer psychologischer Bravour, verfeinerter schauspielerischer Kunst und höher kultivierter Gesangskunst« dar, Hugo Reichenberger »hielt den dünnfädigen Orchesterapparat der Musik Janáčeks in fester Hand«. (Elsa Bienenfeld im Neuen Wiener Journal, 5. Mai 1926) T ER E SA HR DLICK A
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Es kam jedoch nur zu zwei Jenůfa-Vorstellungen in jenem Jahr, den letzten der Zwischenkriegszeit. Die politisch und wirtschaftlich unruhigen Zeiten waren anscheinend schuld, dass die sehr erfolgreiche Oper Jenůfa sich nach dem Zusammenbruch der Monarchie nicht im Repertoire halten konnte. Sie hatte im Jahr 1918 immerhin zehn Aufführungen erlebt und steht somit in der Aufführungsstatistik jener Jahre nur hinter den Opernerstaufführungen Richard Strauss’. Mit Salome, der letzten Hofopernpremiere im Zeitalter der Monarchie im Oktober 1918, verbindet Jenůfa ein ähnliches Schicksal: auch Salome fand erst nach 13 Jahren ihren Weg an die Wiener Hofoper. In ihrer Fremdartigkeit, der Realistik ihres Stoffes und ihrer national gefärbten Tonsprache trug Jenůfa zur Bereicherung des damaligen, von der italienisch-französischen Oper sowie den »Neudeutschen« dominierten Opernalltags bei.
↑ Postkarte des Staatsopernensembles an Janáček, 6. März 1918
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Die (hier veröffentlichten) Originalbriefe von Hugo Reichenberger sind im Janáček-Archiv des Moravské Zemske Muzeum, Brünn (CZ) aufbewahrt. Die Originalbriefe von Janáček an Hugo Reichenberger sind in Privatbesitz.
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Impressum Leoš Janáček JENŮFA Spielzeit 2022/23 Wiederaufnahme (Premiere der Produktion: 24. Februar 2002) HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Sergio Morabito, Andreas Láng, Oliver Láng basierend auf den Programmheften 2002 (Premiere, Gesamtredaktion: Peter Blaha) und 2011. Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Anton Badinger Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH, Bad Vöslau TEXTNACHWEISE Die Handlung (Übernahme aus dem JenůfaProgrammheft der Wiener Staatsoper, 2002), englische Übersetzung von Andrew Smith – Oliver Láng, Über dieses Programmbuch – Tomáš Hanus, Oper als Lehre des Lebens – Jenůfa pur, Gespräch mit David Pountney (Übernahme aus dem Jenůfa-Programmheft der Wiener Staatsoper, 2002) – Max Brod, Leoš Janáček (Übernahme aus dem Jenůfa-Programmheft der Wiener Staatsoper, 2011) – Andreas Láng, Keine Schwarz-Weiß-Malerei (Übernahme aus dem Jenůfa-Programmheft der Wiener Staatsoper, 2011) – Pia Janke, Weibliche Selbstauslöschung (Übernahme aus dem Jenůfa-Programmheft der Wiener Staatsoper, 2002) – Christoph Schwandt, Am Anfang war die Sprache (Übernahme aus dem JenůfaProgrammheft der Wiener Staatsoper, 2011) – Oliver Láng, Seiner Wahrheit verpflichtet (Übernahme aus dem Jenůfa-Programmheft der Wiener Staatsoper, 2011) – Andreas Láng, Der Opernkomponist Leoš Janáček (Übernahme aus dem Jenůfa-Programmheft der Wiener Staatsoper, 2011) – Briefe rund um Jenůfa (Übernahme aus dem Jenůfa-Programmheft der Wiener Staatsoper, 2011) – Oliver Láng, Die Entstehung der Jenůfa (Übernahme aus dem Jenůfa-Programmheft der Wiener Staatsoper, 2011) –Erinnerungen an die Uraufführung (Übernahme aus dem Jenůfa-Programmheft der Wiener Staatsoper, 2011, dort aus: Bohumír Štedron, Leoš Janáček, Artia, 1955) – Clemens Höslinger, Die erste Aufführung von Jenůfa an der Wiener Hofoper und ihre Vorgeschichte (Übernahme aus dem Jenůfa-Programmheft der Wiener Staatsoper, 2011, dort aus: Michael Jahn (Hg.), Von Martha (1847) bis Daphne (1940). Schriften zur Wiener Operngeschichte 1, Reihe B - Band 2, Verlag Der Apfel, Wien) – Die Dekorationen der Jenůfa (Übernahme aus dem Jenůfa-Programmheft der Wiener Staatsoper, 2011) – Teresa Hrdlicka, »Sie werden Freude erleben« (Übernahme aus dem Jenůfa-Programmheft der Wiener Staatsoper, 2002)
BILDNACHWEISE Coverbild: »Nowhere« by Gregory Orekhov Szenenbilder Seite 15, 21, 40: Axel Zeininger / Wiener Staatsoper GmbH Szenenbilder Seite 2/3, 35, 36/37, 52/53: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH Seite 57: AKG-Images Seite 71: Imagno / Archiv Setzer-Tschiedel Seite 79: Österreichisches Theatermuseum Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie Kürzungen werden nicht gekennzeichnet. Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.