L’ORFEO Claudio Monteverdi
INHALT
Die Handlung
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Synopsis in English
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Über dieses Programmbuch
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Eine neue kompositorische Realität → Pablo Heras-Casado
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Die Geburt der Oper aus dem Geiste des Dramas → Silke Leopold
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And death shall have no dominion → Dylan Thomas
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Man kann mit dem Tod nicht verhandeln → Regisseur Tom Morris im Gespräch
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Orpheus und Eurydice → Ovid
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Hymnos an Persephone → Orpheus
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Ein Ort für Orpheus → Nikolaus Stenitzer
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Kommentar zu Aristoteles’ De Anima → Thomas von Aquin
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Orfeos Zukunft → Thomas Macho
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Dunkles zu sagen → Ingeborg Bachmann
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La Seconda Pratica → Claudio Monteverdi und die moderne Musik
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Monteverdis visionäres Klangkonzept → Monika Mertl
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Bavarian Gentians → D. H. Lawrence
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Se i versi alcuna cosa ponno, N'andrò sicuro a più profondi abissi; E intenerito il cor del Re dell'ombre, Meco trarrotti a riveder le stelle. Wenn Lieder irgend etwas vermögen Werde ich mit ihnen sicher in die tiefsten Abgründe gelangen Und wenn das Herz des Königs des Schattens erweicht ist führe ich dich mit mir, die Sterne wiederzusehen. Orfeo, 2. Akt
L’ORFEO → Favola in musica in einem Prolog und fünf Akten Musik Claudio Monteverdi Text Alessandro Striggio
Orchesterbesetzung der Wiener Fassung 2022 2 Blockflöten, 2 Dulziane; 2 Zinken, 5 Trompeten, 5 Posaunen; Schlagzeug; 1 Harfe, 2 Psalterien, 3 Chitarroni (1 auch Gitarre, 1 auch Ceterone); 2 Cembali (beide auch Orgel, 1 auch Regal); 10 Violinen (2 auch Violino piccolo) 2 Violen, 5 Violen da gamba (2 Alt, 1 Tenor, 1 Bass) 1 Lirone, 2 Kontrabässe Continuo Viola da gamba, Lirone, Kontrabass, Dulzian, Harfe, 2 Psalterien, 3 Chitarroni (auch Ceteroni), 2 Cembali (beide auch Orgel, 1 auch Regal) Autograph nicht erhalten. Erster Partiturdruck Venedig 1609 Uraufführung 24. Februar 1607, Palazzo Ducale, Mantua Wiener Erstaufführung 14. Jänner 1931, Großer Musikvereinssaal (Bearbeitung von Carl Orff ) 3. Juni 1954, Großer Saal des Konzerthauses (Urfassung) Erstaufführung an der Wiener Staatsoper 11. Juni 2022
DIE HANDLUNG Prolog Die Musik in Person begrüßt die Gäste. Sie lobt den berühmten Sänger Orfeo.
1. Akt Es ist der Tag der Hochzeit von Orfeo und Euridice. Hirten und Nymphen feiern das Paar mit Tänzen und Gesängen. Orfeo wird um ein Lied gebeten. In seinem Gesang dankt er dem Schöpfer des Universums. Euridice gegenüber bringt er sein Glück über ihr Zusammensein zum Ausdruck. Euridice bekundet ihr eigenes Glück über Orfeos Liebe. Der Gott der Hochzeit wird angerufen, eine Zeremonie wird begangen.
2. Akt Orfeo feiert mit den Hirten die Schönheit der Natur. Er erinnert auch an seine frühere Hoffnungslosigkeit, sein Glück mit Euridice erscheint ihm dadurch noch vollkommener. Eine Botin bringt schreckliche Nachricht: Euridice ist am Gift einer Schlange gestorben. Die fröhliche Stimmung schlägt in Entsetzen um. Orfeo weigert sich, das Schicksal anzunehmen. Durch die Kraft seiner Lieder will er in die Unterwelt gelangen und Euridice zurückholen. Sollte ihm das nicht gelingen, will er mit ihr im Reich der Toten bleiben.
3. Akt Die Hoffnung hat Orfeo bis an den Eingang zum Inferno begleitet. Das Gesetz verbietet, dass sie weitergeht. Sie entfernt sich. Während Orfeo ihren Verlust beklagt, stellt sich ihm Caronte in den Weg. Er ist der Fährmann, der die Toten über den Fluss Lethe bringt. Er verweigert Orfeo die Überfahrt. Kein Lebender könne in das Reich der Toten eingehen.
– Pause – DIE H A N DLU NG
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Orfeo versucht, Caronte mit seinem Gesang zu erweichen. Als der Fährmann einschläft, kann Orfeo sich seiner Barke bemächtigen und den Fluss überqueren.
4. Akt Proserpina bittet ihren Gatten Plutone, Euridice freizugeben und mit Orfeo ins Leben zurückkehren lassen. Der Herrscher der Unterwelt erklärt sich aus Liebe zu ihr dazu bereit. Er stellt aber eine Bedingung: Orfeo darf sich während des Aufstieges zum Licht nicht nach Euridice umblicken. Als Dank für sein Gewähren bittet Plutone Proserpina, in Zukunft auf ihren jährlichen Besuch der Welt der Lebenden zu verzichten. Orfeo und Euridice machen sich auf den Weg. Orfeo kommen Zweifel, ob Euridice ihm wirklich folgt. Er dreht sich nach ihr um. Sofort hört er Stimmen, die ihn des Gesetzesbruches anklagen. Euridice entschwindet. Orfeo bleibt in Verzweiflung zurück.
5. Akt Orfeo ist wieder in der Welt der Lebenden. Seinen Schmerz über den Verlust Euridices kann er nicht überwinden. Ein Echo scheint ihn zu trösten, spiegelt ihm aber vor allem seine eigene Verzweiflung zurück. Orfeo preist noch einmal die verlorene Geliebte und schmäht alle anderen Frauen. Apollo rät Orfeo, sich nicht gehen zu lassen. So wie er sich zuvor an seinem Glück zu sehr erfreut habe, so versenke er sich nun zu sehr in seinen Schmerz. Er rät Orfeo, sein Schicksal anzunehmen und mit ihm in den Himmel zu steigen. Er werde dort Euridices Ebenbild in der Sonne und in den Sternen finden. Orfeo willigt ein. Gemeinsam besingen Apollo und Orfeo den Frieden, den Orfeo nun zu finden hofft. Eine Zeremonie der Lebenden bekräftigt diese Hoffnung.
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DIE H A N DLU NG
SYNOPSIS Prologue Music welcomes the guests. She praises the renowned singer Orfeo.
Act 1 It is Orfeo and Euridice’s wedding day. Shepherds and nymphs celebrate the couple with dances and songs. Orfeo is asked to sing. In his song he thanks the creator of the universe. He expresses his happiness at being united with Euridice. Euridice in turn sings of how joyful she is that Orfeo loves her. The God of Marriage is invoked, a ceremony takes place.
Act 2 Together with the shepherds, Orfeo praises the beauty of nature. He also recalls his past despair, and his happiness with Euridice seems all the more complete. A messenger arrives bringing terrible news: Euridice has died from snake venom. The mood of elation turns to horror. Orfeo refuses to accept this fate. Using his powers as a singer, he intends to enter the Underworld and bring Euridice back. If he does not succeed, he will remain with her in Hades, the realm of the dead.
Act 3 Hope has accompanied Orfeo to the entrance to Hades. The law prohibits her from continuing. She departs. As Orfeo laments her retreat, Caronte steps into his path. He is the ferryman who transports the dead across the River Styx. He refuses to let Orfeo cross the river. No living person is permitted to enter the realm of the dead.
– Interval – SY NOPSIS
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Orfeo tries to soften Caronte’s heart with his singing. When the ferryman falls asleep, Orfeo steals his boat and crosses the river.
Act 4 Proserpina petitions her husband Plutone for Euridice’s release so that she can return to life with Orfeo. Out of love for his wife, the King of the Underworld agrees. However, he imposes one condition: Orfeo may not look back at Euridice as they ascend to the light. By way of thanks for his concession, Plutone asks Proserpina to refrain from making her annual visit to the world of the living in future. Orfeo and Euridice set off. Orfeo is plagued by doubts as to whether Euridice is really following him. He turns back to her. Immediately he hears voices accusing him of breaking the law. Euridice disappears. Orfeo is left alone in despair.
Act 5 Orfeo is back in the world of the living. He cannot overcome his anguish at the loss of Euridice. An echo seems to comfort him, but above all it reflects his own despair. Orfeo once again praises his lost love and vilifies all other women. Apollo advises Orfeo not to succumb to his grief. Just as he had previously revelled greatly in his happiness, now he is becoming excessively immersed in his sorrow. He advises Orfeo to accept his fate and to ascend with him to heaven. There he will find Euridice’s likeness in the sun and in the stars. Orfeo agrees. Together Apollo and Orfeo sing of the peace that Orfeo now hopes to find. A ceremony of the living reaffirms this hope.
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SY NOPSIS
ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH
»Lasciate ogni speranza voi ch’entrate« – »ihr, die ihr eintretet, lasst alle Hoffnung fahren.« Speranza, die Hoffnung, liest singend die Worte, die Librettist und FavolaAutor Alessandro Striggio, Dante Alighieri zitierend, über dem Eingang des Infernos verortet. An diesem Beginn des dritten Aktes von Claudio Monteverdis L’Orfeo, diesem Initial der Operngeschichte, kommt alles zusammen: der antike Mythos trifft auf seine Überlieferung und Transformation durch die christliche Rezeption; die allegorische Figur pendelt zwischen Gefährtin und Gefühl; die Musik schließlich, die Claudio Monteverdi komponiert hat, überführt die Favola ins Drama. Deutlich ist der Abstieg in Richtung Unterwelt im Orgelklang zu hören; drei (Sekund-)Schritte geht es abwärts, ehe Speranza die Warnung ausspricht. Einmal, dann noch ein zweites Mal, einen Ganzton höher. Ob sie hier schon zu weit nach unten geraten ist und ihren Gesang deshalb nach »oben« richtet? Oder will die transponierte Wiederholung Nachdruck suggerieren? Das musikalische Drama lässt Deutungen zu, eindeutig ist die Dramatik der Partitur. Monteverdi komponiert szenisch, setzt Affekte in Musik, schreibt für Stimmen, die verstanden werden wollen. Damit sind in L’Orfeo Maßstäbe gesetzt, die die Frage nach der formal »ersten Oper der Geschichte« weniger wichtig erscheinen lassen als die Faktizität des Musiktheatralen, die uns dieses Werk darbietet. Der eminente Einfluss von Claudio Monteverdis L’Orfeo auf die gesamte Musikgeschichte wird in dem Beitrag von Pablo Heras-Casado verdeutlicht (S. 12). Der Premierendirigent, der L’Orfeo als zweiten Teil des dreiteiligen Monteverdi-Zyklus an der Wiener Staatsoper erarbeitet hat, kontextualisiert die Favola in musica außerdem innerhalb von Claudio Monteverdis Gesamtwerk und erläutert Besonderheiten des Werks für die Aufführungspraxis. Silke Leopold, eine der hervorragendsten Expertinnen für die Musik Monteverdis, Ü BER DIE SE S PROGR A M MBUCH
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→ Folgende Seiten: Kate Lindsey als Die Musik, Iurii Iushkevich als Hirte, Chorakademie der Wiener Staatsoper, 2022
verweist in ihrem Essay (S. 20) auf die Innovationslust des Komponisten, der mit seinem Willen, die Musik zur »Herrin über das Bühnengeschehen« werden zu lassen, aus der bewussten Verletzung gängiger Tonsatzregeln heraus revolutionäre Möglichkeiten für jede künftige Musikpraxis schuf. Zum Verständnis dieser Neuerungen kommt auch der Komponist Claudio Monteverdis selbst zu Wort: Der Materialteil La Seconda Pratica (S. 58) enthält Schriften Monteverdi und seines Bruders Giulio Cesare Monteverdi, die auch vom Selbstbewusstsein eines Künstlers zeugen, der sich der Bedeutung seines Schaffens bewusst ist. Wie nähern wir uns heute der Fabel um Orpheus, dem von den Göttern das Potenzial geschenkt wurde, durch Kunst den Tod abzuschaffen – und dem dann durch schier unergründliche Bestrafung von ebendiesen Göttern seine Grenzen aufgezeigt wurden? Was sagt uns die christliche Ausdeutung des Mythos, die uns auch in Alessandro Striggios Favola begegnet? Der Regisseur Tom Morris bringt im Gespräch (S. 28) seine tiefe Faszination für die Geschichte zum Ausdruck und erklärt, in welchem Sinn er in ihr eine Metapher für die unmittelbaren Fragen der menschlichen Existenz sieht, die uns alle betreffen. Der Philosoph und Kulturwissenschaftler Thomas Macho nimmt für seinen Essay (S. 50) den für die Inszenierung wichtigen Hochzeitsrahmen zum Ausgangspunkt. Macho beschreibt mit Orpheus einen Bogen durch die Kulturgeschichte von Geoffrey Chaucer bis Alfred Hitchcock und untersucht die Wirkmacht des »apollonischen Prinzips« in der Künstlerfigur des Orpheus, die – mit Klaus Theweleit – das »und« zwischen Orpheus und Eurydike immer aufs Neue durchstreicht. Nikolaus Stenitzers Beitrag (S. 43) zeichnet den Weg des Orpheus von der Antike bis in die Renaissance nach und beschreibt den Ort, den der Künstler in Monteverdis Favola in musica findet. Die Wiener Staatsoper bringt L’Orfeo erstmals im Haus am Ring zur Aufführung. Den Concentus Musicus Wien verbindet dagegen eine lange und intensive Beziehung mit dem Werk, die bereits vor der offiziellen Gründung des Ensembles beginnt. Die Musikpublizistin Monika Mertl erzählt die Geschichte dieser Beziehung und lässt in ihrem Beitrag (S. 70) sowohl Nikolaus Harnoncourt als auch die aktuelle Konzertmeisterin des Concentus Musicus, Maria Bader-Kubizek, zu Wort kommen. Ihre ausfühliche Auseinandersetzung mit der Instrumentation rundet Monika Mertl mit einem kleinen Glossar der Orfeo-Instrumente ab – von Chitarrone bis Zink. Den Tod herausfordern, den Tod akzeptieren – der Themenkomplex, der Regisseur Tom Morris fasziniert, inspiriert Künstlerinnen und Künstler seit Generationen immer wieder zu neuen, beeindruckenden Werken. Die Gedichte And death shall have no dominion (S. 26) von Dylan Thomas und Bavarian Gentians von D. H. Lawrence (S. 78) stehen gewissermaßen an zwei thematischen Enden dieser Auseinandersetzung. Die Lyrikerin Uljana Wolf hat sie für dieses Programmbuch neu übersetzt.
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Ü BER DIE SE S PROGR A M MBUCH
Pablo Heras-Casado
EINE NEUE KOMPOSITORISCHE REALITÄT
Auch wenn Orfeo nicht die allererste Oper war, so markiert das Werk doch den Beginn von etwas gänzlich Neuem. Mehr noch: Die Uraufführung 1607, in einem Saal des herzoglichen Palastes in Mantua, hat die Kunstmusik nachhaltig und für immer verändert. Aber natürlich fiel Orfeo nicht vom Himmel, sondern zeigt unterschiedliche Wurzeln und Einflüsse, die hier zusammenfanden: Zunächst das Madrigal – eine Art »Profanierung« religiöser Musiktradition, bei der die damalige Alltagssprache und entsprechende Themen in polyphoner Schreibweise verwendet werden. Das spiegelt unmittelbar die neue Weltanschauung der Renaissance wider. Monteverdi hat diese sehr spezielle und vielgestaltige Gattung häufig verwendet und dabei vor allem ihre Theatralik und ihr illustratives Potenzial entwickelt. In gewissem Sinne kann man daher Orfeo, insbesondere den Chören dieser Oper, durchaus eine Kontinuität des madrigalischen Ausdrucks bescheinigen. Von eminenter Wichtigkeit waren außerdem die ersten Opern-Versuche der Florentiner Camerata: Der in Florenz um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert erfundene »Stile recitativo« folgte der mittelalterlichen Troubadour-Tradition: Eine einzelne Gesangstimme erzählt, bestimmten deklamatorischen Mustern folgend, eine Geschichte und wird dabei instrumental begleitet. Der Komponist Jacopo Peri, einer der führenden Köpfe der Camerata, schrieb unter anderem 1600 seine Euridice, ein Werk, das sicherlich das Orfeo-Projekt direkt inspirierte. Monteverdi verwendete aber in Orfeo eine so präzise Instrumentierung und schrieb so ausgefeilte Rezitative, dass er das florentinische Konzept, das mehr der akademischen Theorie verpflichtet war, zu einer echten, praxisorientierten Komposition weiterentwickelte. PA BLO HER AS- CASA DO
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Zusätzlich lassen sich auch außeritalienische Inspirationsquellen ausmachen, insbesondere die Geisteswelt des französischen Hofes mit all seinen Ausprägungen. Dieser hatte – von der Renaissance bis zum Ende des 18. Jahrhunderts – eine starke Signalwirkung in ganz Europa, symbolisierte Raffinesse und Geschmack und richtete monumentale Feste aus. Er wurde zum eindeutigen Vorbild für alle europäischen Höfe, und die Einbindung der dort entstandenen Musik, der Kostüme oder Tänze in andere, neue Ausdrucksformen – wie eben in die gerade entstehende Gattung Oper – war auch eine Möglichkeit, sich bewusst von den lokalen Volkstraditionen abzugrenzen. Sicherlich haben zudem die in diesen Zeiten zahlreichen Militärmusiken, die nationale Traditionen, Exotisches oder Volksmusik verbreiteten, ebenfalls zur ästhetischen Entwicklung beigetragen – Monteverdi nahm 1595 sogar im Tross des Herzogs von Mantua an einem Feldzug in Ungarn teil und hatte nicht zuletzt dadurch Gelegenheit, diese Form der Musik aus nächster Nähe zu studieren. Und wir können sicher sein, dass Monteverdi, der ja die damals vorherrschenden Möglichkeiten von Harmonie und Rhythmus so weit geöffnet hat, sich auch dieser Klangerfahrung nicht verschloss. Die wunderbare Moresca im fünften Akt von Orfeo ist ein klares Beispiel für einen entsprechenden Einfluss. In Orfeo sind somit vielerlei Zutaten enthalten, wobei die Form der Tragödie den Rahmen absteckt: Die Szenerie ist sehr wichtig – wir wissen, dass die Platzierung der Musiker ein nicht zu unterschätzender Aspekt war und dass es bei der Uraufführung Probleme mit einer ausgetüftelten Bühnenmaschinerie am Ende des letzten Aktes gab. Dazu kommen polyphone Elemente, Rezitative, Tänze, rein instrumentale Teile, detailliert ausgestaltete Bühnenfiguren. Die Tragödie ist somit gewissermaßen ein Vorwand, um ein auswendig gestaltetes höfisches Fest zu veranstalten und gleichermaßen ein dramatisch-musikalisches Bekenntnis abzugeben. Orfeo ist zugleich in gewissem Sinne eine Art Synthese des »RenaissanceMonteverdi«. Eine gute Synthese, weil sie neue Türen öffnete und bewies, dass Musik für diese Art von Ausdruck neue Regeln braucht – die von Monteverdi benannte »Seconda Pratica« als Beginn des barocken Ausdrucks. Und gerade in diesem Zusammenhang sind zwei weitere Termini wichtig, die Monteverdi ebenfalls bewusst unterscheidet: »Parlar cantando« ( »Singendes Sprechen«) und »Cantar parlando« (»Sprechendes Singen«). »Parlar cantando« bezieht sich direkt auf das Rezitativ, das den Gesang benutzt, um das Verständnis einer Geschichte zu fördern, und die »taoistische« Umkehrung »cantar parlando« soll an die deklamative Funktion der Musik erinnern, wobei Monteverdi sich den Regeln der alten »prima pratica« widersetzte: Harmonie, Klang und Farben mussten für ihn die Folgen einer Ausdrucksnotwendigkeit sein. Nach Zarlinos Angriffen auf ihn [vgl. den Abschnitt La Seconda Pratica in diesem Programmbuch, Anm.] kämpfte Monteverdi entschlossen für die 13
EIN E N EU E KOMPOSITOR ISCHE R EA LITÄT
Subjektivität von Musik. In diesem Sinne hatten die Sänger in ihren Ausführungen durchaus Freiheiten – was uns in Orfeos »Possente spirto« insofern schön vor Augen geführt wird, als es scheinbar zwei Versionen dieser Arie gibt. Scheinbar, denn in der »zweiten«, der verzierten Fassung deutet Monteverdi den Ausführenden lediglich an, was ihnen für mannigfaltige Möglichkeiten der Ausschmückung offenstehen. Der Sänger sollte also zusammen mit dem Dirigenten seine eigene Interpretation entwickeln – und soll es natürlich auch heute! Ein großes Thema in Orfeo ist die Instrumentation beziehungsweise das Orchester. Anders als bei der deutlich später entstandenen Incoronazione di Poppea war der Orfeo-Uraufführungsraum verhältnismäßig klein – nicht aber das Orchester: Wir wissen von 39 Instrumenten, die von mindestens 25 oder 30 Musikern gespielt wurden! Ein Drittel des Platzes war also für die Musiker reserviert. Man muss sich nur vorstellen, wie es in der Wiener Staatsoper aussähe, wenn dieses Verhältnis eingehalten würde... Monteverdi bietet also in Orfeo diesbezüglich eine sehr klare Besetzung an (die in unserer kritischen Partitur-Ausgabe übrigens als fakultative und nicht als ausschließliche Möglichkeit vorgeschlagen wird). Schon in der Antike konnten bestimmte Instrumente mit Situationen, Emotionen oder Erzählmomenten in Verbindung gebracht werden, aber Monteverdi ging es hier um mehr: um das Bedürfnis, stets einen konkreten Ausdruck zu finden. Damit vollzog er den ersten Schritt zu dem, was wir heute eine »Orchestrierung« nennen. Etwas ganz Besonderes stellt die berühmte, der Oper vorangestellte Toccata dar, die die Gonzaga-Fanfare intoniert. Wir kennen so viele wunderbare Ouvertüren, die in den darauffolgenden Jahrhunderten entstanden sind, aber dennoch gehört diese kurze Einleitung zu den wohl eindrucksvollsten ihrer Art. Natürlich ging es auch darum, der ruhmreichen Gonzaga-Familie eine dankbare Huldigung darzubringen. Zugleich wollte Monteverdi aber auf das Außergewöhnliche, Erstaunliche hinweisen, das gleich über die Bühne gehen würde und sorgte auf diese Weise dafür, dass alles ruhig wurde, alle ihre Plätze einnahmen. Mit Blick auf die Musikdramaturgie gelang Monteverdi darüber hinaus ein unheimlich effektvoller Kontrast zwischen dieser sehr extrovertierten, lauten, ja, knalligen Toccata in D-Dur und dem feierlichen d-Moll-Beginn der Oper, dem wunderschönen Ritornell des Prologs. Um das Gehör des versammelten Publikums der Uraufführung in jenem kleinen Saal nicht überzustrapazieren, schlug Monteverdi 1607 übrigens vor, die Toccata mit Dämpfer, also con sordino zu spielen. Mittlerweile sind wir aber an strahlende Wagner- und Strauss-Klänge gewöhnt, und so werden wir hier in der großen Wiener Staatsoper mit der zur Verfügung stehenden Trompetenfamilie jene mächtige Klangwirkung erzeugen, die vom Komponisten gedacht war. Interessant ist, inwieweit sich Monteverdis erste Oper L’Orfeo von der deutlich späteren, in Venedig uraufgeführten letzten Oper L’incoronazione PA BLO HER AS- CASA DO
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di Poppea unterscheidet. Auf jeden Fall war die Ausgangssituation und damit die jeweilige Zielsetzung eine gänzlich andere: Poppea steht in direkter Verbindung mit dem venezianischen Drama, L’Orfeo hingegen ist der musikalische Ausdruck eines literarischen Textes. Bei seiner ersten Oper stand Monteverdi mit Alessandro Striggio ein Dichter aus dem Milieu der Librettisten und Musiker zur Seite, der sich an die Raffinesse und Klarheit der Renaissance-Literatur hielt, während der Poppea-Librettist, Giovanni Francesco Busenello, als Mitglied der römischen Accademia degli Umoristi und der venezianischen Accademia degli Incogniti viel pragmatischer und direkter mit den Theatertraditionen verbunden war. Die Geschichte der Poppea geht jedenfalls bedenkenlos auch in Richtung Karikatur und lebt von Kontrasten, L’Orfeo fokussiert weniger auf die einzelnen Charaktere, sondern sucht nach Einheit und Fluidität, verfolgt eher das in sich abgeschlossene fertige Ganze. L’Orfeo ist kontrollierter, »klassischer« in einem gewissen Sinn, ein Werk, mit dem Monteverdi eine Botschaft vermitteln will – eine typische Haltung eines jüngeren Künstlers. In Poppea kämpft der ältere Monteverdi nicht mehr um etwas Bestimmtes, er ist weiser geworden und weiß, dass die Dinge nicht immer kontrolliert werden müssen – er lässt das Stück sich selbst entwickeln. Das bedeutet nicht, dass er sich weniger »kümmert«, er vertraut einfach mehr der theatralischen Situation. Bei L’Orfeo ist es für den Dirigenten daher vorrangig, den autorisierten, »klassischen« Aspekt des Stückes widerzuspiegeln, ohne jedoch die Flüssigkeit und Sinnlichkeit des Textes und der Musik zu stören, während es bei Poppea wichtig ist, das zwanglose Wesen des Werkes zu bewahren.
→ Folgende Seiten: Georg Nigl als Orfeo, Chorakademie und Jugendkompagnie der Wiener Staatsoper, Europaballett, 2022
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EIN E N EU E KOMPOSITOR ISCHE R EA LITÄT
Silke Leopold
DIE GEBURT DER OPER AUS DEM GEISTE DES DRAMAS Claudio Monteverdis L’Orfeo
Halsbrecherische Virtuosität, verzweifeltes Pathos, überschäumende Fröhlichkeit, mutlose Trauer: In Claudio Monteverdis L’Orfeo zieht Orpheus, der mythische Sohn des Gottes Apollo und der Muse Kalliope, der die wilden Tiere, die Götter der Unterwelt, sogar Pflanzen und Steine mit seinem Gesang und Leierspiel zu betören wusste, alle Register seines sängerischen Könnens. Für die Geschichte der Oper bedeutete der 24. Februar 1607 eine Zeitenwende. L’Orfeo, am Karnevalsdienstag im herzoglichen Palast in Mantua uraufgeführt, ist nicht die erste Oper der Musikgeschichte, aber die erste, die diesen Namen wirklich verdient. Monteverdi scheute sich nicht, den neu erfundenen rezitativischen Sprechgesang, der die Theaterdeklamation nachahmen sollte, mit Gesangsnummern zu kombinieren, in denen nicht der Text, sondern die Musik Regie führte. In L’Orfeo finden wir zum ersten Mal jene zwei Kulturen des Gesangs, die für die Oper der nächsten Jahrhunderte maßgebend werden sollten – Rezitativ und Arie. SILK E LEOPOLD
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Doch der Reihe nach. Seit einigen Jahrzehnten hatte man sich in Florenz und Rom in Philologenkreisen darüber Gedanken gemacht, wie in der Antike die griechischen Tragödien aufgeführt worden waren. Einig waren sich die Intellektuellen, die sich an diesen Diskussionen beteiligten und eifrig Briefe schrieben, dass diese Tragödien irgendwie gesungen worden waren. Doch hinsichtlich der Frage, wie dieser Gesang geklungen haben könnte, herrschte Dissens. Solange derartige Debatten gleichsam in der Studierstube stattfanden und keine praktische Umsetzung nach sich zogen, konnte man sich trefflich streiten. Doch als sich die Akademiker Rat bei Musikern holten, bekam die Diskussion eine künstlerische Dynamik, die bald auch die zeitgenössische Musik zu beeinflussen begann. Vincenzo Galilei etwa, der sich in seinem 1581 gedruckten Dialogo della musica antica, et della moderna (Dialog über die antike und die moderne Musik) Gedanken über die Kontrapunktlehre seiner Zeit, aber auch über die Wiederbelebung der antiken Tragödie machte, empfahl, sich bei der Umsetzung der theoretischen Überlegungen in praktische Musik an den Berufsschauspielern des Stegreiftheaters, der Commedia dell’arte, zu orientieren, denn diese seien in der Lage, allein über ihr theatralisches Sprechen, über die Stimme und die Gebärde jede Person, ob junges Mädchen oder alter Mann, lebendig werden zu lassen. Mit seiner Idee, den Spieß gewissermaßen umzudrehen und nicht die Antike in die eigene Zeit zu holen, sondern die moderne Theaterdeklamation mit ihren bisweilen übermäßig gedehnten Textsilben, ihrer zum Singsang gesteigerten Sprachmelodie auf die Antike zurückzuspiegeln und zum Vorbild für dramatisches Singen zu küren, regte Galilei ein kreatives Nachdenken darüber an, wie Schauspielerei und Gesang zu einer neuen Einheit verschmolzen werden konnten. Nun war Musik im Sprechtheater nichts Neues – im Gegenteil: Musik gehörte zum Schauspiel wie die Butter zum Brot. Aber es war immer Musik außerhalb des dramatischen Dialogs gewesen – Lieder und Tänze, Geräuschkulissen wie etwa die klangliche Ausgestaltung von Sturm und Donnerwetter, aber auch die Darstellung all jener Wesen zwischen Himmel und Erde, der Geister und Gottheiten, die sich von der schnöden Welt der Menschen auch dadurch abhoben, dass sie mit einer klanglichen Aura umgeben waren. Der Dialog aber, die Handlung, wurde im Schauspiel grundsätzlich gesprochen. Das hatte auch etwas mit der seit Aristoteles verbindlichen Dramenpoetik zu tun, nach der eine Handlung nicht wahr, aber wahrscheinlich zu sein hatte. Dass aber Menschen sangen, wenn sie miteinander kommunizierten, wäre eher unwahrscheinlich gewesen. Wollte man also diese Deklamation, den dramatischen Dialog selbst musikalisch darstellen, so musste man sich einer Musik bedienen, die deklamationsähnlich war und auf alles verzichtete, was Musik von Sprache unterschied – vokale Virtuosität, geschlossene Form, Wiederholungsstrukturen. Es galt, die Musik als eigenständige Kunst so radikal auf die Sprachebene zu reduzieren, dass sie als Musik in ihren eigenen 19
CLAU DIO MON T EV ER DIS L’OR FEO
Gesetzlichkeiten und Bedürfnissen kaum noch erkennbar war. Der entscheidende Schritt hin zu der Kunstform Oper bestand allerdings nicht in dem neuen, musikalisch intensivierten Sprechen, sondern in der Kombination dieses Theatergesangs mit einer instrumentalen Begleitstimme. Erst durch die Erfindung des Basso continuo, dem akkordischen Fundament des dramatischen Singens, wurde sozusagen Musik daraus. Als Jacopo Peri im Oktober 1600 seine Euridice, die als die erste erhaltene Oper der Musikgeschichte gilt, im Druck veröffentlichte, beschrieb er den neuen Theatergesang einerseits als ein Mittelding zwischen Singen und Sprechen und andererseits als eine Kombination zwischen Instrumentalklang und Gesang. Der Akkord im Basso continuo sollte, nach Peris Vorstellung, so lange liegenbleiben, bis sich der Affekt des Textes änderte und dann auf einem neuen Akkord ebenso lange verweilen. Der Instrumentalbass hatte nach Peri die Aufgabe, ein klangliches Fundament für jene Stimmungen und vor allem Stimmungswechsel zu liefern, die im Gesang, im Textvortrag zum Ausdruck kamen. Dass dadurch in Zusammenhang mit der vagierenden Singstimme bisweilen Dissonanzen entstehen konnten, nahm Peri als eine Art Flurschaden hin; ihm war der ausgehaltene Akkord als Basis für den Gesang wichtiger als eine genaue Beachtung der Kontrapunktregeln bei jedem Melodieschritt. Monteverdi war da aus anderem Holz geschnitzt. Er war im Gefolge seines Dienstherrn, des Herzogs Vincenzo I. Gonzaga von Mantua, in Florenz gewesen, als Peris L’Euridice dort aufgeführt wurde, und er hatte Gelegenheit, die Partitur zu studieren und sich seine eigenen Gedanken über die Verbindung von Drama, Gesang und Instrumentalmusik zu machen. Und er mag erkannt haben, dass das zarte Pflänzchen Oper, dieses neue, vollständig in Musik gesetzte Drama mit gesungenem Dialog, alsbald wieder zu verdorren drohte, wenn man der Musik bei dieser Liaison von Sprechen und Singen so wenige Möglichkeiten zur Entfaltung zugestand. Und er mag sich auf die Suche nach Wegen begeben haben, wie man der Musik im Drama ihre eigene, selbstständige Rolle zuweisen konnte – nicht als Gehilfin des Sprechens, sondern als Herrin über das Bühnengeschehen. Das Ergebnis dieser Überlegungen, die Konzeption des Orfeo, darf mit Fug und Recht als Urknall der Operngeschichte bezeichnet werden. Zum einen stellte Monteverdi die neue Idee des akkordbegleiteten Sologesangs gleichsam vom Kopf auf die Füße. Statt Dissonanzen zwischen Singstimme und Basso continuo beiläufig geschehen zu lassen und als kleinen satztechnischen Unfall zu tolerieren, suchte Monteverdi in seinen musikalischen Dialogen die Dissonanzen regelrecht auf, wenn es galt, eine besonders schmerzhafte Situation hörbar zu machen. Wenn etwa die Unglücksbotin, die Messaggiera, in ihrem Bericht über Euridices Tod von der Schlange erzählt, die plötzlich aus dem grünen Gras hervorschoss, so erklingt just auf der Silbe »an-gue« (Schlange) die erste Dissonanz in diesem Botenbericht; sie schießt sozusagen aus dem harmonischen Akkordteppich hervor. Und wenn Euridice auf dem Weg in die Welt der Lebenden erkennt, SILK E LEOPOLD
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→ Folgende Seiten: Szenenbild, 2022
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dass sie für immer in die Unterwelt zurückkehren muss, weil Orfeo sich aus allzu großer Liebe nicht an den Befehl des Unterweltgottes gehalten hat, sich nicht nach ihr umzuwenden, singt sie ein kurzes Rezitativ, in dem nahezu jede betonte Silbe auf einer nach den Regeln der Satztechnik verbotenen Dissonanz landet. Für Monteverdi ist die Dissonanz – das, was dem Ohr wehtut – ein kompositorisches Mittel, den Schmerz, das Unglück, die Katastrophe musikalisch zu illustrieren. Vor allem aber suchte Monteverdi nach Gelegenheiten, die Eigengesetzlichkeiten der Musik im Drama zuzulassen – all das, was im gesungenen Dialog, dieser musikalischen Prosa, nicht vorkommen durfte. Und er fand eine Lösung, die das musikalische Drama für die nächsten Jahrhunderte lebensfähig machte. Chöre hatte es in Peris L’Euridice zwar auch schon gegeben; sie bildeten den musikalischen Gegenpol zu den gesungenen Dialogen. Auch Monteverdi widmete den Chören in seinem Orfeo große Aufmerksamkeit; darüber hinaus aber erfand er mit einer Reihe in sich geschlossener musikalischer Nummern eine weitere dramatische Ebene, die wie die Dialoge zum Verständnis der Handlung beitrugen, aber weniger ein rhetorisches als ein musikalisches Ereignis darstellten. Jeder der fünf Akte des Librettos aus der Feder von Alessandro Striggio, an dessen Entstehung Monteverdi intensiv mitgewirkt haben dürfte, enthielt eine Solonummer für den Protagonisten, die sich schon im Text zumeist von den Dialogen unterschied, denn es waren, bis auf die erste, Orfeos Lobgesang »Rosa del ciel« auf seinen Vater Apollo, strophische Texte. Orfeos Gesang im II. Akt, »Vi ricorda, o boschi ombrosi«, vertonte Monteverdi als ein Tanzlied mit einer ausgelassenen Rhythmik, vor deren Fröhlichkeit der Auftritt der Messaggiera mit der Unglücksbotschaft umso furchtbarer wirkt. Im III. Akt zieht Orfeo vor dem Unterweltfährmann Caronte alle Register seines sängerischen Könnens und entfacht in den ersten vier Strophen seines Bittgesangs »Possente spirto« ein wahres Feuerwerk an vokaler Virtuosität. Im IV. Akt singt Orfeo ein dreistrophiges, scheinbar simples Lied, »Qual honor di te fia degno«, auf die Macht seiner Leier, während er sich Schritt für Schritt von der Unterwelt in die Welt der Lebenden zurückbegibt. Auch hier könnte der Kontrast zu der Katastrophe, als er sich zu Euridice umwendet, musikalisch kaum größer sein. Und im V. Akt steigert sich Orfeo in den drei sechszeiligen Strophen von »Ma tu anima mia« immer tiefer in seine Verzweiflung über den endgültigen Verlust seiner Geliebten hinein, bis sein Fluch die Bacchantinnen beziehungsweise seinen Vater Apollo auf den Plan ruft. Alle diese Nummern sind Teil der Handlung und dennoch musikalisch deutlich hervorgehoben. Es sind veritable Arien im rezitativischen Verlauf der Handlung. Dazu trug auch eine weitere Entscheidung Monteverdis bei, nämlich den instrumentalen Anteil des musikalischen Dramas nicht auf den Basso continuo zu beschränken, sondern das Bühnengeschehen auch durch die Instrumente abzubilden. Monteverdi schrieb ein reiches Orchester mit CLAU DIO MON T EV ER DIS L’OR FEO
Instrumenten vor, wie sie auch schon in den Intermedien und Theatermusiken des 16. Jahrhunderts verwendet worden waren – Posaunen, Zinken und Regal für die Unterwelt, Flöten für die pastorale Natur, Harfe für den Himmel. Darüber hinaus aber gab Monteverdi dem Streicherklang eine besondere Bedeutung. Denn es ist auffällig: Immer, wenn Orfeo als Sänger und Leierspieler auftritt, erklingen Violinen oder andere Streichinstrumente. Seit dem 15. Jahrhundert hielt man die antike Leier nicht für ein Zupf-, sondern für ein Streichinstrument. In Italien wurden Orpheus oder Apollo zumeist, wie in Raffaels berühmtem Fresko im Vatikan, mit einer Lira da braccio samt Geigenbogen, nicht aber mit einer antiken Leier dargestellt. Monteverdi machte sich diese Vorstellung zu eigen und umgab seinen Orfeo, wo immer es angebracht erschien, mit einem Streicherklang – zu hören etwa in dem Bittgesang vor Caronte: Denn wenn dort von der Unterwelt die Rede ist, erklingen die Zinken, wenn vom Himmel die Rede ist, die Harfe, und wenn Orfeo sich in der ersten und der vierten Strophe seinem Gegenüber vorstellt, erklingen die Violinen. Besonders deutlich wird die Konnotation der Leier als Streichinstrument im IV. Akt, wenn Monteverdi Orfeos Gesang von der »cetra onnipotente« (»allmächtige Leier«) mit Violinritornellen umgibt – und dazu gleich noch den »walking bass«, den gehenden Bass erfindet, der angeblich erst im Jazz des frühen 20. Jahrhunderts entwickelt wurde. Die gleichmäßigen Viertelnoten im Bass, die »Qual honor di te fia degno« begleiten, hatten hier eine szenische Funktion, denn sie zeichneten musikalisch die Schritte auf Orfeos Weg in die Welt der Lebenden nach. Der gehende Bass verstummt denn auch sofort, als Orfeo voller Argwohn, ob Euridice ihm auch folge, stehenbleibt. Dieses szenische Komponieren hatte seinen Grund. L’Orfeo wurde in einem Raum im herzoglichen Palast in Mantua aufgeführt, der vermutlich viel zu klein für eine Bühne war. Wir müssen davon ausgehen, dass die erste Oper der Musikgeschichte, die diesem Namen wirklich gerecht wird, lediglich konzertant aufgeführt wurde. Ob auch die Abänderung des Schlusses mit dieser Enge des Raums zu tun hat, oder ob darin eine bewusste inhaltliche Korrektur steckt, lässt sich aufgrund fehlender Quellen nicht mit Bestimmtheit sagen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass Monteverdi mit dem neuen Schluss seiner Oper eine besondere Geschichte verband. Im Libretto, das für die Aufführung am 24. Februar 1607 gedruckt wurde, treten nach Orfeos Fluch und Schwur, niemals wieder eine andere Frau zu lieben, die Bacchantinnen auf den Plan, sehen Orfeo flüchten, beschließen, ihn zu bestrafen und feiern ihren Gott Bacchus mit einer entfesselten Huldigung. In der Partitur, die Monteverdi zwei Jahre später 1609 veröffentlichte, schwebt stattdessen Apollo auf einer Wolke vom Himmel herab, holt seinen Sohn Orfeo zu sich in den Himmel, während der Chor auf Erden die Moral von der Geschichte offenlegt: So geht es dem, der sich nicht scheut, den ewigen Gott anzurufen. So gewährt der Himmel Gnade dem, der hinieden die Hölle SILK E LEOPOLD
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erfuhr. Und wer Tränen sät, wird die Frucht jeder Gnade ernten. Mit diesen Worten schließt die Oper in der neuen Version, und die Ähnlichkeiten des Textes mit den Worten der Bibel sind nicht unbeabsichtigt. Seit dem frühen Mittelalter hatte man Orpheus mit Christus gleichgesetzt – jenem Sterblichen, der einen Gott zum Vater hatte, der mit seinem Wirken Frieden gebracht hatte, der hinabgestiegen war in das Reich des Todes, zurückgekommen und zu seinem Vater gen Himmel aufgestiegen war. Mit einem Zitat aus Psalm 126 schließlich endete der neue Schluss der Oper. Im Karneval des Jahres 1607 wäre ein solcher Verweis auf die christliche Lehre und die Bibel auf einer musikalischen Bühne wohl als Blasphemie verstanden worden. Doch Monteverdi war ein stiller, aber beharrlicher Verfechter jener katholischen Reform, die man später Gegenreformation nannte. Zu den Reformideen gehörte, die Religionsübung aus der Kirche auch in den Alltag zu holen und weltliche und geistliche Inhalte enger miteinander zu verbinden. Der Verweis auf Christus ganz am Ende einer Geschichte, die von Liebe und Mut, von Sieg und Niederlage gegenüber den eigenen Leidenschaften handelte, am Ende eines durch und durch heidnischen Mythos, mag wie ein mehr oder weniger versteckter Hinweis darauf gelesen werden, wie Monteverdi selbst zu dieser Geschichte stand. Es ist wohl kein Zufall, dass Monteverdi 1610, nur ein Jahr nach der Veröffentlichung seiner Opernpartitur, in der Musik zu seiner Marienvesper zahlreiche Zitate aus L’Orfeo unterbrachte. Die Marienvesper hatte der Komponist Papst Paul V. gewidmet, einem Kämpfer für die katholische Reform.
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CLAU DIO MON T EV ER DIS L’OR FEO
Dylan Thomas
And death shall have no dominion And death shall have no dominion. Dead men naked they shall be one With the man in the wind and the west moon; When their bones are picked clean and the clean bones gone, They shall have stars at elbow and foot; Though they go mad they shall be sane, Though they sink through the sea they shall rise again; Though lovers be lost love shall not; And death shall have no dominion. And death shall have no dominion. Under the windings of the sea They lying long shall not die windily; Twisting on racks when sinews give way, Strapped to a wheel, yet they shall not break; Faith in their hands shall snap in two, And the unicorn evils run them through; Split all ends up they shan’t crack; And death shall have no dominion. And death shall have no dominion. No more may gulls cry at their ears Or waves break loud on the seashores; Where blew a flower may a flower no more Lift its head to the blows of the rain; Though they be mad and dead as nails, Heads of the characters hammer through daisies; Break in the sun till the sun breaks down, And death shall have no dominion.
Dylan Thomas
Und hinfort wird nicht herrschen der Tod Und hinfort wird nicht herrschen der Tod. Denn die Toten werden eins sein, entblößt Mit den Wesen im Wind und dem westlichen Mond Wenn blank ihre Knochen und die Blankknochen fort Werden Sterne sie tragen an Schienbein und Hand Und werden sie irr, sind sie doch bei Verstand Und versinken ins Meer, so steigen sie hoch Wenn die Liebenden rotten, die Liebe [doch] pocht Und hinfort wird nicht herrschen der Tod. Und hinfort wird nicht herrschen der Tod. Unterm Meer mit seinen Gewinden Wer lange gelitten wird sterben geschwinder Verdreht auf der Streckbank, die Sehnen gedehnt Gelegt auf das Rad, doch zerbrechen sie nicht Wird der Glaube zerspringen, entzwei in der Hand Wird Unheil wie Einhorn verwüsten das Land Alle Stricke zerreißen, doch zerbersten sie nicht Und hinfort wird nicht herrschen der Tod. Und hinfort wird nicht herrschen der Tod. Nie mehr Möwen kreischen in diese Ohren Oder Wellen brechen mit lautem Tosen Wo Blüte einst wehte wird Blüte nie mehr den Kopf erheben im wütenden Regen Und wärn sie auch irr, und wächst Gras über sie So sprechen die Kopfseelen doch durch die Blume Zerbrechen die Sonne, bis die Sonne entbricht Und hinfort wird nicht herrschen der Tod. Aus dem Englischen von Uljana Wolf
MAN KANN MIT DEM TOD NICHT VERHANDELN
Regisseur Tom Morris im Gespräch
Du hattest schon länger den Wunsch, L’Orfeo zu inszenieren, als du schließlich Bogdan Roščić kennengelernt hast und das Projekt sich zu konkretisieren begann. Was interessiert dich an dem Werk? Mich interessiert vieles daran. Es fußt auf einem unheimlich tiefgründigen Mythos. Die Geschichte eines Helden, der in die Unterwelt hinabsteigt, um dem Tod die Stirn zu bieten, wurzelt wohl in alten schamanistischen und animistischen Kulturen. In der westlichen Literatur finden wir sie immer wieder, von Homer bis zur Höllenfahrt Jesu in der christlichen Tradition. In der ganzen Geschichte der menschlichen Zivilisation ist der Tod die eine unverhandelbare Sache – wir werden alle sterben. Darum ist die Geschichte der menschlichen Versuche, den Tod auszutricksen, besonders faszinierend. Es scheint so, als würde mich das Thema nicht loslassen. Ich habe eine szenische Produktion von Händels Messiah gemacht und mich dabei an die Orpheus-Geschichte erinnert gefühlt. Ich habe ein Theaterstück über das Klettern inszeniert, Touching the Void, und auch dabei an die OrpheusGeschichte gedacht. Ich habe Breaking The Waves inszeniert, die Oper von Missy Mazzoli nach dem Film von Lars von Trier, die ich in gewisser Weise wiederum wie eine Orpheus-Geschichte gelesen habe. Es ist also ein Mythos und ein Thema, das mir unter die Haut gegangen zu sein scheint. TOM MORRIS
In welcher Weise betrachtest du den Orpheus-Komplex? Welche Fragen stellst du an ihn? Es geht um die Kraft der menschlichen Vorstellungskraft – darum, was Kreativität ist und wie Gemeinschaft sich damit verbindet. Wie reagieren wir auf unvermeidliches Leid, auf Verlust? Die unüberwindbarste Mauer ist klarerweise der Tod. Der Tod wird zum Exempel. Ich bin fasziniert von den menschlichen Reaktionen darauf, individuell und in der Gemeinschaft. Darum spielt der Chor für mich auch so eine Schlüsselrolle in Monteverdis L’Orfeo. Ich habe nach einem Weg gesucht, das Stück unmittelbar fühlbar zu machen, der wirklich aus dem Libretto und der Partitur kommt, und die Stärke der Verbindung zwischen Orfeo und dem Chor zu verstehen, war ein wichtiger Teil dieser Reise. Das ist also das Interesse. Ich denke, es ist eine unheimlich starke Musik, und die Möglichkeit, sie zusammen mit Künstlerinnen und Künstlern dieses Formats zu erforschen, ist ein großes Privileg für mich gewesen. Zum Beispiel einen Weg zu finden, zu verstehen und zu erklären, warum wir plötzlich ein fröhliches Stück Musik an einer Stelle finden, an der wir ein trauriges erwarten würden. Ich bestehe darauf, solche Fragen zu lösen, und wenn man zusammen mit Künstlerinnen und Künstlern wie Georg Nigl, Pablo Heras-Casado, Christina Bock und Kate Lindsey sucht, findet man diese Gründe. Und dann wird es sehr interessant – und sehr kraftvoll. Für mich ist das Aufregendste an dieser Arbeit, TOM MORRIS
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der Musik zu folgen und die Geschichten zu erkunden, die darin zu finden sind. Der Prozess mit dem Dirigenten und den Sängerinnen und Sängern war faszinierend. Du bist ein Regisseur, der vieles im Proberaum zusammen mit den Sängern und dem ganzen Team entwickelt. Einen Ideenrahmen hast du aber mitgebracht. Wie würdest du ihn beschreiben? Die Oper beginnt mit einer Hochzeit. Und ich wollte, dass sich die Vorstellung wie eine Hochzeit anfühlt. Eine Hochzeit ist etwas, womit sich jede und jeder ins Verhältnis setzen kann. Das hat etwas mit der Weise zu tun, wie ich Theater oder Oper machen will: Ich möchte eine Atmosphäre im Proberaum schaffen, in der sich alle eingebunden fühlen. Und im Grunde ist das dasselbe Verhältnis, das ich mit dem Publikum haben möchte. Ich möchte, dass sich alle eingebunden fühlen. Ich mag es nicht, wenn es eine Barriere zwischen der Aufführung und dem Publikum gibt. Ich respektiere einige Künstlerinnen und Künstler sehr, die mit dieser Art von Verhältnis zum Publikum arbeiten. Aber ich mache das nicht, weil ich selbst es in den Produktionen, die ich sehe, nicht genieße. Das erste Element ist also, dass wir das Glück des Hochzeitstags vermitteln wollen. Es ist wichtig, dass am Anfang des Abends niemand das Gefühl hat, irgendetwas könnte schiefgehen. Meine Idee dafür war, eine Atmosphäre zu schaffen, die vermittelt, dass das Publikum selbst auf einer Hochzeit ist. Diese Idee kommt – wie alles in meinem Konzept – aus der Musik. Die Oper beginnt mit einer Fanfare, und man fragt sich: Was hat es damit auf sich? Die Fanfare gehört noch nicht zur Geschichte. Sie fordert vielmehr das Publikum auf, die Plätze einzunehmen, sie ist ein Signal. Wir haben also schon etwas in der Partitur, das uns den Weg zeigt. Auch wie die Musik auftritt und alle begrüßt, eine eindeutige Rolle als Zeremonienmeisterin – wir interpretieren das letztlich genauso, wie es 1607 gemacht wurde. TOM MORRIS
Du siehst deine Inszenierung also nah an der Partitur? Absolut. Ich würde sagen, dass ich methodisch in der Oper genauso arbeite wie in meinen Theaterinszenierungen: Ich untersuche die Partitur genauso, wie ich einen Theatertext untersuchen würde. In der Oper sind der dramatische Konflikt und das Narrativ musikalisch vermittelt. Mich interessiert der Konflikt, darum untersuche ich die Musik, um dorthin zu gelangen. Wenn ich ein Detail verändere, dann immer im Einklang und im Verhältnis zu den historischen Aufführungen der Oper. Zum Beispiel sagen mir die Spezialisten, dass es zu Zeiten der ersten Aufführung radikal war, in Italienisch zu singen. Das war aber die Sprache des Volkes. Darum haben wir auch den Prolog der Musica in Deutsch und Englisch überTOM MORRIS
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setzt, Sprachen, die der Großteil des Publikums spricht und versteht. Was den Mythos betrifft, der in der Oper verarbeitet wird, so ist natürlich die Frage nach dem Abstieg in die Unterwelt zentral – wobei es bemerkenswert ist, dass Striggio »Inferno« schreibt und nicht etwa »Hades«. Die zentrale Frage für mich ist hier: Worum genau geht es bei dem Kampf, den Orfeo führt? Für mich ist es ein Kampf gegen den Tod. Orfeo setzt seine Kunst ein und seine ganze Seele, jeden Aspekt seines menschlichen Geistes, um die Katastrophen der Welt herauszufordern. Das ist es, was er tut, und er setzt die Schönheit dafür ein. So steht es in der Partitur, und alles, was ich mache, ist zu versuchen, das lebendig werden zu lassen, so gut ich kann. Indem du es in deine eigene Geschichte einschreibst? Ich würde gar nicht sagen, dass ich die Geschichte verändert habe. Es handelt sich um einen Mythos, an dem sich viele Menschen abgearbeitet haben. Womit wir es zu tun haben, ist Striggios und Monteverdis Arbeit am Mythos. Die Frage für mich ist: Worum geht es im Grunde? Und meine Antwort: Es geht um die quälende Frage, ob Schönheit die Welt verändern kann. Ob Schönheit tatsächlich die unveränderlichen Kräfte der Natur und der Tragödie aufhalten kann. TOM MORRIS
Eine Frage, die Künstlerinnen und Künstler seit zweitausend Jahren umgetrieben hat und die du neu stellst. Nun, in der Oper sagt Orfeo: Ich akzeptiere es nicht. Ich werde in die Hölle hinuntersteigen und singen, um sie zurückzubekommen, und wenn mir das nicht gelingt, dann bleibe ich mit ihr dort. Tot. So steht es im Libretto. Was ich hinzufüge, hat mit der Form zu tun. In der Oper gibt es zum Beispiel einen klassischen Botenbericht, eine Form, die ihre Wurzeln in der griechischen Tragödie hat. In klassischen Tragödien, etwa Sophokles’ Ödipus, werden entscheidende Ereignisse von einem Boten erzählt. Wir wissen nicht genau, wie diese Erzählung auf der Bühne aussah, ebensowenig wie wir wissen, ob die Messagiera-Szene in L’Orfeo, in der vom Tod Euridices berichtet wird, bei der Uraufführung auf den Bericht der Botin beschränkt war, oder ob die Todesszene zusätzlich dargestellt wurde. In Theaterstücken aus der Renaissance, die ich kenne, gibt es Passagen, in denen in einer Weise über einen Charakter gesprochen wird, die es für mich absolut klar macht, dass diese Figur auch anwesend ist. Es ist möglich, dass das auch so war, wir wissen es nicht. Aber ich weiß, dass ich in dem Moment, in dem Orfeo singt »Du bist tot, und ich lebe«, möchte, dass er bei Euridice ist. Das ist ein Bild, das für mich sehr stark und wichtig ist. Es gibt also Momente, in denen ich die Darstellungskonvention geändert habe, um die Emotion, die in der Musik ist, auch visuell an die Oberfläche zu bringen. TOM MORRIS
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Eingegriffen habe ich, wenn man so will, auch bei den Doppelbesetzungen, die ja zunächst praktische Gründe haben – eine Sängerin kann mehrere kleinere Partien singen, wenn es sich von der Stimmlage her anbietet. Ich habe Entscheidungen darüber getroffen, an welchen Stellen ich möchte, dass das Publikum die Doppelbesetzung so wahrnimmt, dass es sich nicht um mehrere Figuren, sondern um ein und dieselbe Figur handelt, oder auch um die Spiegelung einer Figur in einer anderen. Zum Beispiel sehe ich Proserpina als eine Spiegelung der Botin. Es gibt eine Verbindung zwischen den beiden Figuren in den unterschiedlichen Ebenen des Stückes. Ich möchte, dass auch das Publikum das wahrnimmt. Da du von Proserpina sprichst: Sie steht in Verbindung zu einem der großen Rätsel innerhalb des Mythos. Sie setzt sich bei Plutone für Orfeo und Euridice ein und erreicht, dass Euridice aus der Unterwelt entlassen wird und Orfeo folgen darf. Aber es gibt eine Bedingung: Orfeo darf sich nicht nach Euridice umsehen. Im Opernlibretto finden wir eine Interpretation dieses Verdikts, die wir auf den christlichen Kontext zurückführen können: Ein Geist singt, dass die Entscheidung des Gottes nicht infrage gestellt werden darf. Wie erklärst du dieses Verdikt in deiner Inszenierung? Es gehört zur Struktur des Mythos. In meiner Auseinandersetzung geht es um Trauer und darum, wie wir mit Trauer umgehen. Es gibt das Konzept der fünf Stufen der Trauer, die wir durchlaufen müssen, wenn es in unserem Leben zu einem tragischen Ereignis kommt. Verhandeln und Leugnen sind etwa zwei dieser Stufen. Dieses Konzept ist wichtig für meine Inszenierung, und die Frage des Hinsehens oder Nicht-Hinsehens steht in diesem Zusammenhang, im Sinne eines Hinsehens auf das, was wirklich passiert ist. TOM MORRIS
Also im Sinne eines Akzeptierens? Möglicherweise. Wir führten während der Proben einige Diskussionen darüber, warum die Götter eine solche Entscheidung treffen würden. Ich bin weniger interessiert an dieser Frage, weil es in der Oper um Dinge geht, über die man eben nicht verhandeln kann. Man kann mit dem Tod nicht verhandeln. Die Idee, dass er sie hätte bei sich behalten können, wenn er sich anders verhalten hätte, ist selbst ein Aspekt der Trauer. Es ist nicht der Kern der Sache, sondern unsere Reaktion darauf. So, wie wir selbst manchmal denken: Hätte ich doch früher angerufen. Wäre ich früher dagewesen. Hätte ich nicht so viele lästige Fragen gestellt, wäre ich doch bloß ein besserer Sohn gewesen, ein besserer Vater. Das ist dasselbe Prinzip. TOM MORRIS
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Innerhalb der fünf Stufen der Trauer befinden wir uns dann hier vielleicht auf der Stufe der Leugnung. Oder auf der des Verhandelns. Es ist ein Teil der Geschichte, aber nicht wirklich ihre Wurzel. Warum hat er sich umgedreht? Hat der Umstand, dass er sich umgedreht hat, im Zusammenhang einer Geschichte, in der es um Trauer geht und um die Weigerung, die Realität anzuerkennen, wirklich etwas verändert? Sie ist gestorben. Und das ist es also, womit ich mich in diesem Prozess auseinandersetze. Das Großartige an einem Mythos ist aber: Wenn man ihn mit Wahrhaftigkeit verhandelt – und ich hoffe, dass wir das tun –, dann werden die Zuschauerinnen und Zuschauer auf ihre je eigene Weise reagieren. Es wird bestimmt Leute geben, die sagen: »Meinst du, er hätte…?« – und das ist absolut in Ordnung! Was Georg Nigl uns zeigt, ist ein sehr klarer roter Faden. Über Trauer, Hoffnung, Kampf, Glaube, Erkenntnis, Akzeptanz – und Verzweiflung. Er hat das für sich so entdeckt, auch in der Musik. Er folgt nicht einfach einem Plan. Er kennt das Stück so gut, und trotzdem sagt er während einer Probe plötzlich: »Wow! Sieh dir das an! Sieh dir an, was hier in der Partitur steht!« Für mich sind das verborgene Schätze. Georg ist ein außergewöhnlicher Künstler. Er hat die Erfahrung aus all den vielen Malen, die er diese Partie gesungen hat, und er ist im Proberaum immer noch voller Neugierde. Für mich ist es außergewöhnlich zu sehen, wie präzise er mit Pablo Heras-Casado arbeitet, und mit Rita de Letteriis, der Sprachtrainerin. Sie arbeiten so präzise, als würden sie die Maschinerie eines Rennwagens warten. Aber wenn er dann den Rennwagen fährt, kann er auf einmal völlig überraschende, außergewöhnliche Dinge tun! Es ist ein Mysterium für mich, und ein großes Privileg, an diesem Prozess beteiligt zu sein. Der Grund, warum ich am Theater arbeite und warum ich das Theater liebe, ist, dass man hier mit Leuten zusammenarbeiten kann, die Dinge tun, die man selber nicht kann. Ich kann nicht das tun, was Anna Fleischle macht, die Bühnenbildnerin. Ich kann nicht das tun, was Georg tut, oder Pablo, oder Lucio, der Maestro suggeritore, oder Annemarie, die Korrepetitorin. Das ist fantastisch. Es ist so viel interessanter, herauszufinden, wozu Leute imstande sind, als ihnen zu sagen, was sie tun sollen. TOM MORRIS
Das Gespräch führte Nikolaus Stenitzer
→ Folgende Seiten: Slávka Zámečníková als Euridice, Georg Nigl als Orfeo, 2022
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M A N K A N N MIT DEM TOD N ICH T V ER H A N DELN
Ovid
ORPHEUS UND EURYDICE Aus den Metamorphosen
Von dort [von der Hochzeit von Iphis und Ianthe, Anm.] schreitet Hymenaeus in seinem krokusgelben Gewand durch den unermesslichen Äther; er eilt zu den Gestaden der Ciconen; dorthin ruft ihn Orpheus’ Stimme, doch vergebens. Anwesend war er zwar, doch brachte er nicht die gewohnten Segensworte, keine fröhlichen Gesichter, kein glückliches Omen; auch die Fackel in seiner Hand zischte immerfort; nur tränenerregender Rauch, keine Flamme entstieg ihr, mochte man sie noch so sehr schwingen. Der Ausgang war schlimmer als das Vorzeichen; denn während die Neuvermählte, von der Schar der Naiaden begleitet, durch die Wiesen streifte, starb sie, weil eine Schlange sie in die Ferse gebissen hatte. Nachdem sie der Seher vom Rhodopegebirge an den Lüften des Himmels zur Genüge beweint hatte, wollte er es auch noch mit dem Schattenreich OV ID
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versuchen. So wagte er durch die taenarische Pforte zur Styx hinabzusteigen. Mitten durch die schwerelosen Völker und die Schattenbilder der Bestatteten kam er bittend zu Persephone und zu dem König im unwirtlichen Reich, dem Herrn der Schatten. Dann schlug er zum Liede die Saiten und sang: »Ihr Gottheiten der unterirdischen Welt, in die wir zurückfallen, wir, alles Sterbliche, was entsteht! Ist es erlaubt und gestattet ihr mir, ohne Trug und Umschweife die Wahrheit zu sagen, so wisst: Ich bin nicht hier herabgestiegen, um den finsteren Tartarus zu sehen, nicht, um die drei Hälse des medusischen Höllenhundes zu fesseln, an denen Schlangen als Zotteln hängen. Der Grund meiner Fahrt ist meine Gattin; eine Viper, auf die sie trat, hat Gift in ihr Blut gespritzt und ihr die jungen Jahre geraubt. Ich wollte es ertragen und bekenne: Ich hab’s versucht; doch Amor hat gesiegt. In der oberen Welt ist dieser Gott wohlbekannt; ob er es auch hier ist, weiß ich nicht. Doch ich vermute, dass er es auch hier ist; denn, sofern die alte Sage von dem Raub nicht erlogen ist, hat auch euch Amor vereint. Bei diesen Gefilden voller Angst, bei diesem unermesslichen Chaos und dem Schweigen des öden Reiches bitte ich euch: Macht Eurydices übereilten Tod rückgängig! Alles ist euch verfallen, und nach kurzem Aufenthalt eilen wir früher oder später zu ein und demselben Wohnsitz. Wir alle streben hierher; dies ist unser letztes Heim, und ihr herrscht am Längsten über das Menschengeschlecht. Auch Eurydice wird euch gehören, wenn sie die Jahre, die ihr zustehen, vollendet hat und reif ist. Ich bitte euch nicht, sie mir zu schenken, nur zu leihen. Verweigert aber meiner Gattin das Geschick diese Gnade, bin ich fest entschlossen, nicht zurückzukehren: Freut euch dann über den Tod zweier Menschen!« Während er so sang und zu seinen Worten die Saiten schlug, weinten die blutlosen Seelen, Tantalus griff nicht nach der fliehenden Welle, staunend stand Ixions Rad still, die Vögel zerfleischten nicht die Leber des Tityos, die Beliden ließen ihre Krüge stehen, und du, Sisyphus, saßest auf deinem Stein. Damals sollen zum ersten Mal die Wangen der Eumeniden von Tränen feucht geworden sein, weil der Gesang sie überwältigte. Weder die Königin noch der Herrscher der Unterwelt bringen es über sich, die Bitte abzuschlagen, und sie lassen Eurydice rufen. Sie befand sich unter den neuangekommenen Schatten, kam heran, und die Wunde erlaubte ihr nur langsam zu schreiten. Orpheus vom Rhodopegebirge erhält sie unter der Bedingung, nicht zurückzublicken, bevor er die Täler des Avernus verlassen habe – sonst werde das Geschenk zunichte. Der Pfad führt sie durch Totenstille bergan; steil ist er, dunkel und in dichten Nebel gehüllt. Schon waren sie nicht weit vom Rand der Erdoberfläche entfernt – besorgt, sie könne ermatten, und begierig, sie zu sehen, wandte Orpheus voll Liebe den Blick, und alsbald glitt sie zurück. Sie streckt die Arme aus, will sich ergreifen lassen, will ergreifen und erhascht doch nichts, die Unselige, als flüchtige Lüfte. Schon starb sie zum zweiten Mal, doch mit keinem Wort klagte sie 37
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über ihren Gatten – denn worüber hätte sie klagen sollen als darüber, dass sie geliebt wurde? –, sprach ein letztes Lebewohl, das er kaum noch hören konnte, und sank wieder an denselben Ort zurück. Über den zweifachen Tod seiner Gattin war Orpheus so entsetzt wie der Mann, der voll Grauen die drei Hälse des Höllenhundes – den mittleren in Ketten – erblickte und den die Angst nicht eher verließ als seine bisherige Natur, da sein Leib zu Stein wurde, oder wie Olenus, der den Vorwurf auf sich selbst lenkte und als der Schuldige gelten wollte, und du, unglückliche Lethaea – allzu viel hast du dir auf deine Schönheit eingebildet –; einst wart ihr zwei engverbundene Herzen, jetzt seid ihr Steine auf dem quellenreichen Ida. Den Bittenden, der vergeblich noch einmal ans andere Ufer wollte, hatte der Fährmann abgewiesen; dennoch saß Orpheus von Trauer entstellt sieben Tage lang am Ufer, ohne Ceres’ Gaben zu genießen. Sorge, Seelenschmerz und Tränen waren seine Speise. Er klagt über die Grausamkeit der Götter des Erebus und zieht sich auf die hohe Rhodope und den von Nordwinden gepeitschten Haemus zurück. Schon hatte Titan zum dritten Mal den Jahreskreis durchlaufen, den das Sternbild der Fische beschließt. Orpheus hatte alle Frauenliebe gemieden, sei es, weil er kein Glück gehabt oder weil er sein Wort gegeben hatte; viele Frauen aber brannten darauf, sich dem Sänger zu verbinden, und ebenso viele erlitten eine Zurückweisung. Er lehrte auch die Thrakervölker, die Liebe auf zarte Knaben zu übertragen, vor der Reifezeit den kurzen Frühling zu genießen und die ersten Blüten zu pflücken.
→ Wolfgang Bankl als Caronte, Antigoni Chalkia als Nymphe, Slávka Zámečníková als Euridice, Christina Bock als Botin, 2022
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Orpheus
HYMNOS AN PERSEPHONE Erscheine, Persephoneia, Selige Tochter des großen Zeus, Eingeborene Göttin, Nimm auf die wohlmeinenden Opfer, Plutons vielgepriesene Gattin, Sorgsame, Lebenspenderin! Dein sind die Tore des Hades Unter den Schlünden der Erde, Rechthandelnde, lieblich Gelockte, Demeters keuscher Spross – Mutter der Eumeniden, Fürstin der Unterirdischen, Mädchen, das Zeus in heimlicher Zeugung Einst ins Leben berief, Des lautlärmenden Eubulos, Des vielgestaltigen Mutter. Gespielin der Horen, Bringerin des Lichtes, Heilige, leuchtende Glanzgestalt, Allüberwinderin, Jungfrau, Prangend im Kranze der Früchte, Hellstrahlende, Hörnergezierte, Der Sterblichen einzige Sehnsucht. Göttin des lieblichen Frühlings, Von duftenden Wiesen erfreut; 40
In grünenden Trieben Lässt du erscheinen Deine hehre Gestalt Und vermählst dich im Herbste Gewaltsam zum Brautbett geraubt. Du allein bist Leben und Tod Den mühebeladenen Menschen, Persephone! Denn du allein Bist aller Nahrung und Untergang. Höre uns, selige Göttin! Sende uns Früchte hinauf aus der Erde, Lass sprossen den Frieden, gib uns Gesundheit, Die sanfthändge und reiches Leben, Das ein gesegnetes Alter Führe, Königin, in dein Reich Und zu Pluton, dem Herrschenden!
Datierung ungewiss; die Sammlung der Hymnen, die dem Orpheus zugeschrieben wurden, ist vermutlich erst nach dem 2. Jahrhundert n. Chr. entstanden.
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Nikolaus Stenitzer
EIN ORT FÜR ORPHEUS
Mythos und Musik von der Antike bis in die Renaissance
Orpheus. Der klingende Name wird seit über zweitausend Jahren beschworen, wenn es um die Kraft der Musik geht. Die Lyra, zu der Orpheus singt, erhielt er von Apollon selbst, dem Gott der Musik, der häufig – auch im von Monteverdi vertonten Libretto von Alessandro Striggio – als Orpheus’ Vater bezeichnet wird. In manchen Quellen, in Platons Symposion (Gastmahl, 289 v. Chr.) etwa, ist noch von einem anderen, vielleicht dem eigentlichen Vater die Rede: König Oiagros von Pieira. Abweichende Details in verschiedenen Überlieferungen einer mythischen Figur sind alles andere als ungewöhnlich. Im Fall von Orpheus ist eine Interpretation möglich, die beides zulässt: einen leiblichen und einen geistigen, künstlerischen Vater. Seiner Mutter Kalliope hat Orpheus jedenfalls viele Begabungen zu verdanken, ist sie doch die Muse der epischen Dichtung, der Wissenschaft, der Philosophie, des Saitenspiels, des Epos und der Elegie. Für Orpheus, den Chronisten – einer der Gesänge, die ihm zugeschrieben werden, handelt von der Geburt der Menschen aus der Asche der getöteten Titanen – mag seine Großmutter Mnemosyne eine Rolle gespielt haben, die Muse der Erinnerung. Ein Halbgott wird Orpheus schon durch die Verwandtschaft mit dem Göttervater Zeus, der Kalliope mit Mnemosyne gezeugt hat. Trotz all dieser Voraussetzungen bleibt doch bemerkenswert, was Orpheus alles vermocht haben soll: Als Argonaut bewahrte er seine Gefährten auf der Argo vor dem Gesang der Sirenen, indem er schöner sang als sie; sein Gesang war es aber auch, der mit einem Gleichnis Frieden stiftete, als die Argonauten in Streit gerieten. Wie Apollonius von Rhodos in seinen Argonautica berichtet, sang er »wie einst die Erde, das Meer und droben der Himmel Sich zu einer Gestalt miteinander vereinigt, und wieder Nach verderblichem Streit ein jedes sich friedlich gesondert…« Der römische Dichter und Philosoph Seneca schildert die tierbändigende Kraft von Orpheus’ Kunst: »… zu seinen Gesängen kommen aus ihren Verstecken selbst die wilden Tiere, und unerschrockenen Schafen zunächst hat der marmarische Löwe sich gelagert, nicht zittern die Damhirsche vor den Wölfen, und die Schlange flieht ihr Versteck, für einmal ihr Gift vergessend.« Das Vertrauen in die Kraft seines Gesanges trägt auch dazu bei, dass Orpheus in die Unterwelt hinabsteigt. Hier spielt die berühmteste OrpheusGeschichte, und eine der berührendsten Liebestragödien aller Zeiten. Die Dryade (Waldnymphe) Eurydike ist Orpheus’ Braut. Am Tag der Hochzeit wird sie von einer Schlange gebissen und stirbt. Orpheus kann das nicht akzeptieren: Er steigt in den Hades hinunter, um Eurydike zurückzuholen. In den Metamorphosen des Ovid finden wir eine der eindrucksvollsten Schilderungen der Macht des orphischen Gesanges, dessen Kraft auch in der Unterwelt wirkt. Ovid beschreibt, wie alles stillsteht, wenn Orpheus singt: »Während er so sang und zu seinen Worten die Saiten schlug, weinten die 43
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blutlosen Seelen, Tantalus griff nicht nach der fliehenden Welle, staunend stand Ixions Rad still, die Vögel zerfleischten nicht die Leber des Tityos, die Beliden ließen ihre Krüge stehen, und du, Sisyphus, saßest auf deinem Stein. Damals sollen zum ersten Mal die Wangen der Eumeniden von Tränen feucht geworden sein, weil der Gesang sie überwältigte.« Orpheus’ Gesang vermag es, das Schlimmste zu durchbrechen, was die Unterwelt zu bieten hat: die endlose Wiederholung. Die Eumeniden – griechisch Erinnyen, später auch Furien – werden ihre Tränen allerdings trocknen und Orpheus später noch in Stücke reißen. Zunächst gelingt es dem Halbgott aber vermöge seines Gesanges, den Lethefluss zu überqueren – der Fährmann Charon lässt sich nicht bezaubern, aber von den Klängen der orphischen Leier einschläfern; die reale Chance, Eurydike ins Leben zurückzuholen, erhält er aber durch die Hilfe der Göttin Persephone (Proserpina), die sich bei ihrem Ehemann Pluto für Eurydike einsetzt und auch von ihm erhört wird. Beginnend mit Vergil (Georgica, 29 v. Chr.) ist die Erlaubnis, Eurydike wieder ins Leben zurückzuholen, aber an eine Bedingung geknüpft: Orpheus darf sich während des Aufstieges nicht nach Eurydike umsehen. Genau das tut er aber, und die Chance ist vergeben, das Leben verwirkt, Eurydike muss in der Unterwelt bleiben, Orpheus ohne sie zurückkehren. Die Mühen des Abstiegs bleiben also unbelohnt, und mehr noch: Der alles verändernde Gesang des Orpheus war vergebens. Nur wegen eines Blickes. Was hat es mit dieser Strafe auf sich? Bei Platon, im Symposion gibt es das Blickverbot noch nicht. Aber es gibt schon die Lesart, dass hier kein Missgeschick geschieht, sondern Orpheus bewusst bestraft wird. Phaidros äußert sie: Orpheus sei nicht bereit gewesen, für seine Liebe zu sterben und habe stattdessen Eurydike ins Leben zurückholen wollen. Seine Liebe, so Phaidros, sei nicht bedingungslos genug gewesen. Und das ist auch der Grund, warum Orpheus schließlich von Frauen zerrissen wird: als Strafe für seine vorgebliche Feigheit. Für Alessandro Striggio schließlich, der das Libretto zu Claudio Monteverdis L’Orfeo schrieb, ist vor allem die Unhinterfragbarkeit des Gesetzes entscheidend. Nachdem Plutone es verkündet hat, bekräftigt einer der Geister, der Spiriti: »Legge ne fia tuo cenno, ché ricercar altre cagioni interne di tuo voler nostri pensier non denno« – »Dein Wink sei uns Gesetz, nach anderen inneren Ursachen für deinen Wunsch zu forschen, steht unseren Gedanken nicht zu«. Natürlich ist Zweifel an der Order des Gottes verboten, und so wird Zweifel schließlich auch zu Orfeos Verhängnis. Striggio und Monteverdi setzen ihn in Wort und Musik unvergleichlich in Szene. Orfeo fragt sich, ob Eurydice ihm auch wirklich folgen wird. Dann hadert er damit, dass ihm die Vervollkommnung seines Glücks verwehrt wird, die darin bestünde, Eurydikes Augen zu sehen. Er räsoniert: Amor sei der mächtigere Gott als Pluto, ihm müsse N IKOLAUS ST EN ITZER
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er wohl folgen. Ein Geräusch, das er hinter sich hört, ist vielleicht nur noch ein letzter Auslöser. Orfeo kehrt sich um und verliert seine Geliebte für immer. Zweifel sind verboten. Ob Pluto Orpheus eine Falle gestellt hat, ob dieser seine Eurydike nicht in jedem Fall verloren hätte, ist nicht überprüfbar, eindeutig ist das Gebot, zu glauben und nicht zu zweifeln. Zum Schluss der Favola in musica, wie sie bei der Erstaufführung in Mantua 1607 gespielt worden sein muss, schwört Orfeo den Frauen ab – mit harten Worten, nennt sie hochmütig und ehrlos, ohne Geist und edle Gesinnung. Apollo tritt in der Art eines Deus ex Machina auf und rät Orfeo, mit ihm in den Himmel aufzusteigen. »Ancor non sai come nulla qua giú diletta e dura?« – »Weißt du noch nicht, dass hier unten keine Freude von Dauer ist?« Im Jenseits, so die Suggestion, werden die beiden wieder vereint sein. Es ist eine Stelle, an der der antike Mythos mit einem christlichen Verständnis von Diesseits und Jenseits verschmolzen wird. So, wie der Orpheus-Mythos und auch die Figur des Orpheus selbst über die Jahrhunderte häufig aus der Perspektive einer christlichen Weltsicht interpretiert und neu gestaltet wurden. Interessant ist der alternative Schluss im gedruckten Libretto von 1607, der der antiken Überlieferung folgt. Anstelle Apollos treten hier die Furien bzw. Bacchantinnen auf und reißen Orfeo in Stücke, als unmittelbare Rache für seine Schmähung der Frauen. Alternativ zum versöhnlichen Ende mit Ausblick ins Jenseits steht also theoretisch auch ein unversöhnliches zur Verfügung, das allerdings wohl nie aufgeführt worden ist. Warum es dem Druck hinzugefügt wurde, ist nicht restlos geklärt. Die beiden Schlüsse sind durchaus spektakulär. Vor allem ist L’Orfeo aber voller spektakulärer musiktheatraler Ideen. Monteverdi hatte die Florentiner Camerata schon mit seinen Madrigalkompositionen irritiert, die die genaue Textverständlichkeit über die strenge Befolgung der Kontrapunktregeln stellten. In L’Orfeo hören wir eine Musik, die voller Spiel ist, vom dramatischen Stimmungswechsel mit dem Tod Euridices im 2. Akt (der in antiker Tradition als Botenbericht verfasst ist) bis zu »Possente Spirto«, jenem ganz und gar außergewöhnlichen Stück Musik im 3. Akt, in dem die Virtuosität des Gesanges schon die ganze Geschichte der Unwiderstehlichkeit von Orfeos Kunst erzählt und selbst noch das Einschlafen des Fährmanns Caronte kraft des Wohlklangs komponiert ist. Ein ganz besonderes Stück Musiktheater finden wir etwas früher im 3. Akt, vor den Toren der Unterwelt. Hierhin hat Speranza, die Hoffnung, Orfeo begleitet. Sie spricht ihm Mut zu, nicht ohne darauf hinzuweisen, was hier nötig sein werde: »Un bel canto e un gran core« nämlich, »ein schöner Gesang und ein großes Herz«. Dann aber muss sie sich verabschieden, ein Gesetz verbiete es, dass sie weiterginge. Wie schwere Schritte abwärts klingen die Sekundschritte der Orgel, dann spricht die Hoffnung das Gesetz aus: »Lasciate ogni speranza voi ch’entrate« – »Ihr, die ihr eintretet, lasset alle Hoffnung fahren«. Dante Alighieri hatte eben diese Inschrift über den Eingang seines Infernos gesetzt. Hier ist nicht nur ein 45
EIN ORT F Ü R OR PHEUS
großer Dichter (anachronistisch) zitiert und der Weg nach unten musikalisch eindrucksvoll in Szene gesetzt; sogar der notwendige Abgang der Speranza ist inhaltlich und musikalisch begründet. So weit nach unten darf sie, die Hoffnung, den Sänger begleiten. Dann muss er sie fahren lassen. Solche Momente schreiben Musiktheatergeschichte. Orpheus, der singende Halbgott, hat in Monteverdis Favola in musica einen unvergleichlichen Ort erhalten.
→ Hiroshi Amako als Apollo, Slávka Zámečníková als Euridice, 2022
EIN ORT F Ü R OR PHEUS
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Thomas von Aquin
Kommentar zu Aristoteles’ De Anima Man muss nämlich wissen, dass Orpheus einer der ersten Philosophen war, die gleichermaßen Dichter und Theologen waren, die in Versen über die Philosophie sprachen und über Gott. Und dieser Orpheus brachte als erster die Menschen dazu, gemeinschaftlich zu wohnen, und er war der beste Prediger, so dass er die Menschen, die wilden Tieren gleich und ungesellig waren, in ein Gemeinwesen zusammenführte. Und deswegen heißt es von ihm, er sei der beste Leierspieler gewesen, da es ihm sogar gelungen ist, Steine zum Tanzen zu bringen. Damit ist nämlich gemeint, er sei ein so guter Prediger gewesen, dass er in der Lage war, steinerne Menschen zu erweichen. (Um 1268)
← Hiroshi Amako als Apollo, Andrea Mastroni als Plutone, Narumi Hashioka und Aaron McInnis als Hirten, Georg Nigl als Orfeo, 2022
Thomas Macho
ORFEOS ZUKUNFT Es beginnt mit einer Hochzeit, vielleicht am 14. Februar, dem Tag der Liebenden und Verliebten. Ob dieser Tag, der Valentinstag, auf den Bischof von Terni zurückgeführt werden kann, der angeblich die Ehefrauen, die er traute, mit Blumen aus seinem eigenen Garten beschenkte (und der am 14. Februar 268 enthauptet wurde), ist zumindest umstritten. Vermutet werden dürfen ältere Wurzeln des Brauchs: Im antiken Rom sei am 14. Februar die Göttin Juno verehrt worden; zugleich erinnerte man sich während der Parentalia, die im Unterweltsmonat Februarius (vom 13. bis 21. Februar) gefeiert wurden, an die verstorbenen Ahnen. Und am 15. Februar wurden die Lupercalien begangen, zu Ehren des Herdengottes Faunus, der den Beinamen Lupercus, der »Wolfsabwehrer«, führte. Dieses Fest begann mit einem Bocksopfer im Lupercal, der Grotte des Lupercus auf dem römischen Palatin; nach dem Opfermahl banden sich die Opferpriester die Felle der geschlachteten Böcke um die Hüften, zerschnitten andere Felle in Riemen und liefen durch die Stadt. Die Frauen stellten sich ihnen in den Weg und ließen sich mit den Riemen in die Hand schlagen, weil sie sich davon Eheglück erhofften. Im Mittelalter verbreiteten sich Vorstellungen von einer »Vogelhochzeit« am 14. Februar: In seinem Gedicht vom »Parlament der Vögel«, das er 1383 vermutlich zum Anlass einer Valentinsfeier am Hof Königs Richard II. verfasst und öffentlich vorgetragen hatte, beschrieb Geoffrey Chaucer, Autor der Canterbury Tales, wie sich die Vögel zum Feiertag um die Göttin Natur versammeln, damit alle ihre Partnerinnen und Partner finden: »Denn Feiertag Sankt Valentins war’s eben, / An dem zur Gattenwahl nach diesem Ort / Sich alle Vögel, die man kennt, begeben.« Am Ende schenkt die Natur jedem Vogel sein Männchen oder Weibchen; alle sind zufrieden: »Wie sie sich in die Flügel nahmen! Wie / Sie ihre Hälschen umeinander rankten / Und der Natur, der edlen Göttin, dankten!« In Monteverdis L’Orfeo ist es nicht die Göttin Natur, die zu Beginn der Oper auftritt, sondern die personifizierte Allegorie der Musik: »Ich bin die Musik, die mit lieblichen Tönen / dem verwirrten Herzen Ruhe schenkt. / Bald zu edlem Zorn, bald zur Liebe vermag ich / selbst eiserstarrte Sinne zu entT HOM AS M ACHO
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fachen.« Auch der Gesang der Musik adressiert übrigens die Vögel: »Wenn ich nun meine Lieder singe, mal heiter, mal traurig, / soll der Vogel im Baum unbewegt lauschen, / soll keine Welle an die Ufer schlagen / und jedes Lüftchen still verweilen.« Monteverdis Oper gehört bekanntlich zu den ältesten Opern; sie stammt aus dem Jahr 1607 – und war bereits die dritte Oper, die sich mit dem Stoff von Orpheus und Eurydike befasste: nach Jacopo Peris L’Euridice (von 1600) und Giulio Caccinis L’Euridice (von 1602). Der Eröffnungsauftritt der Musik selbst ist übrigens naheliegend; denn die Sage von Orpheus und Eurydike gehört zu den einflussreichsten Ursprungsmythen der Musik. Nicht umsonst wurden in den Jahrhunderten nach Monteverdi rund 65 Orpheus-Opern komponiert. Ursprungsmythen der Musik handeln zwar zumeist von der Liebe, aber allemal auch von ihrem Scheitern. Davon erzählt bereits Ovid im ersten Buch seiner Metamorphosen: »In Arkadiens eisigem Bergland, unter den nonakrinischen Hamadryaden, war eine sehr berühmte Najade; die Nymphen nannten sie Syrinx. Nicht nur einmal narrte sie Satyrn, die sie verfolgten, allerlei Götter auch, die im schattigen Wald und im fruchtbaren Lande wohnen.« Doch Syrinx bewahrt ihre Keuschheit, im Dienst der Göttin Diana, bis der Hirtengott Pan, griechisches Pendant von Faunus, sie umwirbt und bedrängt. Syrinx widersetzt sich und flieht, »bis sie zur sanften Strömung des sandigen Ladon gelangt«, wo die Wellen ihre Flucht hemmen. Sie fleht die Schwestern im Wasser an, ihr zu helfen und sie zu verwandeln; und als Pan glaubt, endlich die Nymphe ergreifen zu können, hält er nur Schilfrohr in den Armen. Da streicht der Wind durch das Schilf und entlockt ihm einen süßen, klagenden Ton. Pan ruft aus: »Diese Unterhaltung mit dir soll mir bleiben!«, »hoc mihi conloquium tecum manebit«; er verbindet Schilfrohre verschiedener Länge miteinander und fügt sie zur Panflöte, der Syrinx, mit der er den Namen der Nymphe überliefert. Bemerkenswert ist gewiss, dass Ovid auf die Wiedergabe der Werbung Pans explizit verzichtet, danach in der Vergangenheit spricht, erzählend, was er erzählen wollte und offenkundig nicht erzählen will oder kann: als habe die Musik der Panflöte die Gegenwart der Nymphe so erfolgreich ausgelöscht, dass es keinen Versen mehr gelingen kann, mit ihren Klängen in eine semantische Konkurrenz zu treten. Ernst Bloch kommentiert im Prinzip Hoffnung: »Die Panflöte hat es am Ende weit gebracht; sie ist der Urvorfahr der Orgel, doch weit mehr: sie ist die Geburtsstätte der Musik als eines menschlichen Ausdrucks, tönenden Wunschtraums.« Auch Orpheus muss auf seine Geliebte verzichten; erst verliert er sie an den Biss einer Schlange – nach anderen Quellen sind es neuerlich Satyrn oder auch, so Vergil im vierten Buch seiner Georgica, Aristaeus, der Sohn Apollons und der Nymphe Kyrene, die ihr nachgestellt und sie zur übereilten Flucht genötigt haben – und danach an den eigenen Blick über die Schulter. Was ihm bleibt, ist die Musik und der Ruhm des Künstlers, zumindest bis zu seiner Zerfleischung durch die Mänaden, die Anhängerinnen des Gottes 51
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Dionysos. Das Detail vom tödlichen Blick des Sängers findet sich ebenfalls in Vergils Georgica, aber auch im Libretto zu Monteverdis L’Orfeo: Pluto (Hades) lässt sich zwar durch seine Gattin Proserpina (Persephone oder Kore) erweichen, aber nicht ohne Gegenleistung. Erst verkündet er: »Wenn auch ein strenges, unabänderliches Schicksal / deinen Wünschen, geliebte Gattin, im Wege steht, / so soll doch einer solchen Schönheit und so / inständigem Bitten nichts verweigert werden. / Gegen den Willen des Schicksals soll Orpheus / seine geliebte Eurydike wiederfinden; / doch bevor sein Fuß nicht diese Abgründe / verlassen hat, darf er seinen verlangenden Blick nicht nach ihr wenden, / denn durch nur einen einzigen Blick / wird sie für immer verloren sein.« Aber dann bemerkt er zu Proserpina, die ihm gedankt hat: »Deine süßen Liebesworte erneuern / die alte Wunde in meinem Herzen; / so soll deine Seele nie mehr / nach himmlischer Freude verlangen, / damit du nicht deswegen dein eheliches Bett verlässt.« Tod und Leben, Sommer und Winter sollen also endgültig geschieden werden; Proserpina darf nicht mehr – wie ursprünglich vereinbart – jeden Sommer aus der Unterwelt auf die Erde zurückkehren, um Himmel und Sonne zu erblicken. Sie wird vielmehr das künftige Schicksal Eurydikes teilen, die nach dem verhängnisvollen Rückblick des Orpheus klagt: »Und ich, Elende, darf / nicht mehr zurückkehren / zum Licht und zum Leben und verliere auch noch / dich, mein liebstes Gut, meinen Gatten!« Am Ende der Oper wird Orpheus getröstet; Apoll verspricht ihm den Aufstieg zum Himmel: »Viel zu sehr freutest du dich über dein heiteres Glück / nun weinst du zu sehr / über dein hartes, grausames Los. / Noch weißt du nicht, / dass hier unten Heiterkeit und Unglück nichts bedeuten. / Doch wenn du ewiges Leben genießen willst, / steig mit mir zum Himmel empor, denn er steht dir offen.« Auf die Frage des Orpheus – »So werde ich niemals mehr die / geliebten Augen meiner Eurydike wiedersehen?« – antwortet Apoll ungerührt: »In der Sonne und in den Sternen / wirst du ihr schönes Ebenbild entdecken.« Friedrich Nietzsche hat Orpheus mehrfach mit Sokrates (und später auch mit Wagner) verglichen; für ihn ist »der aesthetische Sokratismus das mörderische Princip: insofern aber der Kampf gegen das Dionysische der älteren Kunst gerichtet war, erkennen wir in Sokrates den Gegner des Dionysus, den neuen Orpheus, der sich gegen Dionysus erhebt und, obschon bestimmt, von den Mänaden des athenischen Gerichtshofes zerrissen zu werden, doch den übermächtigen Gott selbst zur Flucht nöthigt«. Was Nietzsche dem Orpheus vielleicht nicht verzeihen konnte, ist das Bündnis mit dem Sonnengott und dem Auge, das implizit gegen seine Frau, die große Andere – und nicht nur auf den Opernbühnen – gerichtet war. Klaus Theweleit hat im Titel des ersten Bandes seines Buchs der Könige das und zwischen Orpheus und Eurydike durchgestrichen; an verschiedenen Beispielen aus der neueren Literaturgeschichte hat er die unverminderte Wirkmacht dieser Durchstreichung, immer wieder zugunsten des apollinischen Aufstiegs zu den Sternen, T HOM AS M ACHO
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zum ewigen Ruhm der eigenen Kreativität, demonstriert. Theweleits These lautet: Es sind immer die Frauen der Dichter, Sänger und Künstler, die der Kunst geopfert werden, wie auf mehr als tausendzweihundert Druckseiten nicht nur an den Biografien Gottfried Benns, Bertolt Brechts, Knut Hamsuns, sondern eben auch Claudio Monteverdis in aller Ausführlichkeit belegt wird. Syrinx, Kore, Eurydike: Es war Alfred Hitchcock, der den Orpheus-Mythos 1958 in seinem Film Vertigo wiederbelebte. Der Plot des Films (nach einem Roman von Pierre Boileau und Thomas Narcejac) ist überaus kompliziert. Eine schauspielerisch begabte junge Frau namens Judy (gespielt von Kim Novak) wird engagiert, um die Rolle einer Ehefrau namens Madeleine zu verkörpern, die dem Bann ihrer toten Urgroßmutter Carlotta Valdes – der Dame auf einem Porträtbild, die sich vor vielen Jahren umgebracht hat – zu erliegen scheint. Sie imitiert zunehmend das Bild, trägt dieselbe Halskette, einen ähnlichen Blumenstrauß, und begeht zuletzt ebenfalls Suizid. Erfolgreich vertuscht wird in diesem Spiel die Ermordung der tatsächlichen, im Film gar nicht auftretenden Ehefrau. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive des pensionierten Polizeibeamten Scottie Ferguson, gespielt von James Stewart, der unter Höhenangst leidet, weshalb er den inszenierten Suizid Madeleines – den Sprung vom Glockenturm einer kleinen Missionsstation – nicht verhindern kann. Der Mordplan sah allerdings nicht vor, dass sich der ehemalige Polizist und die Schauspielerin ineinander verlieben; ungeplant war auch, dass sie einander nach dem Verbrechen nochmals begegnen. Die Wiederbegegnung zwischen Judy und dem Polizisten prägt die Dynamik und den suspense der zweiten Filmhälfte, die geradezu wie ein Spiegelbild der ersten Hälfte inszeniert ist. Früher als der männliche Held weiß das Publikum, dass Judy identisch ist mit der scheinbar vom Glockenturm gesprungenen Madeleine aus dem ersten Teil – und verfolgt mit zunehmender Spannung die allmähliche Rückverwandlung Judys in die verlorene Geliebte Madeleine. Die mit manischer Energie forcierte Transformation erreicht ihren Höhepunkt, als die Schauspielerin – endlich im richtigen Kostüm und mit der erwünschten Frisur – den Raum betritt, umspielt von grünem Neonlicht, das ihre Wiederkehr aus der Unterwelt ankündigt. Doch als moderner Orpheus versagt der Polizist in diesem Moment, denn seinen Blick auf die Halskette kann er nicht vermeiden. Die Handlung von Vertigo unterstreicht Truffauts Bemerkung von 1983, es sei »unmöglich, nicht zu sehen«, dass in Hitchcocks Werk »alle Liebesszenen wie Mordszenen« und »alle Mordszenen wie Liebesszenen« gefilmt sind, und dass in seinem – »eher sexuellen als sensuellen – Kino der Liebesakt und der Tod eins sind«. Am Ende des Films steht Scottie am Fenster des Glockenturms, blickt auf die tote Judy unter ihm – und hat ganz offenkundig seine Höhenangst endgültig überwunden. Apoll hat wieder einmal gesiegt. Seltener als der verhängnisvolle Blick des Orpheus, die Trauer um die verlorene Geliebte, seine Zerfleischung durch die Mänaden und die Apo 53
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theose, die Erhebung zum Sternenhimmel, wird die Musik des Orpheus kommentiert, die erst einmal gelungene Überwindung des Todes. Zu Beginn des zweiten Buchs der Metamorphosen erwähnt Ovid zwar kurz, wie die Stimme des thrakischen Sängers die Herzen der wilden Tiere, der Vögel und Schlangen, ja selbst der Wälder, Felsen und Steine, bezaubert; doch wenig später schildert er die blutige Erschlagung des Musikers. Doch es gibt Ausnahmen: Zu ihnen zählen die Sonette an Orpheus, die Rilke vor ziemlich genau hundert Jahren, im Februar 1922, geschrieben hat, wieder als »Grab-Mal« für eine junge Frau, nämlich die im Alter von neunzehn Jahren verstorbene Tänzerin Wera Ouckama Knoop. Aber selbst Rilke betont die Sternbilder und die Spiegelbilder der Texte, während die Stimmen verklingen. Darum heißt es im neunten Sonett: »Nur wer die Leier schon hob / auch unter Schatten, darf das / unendliche Lob ahnend erstatten. / Nur wer mit Toten vom Mohn / aß, von dem ihren, wird nicht den / leisesten Ton wieder verlieren. / Mag auch die Spieglung im Teich / oft uns verschwimmen: Wisse das / Bild. / Erst in dem Doppelbereich / werden die Stimmen ewig / und mild.« Wie aber verhält sich die Spiegelung, die eher an Narziss als an Orpheus erinnert –, dieses »Wissen des Bildes« – zu den Stimmen, etwa der Nymphe Echo? Einen ganz anderen Versuch hat vor wenigen Jahren der Autor Richard Powers mit seinem Roman Orfeo (2014) unternommen. Darin erzählt er von der Biografie und den musikalischen Werken eines Komponisten namens Peter Els, der mit seinen Versuchen, eine Musik des Lebens aus der DNA eigens gezüchteter Bakterien zu generieren, in Verdacht gerät, bioterroristische Anschläge zu planen: »Das Leben füllt die Welt mit Kopien seiner selbst. Musik und Viren bringen beide ihre Wirte dazu, sie zu replizieren.« Der Roman beschreibt zahlreiche Kompositionen der Musikgeschichte, von Mozarts Jupitersinfonie bis zu Mahlers Kindertotenliedern, von Schostakowitschs fünfter Sinfonie (1937) bis zu Messiaens Quartett für das Ende der Zeit, uraufgeführt im Lager von Görlitz vor vierhundert Kriegsgefangenen am 15. Januar 1941, von Peter Liebersons Neruda Songs bis zu Steve Reichs Proverb oder den Werken von John Cage. Orpheus wird zwar nur einmal am Rande erwähnt; doch zugleich ist der thrakische Musiker unentwegt gegenwärtig, im Singen und Hören mehr als in den Sternen. Nicht umsonst erinnert Theweleit an die Blindheit des Gottes Amor: »Amor ist ein blinder Gott und dieser Hybride stößt dauernd Sätze hervor, seiner Geliebten Augen sehen zu wollen. Mehr: nicht nur ist Amor blind, sondern Orpheus, der philosophische Orpheus des Neoplatonismus, sein Prophet. Die ›orphische Liebe‹ [...] braucht nicht Augen.« Im Hören, im Zuhören wie im Aufhören, nicht im bloßen Zuschauen und Aufschauen, verbirgt sich die mögliche Zukunft des Orfeo. → Kate Lindsey als Die Musik, 2022
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Ingeborg Bachmann
Dunkles zu sagen Wie Orpheus spiel ich auf den Saiten des Lebens den Tod und in die Schönheit der Erde und deiner Augen, die den Himmel verwalten, weiß ich nur Dunkles zu sagen. Vergiß nicht, dass auch du, plötzlich, an jenem Morgen, als dein Lager noch nass war von Tau und die Nelke an deinem Herzen schlief, den dunklen Fluss sahst, der an dir vorbeizog. Die Saite des Schweigens gespannt auf die Welle von Blut, griff ich dein tönendes Herz. Verwandelt ward deine Locke ins Schattenhaar der Nacht, der Finsternis schwarze Flocken beschneiten dein Antlitz. Und ich gehör dir nicht zu. Beide klagen wir nun.
← Narumi Hashioka und Aaron McInnis als Hirten, Georg Nigl als Orfeo, 2022
Aber wie Orpheus weiß ich auf der Seite des Todes das Leben, und mir blaut dein für immer geschlossenes Aug.
LA SECONDA PRATICA Claudio Monteverdi und die moderne Musik
In der 1600 veröffentlichten Schrift Delle Imperfettioni della moderna musica (Über die Unvollkommenheiten der modernen Musik) zog der Autor, der Bologneser Geistliche Giovanni Maria Artusi, einige Madrigale Claudio Monteverdis als Beispiele für jene »Unvollkommenheiten« heran, gegen die er polemisierte. Ziel von Artusis Kritik war eine Entwicklung, die den Boden der strengen Kontrapunktlehre, wie sie sein Lehrer Gioseffo Zarlino in seinen Istitutioni harmoniche (1558) dargelegt hatte, verließ. Komponisten wie Jacopo Peri und Giulio Cacchini hatten begonnen, in ihren Vokalkompositionen »imperfekte« Dissonanzen zugunsten der Textreziation zuzulassen, um dem emotionalen Gehalt der der Musik zugrundegelegten Poesie und ihrer formalen Struktur besser zu entsprechen. Monteverdi setzte die Chromatik bereits bewusst ein, um sowohl in der Wortausdeutung als auch in der bildhaften Inhaltsbeschreibung die Ausdruckskraft der Musik zu steigern. Auf Artusis Kritik reagierte Monteverdi zunächst nicht direkt; sein IV. Madrigalbuch (1603) enthielt allerdings eines der von Artusi kritisierten Madrigale. Als dieser eine Fortsetzung seiner Kritik veröffentlichte – wie schon zuvor ohne Nennung des Namens des kritisierten Komponisten –, kündigte Monteverdi im Vorwort zu seinem V. Madrigalbuch (1607) ein Buch unter dem Titel Seconda Pratica an, als »Antwort« auf Artusi. Claudios Bruder Giulio Cesare Monteverdi schrieb für die Ausgabe der Scherzi musicali seines Bruders (1607) eine ausführliche Interpretation von Claudio Monteverdis kurzer Ankündigung, das die Form eines Manifests jener »Seconda Pratica« annahm. Das Buch selbst erschien nie; noch 1633 kündigte Monteverdi in einem Brief an Giovanni Battista Doni die Veröffentlichung unter dem Titel Melodia, overo seconda pratica musicale (Melodie oder die zweite musikalische Praxis) an. LA SECON DA PR AT ICA
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Faksimile der Vorrede zum V. Madgrigalbuch
Claudio Monteverdi: Vorrede zum V. Madrigalbuch Gelehrte Leser, wundert euch nicht, dass ich diese Madrigale zum Druck gebe ohne zuvor auf die Einwände geantwortet zu haben, die Artusi gegen einige winzige ihrer Details erhoben hat. Da ich in Diensten der Durchlaucht von Mantua stehe, bin ich nicht Herr jener Zeit, die mir gelegentlich von Nöten wäre. Gleichwohl habe ich meine Antwort geschrieben, um bekannt zu machen, dass ich meine Sachen nicht auf gut Glück verfasse, und sobald die Druckgenehmigung vorliegt, wird sie ans Licht gegeben werden und den Titel tragen SECONDA PRATICA oder PERFETTIONE DELL MODERNA MUSICA (»Zweite Praxis« oder »Die Vollendung der modernen Musik«), was nur jene erstaunen mag, die nicht für möglich halten, dass es noch eine andere Praxis gibt als die von Zarlino gelehrte. Doch sie mögen versichert sein, dass es im Zusammenhang von Konsonanzen und Dissonanzen auch noch eine andere als diese bestimmte Anschauung gibt, die mit Vernunft und Verstand in Einklang steht und das moderne Komponieren rechtfertigt. Dies 59
LA SECON DA PR AT ICA
wollte ich euch mitteilen, sowohl damit dieser Begriff SECONDA PRATICA nicht von anderen besetzt wird, als auch damit produktive Geister in der Zwischenzeit weitere »zweite Dinge« im Zusammenhang mit der Harmonik erwägen können, in der Überzeugung, dass der moderne Komponist auf Grundlage der Wahrheit schafft. Lebt glücklich!
Giulio Cesare Monteverdi: Vorrede zu Claudio Monteverdis Scherzi musicali für drei Stimmen Erschienen unter dem Titel Erklärung zu einem Brief [Claudio Monteverdis], der in seinem 5. Madrigalbuch abgedruckt wurde, von seinem Bruder Giulio Cesare Monteverde Nil agit exemplum litem quod lite resolvit Ohne Wert ist ein Beispiel, das eine Streitfrage durch eine andere löst [Horaz] Er [Giovanni Maria Artusi, alias Antonio Braccino da Todi] möge der Welt das Urteil überlassen! Da er selbst keine Taten vollbringt, sondern nur Wörter spricht, es aber Taten sind, die ihren Meister loben, wird nicht er, sondern mein Bruder Lob erringen. Denn so wie der Kranke den Sachverstand des Arztes nicht dafür lobt, dass er ihn über Hippokrates und Galen dozieren hört, sondern erst nachdem dieser Sachverstand ihm seine Gesundheit zurückgeschenkt hat, so lobt die Welt das Können des Musikers nicht für Wortgefechte über die verehrten Theoretiker der Harmonik – auch Timotheus ließ Alexander nicht dadurch zu den Waffen greifen –, sondern für seinen Gesang. Zu dieser praktischen Tat lädt mein Bruder den Gegner ein, niemand anderen, da er allen nachgibt, allen Ehre erweist und alle respektiert; und dazu fordert er ihn nur dieses Mal auf, da er sich dem Gesang zu widmen gedenkt und nicht der Prosa (von seinem einmaligen Versprechen abgesehen, das er gegeben hat in Nachfolge des göttlichen Cipriano de Rore, des Herrn Principe Gesualdo da Venosa, Emilio de’ Cavalieri, der Grafen Alfonso Fontanelli und Jacopo Corsi di Camerata und des Ritters Giovanni Turchi, des Pecci Tomaso, und anderer Herren dieser heroischen Schule) und auch keinem weiteren Geschwätz und Hirngespinsten. Und sobald die Druckgenehmigung vorliegt, wird sie ans Licht gegeben werden und den Titel SECONDA PRATICA (»Zweite Praxis«) tragen. LA SECON DA PR AT ICA
→ Frontispiz der ersten Druckausgabe der Orfeo-Partitur, Venedig, 1709
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← Slávka Zámečníková als Euridice, Antigoni Chalkia als Geist, Chorakademie der Wiener Staatsoper, 2022
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Da der Gegner die moderne Musik anzugreifen und die alte zu verteidigen gedenkt, welche sich in der Tat voneinander unterscheiden (in der Art, Konsonanzen und Dissonanzen anzuwenden, wie mein Bruder deutlich machen wird); da dieser Unterschied dem Gegner aber unbekannt ist, die Wahrheit aber deutlicher hervortreten lässt, sollen alle verstehen, welche die eine und welche die andere ist, wobei beide von meinem Bruder gleichermaßen wertgeschätzt, geehrt und gepriesen werden. Die alte nennt er »erste Praxis«, da sie als erste im Gebrauch war, und die moderne »zweite Praxis«, da sie danach in Gebrauch kam. Die erste Praxis ist jene, in der alles auf die perfekte Harmonie hin ausgerichtet ist, also jene, die die Harmonie nicht als befohlene, sondern als befehlende ansieht, nicht als Dienerin, sondern als Herrin der Rhetorik. Sie wurde begründet von den ersten, die für die Komposition ihrer mehrstimmigen Kantilenen unsere Notenschrift benutzten, und befolgt und erweitert von Johannes de Ockeghem, Josquin de Prés, Pierre de la Rue, Jean Muton, Thomas Crécquillon, [Jacques Clement genannt] Clemens non Papa, Nicolas Gombert und anderen aus jener Zeit, zuletzt vervollkommnet in der Praxis von Messer Adriano [Adrian Willaert] sowie von dem ausgezeichneten Gioseffo Zarlino in einem durchdachten Regelwerk. Die zweite Praxis wurde vom göttlichen Cipriano de Rore erneuert, wie mein Bruder nachweisen wird, und befolgt und erweitert nicht nur von den Genannten, sondern auch von Marc’ Antonio Ingegneri, Luca Marenzio, Jacques de Wert, Luzzasco Luzzaschi sowie gleichermaßen von Giacomo Peri, Giulio Caccini und schließlich von den erhabensten Geistern und Verständigen der wahren Kunst. Unter ihr versteht er jene Praxis, welche auf die Vollkommenheit der Melodie hin ausgerichtet ist, die also die Harmonie als befohlene und nicht als befehlende ansieht, und die Rhetorik als Herrin der Harmonie einsetzt. Aus diesen Gründen hat er sie zweite und nicht neue (Praxis) genannt. Er spricht von Praxis und nicht von Theorie, da er seine Gründe durch die Art der Anwendung von Konsonanzen und Dissonanzen in der Praxis geltend machen will. Und bewusst spricht er auch nicht von Gesetzen der Melodik, da er eine so anspruchsvolle Definition nicht als die seine ansieht und das Verfassen solch edler Traktate dem Ritter Ercole Bottrigari und dem Kanonikus Zarlino überlässt, der von den Gesetzen der Harmonik [Le istituzioni harmoniche] sprach, da er die Gesetze und Regeln der Harmonik lehren wollte. Doch mein Bruder spricht von zweiter Praxis, das heißt dem praktischen Gebrauch gemäß, da er diesen Gebrauch der Melodik reflektieren, und dabei nur das berücksichtigen will, was ihm selber angehört, um sich gegen den Gegner zu verteidigen. oder PERFETIONI DELLA MODERNA MUSICA (»Die Vollendung der modernen Musik«) Er wird sie »Vollendung der modernen Musik« nennen, geleitet von der LA SECON DA PR AT ICA
Autorität Platons, der sagt: Non ne et musica circa perfectionem melodiæ versatur? [Geht es bei der Musik nicht um das Vollenden der Melodie?] Was möglicherweise einige, die nicht für möglich halten, dass es noch eine andere Praxis gibt als die von Zarlino gelehrte, erstaunen mag. Er sagt »einige« und nicht »alle«, und meint damit den Gegner und seine Gefolgsleute, und er sagt »erstaunen«, da mein Bruder mit Sicherheit weiß, dass ihnen nicht nur die Kenntnis der zweiten Praxis abgeht, sondern auch die meisten Erscheinungsformen der ersten (wie er nachweisen wird), im Glauben, es gäbe keine andere Praxis als die von Zarlino gelehrte, was im Grunde hieße, dass es keine andere Praxis gäbe als jene von Messer Adriano, denn über eine andere Praxis hätte er nichts mitzuteilen, wie er selbst bestätigt: »Es war niemals und ist auch jetzt nicht meine Absicht, über den Gebrauch dieser Praxis bei den Alten, bei den Griechen und Römern zu schreiben, auch wenn ich ihn gelegentlich andeute; sondern nur über jenen Gebrauch, den diejenigen machen, die diese Praxis wiedergefunden haben indem sie viele Stimmen gleichzeitig singen lassen, mit verschiedenen Modulationen und verschiedenen Arien, insbesondere in der Art Messer Adrianos.« Womit derselbe Kanonikus Zarlino doch bekennt, dass die von ihm gelehrte nicht die einzige Wahrheit ist. Und darum will sich mein Bruder der Gründe bedienen, die Plato gelehrt und die der göttliche Cipriano [de Rore] praktiziert hat, die sich von jenen durch Kanonikus Zarlino gelehrten und bestimmten und von Messer Adriano praktizierten unterscheiden. Doch ihnen sei versichert, dass es im Zusammenhang von Konsonanzen und Dissonanzen… Doch der Gegner und seine Gefolgsleute seien im Zusammenhang mit Konsonanzen und Dissonanzen beziehungsweise der Art sie anzuwenden versichert. …auch noch eine andere als diese bestimmte Anschauung gibt. Unter dieser bestimmten Anwendung versteht mein Bruder die Regeln des Kanonikus Zarlino, wie sie im dritten Band seiner Gesetze der Harmonik (Le istituzioni harmoniche) zu finden sind, die die praktische Vervollkommnung der Harmonie nachzuweisen bestrebt sind, und nicht die der Melodie, wie den dort angeführten Notenbeispielen zu entnehmen ist, die keine Rücksicht auf die Rhetorik nehmen, und daher die Harmonie als Herrin und nicht als Dienerin zeigen. Mein Bruder wird darlegen, dass eine Harmonie, die der Rhetorik dient, in Art der Anwendung von Konsonanzen und Dissonanzen nicht unter die genannten Gesetze fällt. LA SECON DA PR AT ICA
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Die mit Vernunft und Verstand in Einklang steht und das moderne Komponieren rechtfertigt. Im Einklang mit der Vernunft, da sie ausgeht von den durch die mathematischen [= akustischen] Gesetzte bestätigten Konsonanzen und Dissonanzen, und von der Befehlsgewalt der Rhetorik [= dem Ausdruck des Textes], die oberste Herrin ist zur Vervollkommnung der Melodie (wie Plato im 3. Teil seines Staates bestätigt). Daher spricht er von »Zweiter Praxis«, da eine Verbindung der Rhetorik mit einer ihr dienenden Harmonie und Rhythmik die Affekte der Seele bewegt (die pure Kombination von Rede und Harmonik reicht hierfür nicht aus). Denn so sagt Plato: »Die Melodie lässt die Seele auf sich selbst konzentrieren, wodurch die Seele den Ursprung der Melodie wahrnimmt und in sich harmonisch wird« – und nicht die Harmonie allein, wie vollkommen sie auch sei, was auch Kanonikus Zarlino mit diesen Worten bestätigt. Wenn wir uns nur der einfachen Harmonik bedienen, ohne ihr anderes hinzuzufügen, wird sie keinerlei Macht besitzen, eine äußere Wirkung hervorzurufen. Auch wenn sie eine innere Gestimmtheit zur Freude oder Traurigkeit vorzubereiten vermag, kann sie doch zu keinerlei Ausdruck mit äußerlicher Wirkung führen.
Claudio Monteverdi an Giovanni Battista Doni Mein vielmals geehrter, hochwürdiger Herr und hochverehrter Gebieter, einem sehr liebenswürdigen Brief des hochverehrten Bischofs Cornaro, meines besonderen Herrn und hochverehrten Gebieters, der mir aus Padua zugeschickt wurde, war ein Brief Ew. Hochwürden an mich beigefügt, an Früchten der Ehre und des Lobes für mich schwachen Menschen so reich, dass ich darüber beinahe erstaunt war. Aber weil aus einer höchst tugendhaften und freundlichen Pflanze, wie es Ew. Hochwürden sind, nur eine Frucht von ähnlicher Art entstehen kann, schwieg ich und nahm das Lob an, nicht aber, weil ich seiner würdig bin, sondern vielmehr, um es als Zeichen der einzigartigen Verdienste Ew. Hochwürden anzusehen, da ich ja weiß, dass ich eine grüne Pflanze bin, doch eine von der Art, die nur Blätter und Blüten ohne Duft hervorbringt. Seid also bitte so gut und nehmt von mir als Antwort das würdige Lob für Euren höchst vortrefflichen Brief an, weil ich es für eine große Gunst halte, dass Ihr mir die Ehre erweist, von Euch als Euer untertänigster Diener angenommen zu werden. Der Vikar von San Marco, der mich damit beehrt hat, mir von den trefflichen Qualitäten und einzigartigen Tugenden Ew. Hochwürden zu berichten, hat mir mitgeteilt, dass Ihr gerade ein Buch über die 65
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Musik schreibt. Dem fügte ich hinzu, dass auch ich gerade dabei bin, ein Buch über die Musik zu schreiben, aber ständig fürchte, ich könnte durch meine Schwachheit das gewünschte Ziel verfehlen. Weil dieser Herr ein guter Diener des verehrten Bischofs von Padua ist, denke ich, dass seine Gnaden auf diesem Wege von meiner Schrift erfahren haben, weil ich keinen anderen Weg kenne, da ich nicht dafür gesorgt habe, dass man davon erfährt. Weil aber Seine Gnaden geruhten, mich mit der Freundlichkeit Ew. Hochwürden zu beehren, bitte ich Euch, auch dem Folgenden Beachtung zu schenken. Ihr sollt also wissen, dass es wahr ist, dass ich schreibe, aber gezwungenermaßen, weil das Ereignis, das mich schon vor Jahren dazu trieb, so zu handeln, mich unversehens dazu veranlasste, der Welt etwas zu versprechen, von dem ich später sah, dass es meine schwachen Kräfte nicht ausführen konnten. Ich habe, wie gesagt, versprochen, in einer gedruckten Schrift einem gewissen Theoretiker der Prima pratica [Giovanni Maria Artusi, Anm.] mitzuteilen, dass es eine weitere Betrachtungsweise der Musik gibt (die er nicht kennt), die ich Seconda pratica nannte. Der Anlass dafür war, dass er daran Gefallen fand, ebenfalls in einer gedruckten Schrift eines meiner Madrigale zu kritisieren, und zwar in einigen seiner harmonischen Fortschreitungen, auf der Grundlage der Richtlinien der Prima pratica ( d. h. auf der Grundlage der gängigen Regeln, als ob er eintönige Wiederholungen vor sich hätte, die ein Kind gemacht hat, das eben den Satz Note gegen Note zu erlernen begonnen hat) und nicht auf der Grundlage der Kenntnis der melodia. Als er aber von einer gewissen Exegese hörte, die mein Bruder zu meiner Verteidigung hatte drucken lassen, beruhigte er sich so, dass er künftig nicht nur davon abließ, mich weiter schlecht zu machen, sondern seine Feder zu meinem Lob wandte und mich zu mögen und zu schätzen begann. Das öffentlich gegebene Versprechen musste jedoch gehalten werden. Aus diesem Grund trachte ich gezwungenermaßen danach, die Schuld zu begleichen. Ich bitte Euch also, mir meine Kühnheit zu verzeihen. Der Titel des Buches wird folgendermaßen lauten: Melodia, overo seconda pratica musicale. Das »seconda« verstehe ich im Blick auf die moderne Praxis, das »prima« im Blick auf die alte Praxis. Ich teile das Buch in drei Teile, den drei Teilen der melodia entsprechend. Im ersten Teil spreche ich über die Rede, im zweiten Teil über die armonia und im dritten Teil über den rhythmischen Aspekt. Ich rede mir ein, dass dieses Buch der Welt nicht unwillkommen sein wird, weil ich in der Praxis erfahren habe – als ich dabei war, die Klage der Arianna zu schreiben und kein Buch fand, das mir den natürlichen Weg der Nachahmung gezeigt, nicht einmal eines, das mich aufgeklärt hat, ich solle ein Nachahmer sein (außer Platon, durch eine seiner Lehren, aber so versteckt, dass ich von fern mit meiner schwachen Sehkraft kaum das Wenige, das er mir zeigte, erkennen konnte) –, ich sage, ich habe erfahren welch große Anstrengung notwendig war, um das Wenige zu tun, was ich im Blick auf die Nachahmung tat. Deshalb hoffe ich, dass das Buch nicht missfällt, sondern LA SECON DA PR AT ICA
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sich, wie erwünscht, als erfolgreich erweisen wird, weil ich mich auf lange Sicht damit zufriedengeben will, eher wenig gelobt zu werden für die neue Schreibart als reichlich für die übliche Schreibart. Und wegen die er weiteren Kühnheit bitte ich erneut um Verzeihung.
Venedig, 22. Oktober 1633 Ew. Gnaden und Hochwürden ergebenster und dankbarster Diener Claudio Monteverdi
→ Folgende Seiten: Szenenbild, 2022
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Monika Mertl
MONTEVERDIS VISIONÄRES KLANGKONZEPT Der Concentus Musicus Wien auf den Spuren der Orfeo-Partitur
Als der Concentus Musicus Wien im Mai 2021 mit L’incoronazione di Poppea den neuen Monteverdi-Zyklus eröffnete und zugleich sein Debüt an der Wiener Staatsoper feierte, war das für die Musikerinnen und Musiker ein bedeutender Schritt in die »große« Opernwelt. Zwar hatte das Ensemble gemeinsam mit Nikolaus Harnoncourt bereits mehrfach Erfahrungen mit szenischen Opernproduktionen gesammelt, doch das erste Eintauchen in einen der weltgrößten Repertoirebetriebe eröffnete nochmals eine neue Dimension. Was das künstlerische Ergebnis betrifft, so wurde in der Tradition des Hauses ein noch ziemlich neues Kapitel fortgeschrieben, das dem »Originalklang« im gegebenen architektonischen Rahmen zur Geltung verhelfen will. In ihrem schlanken, transparenten Klangbild war diese Poppea 2021 die aufführungspraktisch zeitgemäße Antwort auf die erste Aufführung des Werks an der Staatsoper 1963, die Herbert von Karajan geleitet hatte. Wenn der Monteverdi-Zyklus nun mit L’Orfeo fortgesetzt wird, so erklingt dieses Werk zum ersten Mal im Haus am Ring. Für den Concentus Musicus aber gehört es gewissermaßen zur künstlerischen DNA, denn die erste Aufführung dieser »ersten Oper« der Musikgeschichte hat das Ensemble zu einem Zeitpunkt gestaltet, als es offiziell noch gar nicht existierte. Am 3. Juni 1954 versammelte sich eine Gruppe jener experimentierfreudigen Kollegen, die Nikolaus und Alice Harnoncourt eben erst um sich geschart hatten, zur ersten öffentlichen Darbietung der Originalfassung von Monteverdis L’Orfeo in der Neuzeit. Paul Hindemith hatte sich intensiv mit dem Werk auseinandergesetzt und 1943 für die Yale University eine Spielfassung der Partitur von 1609 rekonstruiert, die er nun auch einem breiteren Publikum vorstellen wollte – bei den Wiener Festwochen, in einer von ihm dirigierten halbszenischen Aufführung im großen Konzerthaussaal; Regisseur war Leopold Lindtberg. MON IK A MERT L
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Zwei Zinken für Hindemith
→ Folgende Seiten: Andrea Mastroni als Plutone, Christina Bock als Proserpina, 2022
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Nikolaus Harnoncourt wusste pointiert zu erzählen, wie das kühne Projekt im Vorfeld an ihn herangetragen wurde. Er, der sich als Cellist der Wiener Symphoniker mit seinen privaten künstlerischen Ambitionen im »Dienst« umsichtig bedeckt hielt, wurde eines Tages zum damaligen Generalsekretär Egon Seefehlner zitiert, der ihm eine Instrumentenliste unter die Nase hielt, auf der Merkwürdigkeiten wie »Regal« und »Cornetti« verzeichnet waren. Solches befand sich zu diesem Zeitpunkt zwar noch nicht in seiner Sammlung, doch immerhin verfügte er bereits über den gesamten historischen Streicher-Apparat. »Da hat er [Seefehlner] solche Augen gemacht! Und ich habe gesagt: Dann will ich aber auch die Spieler stellen, ich will nicht nur die Instrumente herleihen. Das war das erste Auftreten des Concentus, noch ohne den Namen.« Ein wichtiger Mitstreiter war der legendäre Bratschist Karl Trötzmüller. »Trötzmüller ist in Wien für Hindemith auf die Barrikaden gegangen, er hat jeden Ton von ihm gekannt und für den Schott-Verlag alle seine Werke korrigiert. Als er erfahren hat, dass Hindemith den ›Orfeo‹ machen will, hat er gemeint: Der braucht zwei Zinken. In einem Jahr muss es möglich sein, das zu lernen«, berichtet Harnoncourt. Trötzmüller und sein Kollege Paul Angerer ließen sich also Instrumente anfertigen, »und sie haben geübt wie die Irren. Dann haben wir zu Hause in der Josefstädter Straße das ganze Instrumentarium durchprobiert. Es hat entsetzlich geklungen mit den Zinken!« Doch schließlich war man soweit, dass man sich Hindemith in der Probe präsentieren konnte. Und was geschah? »Die Zinken durften gerade ein paar Takte spielen; dann hat er gesagt: Da nehmen wir lieber Englischhorn.« Vierzehn Jahre später nahm Nikolaus Harnoncourt L’Orfeo als erste der drei Monteverdi-Opern mit dem Concentus Musicus für die Veröffentlichung auf Schallplatten auf. Eine bis heute exemplarische Interpretation. Die leuchtende Farbigkeit der Ritornelle, der Sinn für Affekte und dramatische Akzente, und der durchhörbare, federnde Klang, der im zügigen monodischen Erzählfluss Monteverdis den geradezu minimalistischen Einsatz der Stilmittel zur Wirkung bringt – hier ist der genuine Operndirigent Harnoncourt am Werk, noch ehe er als solcher offiziell in Erscheinung trat. 1973 leitete er sein Ensemble dann auch in einer szenischen Aufführung des Orfeo: in Amsterdam, im Circustheater Scheveningen; Regisseur war Filippo Sanjust. Im begeisterten Publikum befand sich Claus Helmut Drese, damals Operndirektor in Zürich. Der Rest ist Aufführungsgeschichte: Der Zürcher Monteverdi-Zyklus wurde zum Auslöser einer großen Monteverdi-Renaissance, die seine Bühnenwerke ins Repertoire zurückbrachte.
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Ein geniales Klangkonzept Zwischen der Entstehung von L’Orfeo und Poppea klafft eine zeitliche Lücke von 35 Jahren, und wir haben bis heute kaum Kenntnisse über Monteverdis Aktivitäten in dieser großen Zeitspanne. Ein Vergleich der beiden Werke zeigt, wie rasant sich die Entwicklung der Oper in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts vollzog – von der mythologisch inspirierten Madrigalkunst, die für ein exklusives, gebildetes Auditorium bestimmt war, zum Dramma per musica, das einen historischen Stoff so lebensprall und psychologisch fundiert zur Sex-and-Crime Story aufbereitete, dass ein breites Publikum das neu gegründete öffentliche Theater stürmte. L’Orfeo, uraufgeführt im Februar 1607 vor den Mitgliedern der Accademia degli Invaghiti in Mantua, der auch der Librettist Alessandro Striggio angehörte, trägt die Zuschreibung »Favola in musica« und ist ganz den Regeln der Florentiner Camerata verpflichtet, die auf die Wiederbelebung des antiken Dramas zielten. Die handverlesene Schar der adeligen Zuhörer wusste über das hierfür geschaffene Prinzip der Monodie, des vom Generalbass begleiteten Sprechgesangs, Bescheid, und mit dem Orpheus-Mythos griff Monteverdi jenen antiken Stoff auf, den die Camerata neben dem Daphne-Mythos am meisten favorisierte. Die Quellenlage ist für dieses frühbarocke Repertoire höchst ungewöhnlich und bedeutet gewissermaßen ein Geschenk an die Nachwelt. Von L’Orfeo existieren nämlich zwei zeitgenössische Druckausgaben aus den Jahren 1609 und 1615. Monteverdi hat hier präzise Angaben zum Instrumentarium gemacht, sein künstlerischer Wille ist also relativ genau dokumentiert. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass der Einsatz der Instrumente, den damaligen Gepflogenheiten entsprechend, weitgehend den Ausführenden überlassen blieb, sodass auch die Partituren lediglich als Momentaufnahmen, als Abbild einer konkreten Aufführung mit den bei diesem Anlass jeweils verfügbaren Mitteln gelten können. Immerhin: Das Konzept Monteverdis, das sich hier erkennen lässt, macht klar, warum gerade dieses Werk – zehn Jahre nach Jacopo Peris Dafne, die den Auftakt der neuen Gattung markiert – als erste Oper der Musikgeschichte gilt. Es ist ganz von dramatischer Inspiration durchdrungen; alle Stilmittel sind in dramaturgischer Absicht eingesetzt, mit dem Ziel, die Geschichte möglichst wirkungsvoll zum Ausdruck zu bringen. Drama und Musik verschmelzen zur suggestiven Gesamtwirkung, wobei Worte und Klänge stets in ausgewogenem Verhältnis bleiben.
Ein visionärer Ansatz »In dieser ersten Oper Monteverdis sind bereits alle Formen und Möglichkeiten vorweggenommen oder vorausgeahnt, die in den Opern der folgenMON IK A MERT L
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den Jahrhunderte aufscheinen: Die charakterisierende Ouverture, die Arie (sogar mit da capo), das Strophenlied, verschiedene Leitmotive, dramatisch motivierte Instrumentation und selbstverständlich das Rezitativ«, erläutert Nikolaus Harnoncourt in einem begleitenden Aufsatz zu seiner Aufnahme von 1968; Monteverdi habe hier »den ganzen Fundus neuester und älterer musikalischer Möglichkeiten zu einer […] gänzlich neuartigen Einheit verschmolzen. So ist diese Oper, mit der das musikalische Barock so glänzend eröffnet wird, zugleich das letzte große Werk, in dem der Formenreichtum und die reiche und bunte Klangpalette der Renaissancemusik ausgebreitet wird.« Überdies dient die Musik der Charakterisierung von Situationen und Personen. »Monteverdi ordnet den beiden Sphären dieser Oper, der Hirtenwelt Thraziens und dem Schattenreich der Unterwelt, zwei prinzipiell verschiedene Klangkörper zu: Flöten, Streicher und Zupfinstrumente für die Hirtensphäre, und Zinken, Posaunen und Regal für die Unterwelt«, schreibt Harnoncourt, und betont, dass die Continuoinstrumente »stets dem Gesang, der Deklamation, zu dienen« haben und »durch ihre besonderen Klangfarben, Harmonien und Tonverbindungen den Wortakzent unterstreichen« sollen. Der wohlkalkulierte Einsatz der Instrumente gibt jedem der fünf Akte ein unverwechselbares akustisches Erscheinungsbild. Das Ritornell, das den Prolog der Musica einleitet, kehrt im Verlauf der Handlung leitmotivisch wieder. »Es stellt die heitere, lichte Welt der Musik dar«, formuliert Harnoncourt. »Am Ende des zweiten Akts ist es eine Art Reminiszenz an das verlorene Glück, ein Abschied von der Hirtenwelt. Zu Beginn des fünften Akts wirkt es wie eine grausige Ironie.«
Die Paarbildung der Geigen Fast drei Jahrzehnte sind vergangen, seit sich der Concentus Musicus anlässlich einer konzertanten Aufführung im Musikverein zum letzten Mal mit Monteverdis Orfeo auseinandergesetzt hat. Viele der Musikerinnen und Musiker, die an der aktuellen Staatsopern-Produktion mitwirken, waren damals noch nicht dabei, denn das Ensemble hat sich, gerade nach dem Tod von Nikolaus Harnoncourt, stark verjüngt. Doch die Neuzugänge rekrutieren sich meist aus den Studierenden der erfahrenen Concenti, die nach wie vor in zentralen Positionen aktiv sind. Eine klar definierte Tradition, in der Harnoncourts »Geheimcode« für bestimmte Spielweisen bewahrt wird, garantiert den unverwechselbaren Sound. Und in der künstlerischen Einstellung bleibt man dem Harnoncourt’schen Ethos verpflichtet, wonach es beim Musizieren nicht vordergründig um Schönheit, sondern um Wahrhaftigkeit gehen müsse. Die Konzertmeisterin dieser Produktion, Maria Bader-Kubizek, ist dem Concentus seit 1987 verbunden, übrigens bereits in zweiter Generation. Ihre Mutter, die früh verstorbene Elli Kubizek, spielte als Gambistin in der großen Aufbruchzeit des Ensembles in den 1960er Jahren eine wichtige Rolle. 75
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Die Poppea-Produktion war für Maria Bader-Kubizek eine fundamentale Erfahrung. »Ich fühlte mich im Epizentrum abendländischer Hochkultur«, beschreibt sie das Erlebnis, das reibungslose Funktionieren eines so großen Repertoirebetriebs hinter den Kulissen kennenzulernen. Im Übrigen hatte sie viel Zeit, das Bühnengeschehen zu beobachten: »Es gab ja zwei Orchester, so dass wir als hohe Streicher insgesamt nur recht wenig zu spielen hatten. Als Geigerin ist man so etwas nicht gewohnt; so geht es normalerweise eher den Blechbläsern und dem Schlagwerk. Unsere größte Herausforderung bestand darin, uns nicht im schwelgenden Zuhören und Zuschauen zu verlieren und deshalb unseren nächsten Einsatz zu verpassen.« Diese Gefahr ist bei L’Orfeo, wo das Orchester nicht geteilt ist, zumindest geringer. Und Bader-Kubizek hat zum Solopart der Violinen eine interessante Beobachtung gemacht: »Nicht nur die beiden Piccolo-Violinen, die hier spezielle Aufgaben haben, treten gemeinsam in Erscheinung, auch die anderen Geigensoli sind von Monteverdi meist paarweise komponiert. Es geht ja stets um das Liebespaar, das zuerst fröhlich zusammen ist und später alles versucht, um den Tod zu überwinden.« Ein weiteres Indiz für Monteverdis musikdramatisches Denken.
Die Orfeo-Klangpalette – ein kleines Instrumentenglossar Violino piccolo – eine Quart höher gestimmt als die Geige. Zink – italienisch Cornetto, ein historisches Blasinstrument mit einem zumeist gekrümmten Horn aus Holz oder Elfenbein. Das konische Rohr weist sechs bis sieben Grifflöcher auf. Die Naturtöne entstehen durch seitliches oder mittiges Anblasen eines sehr kleinen Kesselmundstücks, weshalb der Zink zu den Blechblasinstrumenten zählt. Der verführerisch weiche Klang ähnelt jenem der menschlichen Stimme und gibt der Musik der Renaissance und des Frühbarock eine ganz charakteristische Farbe. Dulzian – der Vorfahre des Fagotts wurde in der Renaissance entwickelt, ein Holzblasinstrument mit Doppelrohrblatt und konischer Bohrung. Der Name verweist auf seinen besonders süßen Klang. Psalterium (Salterio) – eine historische Kastenzither, verwandt mit dem Hackbrett und dem Cimbalom. Der trapezförmige Holzkorpus ist mit mehrchörigen Saiten bespannt, die wahlweise mit den Fingern oder mit speziellen Finger-Plektren gezupft oder mit lederüberzogenen Holzschlägeln angeschlagen werden. Der Klang ist kräftig und extrem obertonreich. Das Instrument war im 18. Jahrhundert in Italien und Spanien außerordentlich beliebt, geriet dann aber völlig in Vergessenheit. In der historischen Aufführungspraxis der jüngeren Zeit kommt es im Continuo zu neuen Ehren. Chitarrone – gehört zur Theorben-Familie und ist eine besonders große Doppelhalslaute. Um den Tonumfang zu erweitern, hat man der klassischen Lautenbauweise noch ein Spektrum an Basstönen hinzugefügt, der extrem lange MON IK A MERT L
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Hals weist daher einen zweiten Wirbelkasten auf. Das Instrument wurde in Italien im 17. Jahrhundert speziell zur Begleitung von Gesangstimmen geschaffen; der Klang wirkt feierlich-erhaben und imaginiert die antike Kithara, die speziell beim Apollo-Kult zum Einsatz kam; daher auch der Name. Im Instrumentarium der Orfeo-Partitur von 1607 sind zwei Chitarroni verzeichnet. Lirone – auch Lira da Gamba, ist das tiefste Instrument der Lira-Familie und typisch für die Monteverdi-Zeit. Es hat zwischen neun und 16 Darmsaiten und Bünde und wird wie die Viola da gamba zwischen den Knien gehalten; optisch auffallend ist der oft prächtig gestaltete, große Wirbelkasten. Bedingt durch den sehr flachen Steg werden drei bis fünf Saiten gleichzeitig angestrichen, daher diente der Lirone vor allem zur akkordischen Begleitung von Vokalstimmen, wobei die Sänger sich auch selbst begleiten konnten. Ceterone – eine vergrößerte Form der Cetera (Zister), ist ein 13-chöriges Zupfinstrument mit tropfenförmigem Korpus, flachem Boden und einem runden Schallloch. Es ist mit 20 Metallsaiten bespannt, weist feste Metallbünde auf und erzeugt einen sehr kräftigen, cembalo-artigen Klang. Auffallend ist der verlängerte Hals, an dem die Bordunsaiten befestigt sind. Der Instrumentenbauer A. S. Potter weist darauf hin, dass ein Ceterone überhaupt nur einmal ausdrücklich verlangt ist, und zwar in Monteverdis Orfeo-Partitur von 1609. Regal – eine tragbare Kleinorgel, die nur mit Zungenpfeifen bestückt ist, woraus der besonders obertonreiche, charakteristisch schnarrende Klang resultiert. Das Instrument besteht aus einer Klaviatur und zwei Keilbälgen und wird zum Spielen auf einen Tisch gesetzt.
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D. H. Lawrence
Bavarian Gentians Not every man has gentians in his house in Soft September, at slow, Sad Michaelmas. Bavarian gentians, big and dark, only dark darkening the daytime torchlike with the smoking blueness of Pluto’s gloom, ribbed and torchlike, with their blaze of darkness spread blue down flattening into points, flattened under the sweep of white day torch-flower of the blue-smoking darkness, Pluto’s dark-blue daze, black lamps from the halls of Dis, burning dark blue, giving off darkness, blue darkness, as Demeter’s pale lamps give off light, lead me then, lead me the way. Reach me a gentian, give me a torch let me guide myself with the blue, forked torch of this flower down the darker and darker stairs, where blue is darkened on blueness. even where Persephone goes, just now, from the frosted September to the sightless realm where darkness was awake upon the dark and Persephone herself is but a voice or a darkness invisible enfolded in the deeper dark of the arms Plutonic, and pierced with the passion of dense gloom, among the splendor of torches of darkness, shedding darkness on the lost bride and groom.
D. H. Lawrence
Bayrischer Enzian Nicht jeder Mensch hat Enziane in seinem Haus im sanften September, am langen, traurigen Michaelstag. Bayrische Enziane, dunkel und groß, dunkler noch, verdunkeln die Tage wie Fackeln mit rauchigem Blau von Plutos Nacht, furchig, wie Fackeln, ihr dunkles Lodern blauweit gebreitet, hinab in flachere Wüchse, verflacht unter weißer Tage Wucht, Fackelblume blaurauchenden Dunkels, dunkelblaue Plutosucht, schwarze Lampen aus Hallen von Dis, dunkelblau flammend, Dunkelheit bringend, dunkles Blau, wie Demeters blasse Lampen Licht, leuchtet mir, leuchtet den Weg. Reicht mir Enziane, reicht mir eine Fackel, dass ich den Weg find mit der blauzackigen Fackel dieser Blume, hinab die abermals dunkleren Stufen, wo Blau auf Blau verdunkelt, wo auch Persephone geht, in diesem Augenblick, aus Septemberfrost ins auglichtlose Reich, wo Dunkelheit wacht übers Dunkel und Persephone nur als Stimme bleibt, oder Dunkelheit, unsichtbar umfangen von tieferem Dunkel plutonischer Arme, durchbohrt von Lust und dichtester Nacht, verloren die Braut, der Bräutigam auch, breitet Dunkelheit über beide hier der dunklen Fackeln Pracht. Aus dem Englischen von Uljana Wolf → Folgende Seiten: Kate Lindsey als Die Hoffnung, 2022
Die OMV ist seit langem Generalsponsorin der Wiener Staatsoper und wir sind stolz, diese herausragende österreichische Kulturinstitution mit voller Energie zu unterstützen. Wir freuen uns mit Ihnen auf die bewegenden Inszenierungen. Alle Sponsoringprojekte finden Sie auf www.omv.com/sponsoring
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Impressum Claudio Monteverdi L’Orfeo Saison 2021/22 (Premiere der Produktion: 11. Juni 2022) HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Sergio Morabito, Nikolaus Stenitzer Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Julia Pötsch Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin Lektorat: Martina Paul Hersteller: Print Alliance HAV Produktions GmbH, Bad Vöslau TEXTNACHWEISE ORIGINALBEITRÄGE Nikolaus Stenitzer: Die Handlung (englische Übersetzung von Andrew Smith) – Nikolaus Stenitzer: Über dieses Programmbuch – Pablo Heras-Casado: Eine neue kompositorische Realität – Silke Leopold: Die Geburt der Oper aus dem Geiste des Dramas – Man kann mit dem Tod nicht verhandeln. Regisseur Tom Morris im Gespräch – Thomas Macho: Orfeos Zukunft – Monika Mertl: Monteverdis visionäres Klangkonzept ÜBERNAHMEN UND ÜBERSETZUNGEN Dylan Thomas: And Death Shall Have No Dominion, aus: The Poems of Dylan Thomas, New Directions Publishing Corporation 1943. Reprinted by permission of New Directions Publishing Corporation. Neue deutsche Übersetzung für dieses Programmbuch von Uljana Wolf – Ovid: Orpheus und Eurydice, aus: Ders.: Metamorphosen. Aus dem Lateinischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Michael von Albrecht, Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Ditzingen 1994, 2021, S. 289–291 – Orpheus: Hymnos an Persephone, aus: Orpheus. Altgriechische Mysterien. Übersetzung aus dem Urtext von J. O. Plassmann, Eugen Diederichs Verlag, Köln 1982, S. 62 f.– Nikolaus Stenitzer: Ein Ort für Orpheus. Überarbeitete Fassung des gleichnamigen Beitrags aus: Opernring Zwei No. 16/Juni 2022 – Thomas von Aquin: Kommentar zu Aristoteles’ De Anima, aus: Mythos Orpheus. Übersetzung von Marcus Deufert, Reclam Verlag, Leipzig 1997, S. 147 – Ingeborg Bachmann: Dunkles zu sagen, aus: Ausgewählte Werke in drei Bänden, Bd. 1, Aufbau Verlag, Berlin/Weimar 1987, S. 12 – Claudio Monteverdi: Vorwort zum V. Madrigalbuch, 1605. Aus dem Italienischen von Sergio Morabito – Giulio Cesare Monteverdi: Vorwort zu den Scherzi Musicali, 1607. Aus dem Italienischen von Sergio Morabito – D. H. Lawrence: Bavarian Gentians, aus: Last Poems, ed. Richard Aldington, Martin Secker, London, 1933. Neue deutsche Übersetzung für dieses Programmbuch von Uljana Wolf.
BILDNACHWEISE Coverbild: Morten Haskogen Roses, Avantform Faksimile S.59, S.61: Archiv der Wiener Staatsoper Alle Szenenbilder: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten. AUTORINNEN UND AUTOREN, ÜBERSETZERINNEN UND ÜBERSETZER PABLO HERAS-CASADO arbeitet als Dirigent mit den weltbesten Ensembles zusammen. Er erarbeitet an der Wiener Staatsoper 2021–2023 den Monteverdi-Zyklus, bestehend aus L’Incoronazione di Poppea, L’Orfeo und Ulisse. SILKE LEOPOLD war von 1996 bis zu ihrer Pensionierung 2014 Ordinaria für Musikwissenschaft und Direktorin des Musikwissenschaftlichen Instituts der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Ihre Monteverdi-Biographie erschien 2017. THOMAS MACHO ist Philosoph, Kulturwissenschaftler und Publizist. Seit 2016 leitet er das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien. MONIKA MERTL ist Musikpublizistin in Wien und Autorin der ersten Harnoncourt-Biographie sowie eines Buchs über den Concentus Musicus Wien, Die seltsamsten Wiener der Welt (gemeinsam mit Milan Turkovic). SERGIO MORABITO ist Chefdramaturg an der Wiener Staatsoper. TOM MORRIS ist Intendant des Bristol Old Vic Theatre, ständiger Regisseur am National Theatre London und Regisseur dieser Produktion. NIKOLAUS STENITZER ist Dramaturg an der Wiener Staatsoper. ULJANA WOLF ist Schriftstellerin und Übersetzerin. Ihr Prosaband Etymologischer Gossip erhielt den Preis der Leipziger Buchmesse 2022.
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Spotify-App öffnen, Code scannen und L’Orfeo-Playlist hören