LA CENERENTOLA Gioachino Rossini
INHALT
Die Handlung
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Synopsis in English
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Über dieses Programmbuch
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Griselda → Giovanni Boccaccio
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Aschenbrödel → Charles Perrault
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Jacopo Ferretti
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In nur 24 Tagen: Aus den Aufzeichnungen Ferrettis
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An meine wohlwollenden Dramatikerbrüder → Jacopo Ferretti
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Ihr Gesang strotzt in Perlen → Andreas Láng
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Man kann nicht umhin, fröhlich zu sein → Stendhal
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Triumph des Belcantomärchens → Arnold Jacobshagen
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Cimarosa, der kompositorische Großonkel der Cenerentola → Martin Haag
42
Ein Herz und eine Krone → Oliver Láng
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Cenerentola in Wien → Michael Jahn
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Wir hatten eine enorme Freude → Christa Ludwig
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San Sogno → Sven-Eric Bechtolf
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Präzision mit Herz → Interview mit Jesús López Cobos
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Das Cenerentola-Bühnenbild → Rolf Glittenberg
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Die Cenerentola-Kostüme → Marianne Glittenberg
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Sì, tutto cangierà. Quel folle orgoglio poca polve sarà, gioco del vento. E al tenero lamento succederà il sorriso. Ja, alles wird sich verwandeln: Dieser törichte Stolz in ein wenig Asche, ein Spiel des Windes, und die zärtliche Klage in ein Lächeln. Alidoro, 1. Akt
LA CENERENTOLA OSSIA LA BONTÀ IN TRIONFO → Dramma giocoso in zwei Akten Musik Gioachino Rossini Text Jacopo Ferretti
Nach u. a. Cendrillon, Märchen von Charles Perrault und Agatina o La virtù premiata, Dramma semiserio von Felice Romani und Stefano Pavesi Orchesterbesetzung 2 Flöten, 2 Piccoloflöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 2 Hörner, 2 Trompeten, 1 Posaune, Violine I, Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass, Hammerklavier (Cembalo) Bühnenmusik Schlagwerk Spieldauer 2 Stunden 45 Minuten (inkl. 1 Pause) Autograf Partitur Accademia Filarmonica Bologna Arie »Là del cielo nell’arcano profondo« Fondazione Rossini Pesaro Uraufführung 25. Jänner 1817, Teatro Valle, Rom Wiener Erstaufführung 29. August 1820, Theater an der Wien Erstaufführung an der Wiener Hofoper 2. Mai 1881
DIE HANDLUNG
1. Akt Don Magnifico, seine beiden Töchter Clorinda und Tisbe sowie seine Stieftochter Angelina (genannt Cenerentola) leben gemeinsam in einem heruntergewirtschafteten Haushalt. Während die beiden Töchter nichts anderes als Kleider und Unterhaltung im Kopf haben, muss sich Cenerentola um die Hausarbeit kümmern und wird von ihren Halbschwestern tyrannisiert. Selbst ihr Lied vom Königssohn, der von drei Brautanwärterinnen jene wählt, die ein gutes Herz hat, wird von Clorinda und Tisbe unterbrochen. Alidoro, der als Bettler verkleidete Erzieher des Prinzen, erscheint und bittet um Almosen. Nur Cenerentola erbarmt sich seiner. Da verkünden Höflinge die Nachricht vom Erscheinen des auf Brautschau befindlichen Prinzen Ramiro. Für Clorinda und Tisbe gibt es nun kein Halten mehr: Aufgeregt hetzten sie Cenerentola hin und her, um sich rasch herausputzen zu können. Durch den allgemeinen Trubel wird Don Magnifico aus einem wundersamen Traum geweckt, der ihm künftiges Glück zu verheißen scheint: Als fliegender Esel habe er, auf einer Kirchturmspitze sitzend, feierliches Glockengeläut vernommen. Inmitten der Vorbereitungen erscheint inkognito Prinz Ramiro, der mit seinem Diener Dandini die Rollen getauscht hat, um den wahren Charakter der Heiratskandidatinnen zu erkunden. Der Prinz und Cenerentola verlieben sich augenblicklich ineinander, während Dandini von Clorinda und Tisbe umschwärmt wird. Obwohl Don Magnifico Cenerentola unter Gewaltandrohung verbietet, der allgemeinen Einladung aufs Schloss zu folgen, gelingt es ihr mit Hilfe Alidoros dennoch, das Fest in eleganter Balltoilette zu besuchen – von den anderen Gästen wird die elegante Dame trotz ihrer frappierenden Ähnlichkeit mit Angelina nicht als diese erkannt. DIE H A N DLU NG
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2. Akt Don Magnifico, Clorinda und Tisbe halten Familienrat: Das Erscheinen der Konkurrentin hat den Vater beunruhigt. Was, wenn sich herausstellt, dass er das Erbe seiner Stieftochter vergeudet hat? Ramiro belauscht, wie Cenerentola Dandini gesteht, seinen »Diener« zu lieben. Als er ihr beglückt einen Antrag macht, stellt sie eine Bedingung: Zunächst soll er erfahren, wer sie wirklich ist. Sie gibt ihm einen ihrer beiden Armreifen und weist ihn an, nach ihr zu suchen. An dem anderen Armreifen, den sie in ihrer gewohnten Umgebung tragen wird, soll er sie wiedererkennen. Wenn er sie dann noch liebt, wird sie ihn heiraten. Sofort gibt Ramiro den Befehl, die davongeeilte Geliebte zu suchen. Das Verkleidungsspiel wird beendet, Dandini ist nun wieder Kammerdiener und Don Magnifico, dem von Dandini vieles zugesagt wurde, beklagt heftig den Sturz aus seinem Traum von sozialem Aufstieg und finanzieller Sanierung. Vom Fest heimgekehrt, träumt Cenerentola wieder vom Königssohn, der seine Frau nach der Neigung seines Herzens wählt. Da zieht ein Gewitter auf und bringt gerade vor Don Magnificos Haus das Fahrzeug Ramiros zum Stehen. Dank des Armreifes erkennt der Prinz seine Geliebte wieder, die nun ihrerseits über seine wahre Identität aufgeklärt wird. Das Glück der beiden ist perfekt. Und auch als Fürstin verliert Cenerentola ihre Herzensgüte nicht und verzeiht ihren Verwandten.
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DIE H A N DLU NG
SYNOPSIS
Act 1 Don Magnifico, his two daughters Clorinda and Thisbe, and his stepdaughter Angelina (known as Cenerentola) live together in their run-down home. While all the two daughters can think about is clothes and entertainment, Cenerentola must attend to the household chores and is bullied by her half-sisters. Even her song about the King’s son choosing as his bride the one of three candidates who has a good heart is interrupted by Clorinda and Thisbe. Alidoro, the Prince’s counsellor, enters disguised as a beggar and asks for alms. Only Cenerentola takes pity on him. Courtiers then announce the arrival of Prince Ramiro, who is looking for a bride. Now there is no stopping Clorinda and Thisbe. In a frenzy, they chivvy Cenerentola to and fro to help them get dressed quickly. The general hustle and bustle awakens Don Magnifico from a wonderful dream that seems to promise him future happiness: as a flying donkey, while perched on a church tower he heard a solemn bell ringing. In the midst of the preparations, Prince Ramiro enters incognito; he has switched roles with his servant Dandini to determine the true character of the marriage candidates. He and Cenerentola immediately fall in love. However, threatening her with violence, Don Magnifico forbids her to accept the general invitation to the ball at the castle. With the help of Alidoro, Angelina nevertheless manages to attend, beautifully dressed for the ball. Despite her striking resemblance to Angelina, the other guests do not recognize that the elegant lady is indeed Angelina. SY NOPSIS
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Act 2 Don Magnifico, Clorinda and Thisbe gather to discuss the situation. The appearance of a competitor has unsettled the father. What if it comes to light that he has squandered his stepdaughters’ inheritance? Ramiro listens as Cenerentola admits to Dandini that she loves his “valet“. When he joyfully proposes marriage to her, she makes one condition: he must first know who she really is. She gives him one of her two bracelets and tells him to look for her. He will recognize her by the other bracelet which she will wear in her everyday life. If he then still loves her, she will marry him. Ramiro immediately gives the order to search for his beloved, who has rushed away. The costume game is over, Dandini is now once again a valet, and Don Magnifico complains vehemently about being wrenched from his dream of social advancement and financial recovery. Back at home after the party, Cenerentola again dreams of the King’s son who chooses his bride following the dictates of his heart. A thunderstorm rages outside, causing Ramiro’s carriage to halt right in front of Don Magnifico‘s house. Thanks to the bracelet, the prince recognizes his beloved again, who in turn realizes his true identity. The couple’s happiness is complete. And even as a princess, Cenerentola does not lose her kind-heartedness and forgives her relatives.
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SY NOPSIS
ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH
Für viele ist die in sehr kurzer Zeit geschaffene Cenerentola die poetischste aller komischen Opern Rossinis – und tatsächlich besitzt dieses Werk in der subtilen musikalischen Porträtierung der Charaktere eine singuläre Stellung innerhalb des Buffo-Œuvres des Komponisten. Für Jesús López Cobos, den Premieren-Dirigenten der 2013 herausgekommenen Produktion, weist der Untertitel der Oper »Der Triumph der Güte« auch auf den humanen Aspekt des Werkes hin, der hinter der Maske der Komödie zu finden ist. Über diesen und andere musikalische Aspekte spricht der Dirigent ab Seite 72. Das von der Form her zweitaktige Dramma giocoso La cenerentola, das im Wesentlichen auf der berühmten Geschichte des Aschenbrödels basiert (vor allem in der Version von Charles Perrault, ein Ausschnitt seiner Märchenfassung ist auf S. 17 zu lesen), weist eine Balance aus Ironie, Komik, Lyrik, Melancholie sowie eine märchenhafte Grundstimmung auf. Nichtsdestotrotz handelt es sich bei La cenerentola nicht um eine Zauberoper, da Rossini und sein Librettist Jacopo Ferretti jede Form der Magie aus dem Stoff entfernten. Ferretti, der rund 70 Opernlibretti (unter anderem auch für Gaetano Donizetti) schuf, ist in diesem Programmbuch ein kleiner Schwerpunkt gewidmet: Biografisches ist ab S. 18 zu finden, Passagen aus seinen Aufzeichnungen ab S. 20. Die rasante Entstehungsgeschichte der Oper beschreibt Andreas Láng ab S. 24, Auszüge aus Stendhals berühmter Besprechung der Oper (ab S. 28) und ein Überblick über die wichtigsten Sängerinnen und Sänger der Cenerentola-Uraufführung (ab S. 34) geben Einblick in die frühe Rezeptionsgeschichte der Oper. Der Musikwissenschaftler Arnold Jacobshagen wirft einen spannenden Blick auf politische Hintergründe des Werks zur Zeit Rossinis (S. 36), Martin Haag stellt ab. S 42 die Frage nach dem Einfluss des Mozart-Zeitgenossen Domenico Cimarosa auf Rossini und Michael Jahn Ü BER DIE SE S PROGR A M MBUCH
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dokumentiert ab S. 55 die bewegte Wiener Rezeptionsgeschichte der Cenerentola seit ihrer Erstaufführung in dieser Stadt am 29. August 1820 und gibt auch Kurzportraits einiger wichtiger historischer Sängerinnen und Sänger. Da die anspruchsvolle Titelpartie den Interpretinnen eine große Bandbreite an Darstellungsmöglichkeiten bietet, nahmen viele bedeutende Sängerinnen die Rolle gerne ins persönliche Repertoire auf. An der Wiener Staatsoper waren in der Vergangenheit etwa Christa Ludwig oder Agnes Baltsa als Cenerentola beziehungsweise Angelina, wie das von ihrem Stiefvater und ihren Stiefschwestern unterdrückte Mädchen mit ihrem eigentlichen Namen heißt, zu erleben: In einer sehr persönlichen Beschreibung blickt ab S. 64 Christa Ludwig auf »ihre« Cenerentola zurück. Sven-Eric Bechtolf, der Regisseur der aktuellen Inszenierung, verlegte die Handlung ins Italien der 1950er Jahre, genauer in einen San Sogno genannten, fiktiven Zwergstaat am Mittelmeer, in dem der etwas spleenige, teure Autos sammelnde junge Prinz Don Ramiro die Regentschaft ausübt. Eine genaue, augenzwinkernde Verortung und Beschreibung dieses erfundenen Miniatur-Reiches gibt der Regisseur ab S. 66.
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Ü BER DIE SE S PROGR A M MBUCH
Heinrich Heine → Reisebilder, Dritter Teil. Reise von München nach Genua
Rossini, divino Maestro, Helios von Italien, der du deine klingenden Strahlen über die Welt verbreitest! Verzeih meinen armen Landsleuten, die dich lästern auf Schreibpapier und auf Löschpapier! Ich aber erfreue mich deiner goldenen Töne, deiner melodischen Lichter, deiner funkelnden Schmetterlingsträume, die mich so lieblich umgaukeln, und mir das Herz küssen wie mit Lippen der Grazien! Divino Maestro, verzeih meinen armen Landsleuten, die deine Tiefe nicht sehen, weil du sie mit Rosen bedeckst, und denen du nicht gedanken schwer und gründlich genug bist, weil du so leicht flatterst, so gottbeflügelt! – Freilich, um die heutige italienische Musik zu lieben und durch die Liebe zu verstehn, muss man das Volk selbst vor Augen haben, seinen Himmel, seinen Charakter, seine Mienen, seine Leiden, seine 10
Freuden, kurz seine ganze Geschichte, von Romulus, der das Heilige Römische Reich gestiftet, bis auf die neueste Zeit, wo es zu Grunde ging, unter Romulus Augustulus II. Dem armen geknechteten Italien ist ja das Sprechen verboten, und es darf nur durch Musik die Gefühle seines Herzens kundgeben. All sein Groll gegen fremde Herrschaft, seine Begeisterung für die Freiheit, sein Wahnsinn über das Gefühl der Ohnmacht, seine Wehmut bei der Erinnerung an vergangene Herrlichkeit, dabei sein leises Hoffen, sein Lauschen, sein Lechzen nach Hilfe, alles dieses verkappt sich in jene Melodien, die von grotesker Lebenstrunkenheit zu elegischer Weichheit herabgleiten, und in jene Pantomimen, die von schmeichelnden Karessen zu drohendem Ingrimm überschnappen. 11
Giovanni Boccaccio
GRISELDA Auszug aus dem Decamerone, 10. Tag, 10. Novelle
... Schon lange hatte Herr Gualtieri Wohlgefallen an einem armen Mädchen gefunden, das in einem Dorfe nahe bei seinem gewöhnlichen Aufenthaltsort wohnte, und da er sie auch schön fand, glaubte er, dass er mit ihr ein recht zufriedenes Leben werde führen können. Ohne daher weiter zu suchen, beschloss er, diese zu ehelichen. Er ließ sich den Vater rufen und wurde mit diesem, der ein ganz armer Mann war, einig, sie zur Frau zu nehmen. Die Hochzeit war groß und prächtig und die Festlichkeiten nicht anders, als wenn er die Tochter des Königs von Frankreich heimgeführt hätte. Sie war schön von Antlitz und Gestalt, und so schön sie war, so anmutig, gefällig und gesittet wurde sie nun. Dabei war sie ihrem Manne so gehorsam und so dienstbeflissen gegen ihn; gegen die Untertanen ihres Gemahls aber war sie so freundlich und wohlwollend, dass keiner darunter war, der sie nicht mehr als sich selbst geliebt und ihr mit Freuden Ehrfurcht bewiesen hätte. Nicht lange war sie mit Gualtieri vermählt, als sie guter Hoffnung ward und zur gebührenden Zeit eine Tochter gebar, über welche Gualtieri die größte Freude hatte. Bald darauf verfiel er jedoch auf den seltsamen Gedanken, durch langwierige Erfahrung und fast unerträgliche Proben ihre Geduld prüfen zu wollen. Zuerst fing er an, sie durch Worte zu kränken. Kurze Zeit darauf schickte er einen insgeheim unterwiesenen Diener zu ihr, der mit gar betrübten Gebärden zu ihr sagte: »Madonna, wenn ich nicht sterben will, muss ich tun, was mein Herr mir geboten hat. Er hat mir befohlen, diese Eure Tochter zu nehmen und sie...« und mehr sagte er nicht. GIOVA N N I BOCCACCIO
→ Premierenbesetzung 2013, Tara Erraught als Angelina
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Als die Dame diese Worte vernahm erriet sie, dass jenem befohlen sei, ihr Kind zu töten. Rasch nahm sie es daher aus der Wiege, küsste und segnete es, und so groß auch der Schmerz war, den sie im Herzen fühlte, so legte sie dennoch, ohne die Miene zu verändern, dem Diener das Kind in den Arm. Der Diener nahm das Kind, und als er Herrn Gualtieri berichtete, was seine Gattin gesagt hatte, staunte dieser über ihre Standhaftigkeit und schickte den Diener mit der Kleinen nach Bologna zu einer Dame seiner Verwandtschaft, welche er bat, sie sorgfältig zu erziehen und auszubilden. Nach einiger Zeit geschah es, dass die Frau von neuem schwanger wurde und zur rechten Zeit ein Söhnlein gebar, was Herrn Gualtieri sehr erwünscht war. Wenige Tage darauf sandte Gualtieri in derselben Art, wie er nach der Tochter verlangt hatte, nach dem Sohn, und auf die gleiche Weise machte er sie glauben, dass er ihn getötet habe, während er ihn, wie die Tochter, heimlich nach Bologna schickte, um ihn dort aufziehen zu lassen. Auch bei diesem Anlass verriet die Frau weder in Worten noch in Gebärden mehr von ihrem Schmerz, als sie bei ihrer Tochter getan hatte, worüber Gualtieri sehr staunte und bei sich selbst beteuerte, kein anderes Weib vermöge Gleiches zu leisten. Manche Jahre waren seit der Geburt der Tochter verstrichen, als es Herrn Gualtieri an der Zeit schien, die Geduld seiner Gattin einer letzten Probe zu unterwerfen. Er äußerte daher, dass er es auf keine Weise mehr ertragen könne, die Griselda zur Frau zu haben und daher beim Papst eine Dispens erwirken wolle, um eine andere Gattin zu wählen und Griselda verlassen zu können. Als die Frau diese Worte vernahm, hielt sie nicht ohne große, die weibliche Natur übersteigende Kraft und Anstrengung ihre Tränen zurück und erwiderte: »Mein Gebieter, ich habe immer erkannt, dass meine geringe Geburt sich zu Eurem Adel in keiner Weise fügen will. Wenn es Euch geziemend dünkt, dass dieser Leib, in dem ich von Euch erzeugte Kinder getragen habe, von jedermann gesehen werde, so will ich nackt wieder fortgehen. Doch bitte ich Euch zum Lohn für meine Jungfräulichkeit, die ich Euch zubrachte und die ich nicht mit hinweg nehme, dass es Euch gefalle, mir wenigstens ein einziges Hemd zu gönnen.« Gualtieri, dessen Kinder in Bologna sorgfältig von seiner Verwandten erzogen worden, hatte inzwischen, als die Tochter zwölf Jahre alt und das schönste Geschöpf war, das man je gesehen hatte, der Sohn aber sechs Jahre zählte, nach Bologna geschickt und seinen Verwandten gebeten, dass es ihm gefalle, mit eben dieser Tochter und dem Söhnlein zu kommen. Ihm schien es nun, als habe er von der Geduld seiner Gattin so viele Proben gesehen, wie er nur irgend wünschte. Da er wahrnahm, dass der Wechsel der Dinge sie nicht im mindesten verändere, obwohl er gewiss war, dass dies nicht aus geistiger Beschränktheit geschehe, denn er hatte sie als äußerst klug erkannt, glaubte er, dass es nun an der Zeit sei, sie von den bitteren Gefühlen zu erlösen. Deshalb ließ er sie in Gegenwart aller zu sich rufen und sprach lächelnd: »Griselda, es ist endlich Zeit, dass du die Frucht deiner langen Geduld geGIOVA N N I BOCCACCIO
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nießest. Als ich mich entschloss, eine Frau zu nehmen, hatte ich große Furcht, dass mir dies nicht gelänge, und dies war der Grund, weshalb ich, um dich zu prüfen, dich in so vielfacher Art, wie du weißt, gekränkt und verletzt habe. Weil ich aber niemals gesehen habe, dass du in Worten oder Taten dich von meinen Wünschen entfernt hättest, und weil ich überzeugt bin, dass ich durch dich das Glück erreichen kann, das ich begehrte, so gedenke ich dir auf einmal all das wiederzugeben, was ich dir einzeln zu vielen Malen raubte, und durch die höchsten Freuden die Wunden zu heilen, die ich dir zufügte. So empfange denn freudigen Herzens diese und ihren Bruder als deine und meine Kinder. Sie sind dieselben, welche du und viele andere seit langen Jahren grausam von mir ermordet wähnten, und ich bin dein Gemahl, der dich über alles liebt und glaubt, sich rühmen zu können, dass kein anderer lebt, der soviel Ursache hat, sich seiner Gattin zu freuen.« Nach diesen Worten umarmte und küsste er sie, und während sie vor Freuden weinte. Jeder andere war froh über dieses Ereignis, und Freude und Festlichkeit währten noch mehrere Tage lang.
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GR ISELDA
Charles Perrault
ASCHENBRÖDEL
← Illustration zu Perraults Cendrillon von Gustave Doré
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Als dem Prinzen die Ankunft einer mächtigen aber unbekannten Prinzessin gemeldet wurde, eilte er höchstselbst die Treppe hinab, um sie zu empfangen, reichte ihr die Hand beim Aussteigen und führte sie in den Saal. Da wurde es mit einem Mal ganz still, mäuschenstill. Alles hörte auf zu tanzen, die Violinen hörten auf zu spielen und man tat gar nichts anderes, als die außerordentliche Schönheit der Unbekannten zu betrachten. Höchstens, dass man hie und da den Ausruf hörte: »Oh, wie schön ist sie!« Die Damen studierten vorzugsweise Stoff und Schnitt der Kleider, sowie den Kopfputz der fremden Prinzessin, um gleich morgen alles genau nachmachen zu lassen, denn Menschen meinen immer, der Anzug tue es, und dass sie gerade so schön sein würden, wie die schönste Person, wenn sie nur erst auch so gekleidet wären. O Himmel, welch’ bedauerlicher Irrtum! Wenn sich die Sache so verhielte, dann wären die Schneider und Friseure die Könige der Welt und mächtiger als die mächtigsten Monarchen, von denen man je gehört. Der Kronprinz führte Aschenbrödel auf den höchsten Ehrenplatz, dann bat er sie um eine Tour und sie tanzte mit solcher Anmut, dass man sie noch mehr bewunderte als zuvor. Bei Tische brachte der Prinz keinen Bissen herunter, so sehr war er in Betrachtungen der großen Schönheit verloren und so stark hatte sich bei ihm schon jene Appetitlosigkeit eingestellt, welche als ein bedrohliches Symptom der hitzigen Liebeskrankheit vorauszugehen pflegt. Aschenbrödel setzt sich neben ihre Schwestern, überhäufte sie mit Liebeswürdigkeiten, und gab ihnen von den Zitronen und Orangen, die ihr der Prinz vorlegte, was die beiden sehr verwunderte, weil sie Aschenbrödel nicht erkannten. Da schlug es ein Viertel vor Mitternacht; rasch erhob sich Aschenbrödel, machte der Gesellschaft einen tiefen Knix und entfernte sich, so schnell sie konnte. ASCHEN BRÖDEL
JACOPO FERRETTI
Der italienische Librettist Jacopo Ferretti wurde am 16. Juli 1784 in Rom in eine kulturliebende Familie geboren – vor allem seinem Vater verdankte er die Liebe zur Musik und Literatur. Sehr bald schon begann der junge Jacopo Ferretti, der übrigens fließend Latein, Altgriechisch, Französisch und Englisch sprach, erste Gedichte zu schreiben, wobei er sich zunächst an Metastasios Stil orientierte. Spätestens nachdem er die Sängerin Teresa Terziani geheiratet hatte, entwickelte sich sein Heim zu einem Zentrum der kulturellen Hautevolee. Ferretti galt als umgänglicher und liebenswerter Charakter, der mit vielen Komponisten freundschaftlich verbunden war – mit Donizetti stand er beispielsweise über viele Jahre in regelmäßigem Briefkontakt. Sein Werk umfasst praktisch jede Form der literarischen Form und Gattung – so schrieb er nicht nur Opernlibretti, sondern auch Traueroden, Nekrologe, Hochzeitselogen, Sonette, literarische Liebesbriefe und festliche Vorträge. Seinen ersten großen Erfolg als Dichter von Operntextbüchern feierte er mit La cenerentola zu der Gioachino Rossini die Musik schrieb. Besonders gefeiert wurde er vor allem für seine Libretti zu komischen Opern – neben Rossini arbeitete er unter BIOGR A PHIE
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anderem für Donizetti, Fioravanti und Guglielmi. Berühmt war er auch für die Schnelligkeit im Verfassen seiner Texte, für seine Spontaneität in Bezug auf das Erstellen dramaturgisch geglückter Situationskomiken und für seinen authentischen Stil, sodass er als einer der Hauptvertreter der Textdichtung der italienischen romantischen Oper in die Musikgeschichte einging. Nicht umsonst stand er daher bei allen anderen italienischen Librettistenkollegen – allen voran bei Felice Romani – in hohem Ansehen. Jacopo Ferretti starb am 7. März 1852 im 68. Lebensjahr in seiner Heimatstadt Rom, in der der Großteil seiner Werke zur Uraufführung gelangt war. Von 1814 bis 1845 hatte der zeitlebens an Asthma leidende Textdichter übrigens eine Stellung in der italienischen Tabakindustrie inne, was seiner stets angeschlagenen Gesundheit nicht unbedingt entgegen kam. Von seinen rund 70 Opernlibretti seien hier nur einige erwähnt: La cenerentola (1817 für Gioachino Rossini), Mathilde di Shabran (1821 für Gioachino Rossini), L’ajo nell’imbarazzo (1824 für Gaetano Donizetti), Il furioso nell’isola di S Domingo (1833 für Gaetano Donizetti), La casa disabitata (1834 für Lauro Rossi), La pazza per amore (1835 für Pietro Coppola).
→ Portrait von Jacopo Ferretti
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JACOPO FER R ET T I
AUS DEN AUFZEICHNUNGEN FERRETTIS
Genau zwei Tage vor Weihnachten 1816 luden mich der gelassene Impresario Cartoni und Maestro Rossini zu einer Zusammenkunft mit dem kirchlichen Zensor ein. Das Thema waren die ausgedehnten Änderungen, die in dem Libretto vorgenommen werden sollten, das (Gaetano) Rossi für das Teatro del Valle geschrieben hatte, und das Rossini als zweite Karnevalsoper komponieren sollte. Der Titel war Ninetta alla corte, aber der Stoff war Francesca di Foix, eine der unmoralischsten Komödien des französischen Theaters zu der Zeit, als es anfing, sich zur berüchtigten Richtung des Libertinismus hin zu entwickeln, als welche es sich später, ohne die geringste Scham, klar zeigte. Die Änderungen, die der voraussehende Cartoni vernünftigerweise verlangte, hätten die komische Farce ihres Inhalts beraubt. Der kirchliche Zensor, der das Theater nie besuchte, konnte von mir nicht überzeugt werden, aber Rossini fühlte sich peinlich überzeugt. Darauf bat er mich um Hilfe, ich sage das – und der Ausdruck ist korrekt – wegen einer früheren Gelegenheit, bei der er mich ein wenig verletzt hatte. Da ich aber nicht nein sagen konnte und auch den Ehrgeiz hatte, mit diesem berühmten Pesarese etwas zu schreiJACOPO FER R ET T I
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ben, ließ ich meine Fantasie sich plagen und trank mit ihnen weiter Tee in Cartonis Haus an diesem eiskalten Abend. Ich schlug zwanzig bis dreißig Themen für ein melodramma vor, aber das eine erschien zu diesem Zeitpunkt für Rom zu ernst, zumindest während der Karnevalszeit, das nächste würde den Impresario zu viel gekostet haben, und die Ansichten eines Impresario über Sparen müssen immer vom Dichter gehorsamst respektiert werden; und schließlich würde ein anderes nicht für die Virtuosen passen, die vorgesehen waren. Ich wurde müde, Vorschläge zu machen und murmelte im Halbschlaf mitten beim Gähnen: Cinderella. Rossini, der ins Bett geklettert war, um besser überlegen zu können, setzte sich so gerade auf wie Alighieris Farinata. ›Würden Sie den Mut haben, mir eine Cinderelle zu schreiben?‹ Ich meinerseits fragte ihn: ›Würden Sie den Mut haben, sie zu komponieren?‹ Er: ›Wann kann ich einen Entwurf haben?‹ Ich: ›Wenn ich nicht einschlafe, morgen früh.‹ Rossini: ›Gute Nacht!‹ Er wickelte sich in seine Bettdecke ein, streckte seine Glieder aus und schlief, wie die Götter bei Homer, friedlich ein. Ich trank noch ein Glas Tee, stimmte dem Preis zu, schüttelte Cartonis Hand und rannte nach Haus. Dort ersetzte guter Mokka den Jamaica-Tee. Ich lief mit gekreuzten Armen hin und her und kreuz und quer in meinem Schlafzimmer, und als Gott es so wollte und ich das Bild vor mir sah, schrieb ich den Entwurf zu La cenerentola nieder. Am nächsten Tage sandte ich ihn zu Rossini hin. Er war mit ihm zufrieden. Rossini hatte die Einleitung am Weihnachtstag fertig; Don Magnificos Kavatine am Santo Stefano (26. Dezember); das Duett für die donna und den Sopran am San Giovanni (27. Dezember). Kurzum, ich schrieb die Verse in 22 Tagen und Rossini die Musik in 24.
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AUS DEN AU FZEICHN U NGEN FER R ET T IS
Jacopo Ferretti
AN MEINE WOHLWOLLENDEN DRAMATIKERBRÜDER Mein armes Aschenbrödel, eine nicht geplante Tochter und Arbeit weniger Tage, möchte, dass ich sie Ihnen empfehle, weil sie, nachdem sie aus der Herdasche herausgesprungen ist, einen Beschützer haben will, und sie weiß, dass sie keinen besseren finden könnte, als einen von Ihnen. Auf ihren Wunsch möchte ich Ihnen auch mitteilen, dass es nicht als Fauxpas gewertet werden sollte, wenn sie nicht in Gesellschaft eines Magiers auftritt, der Zauberkunststücke vollbringt, oder einer sprechenden Katze, und beim Ball keinen Pantoffel verliert, wie auf der französischen Bühne oder in einem großen italienischen Theater (sondern stattdessen einen Armreifen hergibt); entscheidend war vielmehr, was im Teatro Valle szenisch möglich ist, und die Rücksicht auf den guten Geschmack des römischen Publikums, das nicht auf der Bühne dargestellt sehen will, was es in einer Geschichte, die am Kaminfeuer erzählt wird, unterhaltsam findet. Die Überstürztheit, mit der der Stoff gewählt und dramatisiert werden musste, damit er, Stück für Stück in Verse gebracht, dem Maestro vorgelegt werden konnte, hat vielleicht die Möglichkeit eingeschränkt, einige der üblichen Fehler von BuffaLibretti zu vermeiden. Aber was könnte Ihr Wohlwollen und Ihre Erfahrung nicht alles verzeihen? Mein Aschenbrödel bittet schließlich, dass Sie als gute Beschützer den wenigen, die es nicht wissen, mitteilen, dass sie die Stieftochter und nicht die Tochter des Don Magnifico ist, und deshalb etwas älter sein kann als die beiden Schwestern, und dass einer meiner Hauptgründe, diesen Stoff zu wählen, gerade die naiv-gütige Ausstrahlung war, die einen der wesentlichen Charakterzüge der tüchtigen Frau Giorgi darstellt – eben jener Charakterzug wurde bei Aschenbrödel, der Chronik der Feen zufolge, belohnt. Meine Brüder! Ich weiß, wie mittelmäßig meine Verse sind, die ich nicht überarbeiten konnte, aber ich habe das Glück, dass ich sie dem modernen Prometheus der Harmonie anvertrauen kann, der es fertig bringen wird, sie mit dem Sonnenfunken zum Glühen zu bringen. JACOPO FER R ET T I
→ Michele Pertusi als Alidoro
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Andreas Láng
IHR GESANG STROTZT IN PERLEN
Die Entstehung von Rossinis La cenerentola
Genau an seinem 24. Geburtstag, am 29. Februar 1816, unterschrieb Gioachino Rossini den Vertrag zur Komposition einer neuen Oper. Ein knappes Jahr später gelangte dann das betreffende Werk – La cenerentola – in Rom am Teatro Valle zur Uraufführung. Wie schon beim Barbier einige Monate zuvor setzte der Publikumserfolg zwar nicht sogleich bei der Premiere, sondern etwas verzögert, dafür aber dauerhaft, ein. Und bis heute besticht diese auf dem bekannten Aschenbrödel-Märchen basierende Buffo-Oper durch ihre perfekte Ausgewogenheit an musikalischer Genremalerei, Personencharakteristik, vollkommenen Kantilenen, Melodienreichtum, wirkungsvollen Ensembles und buffonesken Situationen. Im Mittelpunkt der Handlung steht bei Rossini und Ferretti die zu Unrecht als Magd gehaltene Angelina, um die herum eine durch Rollentausch inszenierte Komödie zur Ausführung gelangt, wobei die wesentlichen und allgemein bekannten Aspekte der Geschichte – Prinz heiratet die erniedrigte Außenseiterin und böse Stiefschwestern gehen leer aus – erhalten bleiben. Entgegen der überlieferten Versionen des Märchens (vor allem nach Charles Perrault) finden sich in der Rossini’schen Opernhandlung aber keinerlei Übernatürlichkeiten – der Librettist Jacopo Ferretti schrieb in diesem Zusammenhang in seiner Vorrede, dass dieses Weglassen jeglicher Zaubereien den Umständen der Bühnen des Teatro Valle geschuldet war. In Wahrheit verabscheute Rossini derartiges in den Libretti und so musste Cenerentola bei ihm ohne die berühmte herbeigezauberte, von Mäusen gezogene Kürbiskutsche auskommen, was dem römischen Publikum der Uraufführung auch nicht weiter verstörte. Enttäuschend für manche Besucher – so etwa für Théophile Gautier im Zuge einer Aufführung in Paris – war hingegen der Umstand, dass Ferretti den bekannten Aspekt der Schuhprobe einfach wegließ und stattdessen einen Armreif als Wiederkennungsobjekt einsetzte (vermutlich, weil die Zensur einen für eine Schuhprobe notgedrungenerweise sichtbaren bloßen Frauenfuß auf der Bühne aus Schicklichlichkeitsgründen niemals geduldet hätte). Heute dürften solche Abweichungen vom »üblichen« Plot kaum noch jemanden irritieren. Eher der Charakter der Angelina, die, allen Träumerein zum Trotz, praktisch nie wirklich aufbegehrt, ja sich mit ihrer Rolle als Cenerentola fast schon identifiziert. Nicht umsonst vergleicht sie Albert Gier mit der schon krankhaft sich unterordnenden Griselda in Boccaccios Decamerone. Dass Angelina in der Oper als plastisches Wesen und nicht nur als Schablone vor den Hörer tritt, verdankt sie ausschließlich der Musik und nicht der Darstellung im Textbuch. Wie meistens, komponierte Rossini auch diese Oper unter enormem Zeitdruck, vielleicht sogar unter noch größerem Druck als gewöhnlich: Am 26. Dezember 1816 hätte die Uraufführung stattfinden sollen – drei Tage davor wurde erst das Sujet entschieden. Jacopo Ferretti verfasste das Textbuch daher in einer Nacht-und-Nebel-Aktion, unter Vertilgung vieler Tassen »guten Mokkas«, Rossini schrieb, kaum dass die Tinte auf den Librettoseiten ge 25
A N DR EAS LÁ NG
trocknet war daraufhin in Windeseile seine Musik. Da er einsah, dass die Arbeit auf diese Weise zu langsam voranging, wandte er sich an den, vor allem als Passionen- und Oratorienschreiber renommierten, inzwischen vergessenen römischen Komponisten Luca Agolini, der ihm die Seccorezitative und einige unwesentliche Passagen schrieb. Außerdem übernahm Rossini einige Teile, wie die Ouvertüre, aus früher von ihm selbst verfassten Opern. Und auch Ferretti dürfte von einem bereits existierenden Aschenbrödel-Libretto mehr als nur inspiriert worden sein: Felice Romanis Textbuch zu Pavesis Agatina weist derartig viele Ähnlichkeiten auf (unter anderem in den auftretenden Charakteren – Dandini und Alidoro sind reine Erfindungen Romanis gewesen und von Ferretti einfach übernommen worden), dass Ferrettis Version sogar mit dem Vorwurf des Plagiats verunglimpft wurde. Die Annahme, dass Rossini und alle Beteiligten wohl einiges an Lampenfieber durchlitten haben dürften, liegt nahe, zumal manches erst im allerletzten Moment fertig wurde. Das Duett von Dandini und Magnifico »Un segreto d’importanza« beispielsweise entstand rund 24 Stunden vor der Uraufführung und wurde erst am Tag der Premiere einstudiert und geprobt. Schließlich kam es mit einem Monat Verspätung am 25. Jänner 1817, also fast auf den Tag genau 196 Jahre vor der Premiere der aktuellen Staatsopern-Produktion des Werkes zur Uraufführung. Laut Ferretti tropfte den Sängern bei dieser ersten Cenerentola-Aufführung der »Todesschweiß von der blassen Stirn« und so manche Musiknummer wurde von Publikum gnadenlos ausgepfiffen. Der ursprüngliche, von Ferretti angedachte, Titel Angiolina musste übrigens auf Druck der Zensur geändert werden, da zur damaligen Zeit eine stadtbekannte Angiolina mit einer Reihe von aufsehenerregenden Verführungen auf sich aufmerksam machte und eine Oper gleichen Namens als Anspielung missverstanden hätte werden können. Trotz des mangelnden Erfolges bei der Uraufführung war La cenerentola bald, wie Rossini es mit den Worten »Bevor der Karneval vorbei ist, wird man Cenerentola lieben« von Anfang an prophezeite, ein enorm populäres Stück, das im wahrsten Sinn des Wortes weltweit gespielt wurde: 1818 in Barcelona, 1820 in Wien und London, 1822 in Paris, 1825 in Berlin und Moskau, 1826 in Buenos Aires und New York, 1844 sogar in Australien. Abschließend sei noch ein Ausspruch des strengen Kritikerpapstes Eduard Hanslick erwähnt, da dieses Dictum sehr schön die Qualität von Cenerentola in einem Satz zusammenfasst: »Dieses italienische Aschenbrödel ist es in der Tat nur ihrem Kleide nach; ihr Gesang strotzt in Perlen, Samt und Seide.«
→ Michael Spyres als Don Ramiro
IHR GE SA NG ST ROTZT IN PER LEN
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Stendhal
MAN KANN NICHT UMHIN, FRÖHLICH ZU SEIN!
Auszüge aus Stendhals CenerentolaBesprechung
Die Cenerentola ist aus dem Jahre 1817; Rossini schrieb sie in Rom für die Karnevalssaison im Theater Valle. Die Introduktion besteht aus dem Gesang der drei Schwestern: die älteste versucht einen Tanzschritt vor ihrem großen beweglichen Standspiegel; die zweite rückt eine Blume in ihrem Haar zurecht; das arme Aschenbrödel bläst getreu der Rolle, in der wir es seit unserer Kindheit kennen, das Kaminfeuer an, um Kaffee zu kochen. Diese Introduktion ist sehr amüsant; der Gesang von Aschenbrödel ist rührend. Diese Musik ist außerordentlich rossinisch. Nie haben Paisiello, Cimarosa oder Guglielmi diesen Grad von Leichtigkeit erreicht. Reizvoll ist auch »Una grazia, un certo incanto«; ich finde sehr viel Geist in »quel ch’e padre nin è padre« ... wir lernen Rossinis Talent in seiner vollen Kraft und von seiner glänzenden Seite kennen. Die Kavatine des Kammerdieners Dandini, der als Prinz verkleidet auftritt (»Come il ape ne’ giorni d’aprile«) ist äußerst amüsant. Hier ist der Stil der Antichambre am Platz; Musik und Libretto haben gerade den Anstrich von Vulgarität, der nötig ist, um uns Dandinis Stand zu erinnern, ohne anstößig zu wirken. Bei Cimarosa bekommen wir eher die Leidenschaft der subalternen Figuren zu sehen als die sozialen Gewohnheiten, die sie aufgrund ihrer Stellung in der Gesellschaft angenommen haben. Diese Kavatine, ein gutes Konzertstück für eine Bassstimme, wird in Paris von dem ausgezeichneten Pellegrini oft herrlich gesungen. Das Duett »Zitto, zitto; piano, piano« ist hinreißend. In Triest sagte man, es sei das Meisterwerk der Oper. Ramiro fragt Dandini, seinen als Prinz verkleideten Kammerdiener, was er von dem Charakter der beiden Töchter des Barons halte. Der Part des Tenors (Ramiro) ist von herrlicher Frische und voll und ganz im Einklang mit den Gefühlen eines jungen Prinzen, dem der ihn beschützende Zauberer enthüllt hat, dass eine der Töchter des Barons seiner Wünsche würdig ist; der Zauberer meint Aschenbrödel. Die Schnelligkeit dieses Duetts ist ebenso unnachahmlich wie seine Lebhaftigkeit, es ist ein Feuerwerk. Nie zuvor hat die Musik die Seele der Zuschauer so schnell und erfolgreich mit neuen und ungewöhnlichen Empfindungen überflutet. Wenn jemand unter gewöhnlichen Umständen dieses Duett hört, kann er nicht umhin, fröhlich zu sein; er spürt, wie ihm die drolligsten Einfälle in den Sinn kommen oder vielmehr sein Entzücken über das Glück, in dessen Genuss ihn diese Ideen bringen. Das Quartett, das durch die Ankunft der beiden Schwestern zustande kommt, hat hübsche Passagen von großer dramatischer Wahrheit: »Con un’anima plebea! Con un’aria dozzinale!« Anmutig und vor allem sehr geistreich ist die Arie der Cenerentola, als sie den Salon betritt: »Sprezza quei don che avversa«. Der zweite Akt beginnt mit einer Arie von Don Magnifico, in der er uns erzählt, wenn eine seiner Töchter die Frau des Prinzen werde, dann würden alle Güter dieser Erde auf ihn herabregnen. 29
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Der verliebte Ramiro singt eine angenehme und sehr amüsante Arie, in der er schwört, seine Schöne zu finden (»Se fosse in grembo a Giove«). Dieses brillante Stück für eine hübsche Tenorstimme passt ausgezeichnet in ein Konzert. In diesem Zusammenhang möchte ich bemerken, dass die Nachahmer Rossinis Schnelligkeit übernommen haben – so etwas lässt sich in der Musik auch leicht kopieren –, aber sie haben es nie vermocht, seinen Geist nachzuahmen.
← Gioachino Rossini
Das folgende Duett »Un segreto d’importanza« ist die Vollendung der Kunst der Nachahmung. Sehr wahrscheinlich gäbe es dieses Duett nicht ohne das »Se fiato in corpo avete« im zweiten Akt des Matrimonio segreto. Aber selbst ST EN DH A L
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wenn man das Duett aus der Heimlichen Ehe auswendig kennt, hört man dieses hier noch mit unendlich viel Vergnügen. Die Worte »Son Dandini, il cameriere!« bringen durch ihre äußerste dramatische Wahrheit und durch das plötzliche Unglück, das dem Baron in seiner übertriebenen Eitelkeit widerfährt, das Publikum jedes Mal zum Lachen. Auf das Duett folgt bald ein Orchesterstück, das einen Sturm darstellt, währenddessen die Karosse des Prinzen umstürzt. Es ist mitnichten im deutschen Stil geschrieben; dieser Sturm ist gar nicht so wie der von Haydn in den Vier Jahreszeiten oder der beim Guss der verhängnisvollen Kugeln im Freischütz von Carl Maria von Weber. Dieses Gewitter wird nicht tragisch genommen, dennoch wird die Natur wahrheitsgetreu nachgeahmt; es hat seinen Moment des Schreckens, der sehr gut wiedergegeben ist. Schließlich bildet dieses Stück ohne große Prätention des Tragischen einen reizenden Kontrast in einer Opera buffa. Wenn man es hört (aber nicht im Louvois, sondern gespielt von einem Orchester, das ein Gefühl für die Nuancen hat, vom Dresdener oder vom Darmstädter zum Beispiel), ruft man zwanzig Mal: »Wie geistreich!« Ich habe mit meinen deutschen Freunden schon viele Diskussionen über dieses Stück geführt; ich habe wohl erkannt, dass dieser Sturm in ihren Augen nur eine unscheinbare Miniatur ist. Um ihre Verachtung beurteilen zu können, muss man wissen, dass sie sich nur von den Fresken Michelangelos rühren lassen; sie lieben zum Beispiel den Höllenlärm am Ende des Freischütz, bei dem die teuflischen Freikugeln gegossen werden. Ein neuerlicher Beweis dafür, dass das musikalische Schönheitsideal so verschieden ist wie die Klimata. Nach dem Sturm kommt das reizende Sextett »Quest’è un nodo inviluppato« von verblüffender Originalität. Dieses Sextett kann den Rang als Meisterwerk des Stücks dem reizenden Duett aus dem ersten Akt zwischen Ramiro und Dandini durchaus streitig machen. Die große Schlussarie, die Aschenbrödel singt, ist etwas mehr als eine gewöhnliche Bravourarie. Man kann feststellen, dass es nunmehr drei Opern sind, die Rossini mit einer großen Arie der Primadonna beendet: Sigilara, die Italiana in Algeri und die Cenerentola.
→ Folgende Seiten: Bühnenbild, Halle des Schlosses
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M A N K A N N N ICH T UMHIN, FRÖHLICH Z U SEIN!
DIE WICHTIGSTEN SÄNGERINNEN UND SÄNGER DER » CENERENTOLA «URAUFFÜHRUNG
1793 in Bologna geborene Altistin GELTRUDE RIGHETTI-GIORGI (gestorben 1862) studierte in ihrer Heimatstadt und trat 1814 erstmals als Sängerin an die Öffentlichkeit. Nur wenig später gab sie – auf ausdrücklichen Wunsch Rossinis – die Rosina in der Uraufführung des Barbiere di Siviglia. Bereits ein knappes Jahr darauf war sie als Cenerentola in der Uraufführung von Rossinis gleichnamiger Oper zu erleben. Obwohl sie ihre Karriere schon mit 29 beendete, hatte sich die für ihre Koloraturen bewunderte Geltrude RighettiGiorgi also allein mit diesen beiden Rollenkreationen einen sicheren Platz in der Musik- beziehungsweise Interpretationsgeschichte gesichert. Nicht unerheblich sind auch ihre schriftlichen Erinnerungen, die den Anekdotenschatz rund um Rossini um einige interessante Aspekte erweitern. Der Tenor GIACOMO GUGLIELMI, Sohn des bedeutenden italienischen Komponisten Pietro Alessandro Guglielmi, wurde 1782 in Massa geboren und studierte bei Ferdinando Mazzanti. Nach seinem Debüt am Teatro Argentina in Rom war er vor allem in komischen Opern in Parma, Neapel, Florenz, Bologna und Venedig zu erleben. Außerdem sang er auch in AmsterDIE W ICH T IGST EN SÄ NGER IN N EN U N D SÄ NGER DER »CEN ER EN TOLA«-U R AU FF Ü HRU NG
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dam und Paris, wo er insgesamt zwei Jahre verbrachte. 1812 kehrte er nach Italien zurück, um mit Hauptrollen Erfolge zu feiern. Einen der wichtigsten Auftritte absolvierte er mit dem Ramiro in der Uraufführung von Rossinis La cenerentola. Insgesamt wurde seine an sich nicht sehr kraftvolle Stimme für das schöne Timbre gelobt und sein Gesang für den geschmackvollen Vortrag. Nach 1820 dürfte er bald gestorben sein. ANDREA VERNI wurde 1765 in Rom geboren und gab sein Operndebüt um 1790 herum. Von 1800-1816 sang er an der Mailänder Scala, wo er 1814 den Don Magnifico in Pavesis Aschenbrödel-Oper Agatina sang. Ebenfalls den Don Magnifico verkörperte er in der Uraufführung von Gioachino Rossinis La cenerentola am 25. Jänner 1817 in Rom. Andrea Verni war übrigens nicht der einzige Sänger seiner Familie – so gab sein Cousin Pietro Verni den Gilberto in der Uraufführung von Donizettis Enrico di Borgogna. Andrea Verni starb im August 1822 in Parma. Der Bass GIUSEPPE DE BEGNIS, der Uraufführungssänger des Dandini in Rossinis La cenerentola, wurde 1793 in Lugo geboren und debütierte 1813 in Stefano Pavesis Ser Marcantonio in Modena. Sehr bald entwickelte er sich zu einem der führenden italienischen Sänger des Bufforepertoires – so sang er unter anderem zahlreiche Partien in Werken von Rossini. Seine Karriere führte Giuseppe de Begnis auch mehrfach an das Londoner King’s Theatre, wo er beispielsweise in der Londoner Erstaufführung von Rossinis Mathilde di Shabran zu erleben war. Im August 1849 starb er in New York. ZENOBIO VITARELLI wurde 1780 geboren und war zunächst Bassist in der Sixtinischen Kapelle in Rom, wandte sich dann jedoch der Bühne zu und wirkte vor allem an Theatern in Rom, trat aber auch frühzeitig an der Mailänder Scala auf. In der ebenso denkwürdigen wie unglücklich verlaufenden Uraufführung von Rossinis Barbiere di Siviglia sang er den Don Basilio, wobei er sich an jenem Uraufführungsabend auf der Bühne verletzte, sodass er mit blutender Nase seine Arie »La calunnia« vortragen musste. Am 25. Jänner 1817 sang er in der Uraufführung von Rossinis La cenerentola den Alidoro. Interessant ist die mehrfach auftauchende Bemerkung, man habe den Sänger Zenobio Vitarelli für einen mit »dem bösen Blick« ausgezeichneten Menschen gehalten.
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DIE W ICH T IGST EN SÄ NGER IN N EN U N D SÄ NGER DER »CEN ER EN TOLA«-U R AU FF Ü HRU NG
Arnold Jacobshagen
» LA CENERENTOLA « – TRIUMPH DES BELCANTOMÄRCHENS
Lange vor Gioachino Rossinis La cenerentola war die Geschichte in musikalischen Bearbeitungen an Pariser Theatern zu erleben, etwa in Cendrillon von Louis Anseaume und Jean-Louis Laruette (1759) sowie in der gleichnamigen Oper von Charles-Guillaume Etienne und Nicolas Isouard (1810). Auch später wurde der Stoff noch von zahlreichen Komponisten musikdramatisch bearbeitet, darunter Jules Massenet (Cendrillon, Paris 1889), Ermanno WolfFerrari (Cenerentola, Venedig 1900), Pauline Viardot (Cendrillon, Paris 1904), Leo Blech (Aschenbrödel, Prag 1905), Sergeij Prokofjew (Soluschka, Ballett, Moskau 1945), Peter Maxwell Davies (Cinderella, Kirkwall 1980) und zuletzt Alma Deutscher (Cinderella, Wien 2016). Doch im Unterschied zu all diesen Werken (zumindest was die weiter zurückliegenden betrifft) vermochte sich A R NOLD JACOBSH AGEN
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allein Rossinis Aschenputtel auf den Bühnen der Welt zu behaupten. La cenerentola geht auf Charles Perraults Märchen Cendrillon aus dem Jahre 1697 zurück. Von diesem Modell und erst recht von den in Deutschland geläufigen Fassungen des Märchens (darunter vor allem das Aschenputtel der Gebrüder Grimm sowie Ludwig Bechsteins Aschenbrödel) unterscheidet sich die Handlung der Oper allerdings deutlich. Die Rolle der bösen Stiefmutter übernimmt hier ein vorwiegend lächerlicher Stiefvater, und anstelle einer guten Fee interveniert Alidoro, der Lehrer des Prinzen, zugunsten von Cenerentola (Angelina). Sowohl die Figur des Alidoro als auch jene des Dieners Dandini sind aus der Oper Agatin, ovvero La virtù premiata von Francesco Fiorini und Stefano Pavesi entlehnt, die drei Jahre zuvor in Mailand uraufgeführt worden war. Durch diese Veränderungen des Librettisten ist die Handlung ihrer märchenhaften Züge weitgehend beraubt. An ihre Stelle tritt eine durchaus realistische Komödie, die durch systematische Überzeichnung der Figuren immer wieder in die Sphäre des Grotesken vorstößt. An die Tradition des Märchens erinnert aber die moralische Utopie, dass am Ende das Gute siegt, wie bereits der Untertitel der Oper zu verstehen gibt: La bontà in trionfo (Der Triumph des Guten). Zum glücklichen Ende bedarf es anstelle der im Märchen geläufigen übernatürlichen Interventionen freilich anderer dramaturgischer Mittel. Vor allem durch Verkleidungen wird die komplexe Intrige immer wieder vorangebracht. Neuere Forschungen legen es nahe, die durch Verkleidungen ins Werk gesetzten Hof- und Hochzeitsintrigen in La cenerentola als politische Parodie auf die zur Zeit Rossinis in Paris, Madrid und Neapel regierenden Königshäuser der Bourbonen zu verstehen: Deren bisweilen bizarre Heiratspolitik offenbart das gesamte Spektrum vom Tragischen bis zum Absurden und Grotesken. In einer Epoche der politischen Reaktion entzündete sich Rossinis musikalische Ironie an dem Gegensatz zwischen der Märchenheirat am Ende der Oper und der realen Welt arrangierter Eheschließungen zur Beförderung pragmatischer Interessen der herrschenden Dynastien. Diese Anspielungen sind keineswegs die einzigen Bezüge zur historischen Situation im nachnapoleonischen Europa. Der gesellschaftliche Umbruch offenbart sich vor allem in der Umverteilung der Besitzverhältnisse. So ist der mit einem pompösen Namen ausgestattete Don Magnifico ein inzwischen völlig verarmter Adliger, der gleich zu Beginn der Oper das Ausmaß seiner ökonomischen Misere bejammert. Nur durch eine gute Verbindung seiner leiblichen Töchter Clorinda und Tisbe kann er seiner prekären Finanzlage ein Ende bereiten. Seine Stieftochter Angelina hingegen nimmt ihr leidvolles Schicksal als Dienerin in größter Demut hin. Der gesellschaftliche Abstieg ihres Stiefvaters und ihr eigener unglaublicher Aufstieg aus der Asche reflektieren ebenso wie der Rollentausch Ramiros und Dandinis die soziale Mobilität in einer Epoche, die seit der Französischen Revolution scheinbar völlig aus den Fugen geraten war. 37
» LA CEN ER EN TOLA « – T R I UMPH DE S BELCA N TO -M Ä RCHENS
Anders als in den drei großen komischen Opern Mozarts (Le nozze di Figaro, Don Giovanni und Così fan tutte), deren komplex gezeichnete Protagonisten eine durchaus tragische Fallhöhe besitzen, treiben Rossinis Hauptwerke in der Gattung der Opera buffa (Lʼitaliana in Algeri, ll barbiere di Siviglia und La cenerentola) vor allem das Groteske auf die Spitze und zelebrieren das Positiv-Komische in einer auf der Musiktheaterbühne bis dahin unbekannten Vitalität und Unmittelbarkeit. Die unterschiedliche Konzeption der Opera buffa bei Mozart und Rossini zeigt sich auch im Umgang mit der Maskerade: Während sie bei Mozart eine moralische Funktion bei der Aufdeckung von Schuld übernimmt (der Verrat des Grafen in Le nozze di Figaro, die Taten Don Giovannis in der gleichnamigen Oper und die Untreue Dorabellas und Fiordiligis in Così fan tutte werden durch Verkleidungsszenen offenbart), liegt die zentrale Bedeutung der Verkleidungen bei Rossini im karnevalesken »Theater auf dem Theater« und in der Inszenierung des Grotesken. Hierbei steht weniger die psychologische Entwicklung der Figuren im Vordergrund als vielmehr die durch die Musik zu maximaler Evidenz gebrachte Darstellung komischer Situationen. Die Musik kann sich dabei gegenüber dem Text in großer Autonomie entfalten, besonders in den mitunter gigantischen Ensemble-Sätzen wie im Finale des ersten Aktes aus La cenerentola. In den tumultartigen Steigerungen dieses Finales werden die vokalen und instrumentalen Stimmen mechanisch als lärmendes Tutti im Zustand größter Konfusion zusammengeführt. Die Figuren agieren dabei scheinbar als virtuos »singende Automaten«, deren Individualität sich völlig in den geräuschhaft gesteigerten Klangballungen verliert. Oftmals bilden Wortspielereien und die rhythmischmelodische Deformation des Textes den Ausgangspunkt für Rossinis musikalischen Humor. Eine solche Mechanisierung des Wortes geht bei Rossini mit der schon unter seinen Zeitgenossen viel diskutierten Vorstellung einer »mechanischen Musik« einher, bei der sich in den vorwärtspeitschenden Rhythmen, den Crescendi und orchestralen Steigerungsanlagen gewaltige musikalische Energien entladen. Sprachspiele und Lautmalereien zählten schon immer zu den traditionellen komischen Elementen der Opera buffa, die Rossini in unerschöpflicher Vielfalt auf die Spitze trieb. Ein besonders verrücktes Beispiel hierfür bildet das Sextett am Ende von La cenerentola (»Questo è un nodo avviluppato«). Kompositorisch ist das Stück eine raffinierte Kombination aus Kanon und Fugato, die ihre komische und zugleich überwältigende Wirkung aus dem onomatopoetischen Spiel mit dem explosiven Klang der scharf artikulierten Konsonanten bezieht. Mit der Cenerentola-Premiere am 25. Jänner 1817 in Rom sollte Rossinis Karriere als Komponist komischer Opern für italienische Bühnen schon vor seinem 25. Geburtstag zu Ende gehen. Fortan schrieb er vor allem heroische und tragische italienische Opern, darunter Mosè in Egitto (1818), La donna del lago (1819) und Semiramide (1823), ehe er sich 1824 in Paris niederließ und dort noch vier französische Opern komponierte. Etwas verkürzt lässt sich A R NOLD JACOBSH AGEN
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also sein Opernschaffen in drei Abschnitte gliedern: Der »frühe« Rossini war vor allem auf dem Gebiet der Opera buffa, der »mittlere« primär auf dem der Opera seria und der »späte« in der französischen Oper unterwegs. Dabei sind die Bezeichnungen »früh«, »mittel« und »spät« freilich nur auf sein Opernschaffen und nicht auf die gesamte Lebensspanne zu beziehen: Nach Guillaume Tell (1829) stellte Rossini mit 37 Jahren das Opernkomponieren ein und lebte fortan bis zu seinem Tod im Jahre 1868 als Privatier in Paris und Italien von dem gewaltigen Vermögen, das ihm seine Bühnenerfolge eingebracht hatten.
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Figaro Qua ... Cenerentola Va là!
Ahimè! Che furia! Che folla! Uno alla volta per carità! Figaro qua, Figaro là Figaro su, Figaro giù, Pronto prontossimo son come il fulmine! Oh weh! Was für eine Raserei, was für eine Menge! Ich bitte euch: eins nach dem anderem! Figaro hier, Figaro da, Figaro hinauf, Figaro herunter schnell wie der Blitz!
→ Il barbiere di Siviglia, 1. Akt, 2. Szene 40
Cenerentola vien qua, Cenerentola va là Cenerentola va su, Cenerentola vien giù. Questo è proprio uno strapazzo! Mi volete far crepar? Aschenbrödel, hier, Aschenbrödel, da, Aschenbrödel, hinauf, Aschenbrödel, herunter. Das ist nicht mehr auszuhalten! Wollt ihr mich umbringen?
→ La cenerentola, 1. Akt, 1. Szene 41
Martin Haag
CIMAROSA, DER KOMPOSITORISCHE GROSSONKEL DER CENERENTOLA? Wohl selten erwies ein so erfolgreicher Komponist einem längst verstorbenen Kollegen eine so selbstvergessene Reverenz: Befragt, welche seiner (nahezu vierzig) Opern er für die bedeutendste und künstlerisch gelungenste halte, replizierte Gioachino Rossini einst ebenso lapidar wie aphoristisch vielsagend: Il matrimonio segreto. Mit diesem frappanten Bonmot bezog sich Rossini – international bejubelter Autor des Barbiere di Siviglia und der Cenerentola – auf das bis heute bekannteste der zahlreichen Meisterwerke seines nahezu ein halbes Jahrhundert älteren Landsmannes Domenico Cimarosa: Auf dessen 1792 uraufgeführte Wiener Erfolgsoper Die heimliche Ehe (Il matrimonio segreto). In einer Art von musikphilosophischem »Hintergrundgespräch« mit dem Komponisten und profilierten Publizisten Ferdinand Hiller pries Rossini den genialen Mozart-Zeitgenossen Cimarosa als den herausragendsten Musiker des italienischen Settecento und als einen universal gebildeten Geist. Zeitlebens, so belegen verschiedene Quellenzeugnisse, erschien Rossini – dem damals sowohl in der Alten, wie in der Neuen Welt als führender Repräsentant italienischer Musikkultur anerkannten »Schwan von Pesaro« – das staunenswert vielseitige und facettenreiche Œuvre des großen Spätneapolitaners Cimarosa als ästhetischer Kulminationspunkt eines spezifisch mediterranen Musiktheaters. Voll Bewunderung verwies Rossini zum Beispiel auf das feingliedrige Quintett am Ende des ersten Aktes von Cimarosas Dramma giocoso Le trame deluse. Die turbulente Stretta dieses Ensembles wurde für Rossini, seiner Aussage nach, besonders bei der Niederschrift seines berühmten Sextetts in der Scena penultima des zweiten Aktes seiner Cenerentola zu einer Inspirationsquelle. Doch auch die kontrastreiche Introduktion des ersten Aktes der Cenerentola lässt die musikalische Kontinuitätslinie zwischen Cimarosa M A RT IN H A AG
→ Premierenbesetzung 2013, Alessandro Corbelli als Don Magnifico und Vito Priante als Dandini
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und Rossini deutlich erkennen. Da ist zum einen die großformale Gliederung dieser tableauhaften Eröffnungsszene: Rossini gestaltete sie als sechsteiliges Ensemble mit stetig wechselnden Tempi, Tonarten und Klangfarben bei kontinuierlich anwachsender Personenzahl. Das gleiche, künstlerische Verfahren verwandte auch Domenico Cimarosa in den weiträumig disponierten Introduktionsszenen vieler seiner Opern bereits seiner frühesten Schaffensperiode. Kontrastreich und in mitreißender Steigerung verlaufende, vielgliedrig »durchkomponierte« Eröffnungsensembles enthalten zum Beispiel schon Cimarosas L’italiana in Londra und La bella Greca. Auf das Vorbild der reifen Opere serie Cimarosas verweist hingegen die exponierte Rolle des Männerchores in der Einleitungsszene von Rossinis La cenerentola. Im fünften Abschnitt (bzw. im dritten Auftritt) dieser Introduktion bricht der Chor der mit Don Ramiro ausgeschwärmten »Kavaliere«, für den Zuschauer völlig unerwartet, jäh in das sozusagen symmetrisch zweigeteilte Ensemble der Solisten (Tisbe, Clorinda – Cenerentola, Alidoro) lärmend ein. Dies überraschende Erscheinen des Chores verleiht dem fabulösen, in einer Art von protoromantischer Märchenatmosphäre angesiedelten Bühnengeschehen eine unvorhergesehene und folgenreiche Wendung. Ähnlich überraschend und handlungsprägend greift der Chor auch im ersten Akt (»Se alla patria ognor donai«) von Cimarosas tragedia per musica Gli Orazi e i Curiazi sowie im Finale des zweiten Aktes von Cimarosas Fragment gebliebener Artemisia folgenschwer und unerwartet in die komplexe, szenische Aktion ein. Auch die Auftrittsarie des Don Magnifico »Miei rampolli femminini« in Rossinis Cenerentola knüpft kreativ wohl an ein tradiertes, kompositorisches Modell bei Cimarosa an. Es handelt sich um das Duett im ersten Akt von Cimarosas Commedia buffa I due baroni di Roccazzurra, in dem sich die beiden bizarren Titelhelden Don Demofonte und Don Totaro in absurden Zukunftsvisionen überbieten. In ihrem buffonesken Zwiegesang (»La vedo un bel duchino / un conte, un baroncello«) schwelgen die zwei reichlich dekrepiten, süditalienischen Provinzaristokraten Demofonte und Totaro in grotesker Vorfreude auf ihre imaginierte, künftige adelige Nachkommenschaft. Das (in der Fantasie der beiden dekadenten Feudalherren) gewissermaßen »exponenzielle« Anwachsen dieser ihrer erhofften, aristokratischen Deszendenz wird im Schlussabschnitt des erwähnten Duetts mit ähnlich crescendierender, ridiküler Emphase beschworen und klangmalerisch illustriert, wie in der pathetischen Stretta (»Fertilissima regina«) der parodistischen Auftrittsarie des Don Magnifico in Rossinis Cenerentola. Die Analogie beider Nummern, der ihnen gemeinsame, ironische Impetus der »Adelssatire«, ist offensichtlich. Und auch die (selbst von stilhistorisch versierten Musikfreunden wohl zu allererst als Rossini-typisch empfundene) musikalisch kleinteilige Silbenzerlegung und rasante Sechzehnteldeklamation der Schlusssektion des Duettino »Un segreto d’importanza« zwischen Magnifico und M A RT IN H A AG
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Dandini im zweiten Akt von Cenerentola, besitzt zahlreiche, formale Entsprechungen im Buffa-Schaffen Cimarosas. So belegt und verdeutlicht der vergleichende Blick auf den musikalischen Kosmos Cimarosas vor allem einen, für das Verständnis des Opernkomponisten Rossini zentralen Umstand: Die ästhetische Verwurzelung des »Schwanes von Pesaro« in der, heute kaum mehr präsenten, Operntradition des künstlerisch so fruchtbaren, italienischen Settecento. Nicht minder evident erscheint freilich die personalstilistische Differenz der musikalischen Faktur der ( jeweils Italianità in Reinkultur verkörpernden) Belcantokomponisten Cimarosa und Rossini. Cimarosas Musik klingt graziös, schwerelos, unaufdringlich-elegant, ist nuancenreich doch niemals grell instrumentiert. Rossini hingegen scheut, im Interesse der dramatischen Schlagkraft und Bühnenwirksamkeit seiner Opernpartituren, auch vor gewollt plakativen Klangeffekten nicht zurück und beschränkt sich auf artifiziell fragmentierte, melodische Gebilde zumal dort, wo diese zur Charakteristik der Handlungskonstellation und der Akteure besonders geeignet erscheinen – etwa die dramatisch zündende Stretta der Kavatine des Ramiro im zweiten Akt der Cenerentola. Insgesamt aber hebt sich Rossini von seinem großen Vorgänger Cimarosa durch den ganz anders gearteten Grundcharakter seiner Musik ab, in der nicht selten – wenn auch in verbindlicherer, geglätteter Form und nur wie ein fernes Echo – Einflüsse der französischen Revolutionsmusik und ihres viel glossierten »élan terrible« zu vernehmen sind (die latente Bedrohlichkeit so mancher typischer Rossini-Crescendi gewinnt ihre volle Bedeutung erst in diesem nicht allein musikgeschichtlichen, sondern vor allem auch mentalitätshistorischen Kontext). Zugleich reflektiert der scheinbare, formalistische Leerlauf zentraler Passagen in Rossinis Opernpartituren – vom Musikhistoriker und Rossini-Experten Stefan Kunze treffend als »Ironie des Klassizismus« gedeutet – in ästhetisierender Verfremdung die Lebenswirklichkeit des heraufziehenden Industriezeitalters. Die quasi-industrielle Produktionsweise des Komponisten Rossini – so der Librettoforscher Albert Gier – erweist sich damit als eine »musikalische Vorwegnahme der industriellen Revolution«. Es war wohl diese frappante Modernität der kompositorischen Faktur des »Schwanes von Pesaro«, die im Jahre 1817 den britischen Schriftsteller und Theater- Habitué Thomas Love Peacock zu dem leicht verstörten, doch in der Sache bis heute gültigen Kommentar veranlasste: Rossinis Musik stürze und breche »in die Bühne ein wie ein reißender Gebirgsbach«. Ambiguität, Vitalität und Unwiderstehlichkeit der musikalischen Diktion prägen auch die Partitur der Cenerentola – dieser nur scheinbaren, in einer eher prekären Märchenwelt angesiedelten Restaurationsidylle – die stilgeschichtlich tief in der großen Tradition des italienischen Settecento wurzelt und dennoch das Kommen des Risorgimento unüberhörbar und wirkmächtig präludiert.
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CIM A ROSA, DER KOMPOSITOR ISCHE GROS SON K EL DER CEN ER EN TOLA?
Eduard Hanslick
» Cenerentola lässt einen duftigen Blüthenregen von Melodien auf uns niedergehen, eine Fülle einfacher, ungesuchter und doch nie fehlschlagender Effecte; ihre musikalischen Vorzüge, ihr rühriges dramatisches Leben stempeln sie zu Rossini’s bester Opera buffa neben dem Barbier. «
LUST U N D TOD
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Oliver Láng
EIN HERZ UND EINE KRONE
Es hat sich ausgeträumt. Längst ist bekannt, dass die vermeintlich unschuldige Welt der Märchen nur selten eine solche ist, der analytische Blick hat diese früher gerne Kindern zugeschriebene Domäne als doppelbödiger erkannt, als so manche und mancher es sich wünschte. Wir wissen, dass es mit der Naivität nicht weit her ist, dass das Märchen nicht nur eine Verkleinerungsform von »Mär« ist, sondern viel mehr, dass sich dahinter ein weites Land der Seele verbirgt, und die Farben dieses Landes auch dunkel und bedrohlich sein können. So müssen die Geschichten hinterfragt, die Symbole auf ihre doppelten Bedeutungen abgeklopft, das Gut und Böse neu bewertet werden. 47
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Und, ja, die Gefühle und Emotionsmomente sind nicht mehr einfach, sondern vielschichtig, trügerisch, verräterisch, nichts ist so simpel und einleuchtend, wie es auf den ersten Blick scheint. Das Märchen als entzauberter Ort einer neuen Weltwahrnehmung. Und auch, ja gerade, um zum Punkt zu kommen, die menschlichen Gefühle, vorzugsweise die Liebe, werden im Märchen ebenso beharrlich der Untersuchung unterzogen. Was bedingt die Zuneigung des Ich zum Du? Was bindet den einen an den anderen? Und vor allem: Wie wird man gebunden? Beliebt ist bekanntlich die – eben märchenhafte – Liebe auf den ersten Blick, die zyklisch eine Befragung auf Wahrheit und Beständigkeit über sich ergehen lassen muss. Gerade im Musiktheater, wo nach allen Klischees das Sterben lang und die handlungsverändernden Wendungen unerwartet sind, gibt es verstärkt dieses plötzliche Moment des unbändigen Verliebens. Das hat gattungsimmanente Ursachen, weil die Erzählzeit beschränkt ist; das hat aber auch dramaturgische Ursachen, die im Modellcharakter der Werke liegen: Um die Größe der Gefühle plastisch und möglichst deutlich darstellen zu können, braucht es das Element der konzisen Fokussierung; die Heftigkeit der Emotion spiegelt sich in der Kürze der Liebeserkenntnis wider. Und die Schicksalhaftigkeit zeigt sich in der Unbedingtheit: Man wird als Mensch in das Spiel der Mächte geworfen und kann gar nicht anders als lieben. Es gibt das, was manche gerne verneinen würden, nämlich eine übermenschliche Ebene, die bindet und nicht nach vernunftbegründeter Erlaubnis fragt, etwas, dem man sogar ausgeliefert ist. Um aber auch einer kritischen Vernunft Genüge zu tun, ein paar Hinterfragungen der vorliegenden Märchenhandlung: Was Angelina anbelangt, stellen sich kaum weitere Fragen. Wohl platziert in ihr beständig gesungenes Lied eines Königs, der sich von Stolz und Schönheit nicht blenden lässt und sich für die wahre Liebe entscheidet, kommt es zum ersten Treffen mit Ramiro, dem verkleideten Prinzen, der sich auf die Suche nach einer Braut macht. Und schon, nach dem ersten Blick, stellt sie sich die Frage: »Warum schlägt in meiner Brust mir das Herz wohl gar so laut?« Sie weiß nicht und kann nicht wissen, dass er ein Prinz ist, dass er eine Braut sucht. Vielleicht imponiert ihr sein – wahrscheinlich – sicheres und weltmännisches Auftreten, doch für all die verschlungenen Gedankengänge eines strategischen Aufstiegplans bleibt keine Zeit: Sie verliebt sich in Ramiro, nicht in den Prinzen, sondern den Menschen. Und sie liebt ihn auch ohne die Erkenntnis, dass er der Notausgang aus ihrer misslichen Situation sein könnte. Seitens seines ebenso schnellen Liebesentschlusses ist die Sache ein bisschen komplizierter. Denn er erfüllt all die Bedingungen eines jungen, reichen Mannes, der das Leben bereits kennengelernt hat, und zwar von allen Seiten. Den goldenen Käfig, angefüllt mit Vergnügungen und Umwerbungen, hat er möglicherweise schon satt bekommen, ebenso das ewige Scharwenzeln allerlei Dienstwilliger rund um ihn. Ja, auch das Leben mit Frauen wird er schon OLI V ER LÁ NG
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sattsam kennengelernt haben; denn ein junger Prinz, Single, dynastisch heiratsverpflichtet, dürfte wohl durchaus von allerlei Gattin-Anwärterinnen umgeben sein. Nicht ungewöhnlich, dass er all das schon ein wenig über hat und sich durchaus auch nach Abwechslung sehnt. Dass bei allem Getändel und Hofschranzentum, bei all der parfümierten Luft des heimatlichen Schlosses der Wunsch nach Einfachheit und Bodenständigkeit, gleichsam als ausbalancierender Kontrast, aufkommt, ist zumindest nicht ungewöhnlich. Ein kleiner, persönlicher Zurück-zur-Natur-Ruf. Auch ihn trifft Amors Pfeil. Und auch er verliebt sich augenblicklich. Was zieht ihn an? Cenerentolas »simplicità«. Eben: Das Gegenteil von all dem, womit er sonst umgeben ist. Die wirklich bedeutungsvolle Frage ist aber, wie sich das Verhältnis der beiden nach Abklingen des ersten Hormonrausches entwickeln wird. Oder: Wie die Ehe ausgestaltet sein wird? Man darf nun freilich nicht vergessen, dass Fürst nicht nur ein Titel, sondern auch ein Beruf ist. Ramiro wird herrschen müssen, und er wird sich – ohne Zweifel – auch entsprechenden gesellschaftlichen Zwängen und Realitäten, eben jenen, welchen er durch seine Hinwendung zur »einfachen« und ehrlichen Angelina zum Teil zu entkommen suchte, stellen müssen. War das Finden von Angelina vielleicht eben auch Ausdruck der Suche nach Ehrlichkeit in einer ihn umgebenden unehrlichen Welt, so wird er doch das Spiel bis zu einem gewissen Grad mitspielen müssen und wird dem auch entsprechen müssen, was die Staatsräson und seine Verantwortung von ihm fordern. Das Entstammen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten macht dabei die Sache womöglich nicht einfacher. Denn beide sind geprägt von verschiedenen Modi der Lebensführung; Angelina wird immer ein bisschen Cenerentola bleiben (was sie ja sympathisch und liebenswert macht!), Ramiro aber immer ein Herrscher. Man wird die Welt wohl nicht unbedingt aus den gleichen Augen betrachten. Ein Anwendungsbeispiel? Mir fällt dazu eine berührende Schlüsselstelle in Erich Kästners Jugendbuch Emil und die Detektive ein, in der die aus ärmlichen Verhältnissen entstammende Titelfigur mit einem reichen Kind, genannt Professor, über das Materielle spricht: »Habt ihr viel Geld?« »Das weiß ich nicht. Wir sprechen zu Hause wenig darüber.« »Ich glaube, wenn man zu Hause wenig über Geld spricht, hat man viel von der Sorte.« Der Professor dachte einen Moment nach und sagte: »Das ist schon möglich.« »Siehst du. Wir sprechen oft darüber, meine Mutter und ich. Wir haben eben wenig. Und sie muss fortwährend verdienen, und trotzdem reicht es an keiner Ecke.« Auf die Rossini-Oper umgelegt bedeutet das: Angelina wird, und wir nehmen an, dass sie zukünftig nicht der Putzsucht anheimfällt, tendenziell jene sein, die in der Ehe ständig über das Materielle (in allen Aspekten) reden wird, 49
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auch wenn sie inzwischen wohl mehr als genug hat. Einfach, weil sie sich von ihrer Aschenbrödel-Präexistenz nicht ganz so leicht lösen kann. Das muss freilich noch keinen wirklichen Konfliktherd darstellen, soll aber demonstrieren, dass der Standesunterschied, der ja de facto existiert, nicht so einfach zu überwinden ist. Man denkt anders, wenn man aus verschiedenen Klassen kommt, und dieses Anders-Denken wird das gemeinsame Leben durchaus auch prägen. Und vor allem: Angelina wird sich in einer Umgebung wohl fühlen müssen, die mehrheitlich, wenn nicht sogar geschlossen, anders denkt. Dass das Aufeinandertreffen der unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen natürlich bereits in Rossinis Zeiten durchaus ein großes Thema war, ersieht man auch aus der damaligen Kunstproduktion. Es war eben jener Stendhal, der sich literarisch ausführlich mit dem Komponisten Rossini auseinandersetzte, der in seinem umfangreichen Roman Rot und Schwarz in der Figur des aufsteigenden, beziehungsweise um jeden Preis aufsteigen-wollenden und ehrgeizigen Julien Sorel einen Typus entwarf: Ein von Klassenverachtung geprägter Charakter, der sich, auch in der Liebe, durchaus der Unterschiede zwischen reich und arm bewusst ist – und ihm diese arg zusetzen. Natürlich: Kein so reiner Charakter wie Angelina. Aber doch realistisch in seiner Einschätzung der Welt. Und natürlich wird es auch Ramiro nicht immer ganz leicht fallen, bei aller Liebe die Unterschiede, die sich bei Hof wohl sehr viel deutlicher zeigen werden als in dem halbverfallenen Schloss des Don Magnifico, ins Leben zu integrieren. Denn, wenn auch sein Verkleidungsspiel Spaß gemacht hat, so bleibt letztendlich die Pflicht der Verantwortung, der er entsprechen muss, bestimmend für sein Leben als Herrscher. Einer der ausbrach, um ihr zu entgehen, aber erkennen musste, dass man vor ihr nicht flüchten kann, ist der fiktive Oliver VII. des ungarischen Autors Antal Szerb, der im gleichnamigen Schelmenroman erkennen muss: »Mir ist klar geworden, dass der Platz, wo ein König hingehört, eben doch der Thron ist. Die Pflicht ist kein Rosenbett. Ich habe mein Land verlassen, weil ich mich danach sehnte, genauso zu leben wie andere Menschen. Heute weiß ich, dass dies eine unerfüllbare Sehnsucht ist. Jeder Mensch, wenn er im guten Sinne des Wortes ein Mensch ist, hat eine Berufung. Ein Fischer ist nicht dazu berufen, König zu sein. Ein Fischer würde einen schlechten König abgeben und ein König einen schlechten Fischer. Das war mein Irrtum. Denn man braucht Fischer, und man braucht Könige.« Die Frage ist also: Kann ein Aschenbrödel eine gute Königin sein? Kann das Paar Angelina-Ramiro den Ansprüchen eines Königspaares entsprechen? Ist die Beziehung realitätstauglich? In den 1950er Jahren (in denen die aktuelle Inszenierung spielt) beantwortete der märchenhafte Audrey Hepburn-Film Ein Herz und eine Krone die Frage mit nein; und lässt die Romanze zwischen der Prinzessin Ann und dem bürgerlichen Journalisten Joe auseinanderbrechen, was schon im Originaltitel Roman holiday vorgezeichnet ist. Für beide spricht: Dass Märchen, trotz allem, eben Märchen sind und OLI V ER LÁ NG
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auch Wünsche. Dass die Wissenschaft sich mitunter auch irrt und vom tatsächlichen Leben überholt wird. Dass die Liebe auf den ersten Blick manchmal doch und gerade hält. Dass man unter anderem deshalb gerne in die Oper geht, weil es im Leben ja vielleicht auch einmal so sein könnte wie auf der Bühne. Dass manchmal die Umstände weniger schwer wiegen, als man denkt. Dass schon Corneille wusste: »Die Liebe schafft Gleichheit, aber sucht sie nicht.« Und dass schon Vergil dichtete: »Omnia vincit Amor«.
→ Folgende Seiten: Szenenbild der StaatsopernCenerentola 1981, mit Agnes Baltsa in der Titelrolle
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Michael Jahn
» LA CENERENTOLA « IN WIEN
← Abendzettel der Erstaufführung an der Wiener Hofoper, 1881
Viele Opernbesucher haben vermutlich von dem berühmten »Rossini-Taumel« des Jahres 1822 gehört, den der Komponist auslöste, als er im Wiener Kärntnertortheater mit einer Truppe italienischer Sängerinnen und Sänger (u.a. seiner ihm auf der Reise nach Wien angetrauten Gattin, der Primadonna Isabella Colbran) mehrere seiner Opern unter tosendem Applaus aufführte. Weniger bekannt ist, dass sich Wien eigentlich bereits seit 1816 in einem veritablen »Rossini-Taumel« befand. Sozusagen zum »Aufwärmen« lernten die Wiener Musikfreunde im November 1816 im Kärntnertortheater (dem damaligen Spielort der Hofoper) die Farsa L’inganno felice kennen – eine Aufführung, die zwar nicht für Ablehnung, aber auch nicht für überbordende Begeisterung sorgte. Ein Monat später jedoch war der Name Rossinis in aller Munde: Die angeblich mit einer in Wien bis dahin in dieser Qualität nicht gehörten herrlichen Altstimme gesegnete Gentile Borgondio trat in der Titelpartie des Tancredi vor das Publikum und schmetterte die Cavatina »Di tanti palpiti« in den Zuschauerraum. Von nun an gab es kein Halten mehr; die »Tanti palpiti« wurden an allen Ecken Wiens geträllert, in den verschiedensten Besetzungen in Druck und dadurch unter das musikbegeisterte Volk gebracht; die Borgondio musste ein Jahr in Wien verweilen und hier u.a. in den Erstaufführungen von L’italiana in Algeri und Ciro in Babilonia mitwirken. In den Theatern in der Leopoldstadt und in der Josefstadt folgten naturgemäß erfolgreiche Parodien des Tancredi (mit Musik von Wenzel Müller bzw. Ferdinand Kauer) und nach der Abreise der Borgondio wurde das Werk in deutscher Sprache am Kärntnertortheater einstudiert (mit der kaum weniger erfolgreichen Katharina Waldmüller in der Titelrolle). Es folgte eine Zeit der deutschsprachigen Rossini-Erstaufführungen in Wien – entweder im Kärntnertortheater oder in dem zu jener Zeit in Personalunion mit diesem geführten Theater an der Wien, das jedoch nie zur Hofbühne erhoben wurde: Elisabeth, Königin von England, Otello, Die diebische Elster, Der Barbier von Sevilla, Richard und Zoraide und Der Türke in Italien – all diese Opern waren in Wien bekannt, als am 29. August 1820 die Premiere des Aschenbrödel im Theater an der Wien stattfand. Allerdings war auch dieses Werk den Wienern nicht mehr gänzlich fremd: Als am 7. März 1820 der Türke in Italien im Theater an der Wien zum ersten Male aufgeführt
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worden war, wollte man dem Publikum nicht die originale Ouvertüre dieses Werkes zumuten, da die Wiener jene Teile dieser Nummer bereits kannten, die Rossini in der Sinfonia zu Otello wiederverwendet hatte – somit entschieden sich die Verantwortlichen, dem Türken in Italien die Ouvertüre zur Cenerentola voranzustellen. Dieses Stück hatten die Wiener Musikenthusiasten allerdings bereits zuvor unter dem originalen Titel in »Musikalischen Akademien« im Kärntnertortheater hören können, ebenso wie die finale Arie der Titelrolle – dass ein Teil dieser Szene eigentlich aus dem Barbiere di Siviglia stammte, war in Wien übrigens unbekannt, da die Arie des Almaviva im 2. Akt nicht Bestandteil der damaligen Wiener Aufführungen des Barbiers war. Die Mitwirkenden an der Cenerentola-Erstaufführung am 29. August 1820 zählten zu den Stützen des damaligen Wiener Opernensembles, das sowohl im Kärntnertortheater als auch im Theater an der Wien auftrat. Der Tenor Franz Jäger (1796-1852), der Interpret des Don Ramiro, war ein gebürtiger Wiener, von dem Mozart-Schüler Joseph Weigl für die Bühne entdeckt worden und hatte 1818 am Theater an der Wien debütiert. Er wurde vor allem als Rossini-Tenor geschätzt, aber auch Partien wie Max in Webers Freischütz und Tamino in Mozarts Zauberflöte zählten zu seinen Lieblingsrollen. Von 1824 bis 1828 gehörte er dem Ensemble des Königstädtischen Theaters in Berlin an, von 1828 bis 1836 jenem des Hoftheaters Stuttgart. Den Don Magnifico sang Joseph Seipelt (1787-1847), der zunächst als Chorist an das Theater an der Wien engagiert und von Antonio Salieri zum Solisten ausgebildet worden war. Seipelt trat an der Wiener Hofoper in zahlreichen Rossini-Opern auf (u.a. als Bartolo im Barbier von Sevilla und Mustafà in der Italienerin in Algier), er war aber auch als Sarastro, Pizarro, Kaspar und Komtur sowie in der Uraufführung von Webers Euryanthe (1823, als König Ludwig) zu hören. Joseph Spitzeder (1796-1832), der Interpret des Alidoro, stammte aus Kassel und wurde zunächst als Schauspieler, dann aber von Joseph Weigl im Gesang ausgebildet. Bis 1824 war der Künstler in Wien in Partien wie Papageno, Leporello oder Thaddäus (Taddeo) in der Italienerin in Algier zu hören. Dann ging Spitzeder nach Berlin, später nach München, wo die erfolgreiche Karriere durch seinen frühen Tod beendet wurde. In noch jüngeren Jahren starb seine erste Gattin, Henriette Spitzeder-Schüler (1800-1828), Wiens erste Clorinde (Clorinda) in der Cenerentola. Die aus Dessau stammende Künstlerin hatte 1814 in Nürnberg debütiert, 1816 Joseph Spitzeder geheiratet und 1819 erstmals in Wien gesungen. Hier trat sie u.a. als Königin der Nacht und innerhalb von nur fünf Jahren in allen drei Frauen-Partien in Mozarts Don Giovanni auf – wohl ein einmaliger Fall in der Wiener Operngeschichte. 1824 folgte sie ihrem Gatten nach Berlin. Ihre Bühnen-Schwester in der Cenerentola als Tisbe war Marianne Kainz (1800-1866), eine gebürtige Innsbruckerin, die 1817 in Prag Schülerin von Carl Maria von Weber gewesen war und über Wien (wo sie insbesondere als Ninetta in der Diebischen Elster einen großen persönlichen Erfolg feierte) nach Italien ging. Später reifte sie in Deutschland zu einer MICH A EL JA HN
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großen Primadonna, die mit der berühmten Henriette Sontag verglichen wurde. Der Bariton Joseph Carl Schütz (1794-1840), Wiens erster Dandini, war zunächst als Schauspieler tätig (u.a. auch am Wiener Burgtheater), danach als Sänger am Theater an der Wien und am Kärntnertortheater. Mit seiner Gattin Amalie Schütz-Oldosi ging der Künstler nach Italien, wo er u.a. Direktor des Teatro Carcano in Mailand wurde. Diese Amalie Schütz (1804- 1852, eine gebürtige Wienerin namens Holdhaus) war von ihrer berühmten Kollegin Antonia Campi entdeckt worden. Sie feierte als blutjunge Künstlerin in unserer Aschenbrödel-Erstaufführung ihr Bühnendebüt und wurde ein Jahr später Ensemblemitglied der Hofoper. Sie trat bis 1823 in zahlreichen Rossini-Opern auf (u.a. La donna del lago, L’italiana in Algeri, Tancredi). In Italien zu einer gefeierten Primadonna gereift, die sowohl an der Mailänder Scala als auch am Teatro San Carlo in Neapel auftrat, kehrte die Schütz-Oldosi 1835 nach Wien zurück und begeisterte das Publikum in Bellinis Norma und Sonnambula sowie in Donizettis Anna Bolena. Die Schütz entzückte die Wiener allerdings bereits im Jahre 1820 als Aschenbrödel durch ihre helle, volle Altstimme, gepaart mit einer ruhigen, durchdachten Darstellung und einer sehr angenehmen Gestalt. Sie erhielt enthusiastischen Beifall, wie wir einer Rezension der Leipziger Allgemeinen musikalischen Zeitung entnehmen dürfen. Jedenfalls merkten die Zuseherinnen und Zuseher keinen Augenblick, dass es sich um ein Bühnendebüt handelte, vielmehr bewunderte man die auffallende Sicherheit in Gang, Gebärde und Rede (die Rezitative wurden der damaligen Sitte gemäß in deutschsprachigen Aufführungen in gesprochenen Dialog umgewandelt; die Bearbeitung stammte von Ferdinand Biedenfeld). Ihre Partner füllten die ihnen anvertrauten Partien ebenso erfolgreich aus, in erster Linie der heftig akklamierte Tenor Franz Jäger, wie Der Sammler berichtete. Die unter der musikalischen Leitung von Ignaz von Seyfried (1776-1841) stehende Aufführung wurde allgemein mit Wohlwollen aufgenommen, die Reprisen waren gut besucht, und als herausragende Nummern des Werkes wurden in der Wiener Allgemeinen musikalischen Zeitung gepriesen: Der Schluss der Introduktion, die Romanze der Cenerentola, das Duett zwischen ihr und Ramiro, das Quintett »Signor, una parola«, mehrere nicht näher bezeichnete Ensembles im ersten Finale, die Soloszenen des Don Magnifico, das Duett zwischen Magnifico und Dandini, Partien aus dem Sextett »Siete voi?« sowie natürlich die Final-Arie der Primadonna. – Überragend war der Erfolg des Werkes dennoch nicht, gab es am Theater an der Wien doch übermächtige Konkurrenz durch ein anderes Aschenbrödel, nämlich die Feenoper Cendrillon des heute beinahe vergessenen französischen Komponisten Nicolas Isouard, die von 1811 bis 1823 nicht weniger als 107 Mal an der Wien aufgeführt wurde. Eine solche Rivalität war am Kärntnertortheater nicht zu fürchten, denn an diesem Haus wurde Isouards Werk nie aufgeführt – ganz im Gegensatz zu Rossinis Cenerentola, die allerdings auch hier am 30. März 1822 zunächst 57
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in deutscher Sprache als Aschenbrödel gezeigt wurde. Der k. k. Hoftheatermaler Johann Janitz sorgte für die Dekorationen, Biedenfelds Textfassung wurde aus dem Theater an der Wien übernommen. Für die musikalische Einstudierung sorgte Rossini selbst, der wenige Tage zuvor in Wien eingetroffen war und bei den Proben die Anleitung zur Aufführung der Oper gab – auf diesen Umstand wurde sogar auf dem Theaterzettel hingewiesen. Für die meisten Nummern bestimmte er ein schnelleres Zeitmaß, das sich wiederum mit der schweren deutschen Sprache nicht vertrug. Rossini selbst soll jedoch den Wienern erklärt haben, dass man bei seiner Musik nicht jedes Wort verstehen musste, und allein der Effekt die Hauptsache sei – niemand wagte, ihm zu widersprechen. Im Allgemeinen gefiel die Oper dennoch weniger als im Theater an der Wien. Die Schütz-Oldosi und Jäger wiederholten ihre ausgezeichneten Leistungen als Angelina und Ramiro, Seipelt war wieder der Magnifico, Johann Michael Weinkopf der Alidoro und Anton Forti (eines der wandlungsfähigsten Ensemble-Mitglieder der Wiener Oper, das von Mozarts Sarastro bis Rossinis Otello Bass-, Bariton- und Tenor-Partien übernahm) der Dandini, dessen eher grimmiger Persönlichkeit der Buffo-Charakter dieser Partie laut überlieferter Rezensionen nicht wirklich entsprach. Rossini brachte 1822 einige der berühmtesten Sänger nach Wien: Neben Isabella Colbran u.a. die Tenoristen Giovanni David und Andrea Nozzari, die Mezzo-Sopranistin Fanny Eckerlin und den Bass-Buffo Antonio Ambrogi. Einer der führenden Künstler der italienischen Halbinsel sollte jedoch erst ein Jahr später Wien beehren: Luigi Lablache, der sich in Wien als für viele Jahrzehnte wegweisender Figaro im Barbiere di Siviglia vorstellte und der in späteren Jahren u.a. den Giorgio in Bellinis Puritani und die Titelpartie in Donizettis Don Pasquale kreieren sollte. Als nun dieser große Künstler am 17. Mai 1823 den Dandini in der ersten italienischen Aufführung der Cenerentola am Kärntnertortheater übernahm, war der Erfolg gesichert, nicht zuletzt auch durch seine ausgezeichneten Partner: David sang den Don Ramiro, Ambrogi den Don Magnifico, Adelaide Comelli-Rubini (die Gattin des großen Tenors) interpretierte die Titelpartie und die junge Karoline Unger (die später unter dem Namen Ungher-Sabatier hochangesehene Primadonna) übernahm die Partie der Tisbe. Bis 1828 gab es etwa 40 Aufführungen der Cenerentola in italienischer Sprache, in welchen berühmte Künstler wie Rubini den Don Ramiro, Antonio Tamburini den Dandini oder Nicola Bassi und Lablache den Don Magnifico interpretierten. Nachdem sich der Impresario Domenico Barbaja, dem Wien diese Hochblüte des italienischen Gesanges zu verdanken hatte, aus der Donaumetropole zurückgezogen hatte, kamen wieder die einheimischen Künstlerinnen und Künstler in deutscher Sprache zu Wort, und sofort hatte ein Werk wie La cenerentola, das so sehr auf den Witz und den melodischen Duktus der italienischen Sprache aufgebaut ist, weniger Erfolg – nach fünf deutschen Aufführungen im Jahre 1829 verschwand das Werk wieder aus dem Spielplan der Hofbühne. MICH A EL JA HN
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Wenn es allerdings die politischen Verhältnisse zuließen und italienische Spielzeiten am Kärntnertortheater organisiert werden konnten (meistens von Anfang April bis Ende Juni des jeweiligen Jahres), so war auch Rossinis Cenerentola ein wertvoller und beliebter Bestandteil dieser Stagione und die berühmtesten italienischen Künstler interpretierten die Hauptpartien: So war etwa 1837 Marietta Brambilla in der Titelrolle neben Agostino Rovere als Magnifico und Ignazio Marini als Dandini zu erleben, 1847 wiederum sang Elena Angri die Angelina und wurde von einem Musikkritiker als »eine der größten Sängerinnen der Gegenwart in jeder Beziehung« bezeichnet. Ihr Tenorpartner musste eine eingelegte – nicht näher bezeichnete – Arie im zweiten Akt sogar wiederholen. Von 1854 bis 1859 war die Cenerentola mit immerhin 31 Aufführungen jährlicher Bestandteil der italienischen Stagione; Adelaide Borghi-Mamo und Laura Brambilla-Marulli sangen die Angelina, Raffaele Scalese und Giovanni Zucchini den Magnifico, Camillo Everardi den Dandini und Emanuele Carrion den Ramiro. 1865/66 setzten Künstler wie Désirée Artôt (Angelina) und Luigi Fioravanti (Magnifico) einen weiteren Glanzpunkt im Reigen der großartigen Darbietungen von Rossinis Opera buffa. Die 1869 eröffnete neue, prachtvolle Hofoper am Ring war auf Grund ihrer Größe für die Wiedergabe intimerer Werke der deutschen, französischen und italienischen komischen Oper wesentlich weniger geeignet als das alte intime Kärntnertortheater – die Diskussion um ein eigenes Wiener Opernhaus für kleinere Opern führte zum Bau der Komischen Oper (des später unter tragischen Umständen abgebrannten Ringtheaters) sowie des Kaiserjubiläums-Stadttheaters (der heutigen Volksoper). Nur wenigen Sängern gelang es, mit ihren Stimmen den großen Raum der Hofoper zu füllen, und dazu gehörte wohl auch Marietta Biancolini, die am 2. Mai 1881 der im Rahmen einer italienischen Stagione organisierten Erstaufführung der Cenerentola im neuen Haus die Partie der Angelina sang, wie wir der Wiener Abendpost vom 3. Mai 1881 entnehmen dürfen: »Sgra. Biancolini, eine würdige Gestalt, entzückt, wenn sie den Mund aufthut. Diesem entströmt eine große, volle, schöne Altstimme, die ohne Anstrengung das Haus mit Wohllaut erfüllt.« Doch auch ihre Partner, allen voran »der gewandte Buffo« Alessandro Bottero als Magnifico, »der flinke Barytonist« Napoleone Verger als Dandini und der »gut geschulte Tenorist« Giacomo Piazza »erwiesen sich als wirkungsfähig«. Das unter der musikalischen Leitung von Raffaele Kuon stehende Werk wurde damals übrigens als dreiaktiges [!] Melodramma giocoso aufgeführt und im dritten Akt durch eine Balletteinlage, einen Pas de six, verlängert. Beinahe ein halbes Jahrhundert später, am 25. Juni 1930, wurde das Werk in einer Übersetzung des Münchener Kapellmeisters Hugo Röhr unter Hinzufügung der Original-Secco-Rezitative in einer Inszenierung von Lothar Wallerstein und unter der musikalischen Leitung von Robert Heger wieder 59
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in den Spielplan der Staatsoper aufgenommen – allerdings nicht in das große Haus, sondern in den als zweite Spielstätte eingerichteten intimeren Redoutensaal. Die wieder durch ein Ballett bereicherte Aufführung wurde von Ferdinand Scherber, dem Kritiker der Wiener Zeitung, als »oft etwas zu überspitzt burlesk und zu schwerfällig« geschildert. Der Regisseur Wallerstein habe das Werk zu ernst genommen, und auch das Orchester unter Heger sei erst gegen Ende der Vorstellung der Stimmung einer komischen Oper nahegekommen. Die Sänger (Kolomán von Pataky als Ramiro, Karl Hammes als Dandini und Karl Norbert als Magnifico) gaben zu viel Stimme, nur Nicola Zec zeigte als Alidoro eine »gemütliche und maßvolle Buffoleistung«. Mit »technisch vorzüglicher« Koloratur stellte Adele Kern als Angelina eine »herzige Nippesfigur« auf die Bühne. In beinahe unveränderter Besetzung ( Josef Manowarda übernahm den Alidoro) wurde das Werk am 20. Februar 1932 in die Staatsoper übernommen, wo es bis November 1933 zu sehen war.
← Bühnenbildskizze von Alfred Roller für die Cenerentola der Wiener Staatsoper, 1930
An die beiden letzten Inszenierungen der Cenerentola in der Staatsoper können sich ältere Opernbesucher noch erinnern: Zunächst am 25. Oktober 1959 die geglückte Einstudierung der Angelina in der deutschen Übersetzung von Joachim Popelka und der szenischen Fassung des Meisterregisseurs Günther Rennert, der allerdings auf einer immer gleichbleibenden Besetzung bestand. In allen 21 Aufführungen dieser Inszenierung bis Jänner 1965 sangen daher Christa Ludwig die Angelina, Emmy Loose und Dagmar Hermann MICH A EL JA HN
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Clorinde und Tisbe, Waldemar Kmentt den Ramiro, Walter Berry den Dandini, Karl Dönch den Magnifico und Ludwig Welter den Alidoro. Einzig die musikalische Leitung wechselte von dem Dirigenten der Premiere, Alberto Erede, zu Peter Ronnefeld, Wilhelm Loibner und Heinrich Bender. Am 22. Oktober 1981 folgte dann wieder eine italienische Cenerentola unter der musikalischen Leitung von Roberto Abbado mit Agnes Baltsa als Angelina, Renate Holm und Gertrude Jahn als deren böse Stiefschwestern, Francisco Araiza als Ramiro, Enzo Dara als Dandini, Giuseppe Taddei als Magnifico und Rudolf Mazzola als Alidoro. In den insgesamt 23 Aufführungen der Inszenierung von Giancarlo Menotti traten bis Mai 1984 u.a. Lucia ValentiniTerrani als Angelina, John Aler als Ramiro sowie Rolando Panerai und Alberto Rinaldi als Dandini auf. Die Rennert-Inszenierung des Jahres 1959 wurde 1968 an die Volksoper übernommen (unter der musikalischen Leitung von Argeo Quadri), und 1997 (unter Gabriele Ferro) fand in diesem Theater die bisher letzte Neuinszenierung von Rossinis geistreicher Opera buffa in Wien statt. Die Inszenierung von Achim Freyer stand noch kurze Zeit vor der Premiere der aktuellen Produktion der Staatsoper auf dem Spielplan der Volksoper. An der Hof- bzw. Staatsoper hingegen wurden im 20. Jahrhundert weitere Fassungen des Aschenbrödel-Stoffes gezeigt, und zwar die Ballette Aschenbrödel von Johann Strauß in der musikalischen Einrichtung von Josef Bayer (1908-1919) und Cinderella von Sergeij Prokofjew (1970/1971).
→ Folgende Seiten: Szenenbild der Premiere der aktuellen Produktion mit Dmitry Korchak als Don Ramiro, Valentina Naforniţă als Clorinda und Margarita Gritskova als Tisbe
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Christa Ludwig
WIR HATTEN EINE ENORME FREUDE La cenerentola – das Aschenbrödel – warum nennen wir sie nie bei ihrem richtigen Namen? Angelina! So wurde dieses entzückende Rossini-Märchen in früheren Zeiten hier an der Wiener Staatsoper auch benannt. Es war 1959 als das Team Ita Maximowna (Bühnenbild und Kostüme), Günther Rennert (Regie) und der italienische Dirigent Alberto Erede mit geistreicher Brillanz dieser Oper Gesicht gaben. In deutscher Sprache! Damals gab es ja noch nicht die Übersetzungsmonitore, und das Publikum konnte den gesungenen Text verstehen. Es war ein gekonntes Arrangement dieser Oper, zum Beispiel mit einem eingeschobenen Ballett, das ein Spiegelbild der Handlung war; oder der Pantomime eines Gewitters – natürlich alles mit Musik von Rossini. Die Aufführung – Bühnenbild, Kostüme, Regie – war leicht, witzig, komödiantisch, so wie die Musik. Oder, wie eine Kritik schrieb, »eine schillernde Seifenblase« – eben ein Märchen. Mit Walter Berry (Dandini), Waldemar Kmentt (Don Ramiro) und mich als Angelina war »das junge Ensemble« der Staatsoper auf der Bühne – und CHR ISTA LU DW IG
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wir hatten eine enorme Freude an dem Ganzen. Die Inszenierung von Rennert war minutiös ausgearbeitet – jeder Schritt eine Bedeutung, fast eine tänzerische Choreographie. Er hatte auch die Idee eine Brücke rechts und links über das Orchester zu bauen, und so hatten wir auch noch mehr darstellerische Möglichkeiten. Ich erlaubte mir diesbezüglich noch einen Spaß, indem ich (vor der Vorstellung) sehr viel Puder auf einen Vorbau der Proszeniumsloge legte. Als armes Aschenbrödel musste ich ja unentwegt arbeiten: Die Bühne fegen, sauber machen, Körbe tragen etc. So hatte ich auch abzustauben und wirbelte, bei der Proszeniumsloge angekommen, enorm viel Puderstaub auf, quasi, als ob ich den Staub der Oper wegwischte! Dem Publikum gefiel das natürlich, und es passte gut zu der beschwingten Leichtigkeit des Werkes. Obwohl wir keine geschulten Rossini-Sänger waren, konnten wir mit »geläufigen Gurgeln« alle Koloraturen meistern. Wir hatten auch die Freiheit, eigene, mit Hilfe des Dirigenten Erede erarbeitete, Koloraturverzierungen zu singen. Ich war zwar durch die Rosina mit Hermann Prey (im Redoutensaal) schon etwas an Koloraturen gewöhnt und nach dramatischeren Partien sind diese ja ein reiner Jungbrunnen für die Stimme, doch nachdem unser Kollege Ludwig Welter, der den Philosophen Alidoro sang, starb, ich glaube es war 1965, wurde Cenerentola wieder abgesetzt. Rennert hatte die Rolle des Alidoro sehr ausgebaut – heute würden wir sagen: Alidoro gab als Moderator des Spieles in verschiedenen Verkleidungen die Handlung vor – und so war es leider ganz unmöglich ihn zu ersetzen. Damit war auch meine »Karriere« als Cenerentola zu Ende, und das war gut so. Denn damals sang ich ja schon die großen dramatischen Rollen wie Fidelio, Kundry, Baraks Frau – und da sich nicht nur meine Stimme vergrößert hatte, sondern auch meine Figur, sagte meine Mutter eines Tages zu mir: »Christa, du bist kein armes, kleines Aschenbrödel mehr. Sie dich an! Du könntest ja deine mittlerweile kleineren, bösen Stiefschwestern totschlagen!« Ich nahm also leichten Herzens Abschied, da andere Aufgaben warteten, die mir ebenfalls am Herzen lagen.
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W IR H AT T EN EIN E ENOR ME FR EU DE
Sven-Eric Bechtolf
SAN SOGNO Geografische Lage und Allgemeines
Das Herzogtum San Sogno, idyllisch zwischen San Remo und Mentone gelegen, ist mit 12 Quadratkilometern Fläche und mit 568 Einwohnern der kleinste Staat Europas und zugleich auch das kleinste Herzogtum der Welt. Die gesamte Fläche des Landes liegt am Rande der Seealpen. Es hat Grenzen zu Frankreich und Italien. Die Landessprache ist Italienisch. Seine Fahne ist, um die kulturelle Verbundenheit zu seinem großen Nachbarn in Freundschaft zu dokumentieren, in den Farben Rot-Weiß-Grün gehalten und trägt das Wappen San Sognos, den Hummer und die Sichel. Seine Nationalhymne »Mi par d’essere sognando« wurde von dem großen Sohn des Landes, Gioachino Rossini, verfasst. San Sogno Città, mit 500 Einwohnern die Hauptstadt des Landes, ist zugleich Regierungssitz, deren Mitglieder allerdings von Mai bis September jeweils von San Sogno / Villaggio aus die Regierungsgeschäfte leiten. Villaggio schmiegt sich harmonisch an die Hänge eines aktiven Vulkans, des Monte Strepito. Unweit des Dorfes errichtete die Herrscherfamilie Gramildi, unter Ramiro dem XXI. (1702-1801) ihr Lustschloss, das Castello Gioia, seit Mitte des letzten Jahrhunderts beheimatet es eine erlesene Sammlung rassiger Automobile, eine Liebhaberei des heutigen Herrschers, Ramiro des XXV., (*1930). Weitere Sehenswürdigkeiten sind der Dom in San Sogno Città sowie der Palazzo Montefiascone in Villaggio, der im Jahre 1961 aufwändig restauriert wurde. SV EN-ER IC BECH TOLF
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→ Herzogtum San Sogno
Geschichte und Politik »Tutto cangia – a poco a poco« – diese Worte Ramiro des XXII. auf dem Wiener Kongress zieren bezeichnenderweise sämtliche Amtsräume und Schulklassen San Sognos, ja man kann sagen, sie sind zum Ausdruck der Mentalität und des Lebensgefühls der Sansognesen geworden. Das Land hat daher kaum Einfluss auf die Geschichte Europas genommen. Ramiro der XXIV. (1890-1960) galt allerdings als besonders autokratisch und unduldsam. Unter seiner Regierung wurde der Weinanbau in San Sogno eingestellt. Auch das Rauchen wurde in San Sogno unter Strafe gestellt. Zugleich erhöhte er die Steuern und setzte die Verfassung des Landes außer Kraft. Zudem unterhielt er eine winzige Armee, die er mit eiserner Faust persönlich befehligte. Nach seinem Tod übernahm sein Sohn, Ramiro der XXV. die Geschäfte. Er löste die Armee auf. Als Ministerpräsidenten setzte er seinen als besonders 67
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liberal geachteten Lehrer Ali Doro ein. Ali Doro, der eine türkische Mutter und einen römischen Vater hatte, ist die Existenz des heutigen Casinos sowie die Wiedereinführung der Bürgerrechte zu verdanken. Ramiro der XXV. ist mit Angelina di Montefiascone, Stieftochter des einzigen Aristokraten des Landes, Magnifico Baron von Montefiascone (Minister für Weinanbau) glücklich verheiratet. Sie haben elf Kinder. Die Schwestern der gestrengen Landesmutter, Clorinda di Montefiascone und Tisbe di Montefiascone gehörten dem internationalen Jetset an und haben durch ihre Textil-Kreationen den Ruf San Sognos als Modehauptstadt der Welt begründet. Ramiro der XXV. wurde zudem Formel-1-Weltmeister in den Jahren 1958, 1959 und 1960. Er beendete aus Rücksicht auf seine junge Familie 1961 die erfolgreiche Laufbahn im Motorsport.
Wirtschaft, Einwohner und Tourismus Wer San Sogno bereist, wird den Eindruck gewinnen, die Zeit sei dort stehen geblieben. Insbesondere Villaggio hat seinen ursprünglichen Charme be- wahrt. Noch heute lässt man in den Sommermonaten maximal sechs Bade- gäste einreisen. Immer noch lebt das Herzogtum im Wesentlichen von der Landwirtschaft und dem Hummerfang, wenngleich die Einnahmen aus dem Casino die Bewohner von jeglicher Steuerpflicht befreit haben. Villaggio verfügt außerdem über einen Bürgermeister (das Amt ist in San Sogno erblich), einen Pfarrer, einen Beerdigungsunternehmer, eine Dorfprostituierte, eine emigrierte russische Gräfin, vier Playboys, einen Golfspieler (obwohl San Sogno – noch – keinen Golfplatz besitzt, ist der Abschlag von der Steilküste oberhalb des Mar d’Arragosta ein Geheimtipp), einen Eisverkäufer und dessen Gattin, die zugleich die Strand- und Bademeisterin ist. Zwei Carabinieri, einen Kellner, einen Koch, Besitzer des vielfach ausgezeichneten und einzigen Restaurants des Ortes, einen Friseur, einen Bäcker, vier Garagisten, zwei Rennfahrer, die sich um die berühmte Automobilsammlung kümmern, vier Sekretärinnen, die Ramiro dem XXV. bei den Regierungsgeschäften zur Hand gehen, sowie einen Gärtner und unzählige Kinder. Es ist allerdings zu bemerken, dass sich bei einer Vielzahl der weiblichen Bevölkerung deutlich männliche Züge ausgeprägt haben.
Institutionen Internationalen Ruf besitzt der Chor und das Orchestra di Villaggio, das aus sämtlichen Einwohnern des Dorfes besteht und Auftritte bei Festivals wie San Remo und San Lorenzo di Mare absolviert hat. SV EN-ER IC BECH TOLF
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Im Jahre 2013 nimmt es unter der Leitung von Jesús López Cobos sogar an einer Aufführung von La cenerentola an der Wiener Staatsoper teil. Jedes Jahr findet in San Sogno die Ralley Monte Strepito statt. San Sogno verfügt über drei öffentliche Fernsprecher.
Berühmte San Sognesen Der San Sognesische Schlagerstar Dandini hatte 1963 mit »Come un’ape« einen Nummer-1-Hit in den italienischen Charts. Carlo Capello: Er erfand im Jahre 1905 den Strohhut. Gianni Nivea: Apotheker in San Sogno/Città, erfand 1953 die Sonnencreme. Gioachino Rossini, Komponist, wurde 1792 in San Sogno geboren.
Delikatessen Die Pasta all’astice und die Spaghetti alle vongole sind die Nationalgerichte von San Sogno. Es gibt seit 1960 auch einen National-Longdrink, den »Dandini Speciale«, bestehend aus 13 Likörsorten, Schokoladenpudding, Weißwein, Rotwein, Petit-Fours – und einem Schuss Benzin.
Währung San Sogno ist der Lira treu geblieben.
Moral Die Landesmutter Angelina Gramildi gilt als tugendstrenge Moralistin. Polygamie, außereheliche Verhältnisse und Konkubinat stehen in San Sogno unter Strafe. Die Schulkinder in San Sogno tragen Uniform, das Kaugummikauen auf dem Schulgelände wird mit Karzer geahndet. Scheidungen sind in San Sogno nicht möglich. Make-up darf erst von Damen jenseits der 50 verwendet werden. Angelina Gramildi gilt als die »blonde Eminenz« und heimliche Regierungschefin San Sognos. → Übernächste Seite: Vivica Genaux als Angelina
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SA N SOGNO
Elsa Bienenfeld
Presto, Prestissimo sprudelt die Musik; eine kurze Maestoso-Fanfare und im leichtesten Leggiero springt die Ouvertüre Allegro vivace über repetierte Sechzehntel. Geschwindigkeitsrausch, in Rossinis Musik vehementer als im modernsten Jazz, nimmt den Hörer gefangen. Kostbarkeiten, die in der ganzen Opernliteratur kaum ihresgleichen haben. → im Neuen Wiener Journal anlässlich der Staatsopern-Premiere 1930
PRÄZISION MIT HERZ
Im Gespräch m mit Premierendirigent Jesús López Cobos
Herr Mo López Cobos, haben Sie einmal nachgezählt, wie oft Sie bisher schon La cenerentola dirigiert haben? Nein, die genaue Anzahl der Aufführungen kenne ich nicht, aber es waren viele! In Paris leitete ich eine Produktion unter Rolf Liebermann – es sangen Teresa Berganza und Frederica von Stade –, die mehrfach wiederaufgenommen wurde; und in Genf eine weitere mit Jennifer Larmore in der Titelpartie. Diese ist also meine dritte Cenerentola. JLC
Lässt sich vereinfacht auf den Punkt bringen, was die Besonderheit dieser Oper im Gegensatz zu anderen Rossini-Musiktheaterwerken ist?
JLC Wahrscheinlich, dass es sich um eine Komödie handelt, die nicht nur lustig sein will, sondern auch einen Farbton des Humanistischen einbringt. Es ist ja auch interessant zu sehen, dass Rossini sich bewusst nicht an der herkömmlichen Aschenbrödel-Fassung orientiert hat, sondern etwa statt der bösen Stiefmutter einen Stiefvater einbrachte, der ein verarmter Adeliger ist. Damit bekommt die Oper eine andere Richtung. Der Untertitel sagt ja: »ossia La bontà in trionfo«, also der »Triumph der Güte«. Unter dem Mantel der Komödie geht es um das Menschliche. Das ist natürlich auch in der Musik wiederzufinden: Rossini schrieb La cenerentola unmittelbar nach Otello und vor Armida. Also zwischen zwei tragischen Werken. Das d-Moll zum Beispiel, das den Tod des Otello kennzeichnet, kommt in der ersten Arie der Cenerentola ebenfalls vor. Die Oper ist also keine reine buffa-Komödie im Stil von Il barbiere di Siviglia, sondern geht tiefer.
Wieweit greifen Sie für diese Produktion in die Partitur ein? Gibt es Striche?
JLC Nein, absolut keine, mit Ausnahme eines ganz kleinen in einem Rezitativ. La cenerentola braucht keine Änderungen, keine Striche! Das zeigt ja auch, was für ein Meisterwerk diese Oper ist!
Wird die von Rossinis Komponistenkollegen Luca Agolini beigefügte Arie auch gespielt?
JLC Nein, die lassen wir weg. Es handelt sich dabei um eine Arie von Clorinda, und man merkt schon beim ersten Anhören, dass sie nicht von Rossini ist. Mehr noch: Wenn man sie einfügt, dann wird der dramatische Ablauf gebremst! Wir kennen ja die Entstehungsgeschichte dieser Einlagearie: die Sängerin der Clorinda wollte unbedingt diese Musiknummer haben, und Rossini hat sich breitschlagen lassen und dann einfach Agolini beauftragt, sie zu schreiben. Typisch Rossini, übrigens!
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IN T ERV IEW MIT J E SÚS LÓPEZ COBOS
In Ihrem Repertoire nehmen Werke von Rossini einen wichtigen Platz ein. Sehen Sie sich in einer Rossini-Interpretationstradition, die Sie fortführen wollen?
JLC Ich glaube, wir alle, die in den 1960er Jahren anfingen uns mit diesem Repertoire auseinanderzusetzen, haben eine Wanderung hinter uns. Denn am Beginn gab es ja kaum korrekte Rossini-Partituren, sondern nur Bearbeitungen aus dem 19. Jahrhundert. Ich habe etwa einen Barbier noch mit Posaunen und Pauken erlebt! Durch die Arbeit der unterschiedlichsten Institutionen, die sich eine quellenkundlich richtige Rossini-Sicht vorgenommen hatten, ist die Situation nun eine ganz andere. Es gibt Ausgaben, die nicht nur wissenschaftlich richtig sind, sondern auch den originalen Geist des Komponisten vermitteln. Ich habe diese Zeit der Annäherung erlebt, daher kann man auch nicht sagen, dass ich aus einer Tradition käme: Denn es gab zwar eine, aber eine der Verfälschungen und Bearbeitungen.
Lässt sich definieren, was bei der Cenerentola die besonderen Herausforderungen für einen Dirigenten sind?
JLC Die Ensembles! Es gibt zwar auch Arien, aber La cenerentola ist dennoch eine Ensemble-Oper. Also mit vielen Duetten, Terzetten, Quartetten und so weiter, bis hin zu den großen Finali. Eine Oper also, in der sieben Sänger vor allem miteinander zu singen haben. Als Dirigent ist man somit nicht nur ein Arienbegleiter, sondern muss auch viel »organisieren«.
Inwieweit hat sich Ihre Sicht auf das Werk seit Ihrer ersten Produktion in Paris verändert?
JLC Es ist etwas anderes, ob man ein solches Stück in jungen Jahren dirigiert oder mit 70 Jahren. Man entdeckt eine gewisse Melancholie in der Oper, die man vielleicht früher nicht so wahrgenommen hat. Und dieses Gefühl der Melancholie bringt eine neue Farbe in die Interpretation. Ich habe den Eindruck, dass mir heute die humanistische Seite dieser Oper wichtiger ist als früher.
Und hat sich Ihre Interpretation noch während der aktuellen Probenarbeit zu dieser Neuproduktion in Aspekten verändert?
JLC Das passiert im Laufe von Proben grundsätzlich immer wieder – und ist auch ganz logisch, denn man muss sich als Dirigent natürlich einerseits mit der Inszenierung, andererseits auch mit dem Bühnenbild
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auseinandersetzen: Je nachdem sind zum Beispiel manche Tempi in einem bestimmten Rahmen möglich oder nicht möglich beziehungsweise müssen angepasst werden. Ich bin diesmal sehr glücklich mit dem Bühnenbild, weil es ein abgeschlossener Raum ist – sogar mit einer Decke – und daher leise schnell gesungen werden kann und das Publikum alles hört und versteht! Es ist dank des Bühnenbildes auch eine große Palette an Farben und Ausdrucksarten möglich.
Dirigieren Sie Rossini eigentlich technisch »anders« als andere Komponisten?
Von der reinen Technik her: Nein. Aber natürlich ist der Stil anders. Und durch diesen anderen Stil adaptiert man auch seine Technik, es braucht für Rossini eine besondere Präzision und eine Leichtigkeit, keine großen Gesten. Aber das kommt – wie gesagt – direkt aus der Musik und ergibt sich fast ganz automatisch. JLC
Sie haben auch an den szenischen Proben teilgenommen...
... weil mir das stets sehr wichtig ist! Gerade bei einer musikali schen Komödie, wo es ums kleine und genaue Detail geht. Ich könnte keine Cenerentola richtig dirigieren, wenn ich die Inszenierung nicht genau kennen würde. JLC
Ein grundlegendes Ausdruckselement bei Rossini ist der Rhythmus. Gilt das auch für die Cenerentola?
Ja, unbedingt. Rossini ist wie ein Uhrwerk, ein Schweizer Uhr werk, aber mit einem italienischen Puls. Mit anderen Worten: Präzision mit Herz. Der ganze Witz und die gesamte Spannung kommen aus dem Rhythmus, und wenn man in die Noten schaut, dann sieht man, dass der Komponist auch alles sehr genau notiert hat. JLC
→ Folgende Seiten: Szenenbild der Premiere der aktuellen Produktion mit Tara Erraught als Cenerentola und Ildebrando D’Arcangelo als Alidoro
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Rolf Glittenberg
DAS » CENERENTOLA «BÜHNENBILD
Rossinis La cenerentola ist für mich ein Fairy Tale, das eher etwas mit Alice in Wonderland und dem verrückten Hutmacher zu tun hat und nicht mit Grimms Märchen. Die Räume für die verarmte Welt Don Magnificos sollten sich so deutlich wie möglich von dem Schloss des Prinzen Ramiro unterscheiden. Deshalb sehen wir vom Hause einen sehr flachen Flur mit fünf Garderobe schränken. Dieser schäbige Flur mit den Resten einer Gemäldegalerie liegt vielleicht vor dem ehemals glänzenden Ballsaal des Hauses. Alle Räume des Anwesens sind völlig unbewohnbar geworden. Deshalb schläft der Hausherr auch in einem Schlafsack in einem der Schränke, eine Art Notküche ist auch da und zauberischer Weise kommt ein Waschtisch plötzlich an Stelle der Schlafimprovisation zum Vorschein. Und das berühmte Temporale? ROLF GLIT T EN BERG
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Das Wasser fließt unerwartet in den Kästen. Der extrem flache Raum mit seinen verblichenen Farben – selbst die Sessel haben Überbezüge und damit die Farbe verloren – ist ein starker Kontrast zur Welt des Prinzen. Ramiro hat ein Hobby: Er sammelt Oldtimer und hat seine schönen Wagen in einer Halle seines Schlosses untergebracht. Rolltore wie in Garagen sind in dem Bau aus dem Ende des 19. Jahrhunderts angebracht worden, Leuchtstoffröhren beleuchten seine Sammlung. Ramiros Vater hatte früher die erste Etage als Büro für seine Amtsgeschäfte benutzt. Pompös zieren die Fahnen San Sognos und sein Bild den Arbeitsplatz. Im Gegensatz zu Magnificos bleicher Behausung hat hier ein italienischwarmer Gelbton die Architektur überzogen. Der Grundcharakter der Räume ist auf den ersten Blick realistisch, wie auch Rossinis Oper mit scheinbar realen Situationen anfängt, um dann ganz schnell in den Strudel von Verirrung, Emotionen und rasender Schnelligkeit zu gelangen. Die realistische Ebene wird ständig zugunsten der Musik verlassen, sie bietet den Anlass, um in das subtile Feuerwerk der fantastischen Ensembles zu münden. Deshalb sollte das Bühnenbild auf keinen Fall eine nur realistische oder gar naturalistische Erzählweise haben. Die Räume haben etwas von Trompe-l’œil und Irritationen.
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DAS »CEN ER EN TOLA«-BÜ HN EN BILD
Marianne Glittenberg
DIE » CENERENTOLA «KOSTÜME
Wie beginnen die Überlegungen zur »Konzeption« einer »komischen Oper«, wenn man aufgrund der wunderbaren Heiterkeit der Musik Rossinis nicht zu einer drastischen Aktualisierung greifen möchte – obwohl die Konstellation »grausamer Vater – misshandelte Tochter«, wenn man die Cenerentola- Geschichte auf diesen Ausgangspunkt reduzieren möchte, heute in viel radikalerer Grausamkeit leicht in den Nachrichten zu finden wäre? Das Primat der Musik ist bei diesen Überlegungen von noch höherem Vorrang als bei Opern mit ernsten Libretti, da ein »Märchenstoff« ja eigentlich kein »realer« Stoff ist, die Figuren nicht unbedingt ausgebildete Charaktere und die Ereignisse oft eben »wunder«-bar unwirklich sind. Im Falle der Kostümgeschichte der Oper haben sich Erzählweisen entwickelt, die, sei es durch Paraphrasierung von commedia dell’arte-Figuren oder durch Übertreibungen, Karikierungen oder scheinbare Fantastik, in unzähligen Variationen angewandt, keinerlei speziellen Aspekt erreichen und ohne jeden Inhalt oder jede Aussage in Beliebigkeit ersticken. In diesem Sinne ist ein typisches »Opernkostüm« ein Feindbild, das ich unbedingt vermeiden wollte. Eine andere anfängliche Überlegung – in welche Zeit man die »Neuerzählung« eines Stückes ansiedeln möchte (da wir ja heute gewöhnt sind, jede mögliche Epoche zu wählen, die uns sinnvoll erscheint), führt auf denselben Punkt: ohne realistische Bindung der Figuren schien mir diese Oper nicht darstellbar. M A R I A N N E GLIT T EN BERG
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Die Vorstellung einer Cenerentola als armes Küchenmädel mit historischem langen Flicken-Rock und geschnürtem Mieder schien mir ein Klischee von opernhafter »Beschönigung«, die mich wenig rührt. Es schob sich – ein Lob der »italianità« – das Bild Anna-Magnani-hafter Frisuren und Kittelkleider als »wirklicher« vor die Historie, frühe Visconti- und Fellini-Filme der beginnenden 1950er Jahre und dann sogar das leichtlebige Dorfklima aus Anthony Minghellas Tom Ripley-Film, in dem soziales Elend schon gar kein Thema mehr ist, sondern eher Sonne und Vespa-fahrende Lebensfreude, bildeten mir eine Vorstellung, in der diese Geschichte sich abspielen könnte. Unter realistischen Figuren in einer genauen, erzählerischen Gestaltungsweise, die ich in diesem Zusammenhang »Schauspiel«-Kostüme nennen möchte, da man dort per se der Realität etwas näher ist. – Nur eben, dass mir dieses dem Sprechtheater verbundene Arbeiten hier eher dazu zu führen schien, der Musik der Oper gerecht zu werden in dem Sinne, dass sich in der genannten Beschreibung realer Figuren besser ein Gesamtklima, eine »Welt«, in der man sich befindet, eben ein »Kostüm-Bild« erstellt, das mir als Ganzes immer wichtiger ist als einzelne »Kleider«. Die Erfindung der Bevölkerung des Dorfes San Sogno war denn auch eine der vergnüglichsten »Kostümbesprechungen«, die ich mit Sven-Eric Bechtolf und Rolf Glittenberg hatte, allerdings auch die arbeitsreichste, da wir im Nu eine Personage zusammengetragen hatten, um eine ausgewachsene Kreisstadt zu füllen. Da eine kostümtaugliche Liste der dramatis personae herauszufiltern und dem geliebten Rossinischen Männerchor-Charakteristikum eine leichte Schräglage zu verpassen, um auch einen kleinen weiblichen Anteil nicht zu unterdrücken, war eine sehr angenehme Schwerarbeit. Die »Subjektivität«, die mir in der Arbeit immer sehr wichtig ist, erlaubte mir auch einige »Spitzen« durch Zitate von Allgemeingut gewordenen Bildern, wie die Männer mit Fellinis Haarnetzen oder die Brautjungfern der Hochzeit von Grace Kelly oder Persönliches wie die himmelblaue Hose des Eismannes. Unerfüllt blieb, wie fast immer, der Wunsch, nicht nur auf das Klima der Musik im Ganzen, sondern auf Lieblingsstellen im Einzelnen einzugehen. Zu den wenigen Takten, mit denen die Gewittermusik endet – in vollkommen friedlicher Besänftigung, als wolle Rossini in dieser Ruhe auch den »nodo avviluppato« und den »vertice del lor’cervello«, das verwirrte Unverständnis im beschränkten Hirn der Handelnden damit lösen – dazu ließen sich leider keine Kostüme erfinden. Schön, dass man Ohren hat!
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DIE »CEN ER EN TOLA«-KOST ÜME
Die OMV ist seit langem Generalsponsorin der Wiener Staatsoper und wir sind stolz, diese herausragende österreichische Kulturinstitution mit voller Energie zu unterstützen. Wir freuen uns mit Ihnen auf die bewegenden Inszenierungen. Alle Sponsoringprojekte finden Sie auf www.omv.com/sponsoring
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Impressum
Gioachino Rossini LA CENERENTOLA Spielzeit 2021/22 (Premiere der Produktion: 26. Jänner 2013) HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Sergio Morabito, Andreas Láng & Oliver Láng Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Irene Neubert Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH, Bad Vöslau TEXTNACHWEISE Oliver Láng: Die Handlung (englische Übersetzung von Andrew Smith) – Über dieses Programmbuch. Alle weiteren Texte, mit Ausnahme des unten genannten, sind Übernahmen aus dem CenerentolaProgrammheft der Wiener Staatsoper aus dem Jahr 2013. Bis auf die Texte von Charles Perrault, Jacopo Ferretti, Stendhal, Heinrich Heine und Giovanni Boccaccio handelte es sich um Originalbeiträge. Weitere Übernahmen: Arnold Jacobshagen, La cenerentola – Triumph des Belcanto-Märchens, in: Programmheft Philharmonie Luxemburg, 28. Februar 2017, S. 21ff. BILDNACHWEISE Coverbild: Golf, ball beside hole (Photo by Mike Powell / Getty Images) – Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH (S. 2/3, 13, 23, 27, 32/33, 43, 62/63, 76/77) – AKG Images (S. 16, 30) – Archiv der Wiener Staatsoper (S. 52/53, 54), Österreichisches Theatermuseum (S. 60) Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie. Kürzungen werden nicht gekennzeichnet. Rechteinhaberinnen, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.
Die Produktion von La cenerentola wird gefördert von
Generalsponsoren der Wiener Staatsoper
→ wiener-staatsoper.at